Falldarstellung

Ein vierjähriger Junge fuhr an einem Samstag mit dem Fahrrad eine Rampe hoch und stürzte. Glücklicherweise trug er einen Helm, aber er schlug heftig mit dem Kinn auf dem Boden auf und hatte seitdem starke Schmerzen. Er konnte den Mund nur noch einen kleinen Spalt weit öffnen. Der Junge war bei klarem Bewusstsein und atem- sowie kreislaufstabil. Er wurde in die Notaufnahme eines Allgemeinkrankenhauses gebracht und von dort in eine Kinderklinik überwiesen. Danach wurden Mutter und Kind zur Bereitschaftssprechstunde einer überregionalen Mund‑, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG) geschickt. Der Junge war dort wenig kooperativ, weshalb eine entscheidende Diagnostik spät am Abend nicht mehr möglich war. Schließlich wurde er in unserer Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin stationär übernommen. Am nächsten Tag hatte sich sein Zustand leicht verbessert. Die Abb. 1a–c zeigen, dass er nun den Mund – allerdings nur unter Schmerzen – etwas weiter öffnen konnte. Es wurden notwendige radiologische Untersuchungen durchgeführt, woraufhin das Kind von Kolleginnen und Kollegen der MKG unter Vollnarkose behandelt wurde.

Abb. 1
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a–c Vierjähriger Junge nach Fahrradsturz: am Tag nach dem Unfall konnte er den Mund zwar besser, jedoch immer noch nicht schmerzfrei vollständig öffnen

Wie lautet Ihre Diagnose?

Kiefergelenkfrakturen entstehen oft durch Schläge oder Stürze auf die Kinnregion oder den Unterkiefer. Die einwirkenden Kräfte werden dabei auf das Kiefergelenk übertragen. Die grazilen Gelenkstrukturen mit dem schmal auslaufenden Hals können dem nicht standhalten, was zur Fraktur des Gelenkfortsatzes oder der Gelenkwalze führt. Diese Frakturen werden häufig nicht sofort erkannt, machen jedoch etwa 30 % aller Unterkieferfrakturen aus. Der Kondylus und die Fossa articularis sind unterhalb der Pars squamosa des Os temporale vor direkten Krafteinwirkungen von außen relativ gut geschützt. Direkte Frakturen, die durch eine seitlich auf das Kiefergelenk einwirkende Kraft entstehen, treten deswegen deutlich seltener auf [1].

Das Orthopantomogramm und die Unterkieferübersichtsaufnahme nach Clementschitsch ergaben bei dem Jungen keinen eindeutigen Befund. Die Computertomografie des Gesichtsschädels, angefertigt als Nativscan des Mittelgesichts in Low-dose-Technik, zeigte frische dislozierte Frakturen der Kieferköpfchen beidseits mit Fragmentdislokation von Köpfchenanteilen in die medio-kaudalen Weichteile (Abb. 2 und 3D‑Rekonstruktion in Abb. 3).

Abb. 2
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Computertomografie des Gesichsschädels: frische dislozierte Frakturen der Kieferköpfchen beidseits mit Fragmentdislokation von Köpfchenanteilen in die medio-kaudalen Weichteile

Abb. 3
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3D-Rekontsruktion der frisch dislozierten Frakturen der Kieferköpfchen beidseits mit Fragmentdislokation von Köpfchenanteilen in die medio-kaudalen Weichteile

Es erfolgte eine geschlossene Reposition und Schienung von Ober- und Unterkiefer beidseits, sowie eine mandibulo-maxilläre Fixation (MMF) mittels straffer Gummizüge (Abb. 4).

Abb. 4
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Schienung von Unter- und Oberkiefer beidseits; Mund- und Kieferfixierung mittels straffer Gummizüge

Die Mutter erhielt eine Schere zum schnellen Lösen der Gummizüge, falls das Kind panisch reagieren würde oder Gefahr durch Erbrechen bestünde, und wurde in deren Handhabung eingewiesen. Die straffe Mund- und Kieferfixierung (MMF) blieb eine Woche lang nach der Operation bestehen, gefolgt von einer Behandlung mit Führungsgummis für eine weitere Woche. Einmalig musste ein Gummi gewechselt werden, da er gerissen war. Die Schuchardt-Schienung wurde nach einer erneuten klinischen und radiologischen Kontrolle nach insgesamt drei Wochen unter Analgosedierung entfernt. Über drei Tage hinweg erhielt der Junge perioperativ intravenöse Antibiotika und Schmerzmittel. Er wurde mit flüssiger Nahrung über einen Strohhalm ernährt, den er gut über den Mundvorhof aufnehmen konnte. Zudem erfolgten eine Kühlung präaurikulär beidseits, mehrmals tägliche Befeuchtung der Ober- und Unterlippe sowie Mundspülungen mit verdünnter Kinderzahnpasta.

Diskussion des Vorgehens bei Unterkieferfrakturen

Bei der Behandlung von Unterkieferfrakturen muss die Therapieart je nach Lage, Typ der Fraktur, Begleitverletzungen, Gesamtzustand des Betroffenen und Zahnstatus individuell angepasst werden. Die nicht operative Therapie umfasst die Behandlung der Fraktur ohne offene Reposition und (interne) Fixation. Sie kann eine geschlossene Reposition und Retention durch MMF, also über dentale Schienenverbände (individuelle Kieferbruchschienen, Schuchardtschienen), Prothesenschienen oder MMF-Schrauben beinhalten. Diese Therapieart wird meist bei nicht oder nur leicht dislozierten und nicht luxierten Frakturen angewendet. Vor allem bei letzterem Vorgehen ist aber eine engmaschige Kontrolleder Patientinnen und Patienten einzuhalten, um eine später mögliche Dislokation der Frakturenden frühzeitig zu erkennen. Operativ wird in den meisten Fällen die übungsstabile Miniplattenosteosynthese mittels Titanplatten und -schrauben verwendet. Dabei werden Osteosyntheseplatten mit monokortikalen Schrauben auf der Zugseite des Unterkiefers angebracht. Da im Frontbereich des Unterkiefers zusätzlich Torsionskräfte auftreten, werden bei Frakturen im Bereich zwischen den Foramina mentales zwei parallel liegende Miniplatten meist über einen transoralen Zugang angebracht.

Die Behandlung von Kiefergelenkfrakturen ist umstritten. Frakturen im Bereich der Gelenkwalze können bei fehlender Dislokation durch Schonung und weiche Kost behandelt werden, während dislozierte Frakturen des Kondylus in den meisten Fällen operativ mittels Osteosynthese stabilisiert werden. Die optimale Versorgung dislozierter Kondylusfrakturen (diakapituläre Frakturen) ist jedoch weiterhin Gegenstand kontroverser Diskussionen, obwohl operative Eingriffe Vorteile bieten, wie die Wiederherstellung der vertikalen Höhe des Processus condylaris.

Knochen regeneriert bei Kindern besser als bei Erwachsenen

Das wichtigste Behandlungsziel bei der Therapie von gelenknahen Frakturen ist die Wiederherstellung der Gelenkfunktion. Dies zu erreichen kann schwierig sein. Wichtig hierfür ist die Fähigkeit des Knochens zum Remodelling, also zur Regeneration des Knochens. Bei Kindern ist die Fähigkeit zum Remodelling stärker ausgeprägt als bei Erwachsenen, weshalb Kinder mit dislozierten Kiefergelenkfrakturen eine bessere Prognose zur Heilung haben als Erwachsene. Bei Kindern werden deshalb Kiefergelenkfrakturen überwiegend nicht operativ behandelt. Sobald möglich, sollte mit funktionellen Übungen begonnen werden. Ist der habituelle Kieferschluss mit zu großen Schmerzen verbunden oder nicht möglich, ist eine MMF zur Ruhigstellung für ein bis zwei Wochen angezeigt. Danach sollten funktionelle Übungen auch mit Hilfe elastischer Gummizüge erfolgen [1].

Eine gefürchtete Komplikation nach übersehenen Kollum- und Kapitulumfrakturen bei Kindern ist die Ankylose der betroffenen Kiefergelenke mit einer konsekutiven Entwicklung einer mandibulären Mikrognathie. Bereits eine Hämatombildung im Gelenkbereich kann zu einer ankylotischen Versteifung führen, wenn nicht rechtzeitig mit Mundöffnungsübungen begonnen wird. Deshalb ist eine engmaschige fachärztliche Kontrolle nach einem Sturz auf das Kinn bei kleinen Kindern von großer Bedeutung. Wenn eine Mundöffnungsbehinderung eine Woche nach dem Trauma weiterhin besteht, müssen spätestens geeignete Maßnahmen ergriffen werden [2].

Diagnose: Dislozierte diakapituläre Unterkiefergelenkfraktur beidseits

Die genaue Dokumentation von Unterkieferfrakturen ist entscheidend. Eine detaillierte Frakturdiagnostik, einschließlich der Darstellung des Frakturmusters in allen drei Ebenen, ist neben der herkömmlichen Diagnostik durch die dentale digitale Volumentomografie (DVT) möglich. Sie bietet sich besonders für das neue AO-CMF-Trauma-Klassifikationssystem an [3]. Anders als die Computertomografie, die Kolleginnen und Kollegen der Radiologie vorbehalten ist, kann die DVT in zahnärztlichen und kieferchirurgischen Praxen durchgeführt werden.

Fazit für die Praxis

  • Gesichtsschädelfrakturen sind bei Kindern bis zum sechsten Lebensjahr selten, steigen in der Häufigkeit danach aber signifikant an.

  • Der Großteil der Unterkieferfrakturen bei Kindern unter 15 Jahren wird konservativ behandelt, da Kinder eine gute Knochenregeneration zeigen. Sobald möglich, sollten funktionelle Übungen begonnen werden.

  • Eine gefürchtete Komplikation nach übersehenen Kollum- und Kapitulumfrakturen bei Kindern ist die Ankylose des Kiefergelenks, einhergehend mit einer konsekutiven Entwicklung einer mandibulären Mikrognathie.