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Lernziele

Der vorliegende Beitrag konzentriert sich vordergründig auf Intoxikationen im Erwachsenenalter. Nach der Lektüre

  • sind Sie in der Lage, Hinweise auf eine mögliche Intoxikation zu erkennen.

  • wissen Sie, wie eine zielgerichtete, rationale Diagnostik durchzuführen ist.

  • können Sie zügig die erforderlichen therapeutischen Schritte einleiten.

Einleitung

Intoxikationen als potenziell lebensbedrohliche Ereignisse begleiten die Menschheit seit Jahrtausenden. Bereits in der Antike gab es prominente Vergiftungsopfer, so wurde etwa der griechische Philosoph Sokrates mit dem Schierlingsbecher hingerichtet. Auch in der jüngeren Vergangenheit gab es kriminelle medienwirksame Vergiftungsfälle, z. B. das Dioxinattentat auf Wiktor Juschtschenko 2004 oder den Mord an Alexander Litwinenko mit 210Polonium im Jahr 2006. Straftaten unter Verwendung von Giften spielen jedoch im Gesamtkollektiv intoxikierter Patienten nur eine untergeordnete Rolle [1].

Epidemiologie

Viele Publikationen beziehen ihre epidemiologischen Daten aus angloamerikanischen Quellen. Diese sind jedoch nur bedingt auf Deutschland übertragbar. Um die nationalen Probleme besser abbilden zu können, werden dieser Arbeit die Daten des Gemeinsamen Giftinformationszentrums der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (GGIZ) in Erfurt zugrunde gelegt [2].

Inzidenz

In den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen gibt es pro Jahr etwa 20.000 Anfragen zu Vergiftungen und Verdachtsfällen. In 83% dieser Fälle fand tatsächlich eine Giftexposition statt (Abb. 1). Bei einer Bevölkerungszahl von etwas mehr als 10 Mio. Einwohnern [3] entspricht dies einer Inzidenz von 100–200 pro 100.000. Allerdings muss von einer höheren Dunkelziffer ausgegangen werden, da bei Weitem nicht alle Vergiftungsfälle, z. B. mit Alkohol, zu einer Anfrage im Giftinformationszentrum führen. In einer aktuellen Arbeit der Kollegen des Giftinformationszentrums Nord konnten ähnliche epidemiologische Daten eruiert werden [4].

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Expositionen (2003–2012). Anfragestatistik des Giftinformationszentrums GGIZ. (Mit freundl. Genehmigung)

Ursache der Vergiftung

In den verschiedenen Altersgruppen gibt es bezüglich Ursache und Art der Intoxikation erhebliche Unterschiede. Im Kindesalter überwiegen Vergiftungsunfälle mit Haushaltschemikalien, Medikamenten oder Pflanzen. Jugendliche und junge Erwachsene erleiden häufig eine Vergiftung durch Missbrauch von Drogen oder Alkohol. Bei älteren Erwachsenen findet man häufig eine Medikamentenüberdosierung im Rahmen eines Suizidversuchs (Abb. 2).

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Vergiftungsursachen (2003–2012). Anfragestatistik des Giftinformationszentrums GGIZ. (Mit freundl. Genehmigung)

Noxenverteilung

Im Erwachsenalter überwiegen Vergiftungen mit Arzneimitteln. Am häufigsten findet man hier Intoxikationen mit

  • Psychopharmaka wie

    • Antidepressiva,

    • Neuroleptika und

    • Tranquilizer;

  • Analgetika wie

    • Paracetamol,

    • Acetylsalicylsäure und

    • Opiaten/Opioiden;

  • Herz-Kreislauf-Medikamenten wie

    • γ-Blockern,

    • Kalziumantagonisten,

    • Angiotensin-converting-enzyme(ACE)-Hemmern und

    • Digitalisglykosiden;

  • Antiepileptika wie

    • Carbamazepin und

    • Valproinsäure.

Etwas seltener ereignen sich Vergiftungen mit Lebens- und Genussmitteln. Hier steht die Ethanol-Intoxikation im Vordergrund, die sicherlich in der Abfragestatistik unterrepräsentiert ist. Viele Vergiftungen in suizidaler Absicht sind sog. Mischintoxikationen, sehr oft unter Mitwirkung von Ethanol. Als nächste Gruppe folgen chemisch-technische Produkte wie Wasch- und Reinigungsmittel, Säuren, Laugen und Desinfektionsmittel (Abb. 3). Intoxikationen mit Drogen, Pflanzen-, Pilz- und Tiergiften sowie sonstigen Stoffen machen einen geringeren Anteil aus [2].

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Noxenverteilung bei Erwachsenen (2003–2012). Anfragestatistik des Giftinformationszentrums GGIZ. (Mit freundl. Genehmigung)

Drogenintoxikation

Drogen im Sinne von Rauschmitteln unterteilt man in

  • „Upper“,

  • „Downer“ und

  • Halluzinogene.

„Upper“ (Stimulanzien)führen zu einer sympathomimetischen Aktivierung. Die Konsumenten versuchen sich durch die Droge aufzuputschen, zu euphorisieren und die Leistungsfähigkeit zu steigern. Klassische Vertreter sind Kokain, Amphetamine und Amphetaminderivate wie Ecstasy. Als lebendbedrohliche Komplikationen drohen hypertensive Entgleisungen, Vasospasmen und Organinfarkte.

Die Einnahme von „Downern“ führt zu einer zentralen Dämpfung mit sedierend-euphorisierender Wirkung. Zu den „Downern“ zählen u. a. Opiate/Opioide, Cannabis (Marihuana und Haschisch) und γ-Hydroxybuttersäure (z. B. „Liquid Ecstasy“) oder die Ersatzdrogen γ-Hydroxybutyrolakton bzw. 1,4-Butandiol [5]. Bei letztgenannten Substanzen sind ein rasches Abtauchen in die Bewusstlosigkeit (K.o.-Wirkung) und ein sehr schnelles Erwachen nach einigen Stunden typisch [6].

Halluzinogene zeigen oft eine psychedelische Wirkung mit Bewusstseinserweiterung. Daher erfreuen sie sich in Künstlerkreisen einiger Beliebtheit. Halluzinogen wirken beispielsweise Lysergsäurediethylamid (LSD), Phencyclidin (z. B. „Angel Dust“), Psilocybin-haltige Pilze wie Psilocybe semilanceata oder Nachtschattengewächse wie Brugmansia und Datura spp.

Problematisch ist aktuell die starke Zunahme an Designerdrogen, den sog. „Legal Highs“ [7]. Durch Derivatisierung bekannter Substanzen (Cannabinoide, Cathinone) gelangen immer neue Präparate mit unkalkulierbarem Gefährdungspotenzial auf den Markt [8].

Diagnostik

Meist erfolgt der Erstkontakt intoxikierter Patienten mit dem Rettungsdienst oder in der Notfallaufnahme. Hier ist es von entscheidender Bedeutung, frühzeitig Hinweise für eine Vergiftung zu erkennen. Dies erfordert ein erhebliches Maß an ärztlicher Erfahrung. Differenzialdiagnostisch an eine Intoxikation denken lassen sollten auch

  • unklare Bewusstseinsstörungen;

  • andere neurologische Störungen wie

    • Krampfanfälle,

    • extrapyramidalmotorische Symptome,

    • Halluzinationen und

    • Pupillenstörungen;

  • Foetor ex ore;

  • unklare kardiopulmonale Störungen;

  • anamnestische Hinweise wie

    • Abschiedsbriefe,

    • leere Tablettenschachteln,

    • bekannte psychische Störung und

    • Einstichstellen von Injektionsnadeln.

Anamnese

Erhärtet sich der Verdacht auf eine stattgehabte Vergiftung, sollten folgende Fragen systematisch gestellt werden [9]:

  • Was wurde eingenommen?

  • Wie viel wurde eingenommen?

  • Wie wurde es eingenommen?

  • Wann wurde es eingenommen?

  • Warum wurde es eingenommen?

  • Welche Komorbiditäten liegen vor?

Klinische Untersuchung

In der klinischen Untersuchung ist gezielt nach Leitsymptomen einer Intoxikation zu fahnden (Tab. 1).

Tab. 1 Leitsymptome einer Intoxikation (Mod. nach Sieber [9])

Toxidrome

Entsprechend der vorherrschenden Symptomatik lassen sich insbesondere bei akuten Vergiftungen mit nur einer Substanz typische Toxidrome beobachten. Diese geben wichtige Hinweise auf die zugrunde liegende Intoxikation. Es lassen sich verschiedene Toxidrome beschreiben.

Sympathomimetisches Syndrom (heiß und feucht). Die betroffenen Patienten sind in der Regel tachykard und hyperton bei gesteigerter Atemfrequenz und Hyperthermie. Die Pupillen sind weit, die Haut feucht und heiß. Des Weiteren fällt ein unruhiges, agitiertes Verhalten auf. Häufig sind außerdem Kopfschmerzen, Arrhythmien, Myokardischämien und eine Hyperreflexie zu beobachten. Das sympathomimetische Syndrom findet man beispielsweise bei Vergiftungen mit Amphetaminen, Ephedrin, Kokain („Upper“) oder Monoaminoxidase(MAO)-Hemmern.

Anticholinerges Syndrom (heiß und trocken). Charakteristisch sind hier Tachykardie, erhöhte Körpertemperatur und Tachypnoe. Die Pupillen sind oft maximal weit. Haut und Schleimhäute sind heiß und im Gegensatz zum sympathomimetischen Syndrom aufgrund der gehemmten Schweißsekretion aus exokrinen Drüsen trocken. Häufig findet man agitiert-halluzinierende Patienten. Des Weiteren kann es zu Harnverhaltung, Darmparalyse, Tremor und Krampfanfällen kommen. Das anticholinerge Syndrom tritt bei Vergiftungen mit trizyklischen Antidepressiva (TCA), H1-Antihistaminika oder Alkaloiden der Nachtschattengewächse (Atropin, Scopolamin) auf.

Cholinerges Syndrom (tränend und mit Bauchschmerzen). Die betroffenen Patienten sind eher bradykard und haben enge Pupillen. Die Haut ist feucht. Typisch sind Tränen- und Speichelfluss, Bronchosekretion, unwillkürlicher Harn- und Stuhlabgang sowie Akkomodationsstörungen. Das cholinerge Syndrom ist typisch für Vergiftungen mit Muskarin-haltigen Pilzen wie Inocybe erubescens, kommt aber v. a. bei Intoxikationen mit Acetylcholinesterasehemmern vor (Organophosphate wie Dimethoat und Parathion).

Sedierend-narkotisches Syndrom (zerebral und kardiopulmonal reduziert). Durch die zentral dämpfenden Eigenschaften der Substanzen kommt es zu Bradykardie, Hypotonie, Bradypnoe und Hypothermie. Die Pupillen sind zumindest bei einer Vergiftung mit Opiaten/Opioiden eng. Neurologisch fällt eine reduzierte Vigilanz bis hin zum Koma auf. Bei diesen Patienten ist insbesondere auf Einstichstellen durch Injektionsnadeln zu achten. Das sedierend-narkotische Syndrom findet man nach Ingestion von Ethanol, Barbituraten, Benzodiazepinen und anderen Benzodiazepin-artigen Sedativa („Z-drugs“), H1-Antihistaminika sowie Opiaten/Opioiden („Downer“).

Halluzinogenes Syndrom (delirant und kardiopulmonal aktiviert). Im Vordergrund steht hier eine delirante Symptomatik, die von Halluzinationen, Derealisation, Depersonalisation, Wahrnehmungsstörungen und ggf. von einem Nystagmus begleitet wird. Übelkeit und Erbrechen sind initial begleitende Symptome. In diesem Zusammenhang ist oft ein erhöhter Sympathikotonus zu verzeichnen. Typischerweise tritt das halluzinogene Syndrom nach Konsum von Cannabis, LSD, Mescalin oder Psilocybin-haltigen Pilzen wie Psilocybe semilanceata auf [9].

Serotonerges Syndrom (neuromuskulär und vegetativ aktiviert, delirant). Seit einigen Jahren wird zusätzlich das serotonerge Syndrom abgegrenzt. Bei Überdosierungen bzw. Intoxikationen mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) oder MAO-B-Hemmern kann es zur exzessiven Stimulation serotonerger Neurone kommen. Typische Symptome sind [10][11]

  • neuromuskuläre Übererregbarkeit:

    • Hyperreflexie,

    • Tremor und

    • Kloni;

  • vegetative Zeichen:

    • Hyperthermie,

    • Schwitzen und

    • Blutdruckschwankungen;

  • zentralnervöse Symptome:

    • Agitation,

    • Verwirrtheit,

    • Vigilanzstörungen und

    • Krampfanfälle.

Labordiagnostik

Bei Verdacht auf eine Intoxikation gehört eine problemorientierte Laboranalytik zu den diagnostischen Basismaßnahmen. Es gilt, relevante Organschädigungen frühzeitig zu erkennen. In diesem Zusammenhang sollten folgende Parameter bestimmt werden:

  • Blutzucker

  • Serumelektrolyte und Osmolalität (ggf. mit Bestimmung der osmotischen Lücke bei Verdacht auf Intoxikation mit Alkoholen und Glykolen)

  • Blutgasanalyse (ggf. mit Bestimmung der Anionenlücke bei Verdacht auf Intoxikation mit Substanzen, die eine metabolische Azidose auslösen können)

  • Retentionswerte

    • Kreatinin

    • Harnstoff

  • Muskelparameter

    • Kreatinkinase

    • Myoglobin

  • Leberwerte

    • Alanin-Aminotransferase

    • Aspartat-Aminotransferase

    • γ-Glutamyl-Transferase

  • Globale Gerinnungstests

    • Quick

    • Partielle Thromboplastinzeit

Des Weiteren sollte bei Frauen im gebärfähigen Alter ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden.

Apparative Diagnostik

Im Rahmen jeder vermuteten Vergiftung sollte ein 12-Kanal-Elektrokardiogramm (EKG) geschrieben werden [12]. Hier ist insbesondere auf Rhythmusstörungen, Blockbilder, verbreiterte QRS-Komplexe, verlängerte QT-Zeiten und Erregungsrückbildungsstörungen zu achten. Bei unklarer Bewusstseinsstörung ist eine kraniale Computertomographie (CCT) durchzuführen. Weitere diagnostische Maßnahmen, wie die Röntgenuntersuchung des Thorax, Sonographie, Elektroenzephalographie, Computertomographie (CT) sonstiger Körperregionen oder Magnetresonanztomographie, werden nur bei gezielten klinischen Fragestellungen ergriffen.

Spezielle toxikologische Diagnostik

Zur toxikologischen Diagnostik eignen sich verschiedene Untersuchungsmaterialien. Hierzu zählen u. a.

  • Blut,

  • Urin,

  • Magenspülflüssigkeit,

  • Erbrochenes,

  • Asservate,

  • Haare,

  • Finger- und Fußnägel,

  • Biopsate und

  • Atemgas.

Für jeden Vergiftungsfall empfiehlt sich ein Drogenscreening im Urin, z. B. mit dem bioFAST® addiTest (Abb. 4). Hierbei erfolgt der qualitative Nachweis von

  • Amphetamin,

  • Methamphetamin,

  • Ecstasy (Methylendioxymethylamphetamin),

  • Barbituraten,

  • Benzodiazepinen,

  • Cannabis (Tetrahydrocannabinol),

  • Kokain,

  • Methadon,

  • Morphin,

  • Phencyclidin und

  • TCA.

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Drogenscreening im Urin. (bioFAST® addiTest, mit freundl. Genehmigung der Fa. Protzek)

Bei der Bewertung der Ergebnisse ist zu beachten, dass bei immunchemischen Gruppentests nicht alle Substanzen einer Stoffgruppe erfasst werden. Da bei Intoxikationen häufig gleichzeitig nicht unerhebliche Mengen alkoholischer Getränke konsumiert werden, sollte eine Blutalkoholbestimmung zur Basisdiagnostik zählen.

Gibt es deutliche Hinweise für die Einnahme bestimmter Medikamente, z. B. leere Tablettenblister am Auffindungsort, so empfiehlt sich die quantitative Bestimmung der Plasmaspiegel, sofern diese Methode im lokalen Labor etabliert ist (z. B. Digitoxinspiegel). Spezielle toxikologische Untersuchungen müssen in Speziallabors durchgeführt werden und sind kostenintensiv. Des Weiteren sind die Befunde meist erst mit erheblicher Zeitverzögerung verfügbar, sodass diese Analytik speziellen Fragestellungen vorbehalten bleiben sollte [13].

Therapie

Sicherung der Vitalfunktionen

Die Sicherung der Vitalfunktionen hat auch beim intoxikierten Patienten absolute Priorität. Bei stark eingeschränkter Vigilanz mit erhöhtem Aspirationsrisiko (Glasgow Coma Scale ≤8) oder respiratorischer Insuffizienz sollte die Indikation zur orotrachealen Intubation und invasiven Beatmung eher großzügig gestellt werden. Des Weiteren ist im Falle einer kardiozirkulatorischen Insuffizienz die rasche Kreislaufstabilisierung durch Volumengabe und ggf. Einsatz von Inotropika bzw. Vasopressoren zu fordern. Liegt ein unklares Koma vor, sollten Thiamin und Glukose i.v. verabreicht werden. Thiamin ist stets zuerst zu verabreichen, um der Exazerbation einer möglichen Wernicke-Enzephalopathie entgegenzuwirken. Naloxon und Flumazenil hingegen werden nur noch bei begründetem Verdacht auf eine Opiat-/Opioid- bzw. Benzodiazepin-Intoxikation empfohlen. Insbesondere bei unkritischer Flumazenil-Gabe kann es zur Auslösung von Krampfanfällen kommen [14]. Bei der Bergung und Erstversorgung von Vergiftungsnotfällen muss außerdem auf einen ausreichenden Eigenschutz des Rettungspersonals geachtet werden [12].

Primäre Giftelimination

Die primäre Giftelimination beinhaltet alle Maßnahmen, die eine Resorption der toxischen Substanz aus dem Gastrointestinaltrakt, der Haut oder den Atemwegen verhindern oder vermindern sollen.

Hierzu zählen

  • Magenspülungen,

  • induziertes Erbrechen,

  • die Verabreichung von Aktivkohle,

  • die Gabe von Laxanzien,

  • die antegrade Darmspülung und

  • die lokale Dekontamination.

Obwohl diese Verfahren früher großzügig praktiziert wurden, gibt es für deren Einsatz nur wenig belastbare Daten. Primäre Gifteliminationsverfahren sollten nur nach kritischer Indikationsstellung eingesetzt werden

Magenspülung

Ziel einer Magenspülung ist es, noch intragastral verbliebene und nicht resorbierte Reste der toxischen Substanz aus dem Körper zu entfernen. Aufgrund des Risikos von Komplikationen, wie Aspiration, Kehlkopfverletzung, Perforation von Speiseröhre oder Magen, und der fehlenden Evidenz für eine Verbesserung der Prognose wird die Indikation derzeit sehr kritisch gestellt.

Lediglich bei einer potenziell toxischen oralen Vergiftung innerhalb von 60 min nach Aufnahme wird eine Magenspülung empfohlen. Danach ist diese Prozedur nur noch in seltenen Einzelfällen zu rechtfertigen, z. B. bei Medikamenten mit starker Neigung zum Verklumpen wie Carbamazepin, Stoffen mit erheblicher Hemmung der gastrointestinalen Motilität wie TCA oder hochtoxischen Substanzen wie Schwermetallen. Eine absolute Kontraindikation besteht bei beeinträchtigten Schutzreflexen ohne Atemwegssicherung via Endotrachealtubus, bei Ingestion wenig visköser, flüssiger Kohlenwasserstoffe, z. B. von Lampenölen, oder nach Einnahme ätzender Substanzen wie Rohrreiniger [15].

Induziertes Erbrechen

Ein medikamentös ausgelöstes Erbrechen mittels Sirupus ipecacuanhae (30 ml) sollte ebenfalls nur innerhalb von 60 min nach Ingestion einer potenziell toxischen Dosis der Substanz erwogen werden. Es gelten die gleichen Kontraindikationen wie für eine Magenspülung [16].

Verabreichung von Aktivkohle

Aktivkohle kann toxische Substanzen an der Oberfläche adsorbieren. Empfohlen wird die Gabe von 0,5–1,0 g/kgKG oral oder via Magensonde. Allerdings konnte bisher kein klinischer Vorteil belegt werden, obwohl sich an gesunden Freiwilligen eine signifikante Reduktion der Resorption nachweisen ließ [17]. Daher gilt auch hier, dass nur innerhalb einer Stunde nach Ingestion einer potenziell toxischen Dosis die Verabreichung erwogen werden sollte. Bei beeinträchtigten Schutzreflexen ohne geschützte Atemwege oder stark funktionsgestörtem Magen-Darm-Trakt ist die Applikation kontraindiziert.

In einigen speziellen Situationen kann die repetitive Gabe von Aktivkohle erwogen werden, z. B. bei Intoxikation mit Carbamazepin, Theophyllin und Salicylaten [18]. Bei geschützten Atemwegen, so etwa durch Intubation, und bei Intoxikation mit Substanzen wie TCA, die die Magen-Darm-Passage hemmen, scheint jedoch der Einsatz von Aktivkohle auch nach mehr als 60 min vertretbar. Bei Vergiftungen mit Alkoholen, Glykole, Schwermetallen, anorganischen Salzen und ätzenden Substanzen ist Aktivkohle unwirksam [12].

Gabe von Laxanzien

Laxanzien sollen die Entfernung der mit der Noxe beladenen Aktivkohle aus dem Darmlumen beschleunigen. In Anbetracht der Datenlage wird die 1-malige Gabe von Aktivkohle mit einem Laxans, z. B. 20 g Glaubersalz, nur in Ausnahmefällen empfohlen. Wichtige Kontraindikationen sind das Fehlen von Darmgeräuschen, eine intestinale Obstruktion oder Perforation, schwere Elektrolytverschiebungen, Volumenmangel und die Aufnahme ätzender Substanzen [19].

Antegrade Darmspülung

Bei der antegraden Darmspülung wird eine postpylorische Sonde mit einer hyperosmolaren Lösung beschickt. Ziel ist die Beschleunigung der Magen-Darm-Passage und konsekutiv verminderte Resorption der Noxe. Dieses Verfahren kann bei Arzneimitteln mit verzögerter Wirkstofffreisetzung, z. B. bei Retardpräparaten, akuter Schwermetallvergiftung, z. B. mit Blei, und „Bodypackern“ (Kokain, Heroin) erwogen werden. Kontraindikationen sind eine Obstruktion oder Perforation des Darms, ein Ileus, Kreislaufinstabilität und ungeschützte Atemwege [20].

Lokale Dekontamination

Bei lipophilen Substanzen mit relevanter transdermaler Resorption wie Dimethoat oder Parathion sollte die Kleidung entfernt und die Haut abgewaschen werden, um eine weitere Giftaufnahme zu verhindern. Hier ist explizit auf einen ausreichenden Eigenschutz des Rettungspersonals zu achten.

Bei einer Augenverätzung ist eine sofortige Spülung und Entfernung möglicher Fremdkörper aus dem Bindehautsack indiziert, z. B. Löschkalk. Als Erste-Hilfe-Maßnahme ist hier sicher eine Spülung mit Leitungswasser ausreichend.

Bei Intoxikationen mit Blausäure (HCN) oder Kohlenmonoxid (CO) ist die Dekontamination der Atemwege durch Frischluft und sobald verfügbar durch Sauerstoff indiziert. Auch hier ist bei der Bergung der Patienten unbedingt auf einen ausreichenden Eigenschutz zu achten [21].

Sekundäre Giftelimination

Durch die sekundäre Giftelimination wird versucht, bereits resorbierte toxische Substanzen beschleunigt aus dem Körper zu eliminieren. Es bestehen folgende Optionen:

  • Forcierte Diurese

  • Harnalkalisierung

  • Nierenersatztherapie

  • Hämoperfusion

  • Forcierte Ventilation und hyperbare Sauerstofftherapie

Obwohl die sekundären Eliminationsverfahren in der Behandlung von Intoxikationen weiterhin einen Stellenwert haben, ist der Einsatz aufgrund der aktuellen Datenlage nur in Einzelfällen unter Berücksichtigung der individuellen Pathophysiologie gerechtfertigt.

Forcierte Diurese

Unter forcierter Diurese versteht man die Gabe größerer Mengen einer Elektrolytlösung (6–12 l/Tag) mit dem Ziel einer beschleunigten renalen Entfernung der Noxe. Zum Erreichen einer ausgeglichenen Bilanz ist hier meist die zusätzliche Gabe von Schleifendiuretika erforderlich.

Sinnvoll erscheint diese Maßnahme nur, wenn die Noxe überwiegend unverändert renal eliminiert wird. Dies gilt z. B. für Salicylate, Phenobarbital und Lithium. Des Weiteren kommt es zu einer beschleunigten Elimination von Myoglobin, sodass eine forcierte Diurese auch bei einer Rhabdomyolyse, wie sie bei Intoxikationen häufiger auftritt, sinnvoll erscheint. Aufgrund der erheblichen Flüssigkeitsumsätze ist eine exakte Bilanzierung erforderlich.

Eine forcierte Diurese ist daher bei fortgeschrittener Herz- und Niereninsuffizienz kontraindiziert. Wissenschaftliche Belege für eine Verbesserung der Prognose durch diese Maßnahme stehen noch aus [22].

Harnalkalisierung

Eine Harnalkalisierung begünstigt die Dissoziation schwacher Säuren im Urin. Diese liegen dann als Anionen vor, wodurch sich die Wasserlöslichkeit erhöht und die tubuläre Reabsorption vermindert. Es kommt zu einer Verbesserung der renalen Elimination von Substanzen wie Salicylaten, Methotrexat und Phenobarbital.

Der pH-Wert des Urins wird durch i.v.-Gabe von Natriumhydrogencarbonat auf Werte von 7,5–8,5 eingestellt [23]. Prinzipiell ist dies auch durch Gabe oraler Präparate wie Blemaren® realisierbar.

Eine Harnalkalisierung erfordert ein engmaschiges Monitoring von Volumenstatus, pH-Wert des Urins, Urinausscheidung, Blutgasen und Serumelektrolyten. Mögliche Komplikationen sind eine Hypokaliämie, Hypokalzämie und koronare bzw. zerebrale Vasokonstriktion. Letztlich liegen auch für dieses Verfahren keine belastbaren Daten vor.

Nierenersatztherapie

Eine Nierenersatztherapie sollte immer dann erwogen werden, wenn eine lebensbedrohliche Intoxikation mit gut dialysablen Substanzen vorliegt. Dies gilt beispielsweise für die Vergiftung mit Lithium, Ethylenglykol, Salicylaten, Valproinsäure und Methanol [24]. Besonders bei begleitendem Nierenversagen sollte die Indikation zur Nierenersatztherapie großzügig gestellt werden.

Hämoperfusion

Bei der Hämoperfusion wird das Patientenblut mithilfe eines extrakorporalen Kreislaufs über einen Filter aus Aktivkohle bzw. Austauschharzen geleitet. Hierbei werden besonders lipophile toxische Substanzen adsorbiert. Eliminierbar sind bestimmte Medikamente (Digitalisglykoside, Theophyllin, Phenytoin), Herbizide, Insektizide und Pilzgifte (Amatoxine). Aufgrund deutlicher Fortschritte in der Dialysetechnik in den letzten zwei Jahrzehnten unter Verwendung biokompatibler High-flux-Membranen wird die Hämoperfusion immer seltener eingesetzt. Eine wichtige Indikation ist jedoch auch weiterhin die Paraquat-Vergiftung [24]. Letztlich bleibt die Indikationsstellung zur Hämoperfusion trotz des Potenzials zur effektiven Giftelimination eine seltene individuelle Einzelentscheidung an spezialisierten Zentren [22].

Forcierte Ventilation

Durch forcierte Ventilation ist es möglich, toxische Substanzen über die Atemluft beschleunigt zu entfernen. Bei Vergiftungen mit Kohlenmonoxid, einem bei unvollständiger Verbrennung entstehenden Gas, ist die hochdosierte Zufuhr von Sauerstoff die einzige Möglichkeit der Elimination. Bei respiratorischer Insuffizienz sollte der Patient mit reinem Sauerstoff beatmet werden. Dann ist auch eine hyperbare Oxygenierung in einer Überdruckkammer zu diskutieren. Das unter Luftabschluss entstehende Brandgas Blausäure bindet neben Hämoglobin auch an Zytochrome und hemmt so die Zellatmung. Die entstehenden, hochreaktiven Zyanidionen lassen sich durch forcierte Ventilation nicht ausreichend eliminieren. Hier ist der Einsatz spezifischer Antidote zwingend erforderlich [25].

Antidote

Unter dem Begriff Antidot subsumiert man Substanzen, die in der Lage sind, die toxische Wirkung einer Substanz aufzuheben bzw. abzuschwächen. Nur in maximal 5% aller stationär behandelten Vergiftungsfälle wird ein spezifisches Antidot eingesetzt [26]. Folgende Wirkmechanismen kommen zum Tragen (Abb. 5):

  • Neutralisierung durch Bindung:

    • Chelatbildner bei Schwermetallvergiftung

    • Digitalisantikörper bei Digitalisintoxikation

    • Hydroxocobalamin bei Blausäurevergiftung

    • Kalzium bei Flusssäureintoxikation

  • Verhinderung der Bildung toxischer Metabolite:

    • Ethanol bzw. Fomepizol bei Intoxikation mit Methanol oder Ethylenglykol

  • Elimination toxischer Metabolite:

    • Acetylcystein bei Paracetamol-Intoxikation

  • Antagonismus am Rezeptor:

    • Atropin bei Muscarinvergiftung

    • Naloxon bei Opiat-/Opioidintoxikation

    • Flumazenil bei Benzodiazepin-Überdosierung

  • Funktioneller Antagonismus:

    • Atropin bei Organophosphatvergiftung

    • Physostigmin bei Intoxikation mit H1-Antihistaminika

    • Glukagon bei β-Blocker-Überdosierung

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Wirkmechanismen der Antidote.

Eine Auswahl wichtiger Antidote findet sich in Tab. 2.

Tab. 2 Wichtige Antidote

„Lipid resuscitation“

Bei lipophilen Substanzen mit einem hohen Verteilungsvolumen ist eine beschleunigte Entfernung aus dem Organismus mit den genannten sekundären Eliminationsverfahren in aller Regel nicht möglich. Es gibt Hinweise, dass sich die kardiotoxischen Wirkungen von Lokalanästhetika durch eine hoch dosierte Infusion von Lipiden aufheben lassen [27]. Auch bei lebensbedrohlichen Vergiftungen mit TCA konnte kasuistisch nach Infusion von Lipiden eine rasche Kreislaufstabilisierung erreicht werden [28]. Möglicherweise wird die Toxizität durch Redistribution der Substanz aus den Kardiomyozyten in die Lipidphase der Emulsion herabgesetzt. Auch eine Verbesserung des Fettsäuretransports in den Mitochondrien und eine Aktivierung von Ionenkanälen werden in diesem Zusammenhang diskutiert. Trotz des pharmakokinetisch überzeugenden Ansatzpunkts ist die Datenlage aktuell sehr begrenzt.

Fazit für die Praxis

  • Vergiftungen stellen in der Akut- und Notfallmedizin ein häufiges Problem dar.

  • Insbesondere bei unklarer Anamnese und Beschwerdesymptomatik sollte daher differenzialdiagnostisch immer an eine Intoxikation gedacht werden. Folgende Fragen sind dann systematisch zu stellen:

  • Liegt eine Vergiftung vor?

  • Welche Substanz löste die Vergiftung aus?

  • Welche Dosis wurde verabreicht?

  • Ist diese Dosis lebensbedrohlich?

  • Ist eine primäre oder sekundäre Giftelimination indiziert?

  • Gibt es ein Antidot?

  • Nach Stabilisierung der Vitalparameter sollten spezifische Therapieoptionen erwogen werden.