Der demographische Wandel bedeutet einen stetig wachsenden Anteil von älteren Menschen in der Bevölkerung – und damit auch einen stetig zunehmenden Prozentsatz von älteren PatientenFootnote 1 in Kliniken und Arztpraxen. Laut Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird die Zahl der 65-Jährigen und Älteren in den nächsten 20 Jahren von 15,9 Millionen im Jahr 2005 auf 23,8 Millionen im Jahr 2037 ansteigen. Bei allen Schwierigkeiten einer Kategorisierung des Alterns werden aus pragmatischen Gründen die Alten unserer Gesellschaft vornehmlich in zwei Gruppen unterteilt: die 65- bis unter 80-Jährigen, die zunehmend „aktiven Senioren“, und die „Hochbetagten“ 80-Jährigen und Älteren [17]. Im klinischen Alltag wird in Relation zum kalendarischen Alter häufig nach dem „biologischen Alter“ beurteilt: eine Einschätzung vornehmlich der körperlichen Verfassung und Belastbarkeit im Hinblick auf Indikationsstellungen oder Therapieentscheidungen.

An diesen unterschiedlichen Kategorien ist bereits zu ersehen, was bei allen medizinischen Äußerungen zum alternden Menschen grundlegend gilt: Der Alterungsprozess verläuft individuell sehr verschieden. Mit einer einheitlichen Kategorisierung nach dem kalendarischen Alter wird man dieser Individualität schwerlich gerecht [4].

Vor dem Hintergrund steigender Lebenserwartung sowie höherer Aktivität im Alter ist absehbar, dass Patienten höheren Alters mit zunehmender Häufigkeit Ärzte aller medizinischen Fachrichtungen aufsuchen werden. Das Thema „Der alte Patient“ wird sich immer weniger auf die Geriatrie begrenzen lassen. Es werden also Ärzte aller medizinischen Fachrichtungen immer häufiger mit den besonderen Erfordernissen einer Behandlung von alten Patienten konfrontiert sein.

Im Folgenden soll im Sinne einer Übersichtsarbeit veranschaulicht werden, welche Spezifika der Umgang mit alten Menschen für den Arzt mit sich bringt und in welcher Weise sich hieraus spezielle Anforderungen an die ärztliche Praxis ergeben. Diese besonderen Anforderungen sollen auf ihre personal- wie sozialethischen Konsequenzen hinterfragt werden.

Mit drei Charakteristika lässt sich beschreiben, was den älteren Menschen als Patienten wesentlich kennzeichnet, und was jeweils eigene Konsequenzen für die ärztliche Praxis nach sich zieht: Der alte Patient ist alt, häufig multimorbide und bei zunehmendem Alter mit einer wachsenden Wahrscheinlichkeit dement.

Ein alter Patient ist alt

Höheres Alter bei einem Patienten kann folgendes bedeuten: Er ist langsam, fordert mehr Zeit vom Arzt und die richtige Medikamentenverabreichung kann spezielle Schwierigkeiten mit sich bringen. Es entsteht das Problem der Altersdiskriminierung.

Ein alter Patient ist langsam und fordert mehr Zeit

Er ist langsam, langsamer in der Bewegung, langsamer im Gespräch, langsamer in der Auffassungsgabe. Das bedeutet für den Arzt einen nicht unerheblichen Zeitfaktor. Ärzte, sei es, dass sie in der Praxis, sei es, dass sie in der Klinik arbeiten, sind seit dem Beginn ihrer praktischen Tätigkeit trainiert, unter starkem Zeit- und Effizienzdruck zu arbeiten [14]. Diesem Gesetz der Effizienz und Zeitersparnis sperrt sich die Langsamkeit eines alten Patienten. Bei anhaltendem Kosten- und Effizienzdruck in der Praxis hat dieses Zeiterfordernis einen finanziellen Aspekt: Der höhere Zeitbedarf für Gespräche oder Untersuchungen mit bzw. von alten Patienten lässt sich für den niedergelassenen Arzt nach der Gebührenordnung für Ärzte schlecht abrechnen bzw. passt nicht in den auf DRG getrimmten Klinikalltag, der auf Liegezeitverkürzung und Erhöhung des „Patientenumsatzes“ ausgerichtet ist [1, 5].

Die Möglichkeiten, sich jenseits des Arzt-Patienten-Gespräches über eine Erkrankung und Behandlungsoptionen zu informieren, sind heute vielfältig (z.B. Medien, Internet, Selbsthilfegruppen). Im Unterschied zu jüngeren Patienten sind die alten Patienten allerdings bisher oft weniger gut über ihre Erkrankung und deren Behandlungsmöglichkeiten vorinformiert, auch die geistige Auffassungsgabe ist evtl. langsamer: Ein Arzt muss dann länger und gründlicher Therapiekonzepte oder Medikationsanleitungen erklären, um sicher gehen zu können, dass er verstanden wird und die Compliance seitens der Patienten gewährleistet ist. Es besteht die Gefahr, dass die Umstände von Zeit- und Effizienzdruck auf Kosten des gegenseitigen Verständnisses gehen. Dabei ist erwiesen, dass Alter nicht zwangsläufig das Verständnis medizinischer Informationen vermindert. Wichtig ist allerdings die adäquate Berücksichtigung des individuellen (zeitlichen) Bedarfs alter Patienten im Rahmen eines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses [21].

Dem persönlichen Effizienzdruck des Mediziners kontrastiert zusätzlich der meist entspannte Zeitrahmen eines nicht mehr im Berufsleben stehenden alten Patienten. Dieser bringt oft viel Zeit mit: Ein Arztbesuch kann ihm einen Termin bedeuten, der den sonstigen Alltag unterbricht und auf den er sich seit längerem „vorbereitet“ hat. Evtl. bedeutet der Weg in die Praxis für einen alten Patienten eine große Anstrengung oder logistische Mühen (Angewiesenheit auf Angehörige, die hin- und zurückbringen). Wenn dieser persönliche Aufwand für einen Arztbesuch mit nur wenigen Minuten „beim Arzt drin“ abgegolten sein soll, ist oft die Enttäuschung groß – und das Vertrauen in die Fähigkeiten des Arztes evtl. irritiert.

Mit zunehmendem Lebensalter steigt die Alleinlebendenquote markant an [18]. Das ist nicht zwangsläufig ein Grund für Einsamkeit, aber doch ein Risikofaktor hierfür: Ist ein alter Patient zusätzlich einsam, kann hinsichtlich eines Arztbesuches die Erwartung vorherrschen, einen Gesprächspartner aufzusuchen und zwischenmenschlichen Kontakt zu erleben. Ein alter Patient kommt so womöglich mit einem großen Erzählbedarf – und ist zwangsläufig enttäuscht, wenn er das Gespräch schnell durch den unter Zeitdruck arbeitenden Arzt rüde unterbrochen werden hört.

Im Kontakt zwischen auf Effizienz trainiertem Arzt und dem langsamen, alten Patienten stoßen somit zwei unterschiedliche Welten aufeinander. Für den Arzt bedeutet das personalethisch wie fachlich eine Herausforderung: Ihm muss in dem kurzen, für ihn vertretbaren Zeitrahmen ein Gespräch und eine Untersuchung gelingen, worin er die für ihn wichtigen Informationen über den Gesundheitszustand des Patienten erhält und zugleich den Patienten nicht zu kurz kommen lässt. Das erfordert neben der im engeren Sinne medizinisch-fachlichen Kompetenz des Arztes ein hohes Maß an sozialer Kompetenz mit gekonnter Gesprächsführung, Geduld und Empathie. Anders läuft er Gefahr, das Vertrauen des Patienten zu irritieren oder ganz zu verlieren. Ist das Vertrauen gestört, fehlt eine wichtige Grundfeste für Compliance und Behandlungserfolg [16].

Beim alten Patienten kann die richtige Medikamentenverabreichung spezielle Schwierigkeiten beinhalten

Höheres Patientenalter bringt einen weiteren, das ärztliche Können fordernden Faktor mit sich: Wie der biologisch sehr junge Körper von Säuglingen und Kindern reagiert ein alternder Körper anders, häufig empfindlicher auf Medikamente. Das hat u.a. mit der Veränderung der Gewebe im Alter und mit verringerter Leber- und Nierenleistung zu tun [4]: Fakt ist, dass alte Patienten häufig geringere Dosen brauchen als jüngere – und häufiger Nebenwirkungen entwickeln. Problematisch daran ist, dass im Unterschied zur Behandlung von Kindern für den Arzt meistens keine eigenen, auf den alten Patienten zugeschnittenen, Dosierungsanleitungen existieren, die unbeabsichtigte Überdosierung oder Nebenwirkungen vermeiden helfen.

Die Praxis der Pharmaindustrie ist an diesem Problem wesentlich mitbeteiligt: Die zur Zulassung von Medikamenten führenden Studien werden in der Regel an relativ jungen, nach Möglichkeit von nur der einen zu untersuchenden Erkrankung betroffenen Probanden durchgeführt, die das Alter von 65–70 nicht überschreiten. Hiermit sind die Hochbetagten schon von vornherein ausgeschlossen [4]. Damit bewegt sich die Pharmaindustrie juristisch durchaus im grünen Bereich. Es gibt – bisher – keine Auflage, Medikamente in ihrer Wirkung und Nebenwirkung speziell auch an alten Patienten zu prüfen. Zusätzlich wird sie bei dem zu erwartenden Ergebnis eines ungünstig verschobenen Nutzen-Risiko-Profils auch kein Interesse haben, Studien explizit mit alten Patienten durchzuführen.

Zusammengefasst ist es ethisch problematisch, dass für den Teil der Bevölkerung, der den höchsten Anteil an verordneten Medikamenten schluckt, keine fundierte Studienlage vorliegt und damit das größte Risiko an unerwünschten Nebenwirkungen oder Falschverordnungen besteht. Es liegt viel in der Erfahrung und dem fachlichen Können des Arztes, mit diesem Vakuum individuell patientengerecht umzugehen.

Sozialethisch ist hinsichtlich der Entwicklung von Medikamenten eine stärkere Einbeziehung gerontopharmakologischer Aspekte zu fordern. Verordnungsanweisungen für Medikamente sollten auf die Notwendigkeit altersspezifischer Dosisanpassung hinweisen oder im Idealfall altersspezifisch ausdifferenziert werden. D.h., was für die Medikamentenverabreichung bei Kindern etablierte Praxis ist, muss auch für das andere Ende der Altersskala gelten. Ziel sollte sein, dass der verordnende Arzt für die über 65-jährigen Patienten, also die Altersgruppe, die die meisten Pharmazeutika einnimmt, Wirkung und Nebenwirkung genauer abschätzen und unerwünschte Risiken vermeiden kann.

Alte Patienten werden aufgrund ihres Alters diskriminiert

Alte Patienten sind allein aufgrund ihres höheren Alters und ihrer damit im Vergleich zur restlichen Bevölkerung geringeren Lebenserwartung in besonderer Weise von der Allokationsproblematik betroffen. Bereits oben erwähnt wurde die Diskrimination alter Patienten in Therapiestudien. Darüber hinaus stellt höheres Alter aber auch in der alltäglichen Indikationsstellung für medizinische Maßnahmen ein Kriterium dar, das zu tendenziell schlechterer Versorgung führen kann. Für verschiedene europäische Länder wurde bereits nachgewiesen, dass der Faktor „Alter“ ein implizites Rationierungskriterium ist [8, 15].

Ein typisches Beispiel für die Benachteiligung alter Menschen in Wissenschaft wie praktischer Therapieanwendung bilden die geriatrischen Tumorpatienten: Es ließ sich nachweisen, dass alte Patienten in Therapiestudien signifikant unterrepräsentiert sind [9]. Zusätzlich lässt sich in der Praxis ein Ausschluss älterer Patienten von Standardchemotherapien beobachten, der von sachlich nicht gerechtfertigten Vorurteilen und Unsicherheiten geleitet ist. Bei adäquater Berücksichtigung der Altersphysiologie ist diese Diskrimination medizinisch nicht haltbar [12].

Allokationsethisch ist zu fordern, implizite Rationierungskriterien zunächst einmal zu explizieren und damit in ihrer Verbreitung offenzulegen sowie einer Reflexion zuzuführen. Der staatlich garantierte Grundsatz zur Achtung der Menschenwürde steht mit seinem universalen Anspruch der zu beobachtenden Ungleichbehandlung alter Patienten entgegen. Personalethisch wäre wünschenswert, Ärzte während ihrer Ausbildung für dieses Problem der oftmals unbewusst verlaufenden Diskriminierung Älterer zu sensibilisieren und dem Erwerb von Kenntnissen in Altersphysiologie mehr Raum zu geben, um das Risiko der Benachteiligung alter Patienten aufgrund von Unwissen oder Unsicherheiten zu verringern.

Der alte Patient ist häufig multimorbide

In höherem Alter nimmt die Prävalenz chronischer Erkrankungen zu. Das führt am alten Patienten gehäuft zu Multimorbidität und damit einhergehender Polypharmakotherapie. Laut der Berliner Altersstudie liegen bei 35,5% der über 70-Jährigen mindestens fünf mittel- oder schwerwiegende Erkrankungen vor. 38% der über 70-Jährigen nimmt mindestens fünf Medikamente gleichzeitig ein [19]. Das kann Folgendes bedeuten:

Das Problem unbekannter Interaktionen bei Parallelverordnung verschiedener Medikamente

Ein multimorbider Patient bekommt aufgrund verschiedenster Erkrankungen von verschiedenen Ärzten unterschiedliche Medikamente verordnet. Es ergibt sich das Riesenproblem unbekannter Wechselwirkungen, dem derzeit noch relativ geringe Aufmerksamkeit zukommt. Niemand weiß sicher, was ein Verordnungsplan, der schnell täglich acht bis zehn Medikamente umfasst, bei dem diese Substanzen einnehmenden Menschen bewirkt [22].

Dieses medizinische wie ethische Problem ist Resultat verschiedener Charakteristika medizinisch-pharmazeutischer Forschung und Praxis:

Es gibt bisher kaum Studien über Nebenwirkungen oder Interaktionen bei Paralleleinnahme verschiedener Medikamente. Bei dem unüberschaubaren Markt an Pharmazeutika dürfte es auch unmöglich sein, alle erdenklichen Kombinationen nach wissenschaftlichen Standards zu untersuchen.

Es ist also unbekannt, welches Nutzen-Risiko-Profil die am Multimorbiden notwendige Kombination von Medikamenten enthält. Auch ein Arzt mit hohem Anspruch an seine fachliche Kompetenz kann einem Patienten nicht garantieren, dass ein zusätzliches neu verordnetes Medikament zum Nutzen des Patienten wirkt.

Die zunehmende Spezialisierung in der Medizin verschärft dieses Problem: Jeder Arzt kennt sich vorrangig auf einem sehr eingegrenzten Feld einer medizinischen Fachrichtung gut aus. Alles Darüberhinausgehende wird an den seinerseits spezialisierten Kollegen weiterverwiesen. Einen umfassenden Blick auf den Patienten hat nur noch der Patient selbst, der mit seinen Fragen: „Sind das nicht zu viele Medikamente?“ oder „Kann ich denn all diese Medikamente gefahrlos parallel einnehmen?“ ohne Antwort von einem Facharzt zum nächsten wandert.

Im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Ärzte sind angewiesen, ihre Patienten anhand der von den einzelnen Fachgesellschaften herausgegebenen Leitlinien zu behandeln. Diese sind ihrerseits vorwiegend von Spezialisten anhand der verfügbaren wissenschaftlichen Studienlage erstellt. Aufgrund der bereits beschriebenen Forschungspraxis mögen Leitlinien, die sich aus der Studienübersicht ableiten, optimal sein für Patienten, die ein Alter von 65 unterschreiten und vornehmlich an der zu untersuchenden Erkrankung leiden. Wie die empfohlenen Medikamente und Dosen am alten Patienten wirken, der zum einen bereits aufgrund seines alternden Körpers anders oder empfindlicher auf Medikamente reagiert, und zum anderen zusätzlich täglich eine Vielzahl weiterer Tabletten zu schlucken hat, wird nicht berücksichtigt [3]. Es ist fraglich, ob eine streng leitlinienorientierte Verordnungspraxis für den alten Patienten nicht zutrifft oder ihm in Einzelfällen sogar schadet [3].

Apotheken, zunehmend auch Drogerien und Supermärkte bieten diverse frei verkäufliche Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel oder sogenannte „Lifestyle-Produkte“ an, die ohne Rezept erhältlich sind. Oft werden diese vom Patienten dem Arzt gegenüber nicht erwähnt oder auch nicht erfragt. Scheinen solche rezeptfreien Produkte zwar per se unbedenklich, so ist dennoch nicht zu unterschätzen, dass sie auch eine Wirkung haben, die sich im Verbund mit weiteren Pharmazeutika gefährlich potenzieren oder verändern kann. Ein Beispiel ist die Wirksteigerung von Psychopharmaka bei Einnahme von Heilkräuter-Essenzen, die oftmals einen nicht unerheblichen Alkoholgehalt haben.

Es zeigt sich, dass die Verordnung von Medikamenten an alte, multimorbide Patienten zahlreiche, medizinisch-fachliche wie ethische Probleme impliziert, die bisher ungenügend berücksichtigt werden. In einer Gesellschaft mit immer mehr alten und multimorbiden Menschen ist es sozialethisch geboten, im wissenschaftlichen Bereich verstärkt die Frage pharmazeutischer Interaktionen im Blick zu haben sowie im praktisch-klinischen Bereich Ärzte für das Problem unbekannter Wechselwirkungen und damit verbundener iatrogener Erkrankungen und Krankenhauseinweisungen zu sensibilisieren. Diese Sensibilisierung kann mit einer entsprechenden Gewichtung von gerontopharmakologischen Aspekten im Medizinstudium anfangen.

Chronische Erkrankung und Pflegeintensität multimorbider Patienten

Alte, multimorbide Patienten sind meist chronisch krank und häufig pflegeintensiv.

Bei chronisch kranken Patienten muss der kurative Ansatz hinter rehabilitativen oder palliativen Therapieprinzipien zurücktreten. Diese Prinzipien verlangen vom Arzt, sich mit den Grenzen seiner medizinischen (nicht der menschlichen!) Fähigkeiten konfrontieren zu lassen, was eine eigene psychische Herausforderung bedeuten kann: Es ist für beide Seiten in der Regel befriedigender und dankbarer, einem Patienten Heilung anbieten zu können.

Auf fachlicher Ebene muss der Arzt die medikamentöse Therapie solcher Patienten in Abhängigkeit von Wunsch und Konstitution des Patienten anpassen: Anstelle von maximaler Therapie gilt es, eine individuelle Rangliste der realistischen Behandlungsziele zu erstellen und danach einen individuellen Kompromiss an verträglicher – im Zweifelsfalle reduzierter – Medikamentenkombination zu ermitteln [7, 22].

Ein pflegeintensiver Patient stellt im häuslichen wie im stationären Bereich eine besondere physische wie psychische Belastung dar. Für den konkreten Arzt-Patienten-Kontakt und die fachliche Qualität des Arztes bedeutet das Problem der Pflegeintensität eines multimorbiden Patienten, dass dieser häufiger auf pflegerische Probleme und Formalitäten (Beantragung Pflegestufe, Hilfsmittel) als die vorrangigen Anliegen seiner Patienten und/oder deren Angehöriger vorbereitet sein muss. Die reine Therapieverordnung tritt hinter der Domäne Krankheitsbegleitung und Gesprächsführung zurück.

Die Faktoren chronische Erkrankung und Pflegeintensität multimorbider Patienten fordern den Arzt verstärkt in den Rollen als Zuhörer und Begleiter sowie als Anwalt in bürokratischen Angelegenheiten zur Finanzierung der Pflege. In Hinsicht auf die richtige Therapie ist seine fachliche Kompetenz darin gefragt, anstelle maximaler medikamentöser oder operativer Therapie einen für den individuellen Patienten geeigneten Kompromiss zu finden.

Angesichts einer zu erwartenden ansteigenden Häufung von Arzt-Kontakten mit dieser Patientengruppe ist aus personalethischer Sicht zu fragen, ob Ärzte während des Studiums ausreichend auf diese Situationen mit ihren eigenen Erfordernissen vorbereitet sind. Sozialethisch ist zu fragen, wie die nicht-medizinischen Aufgaben besser delegiert werden können, ohne dass die Patienten einer noch weitergehenden, unübersichtlichen Fraktionierung ihrer Gesundheitsangelegenheiten ausgeliefert sind. Die Fragen nach einer angemessenen Berücksichtigung von zunehmend pflegeintensiven Patienten im Personalschlüssel von Kliniken und Heimen sowie eine ausreichende psychosoziale und finanzielle Unterstützung pflegender Angehöriger stellen ein eigenes Diskussionsfeld von Sozialethik und Gesundheitsökonomie dar. Zudem beginnt hier die Diskussion um Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen: Bei zu erwartender Zunahme der Zahl von pflegeintensiven Patienten wird eine Umverteilung der Finanzen zugunsten dieser Patientengruppe unumgänglich sein, wenn diesen Menschen eine menschenwürdige Pflegesituation garantiert werden soll. Ethisch problematisch ist zudem die in diesem Themenbereich von Pflegeintensität und -kosten ihren Ausgang nehmende vorwiegend negative Wahrnehmung alter Menschen in der Gesellschaft [11].

Der alte Patient ist bei zunehmendem Alter mit einer wachsenden Wahrscheinlichkeit dement

Beträgt die Prävalenz der Altersdemenz in der Altersguppe zwischen 60–64 noch 0,7%, so liegt sie bei den 75- bis 79-Jährigen bereits bei 5,6% und in der Altersgruppe der 85- bis 89-Jährigen bei 20,8% [10]. In einer Gesellschaft mit wachsendem Anteil an Alten und Hochbetagten bedeutet das für die ärztliche Praxis zunehmend häufigen Kontakt zwischen Arzt und dementem Patienten. Für den konkreten Kontakt zwischen Arzt und Patient kann der wachsende Anteil an kognitiv eingeschränkten Patienten Folgendes bedeuten:

Erschwerte Kommunikation und Untersuchungssituation am dementen Patienten

Ein normales Arzt-Patienten-Gespräch ist eingeschränkt oder gar nicht möglich. Die körperliche Untersuchung ist bei gestörter Kooperation erschwert. Es sind Angehörige oder Betreuer mit einzubeziehen, die die für die Anamnese und Untersuchung erforderlichen Auskünfte geben können. Die Antwort kann unklar bleiben, wenn die Stellvertreter ebenso an kommunikative Grenzen stoßen wie der behandelnde Arzt. Zudem gibt es für den Arzt keine Garantie, dass diese stellvertretend für den Patienten antwortenden Personen wirklich im Sinne des Patienten sprechen. Die Eigeninteressen und der eigene Erwartungshorizont der stellvertretend antwortenden Angehörigen oder Bevollmächtigten können die Antwort am Patienten vorbei verzerren. Somit ist die Behandlung dementer Patienten mit wiederum besonderen Anforderungen an Zeitbudget sowie Kommunikationsfähigkeit des Arztes verbunden, da bereits der Weg zu Krankheitsdaten und Untersuchungsergebnissen erschwert ist.

Die Kongruenz zwischen Arzt und Patient ist nicht so sicher gewährleistet wie im Fall der Behandlung eines kognitiv nicht eingeschränkten Patienten: Gehört die Versicherung darüber, ob ein ärztlich geratenes Therapeutikum oder Therapieziel mit dem individuellen Wunsch des Patienten übereinstimmt, zu den Grundprinzipien ärztlichen Handelns, so ist diese im Umgang mit dem alten und dementen Patienten aufgrund der kommunikativen Barriere und des notwendigen „Umwegs“ über Angehörige und/oder bevollmächtigte Personen sowohl aufwendig als auch aus oben genannten Gründen unsicher.

Ein Patient in fortgeschrittenem Stadium einer Demenz ist im juristischen Sinne nicht geschäftsfähig. Der Arzt untersteht aber auch und gerade im Umgang mit einem kognitiv eingeschränkten Patienten dem Gebot, die Autonomie des Patienten zu berücksichtigen. D.h., er bedarf der Einwilligung des Patienten. Im Falle eines dementen Patienten bedeutet das die juristische Notwendigkeit der Information und Einwilligung des Gesundheitsbevollmächtigten über Therapieplan und -ziel, bzw. im Akutfall zunächst den Anstoß zur Einrichtung einer solchen Vollmacht. Die Behandlung eines dementen Patienten kann damit für den Arzt in erhöhtem Maße juristische Implikationen mit sich bringen, die den normalen Ablauf eines Arzt-Patienten-Kontaktes verkomplizieren. Neben diesen juristischen Implikationen wirft die Behandlung eines dementen Patienten eine Fülle von praktischen wie ethischen Fragen auf, um deren Beantwortung in Politik und Gesellschaft seit Jahren gerungen wird: Es ist unklar, wie bei einer eingeschränkt kommunikationsfähigen Person der mutmaßliche Wille verbindlich ermittelt werden kann, bzw. wie non-verbale Willensäußerungen richtig zu interpretieren sind und welche Verbindlichkeit ihnen ggf. zukommt. Diese Unsicherheit gilt im Falle jeglicher medizinischen Intervention, besonders schwerwiegend stellt sie sich in der Entscheidungssituation vor Maßnahmen zur Lebensverlängerung oder -erhaltung, wie parenteraler Ernährung, oder angesichts vital bedrohlicher Zustände dar. Wie ist hierüber eine dem Patienten gemäße Entscheidung zu fällen, wenn dieser seine Meinung nicht eindeutig äußern kann? Im Falle von vorab hinterlegten Patientenverfügungen ist bei Patienten mit Demenz umstritten, welche Gültigkeit darin verfügte Wünsche haben sollen. Die Frage nach Kontinuität der Person bei Entwicklung einer Demenz ist nicht sicher zu beantwortenFootnote 2.

Bei der Behandlung eines dementen Patienten werden vom Arzt in besonderem Maße Kompetenzen in Gesprächsführung und Empathie gefordert. Ebenso fällt ein erhöhter Zeitaufwand an. Aus sozial- wie personalethischer Perspektive ist Wachsamkeit hinsichtlich der Wahrung zweier Grundprinzipien ärztlichen Handelns geboten: die Autonomie des Patienten zu wahren sowie sich, soweit möglich, der Kongruenz mit dem Patientenwillen zu versichern. Juristische Notwendigkeiten und bisher nicht abschließend beantwortete praktische wie ethische Unsicherheiten können dabei die Behandlung eines dementen Patienten verzögern oder erschweren.

Problematik der Indikationsentscheidung über eine antidementive Therapie

Die Behandlung eines dementen Patienten wirft die Frage nach Indikation für ein Antidementivum auf. Hier beginnt die eigene ethische Debatte um die Verordnung von Antidementiva. Sei es die Diskussion um den fraglichen symptomatischen Nutzen dieser Nootropika, die umstrittene Wertigkeit einer evtl. durch sie erreichbaren Verzögerung des kognitiven Abbaus oder die allokationsethische Abwägung von Kosten und Nutzen einer „flächendeckenden“ Verordnung [6, 13, 20]: Der Arzt ist bei der Verordnung eines Antidementivums nicht nur in seiner fachlichen Kompetenz gefordert. Vor dem Hintergrund der angedeuteten aktuellen Kontroverse betritt er ein ethisch brisantes Feld. Noch mehr als bei der Verordnung anderer Medikamente ist bei Indikationsstellung für eine antidementive Therapie eine je neu durchzuführende, der individuellen Person angepasste, gründliche Abwägung der Kosten-Nutzen-Risiko-Aspekte geboten. Für den behandelnden Arzt ist eine vorherige persönliche Auseinandersetzung und Positionierung zu o.g. Fragen daher unerlässlich.

Zusammenfassung

Die moderne Medizin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in Richtung Effizienz, Technisierung und Spezialisierung entwickelt. Im praktischen Alltag sind die Ärzte vornehmlich auf Schnelligkeit und unter ökonomischem Druck auf „hohen Patientendurchlauf“ trainiert. Bei zunehmender Anzahl von Alten und Hochbetagten in Arztpraxen und Krankenhäusern ergibt sich aus ethischer Sicht nun ein vielschichtiges Problem diametraler Entwicklungen:

Eine Medizin, die sich in den letzten Jahren rasant in Richtung Geschwindigkeit und Effizienz entwickelt hat (und damit für einen Großteil an Patienten auch qualitativ hochwertige Hilfe bieten kann), muss einem wachsenden Anteil an Patienten gerecht werden, die nicht in diesen Rahmen passen: Alte Patienten brauchen Zeit.

Die moderne Medizin unterhält einen unüberschaubaren Markt von Pharmazeutika, die für den Einzelfall gründlich getestet und wirksam sind, für den alten, multimorbiden Patienten im Rahmen einer Polypharmakotherapie hingegen eine Gefahr bedeuten können. Es besteht das Dilemma, dass die Altersgruppen, die am häufigsten Ärzte aufsuchen und die die meisten Medikamente verordnet bekommen, in der pharmakologischen Forschung und in der Struktur des medizinischen Alltags am schlechtesten berücksichtigt sind. Mit ihrem biologisch alten Körper gehorchen die Alten mitunter eigenen Maßstäben und unterstehen als Multimorbide einem besonders hohen Risiko unbekannter pharmazeutischer Interaktionen.

Im Kontrast zu einer immensen Anzahl an Pharmazeutika und Therapiemöglichkeiten beläuft sich die medizinische Kompetenz bei der Pharmakotherapie für alte Patienten oftmals auf eine Reduktion der Medikamentendosis und Beschränkung der verordneten Mittel.

Die mit der Maßgabe einer evidenzbasierten Medizin und dem Alltag im DRG-System einhergehende Pauschalisierung von Patienten unter Leitlinienstandards steht konträr zu den Erfordernissen eines multimorbiden Patienten, dem man medizinisch am ehesten mit einer individuell zugeschnittenen, evtl. am Kompromiss ausgerichteten, Therapieplanung im Rahmen des (noch) Möglichen gerecht wird.

Alte Patienten sind häufig chronisch krank und evtl. pflegeintensiv. Statt akuter medizinischer – kurativ ausgerichteter – Hilfe sind seitens des Arztes eher die weniger medizinisch-technischen als die zwischenmenschlichen Qualitäten von kontinuierlicher Krankheitsbegleitung und -erleichterung gefordert. Bei Pflegeintensität sind zusätzlich weit über das Medizinisch-Fachliche hinausgehende sozialdienstliche Qualitäten und Kenntnisse gefordert, die der Alltagsbewältigung der Patienten dienen, die aber in der medizinischen Ausbildung und im ärztlichen Alltag nicht vorgesehen sind.

Der Zuwachs an medizinischem Wissen und die aktuelle Entwicklung im Gesundheitswesen bringen eine zunehmende fachliche Spezialisierung des Arztberufes mit sich. Hiermit einher geht eine zweckgebunden reduktionistische Perspektive auf den Patienten. Demgegenüber erfordern alte Patienten im Falle von Multimorbidität vom medizinischen Personal einen umfassenderen Blickwinkel mit Überblick über die Parallelbehandlungen und einen ganzheitlichen Ansatz, der die Gesamtsituation des Patienten im Blick behält.

Im Falle der Diagnose von Demenz steht zum einen – noch mehr als schon durch den Faktor Alter an sich gegeben – der erhöhte Zeitaufwand der erhöhten Geschwindigkeit heutiger Medizin gegenüber. Zusätzlich überkreuzen sich die unter dem Druck zu mehr Effizienz und Qualitätssicherung zunehmende Tendenz zu Pauschalisierung unter leitlinienstandardisiertem Behandeln mit der sozial- wie individualethisch gebotenen Notwendigkeit individuell zentrierter Sorgfalt bei der Entscheidung über eine antidementive Therapie.

Unter dem Druck, schnell, wirtschaftlich und leitlinienstandardisiert arbeiten zu müssen, zeichnen sich in unserem Gesundheitswesen Tendenzen ab, die den Bedürfnissen einer altersgerechten Medizin zuwiderlaufen. Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels besteht damit die Gefahr, dass ein in den nächsten Jahren immer größer werdender Anteil von Patienten physisch wie psychisch inadäquat behandelt wird. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, müssen gerontologische Anforderungen verstärkt in Struktur- und Finanzierungsplänen des Gesundheitssystems, in die pharmazeutische Forschung sowie in die Ausbildung des Medizinstudiums einbezogen werden.

Thesen

  • Wenn der moralische Stand einer Gesellschaft sich am Umgang mit ihren Schwachen misst, ist sie im Umgang mit alten Patienten – ähnlich wie gegenüber kranken Kindern – zweifach gefordert: durch das Alter und die Krankheit, was zusammen ein hohes Maß an Schwäche und Hilfsbedürftigkeit bedeuten kann.

  • Gesundheitspolitik muss Finanzierungskonzepte für Praxen wie Kliniken anstreben, die den Mehraufwand in Behandlung und Pflege von alten Patienten angemessen berücksichtigen, damit deren medizinische Versorgung nicht vernachlässigt wird.

  • Eine stärkere Einbeziehung pflegender Angehöriger ist wünschenswert. Hierzu ist eine verstärkte psychische wie finanzielle Unterstützung anzustreben. Ebenso scheint eine bessere Vernetzung privater und professioneller Pflege notwendig.

  • Im Bereich von medizinisch-pharmazeutischer Forschung und Medikamentenentwicklung ist eine stärkere Einbeziehung gerontopharmakologischer Fragestellungen zu fordern.

  • Da zunehmend Ärzte aller Fachrichtungen mit den speziellen Anforderungen der alten Patienten konfrontiert sein werden, muss bereits während der Ausbildung sowie während der Berufsausübung auf die besonderen Erfordernisse und Situationen im Kontakt mit alten Patienten vorbereitet werden (Vermeidung von iatrogenen Verschlechterungen des Gesundheitszustandes und Klinikeinweisungen durch inadäquate Behandlung).

  • Die Fraktionierung im Gesundheitswesen durch Spezialisierung des Arztberufes macht die Behandlung alter, multimorbider Patienten zunehmend unübersichtlich. Es muss eine Instanz (Hausarztmodell? Rückkehr der Gemeindeschwester?) gestärkt werden, bei der zwischenärztliche Kommunikation zusammenläuft und ein ganzheitlicher Überblick gewahrt bleibt, um den primären Interessen und der Lebensqualität des alten Patienten gerecht werden zu können.

  • Eine stärkere Vernetzung von ärztlichen, pflegerischen und sozialdienstlichen Tätigkeiten ist anzustreben, um eine bessere ganzheitliche Sorge für den Patienten zu erreichen. Mit derselben Intention ist eine bessere Kommunikation zwischen ambulanter und stationärer Medizin wünschenswert.

  • In der Öffentlichkeit ist auf eine ausgewogene und sorgfältige Diskussion über die Alten zu achten, damit diese nicht aufgrund negativer Stigmatisierung von vornherein abgelehnt oder unterberücksichtigt werden: Alter per se ist keine Krankheit.