Epidemiologie

Das Schultergelenk ist das am häufigsten luxierte Gelenk im menschlichen Körper [1,2,3].

Die Jahresinzidenz liegt bei 8,2–23,9 pro 100.000 [4, 5]. Das Risiko der primären traumatischen Schulterluxation ist abhängig von Geschlecht und Alter. Hazmy et al. (2005) haben in ihrer Publikation von 105 im Notfallsetting aufgenommenen Patienten den Anteil männlicher Patienten mit 77–82 % beziffert [6]. Handoll u. Al-Maiyah geben in ihrem Cochrane Review von 2004 folgende Geschlechtsverteilung an [7]:

  • männlich : weiblich = 9:1 (21–30 Jahre),

  • männlich : weiblich = 1:3 (50–70 Jahre).

Das mittlere Alter für anteriore Erstluxationen beträgt 29–30,9 (11–90) Jahre, wobei in 48,6 % der Fälle das Schultergelenk bei Personen von 15–29 Jahren luxiert. Erstluxationen sind in 73,6 % zu erwarten. In 68 % ist die rechte Schulter betroffen [6]. Auslösende Ereignisse sind Stürze (37 %), Verkehrsunfälle (23 %), Sport(unfälle; 17 %) und in 13 % bindegewebige Erkrankungen [6].

Bei Heranwachsenden (10–16 Jahre) spielt das Alter eine entscheidende Rolle für die Inzidenz [8]: Die Inzidenz ist bei 16-jährigen männlichen Jugendlichen am höchsten (164,4 pro 100.000 Personen/Jahr) und damit das Risiko 24,14-mal (95%-Konfidenzintervall, 95%-KI: 3,71–156,99) höher als bei jüngeren Heranwachsenden [9]. Die geringste Inzidenz ist bei Jugendlichen im Alter von 10–12 Jahren zu finden.

Reluxation sind in 38 % der Fälle bei männlichen 14- bis 16-Jährigen häufiger als bei noch jüngeren Adoleszenten. Jungen haben ein 3,44-Faches (95%-KI: 0,98–12,06) Risiko für die Entwicklung von Reluxationen [8]. Traumatische Erstluxationen beim Sport haben eine 89%ige Wahrscheinlichkeit für eine Reluxation; bei nicht sportbedingten Traumata ist dies nur in 76 % der Fall [8].

Das Reluxationsrisiko ist bei geschlossener humeraler Epiphyse höher als bei einer noch offenen

Das Risiko für eine Reluxation ist bei geschlossener humeraler Epiphyse höher als bei einer noch offenen (Odds Ratio, OR: 14,0; 95%-KI: 1,46–134,25) [8].

Das Ziel dieser thematisch umfassenden Literaturübersicht ist es, das aktuelle Forschungswissen zur primären anterioren Luxation des glenohumeralen Gelenks zusammenzufassen. Im Rahmen einer am 02.06.2021 in PubMed durchgeführten Literatursuche wurden 2236 Artikel zu dem Thema gefunden. Suchanfrage: („Shoulder“[Title] AND („luxation“[Title] OR „dislocation“[Title])) NOT („arthroplasty“[MeSH Terms] OR „arthroplasty“[All Fields] OR „arthroplasties“[All Fields] OR „acromio*“[All Fields]) = 2236. Plus filter article typ = systematic review and meta-analysis = 36; manuelle Auswahl = 26.

Das Interesse der Forschung an dem Thema scheint ungebrochen hoch. Allein in den letzten 15 Jahren wurden 802 Artikel publiziert, davon 27 im Jahr 2021 (Abb. 1). Hauptgegenstand der vorliegenden Arbeit sind 26 Übersichtsarbeiten, die aus der Suche in PubMed hervorgingen. Diese Arbeiten beantworteten thematisch sehr eng gestellte Fragestellungen. Nach bestem Wissen war ein aktuelles und umfassendes Review zu diesem thematischen Ansatz nicht zu finden.

Abb. 1
figure 1

Publikationshäufigkeiten (basierend auf PubMed. Suchanfrage: traumatic AND anterior AND „shoulder dislocation“ vom 03.09.2021. Abgerufen von https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/?term=traumatic+AND+anterior+AND+%22shoulder+dislocation%22) [10]

Gelenkaufbau und -funktion

Die Stabilität eines Gelenks wird grundsätzlich von 3 wesentlichen Anteilen bestimmt:

  • ossäre Gelenkflächenkonstruktion,

  • ligamentäre und

  • neuromuskuläre Eigenschaften.

Das glenohumerale Gelenk verfügt über einen geringen ossären und ligamentären Beitrag zur Stabilisation. Das Labrum glenoidale und die rechtzeitige und ausdauernde neuromuskuläre Führung des Humeruskopfs sind entscheidend [11]. Einige Autoren bezeichnen das Labrum glenoidale als den hauptsächlichen Faktor der Stabilität [12, 13]. Muskulär komprimieren die Rotatorenmanschette und der Deltamuskel den Humeruskopf gegen das Glenoid und das Labrum glenoidale (Abb. 2; [13]).

Abb. 2
figure 2

ab Zugrichtungen der Rotatorenmanschettenmuskeln. (Mod. nach Bain et al. (2019) [13], Zeichnungen: David Bosch, mit freundlicher Genehmigung, alle Rechte vorbehalten)

Die Kontraktion des Bizeps zieht das bewegliche Labrum glenoidale superior auf den Humeruskopf und strafft die glenohumeralen Bänder [13]. Das Lig. coracohumerale ist ein sensorisches Organ, das mit den Sehnen der Rotatorenmanschettenmuskeln in Verbindung steht und als Servomechanismus die Kraft der Rotatorenmanschette zur Bereitstellung von Stabilität, Kontrolle und Bewegung sowohl sensibel meldet als auch mechanisch umleitet (Abb. 3; [13]).

Abb. 3
figure 3

Lage des Lig. coracohumerale. (Mod. nach Bain et al. (2019) [13], Zeichnung: David Bosch, mit freundlicher Genehmigung, alle Rechte vorbehalten)

Variationen der ossären Anteile haben einen Einfluss auf die Prädisposition für fehlende Stabilität. Für wiederkehrende anteriore Luxationen haben Cyprien et al. (1983) festgestellt, dass nicht die Retrotorsion des Humerus, sondern der geringere Durchmesser des Glenoids und der kleine Kontaktindex prädisponierend sind [14]. Der Retroversionswinkel des Glenoids spielt eine wichtige Rolle bei der Gelenkzentrierung und der posterioren Translation, insbesondere bei Retroversionswinkeln von mehr als 10°. Die Glenoidneigung („glenoid version“) hat einen direkten Einfluss auf die für eine anteriore Luxation erforderliche Kraft. Eine vermehrte anterior-inferiore Neigung erfordert weniger Energie für eine Luxation und führt zu einem geringeren Risiko für die Entwicklung einer Hill-Sachs-Läsion [15].

Schulterluxation

Bei einer Schulterluxation liegt ein statischer bzw. vorübergehender vollständiger Kontaktverlust des Caput humeri gegenüber dem Glenoid vor (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Röntgenaufnahme a.-p. bei einer anterioren Schulterluxation. (Case courtesy of Dr. Vikas Shah, Radiopaedia.org, rID: 62877, alle Rechte vorbehalten)

Die Einteilung von Schulterluxationen kann verschieden betrachtet werden [16]:

  • ätiologisch: traumatisch, habituell;

  • Häufigkeit: primär, rezidivierend;

  • morphologisch: je nach begleitend verletzter Struktur des Gelenks (z. B. Labrum glenoidale);

  • Richtung der Luxation: z. B. inferior.

In diesem Review wird die primäre anteriore (inferiore) Luxation besprochen. Sie ist mit 95–96,2 % die häufigste aller Schulterluxationen [1], im Gegensatz zur posterioren Dislokation (< 2–4 %) [6] und inferioren Dislokation (± 1 %) [1].

Als Risikofaktoren für primäre traumatische anteriore Schulterluxation (TAS) werden in der derzeitigen Literatur folgende Aspekte diskutiert.

  • Alter: meist 15–29 Jahre [6],

  • bei Männern: Teilnahme am Sport [6],

  • bei Frauen mit einem Alter über 40 Jahre: verbunden mit einem Sturz [6],

  • ossäre Prädispositionen: geringerer Glenoiddurchmesser und kleiner Kontaktindex (Humerus – Glenoid) [14] sowie eine anteriore Glenoidneigung [13].

Skapulare Dyskinesie ist kein entscheidender Risikofaktor für „Schulterverletzungen“ (Risk Ratio, RR: 1,07; 95%-KI: 0,85–1,34; p = 0,59), wobei die traumatischen Schulterluxationen nicht explizit herausgestellt wurden [17].

Diagnostik und Erstbehandlung

Klinisch erscheint die frische TAS mit den typischen begleitenden Schmerzen einer traumatischen Arthritis und einer antalgischen Haltung des betroffenen Arms in Adduktion und Innenrotation. Ein Verlust der normalen Deltakontur und ein hinterer Sulkus können sichtbar sein. Palpatorisch ist der Humeruskopf anterior meist tastbar [2].

Hinsichtlich des weiteren Prozedere der Erstversorgung unterscheiden sich die Angaben verschiedener Autoren:

Im Allgemeinen wird folgender Ablauf empfohlen: Erst Bildgebung, dann Reposition ohne Verzögerung bei einfacher Luxation [18], gefolgt von der Entscheidung über weitere Maßnahmen. Vor allem die Abklärung von Frakturen entscheidet über den weiteren therapeutischen Ansatz.

Andere Autoren empfehlen eine manuelle Reposition schon an der Seitenlinie des Spielfelds. Primäre Bildgebung (a.-p., „lateral Y view“, d. h. Schulter seitlich), so postulieren es Fennelly et al. (2020) [19], sei nicht erforderlich, es sein denn eine der folgenden 3 Bedingungen ist erfüllt:

  • Alter über 40,

  • erstmalige Luxation und/oder

  • traumatischer Verletzungsmechanismus.

Sind diese 3 Faktoren nicht erfüllt, besteht ein negativer Vorhersagewert von 96,6 % für eine assoziierte Fraktur [2]. Eine frühe prähospitale Reposition am Spielfeldrand wird für Athleten empfohlen, da sie die Return-to-Sport-Zeit verringert [19].

Neben der primären Bildgebung durch Röntgen haben auch weitere bildgebende Verfahren ihren Stellenwert [2]:

  • Ultraschalldiagnostik (Abb. 5),

  • Magnetresonanztomographie (MRT),

  • Angiographie.

In dem Review von Hasebroock et al. (2019) berichten 5 von 7 Studien über eine Sensitivität und Spezifität der Ultraschalldiagnostik von 100 %. Die Vorteile dieses Verfahrens liegen auf der Hand: geringere zeitliche Verzögerung bis zur Behandlung, geringere Kosten, keine Strahlenbelastung und geringere Notwendigkeit einer Sedierung. Eine MRT sollte nur bei Verdacht auf knöcherne, labrale, neurale oder kapsuläre Verletzungen und eine Angiographie nur bei Verdacht auf arterielle Verletzungen (in 2 %) durchgeführt werden.

Abb. 5
figure 5

Ultraschallbild mit lateraler Ansicht einer anterioren Schulterluxation. (Case courtesy of Dr. Maulik S Patel, Radiopaedia.org, rID: 23060, alle Rechte vorbehalten)

Die Erstbehandlung besteht darin, den Humerus zu reponieren

Die Erstbehandlung besteht darin, den Humerus zu reponieren [2]. Dies wird als „geschlossene Reposition“ bezeichnet, wenn sie ohne operativen Eingriff durchgeführt wird [20] und ist das übliche Verfahren in 92,4 % der Fälle; eine „offene Reposition“ wird chirurgisch durchgeführt [6].

Eine frühe Reposition reduziert neurovaskuläre Schäden, wobei es keinen Konsensus über die Zeitachse gibt. Es sind über 20 verschiedene Repositionsmethoden bekannt [2]. Empfohlen wird die Methode von Bokor-Billmann (Freiburg) [21].

Videos:

Fennelly et al. (2020) haben in ihrem Review über 40 Artikel (2015–2018) mit folgenden Hinweisen zur geschlossenen Reposition zusammengetragen [19]:

  • Humerusfrakturen sind kontraindiziert für die manuelle konservative Reposition;

  • nach der Reposition sind keine unmittelbaren Komplikationen zu erwarten;

  • sofortige Rückbildung von neurologischen Symptomen;

  • die Erfolgsrate beim ersten Versuch beträgt 72,3–94,9 % (von erfahrenen Ärzten durchgeführt);

  • höhere Erfolgsrate bei lokaler Analgesie (geringerer Muskeltonus) und etwas Sedierung;

  • frühe Reposition senkt die Rezidivraten und wirkt sich positiv auf die Wiederherstellung der Kraft und der Gelenkbewegung aus.

Komplikationen

In der aktuellen Literatur werden die folgenden Komplikationen primärer traumatischer anteriorer Schulterluxation genannt:

  • Verletzungen des anteroinferioren Labrums (nach Bankart/Perthes) und des knöchernen Glenoidrands („bony Bankart“) [18]:

    • Sie treten in 73 % bei Erstluxationen und in 97,11 % bei chronischen Luxationen auf.

    • Diese Verletzungen erhöhen die Reluxationsgefahr deutlich.

    • Ein chirurgisches Management wird ab einer Läsion ≥ 20 % der Labrumfläche notwendig.

  • Hill-Sachs-Läsion (Impressionsfraktur) am Humeruskopf in 54 % bei anteriorer Schulterluxation ([2]; Abb. 6);

  • Rupturen der anteroinferioren Kapsel: 7–32 % mit Instabilitätsprognose; bei Älteren grundsätzlich vorkommend [2];

  • Kombination von „bony Bankart“ und Hill-Sachs-Läsion in 10 % [22];

  • Rotatorenmanschettenrupturen: häufig bei Personen > 35–40 Jahre;

  • Frakturen des Tuberculum majus:

    • Sie treten in etwa 10–42 % auf (Abb. 7).

    • Weniger als 1 % der Patienten im zweiten und dritten Lebensjahrzehnt haben eine assoziierte Fraktur.

    • Bei Patienten über 40 ist die Inzidenz von Humerusfrakturen deutlich höher [19].

  • Frakturen und vaskuläre Verletzungen sind stark miteinander assoziiert [2].

  • Verletzungen des Plexus brachialis durch den Verletzungsmechanismus und Kompression des N. axillaris durch anteriore Dislokation treten in 45–48 % aller Fälle auf [2].

Abb. 6
figure 6

Magnetresonanztomographie (MRT) einer Hill-Sachs-Läsion. (Case courtesy of Dr Ahmed Abdrabou, Radiopaedia.org, rID: 36769, alle Rechte vorbehalten)

Abb. 7
figure 7

Tuberculum-majus-Fraktur im a.-p.-Röntgenbild. (Case courtesy of Dr. Bruno Di Muzio, Radiopaedia.org, rID: 38246, alle Rechte vorbehalten)

Operative Versorgung

Aydin et al. (2019) fassen die entscheidenden Kriterien, die für eine chirurgische Behandlung sprechen, wie folgt zusammen [2]:

  • Alter: < 30 Jahre, ausgenommen junge Heranwachsende;

  • Aktivitätsgrad: Sportler, v. a. mit Überkopfbeanspruchungen;

  • ossäre Komplikationen;

  • Labrumverletzungen mit > 20 % Fläche.

Vorteile in der operativen Versorgung sehen die Autoren in einer postoperativ erhöhten Schultermobilität, größerer Patientenzufriedenheit und einer schnelleren Rückkehr zur Aktivität.

Grundsätzlich werden 3 chirurgische Ansätze diskutiert [23]:

  • offene anatomische Rekonstruktionen;

  • arthroskopische Rekonstruktionen;

  • Knochenblockverfahren nach Latarjet zur Korrektur der Glenoidausrichtung.

Arthroskopische Rekonstruktionen werden in den letzten 20 Jahren immer häufiger durchgeführt (1998 in USA: 89 %); Vorteile gegenüber der offenen Op. sind: weniger Infektionen, geringere M.-subscapularis-Schwäche und -rupturen, geringere Arthrofibroserate und größere postoperative glenohumerale Mobilität. Das Latarjet-Verfahren hat insbesondere bei chronischen Schulterinstabilitäten Vorteile: geringeres Rezidiv- und Reluxationsrisiko bei längerer Nachbeobachtungszeit; allerdings (wie bei jeder offenen Rekonstruktion) ein höheres Infektionsrisiko im Vergleich zu einer arthroskopischen Bankart-Wiederherstellung.

Chirurgische Ziele leiten sich aus den Komplikationen ab und sind zumeist [18]:

  • die Refixation von Kapsel und Labrum; oft mit Kapselraffung;

  • eine autologe Knochenauffüllung bei Hill-Sachs-Läsionen > 20 % der Gelenkfläche;

  • prothetische Versorgungen des Humeruskopfs sind notwendig, wenn die Gelenkfläche zu mehr als 45 % geschädigt ist.

Zu empfehlende Verfahren: offene oder arthroskopische Bankart-Operation und das Latarjet-VerfahrenFootnote 1 (Knochenblockverfahren) am anterioren Glenoid; aus der Crista iliaca oder dem Proc. coracoideus [2].

Offene vs. arthroskopische Schulterstabilisierung

Die gepoolte Schätzung im Review von Hasebroock et al. 2019 für alle Studien von 1995–2015 zeigte Folgendes [2]:

  • keine statistisch signifikanten Unterschiede in den klinischen Ergebnissen (standardisierte mittlere Differenz, SMD: 0,04; 95%-KI: −0,127 bis 0,212; p = 0,62, I2 = 9 %;) gemessen mit dem Rowe Score;

  • keine statistisch signifikanten Unterschiede im Risiko einer Reluxation: (OR: 1,372; 95%-KI: 0,951–1,981; p = 0,091, I2 = 11,9 %);

  • keine statistisch signifikanten Unterschiede in den Außenrotationsdefiziten: (SMD = 0,045; 95%-KI: −0,101 bis 0,191; p = 0,54, I2 = 93,65 %;).

Das mittlere Mobilitätsdefizit in Außenrotation betrug in der arthroskopischen Gruppe 5,4° im Vergleich zu 7,8° in der offenen Operationsgruppe. Die Daten neuerer Studien favorisierten eindeutig die arthroskopische Operation (± 4° Defizit).

Operative vs. konservative Schulterstabilisierung

Whelan et al. (2012) berichten in ihrer Arbeit über 4 Studien mit n = 228 Patienten mit einer Bankart-Verletzung Folgendes [24]: Die Rate der rezidivierenden Instabilität war bei einer anatomischen Bankart-Op. signifikant niedriger war als Immobilisation oder eine arthroskopische Lavage (RR: 0,18; 95%-KI: 0,10–0,33). Die Western Ontario Shoulder Instability Scores fielen bei der anatomischen Bankart-Reparatur besser aus als bei der arthroskopischen Lavage oder der Ruhigstellung.

Für junge Patienten mit erstmaliger Schulterluxation eignet sich die anatomische Bankart-Reparatur

Die Schlussfolgerung der Autoren war daher: Junge Patienten mit einer erstmaligen Schulterluxation sollten mit einer anatomischen Bankart-Reparatur behandelt werden, da dies eine geringere Rate rezidivierender Instabilität und kurzfristige (schnelle) Verbesserung der Lebensqualität mit sich bringt. Kavaja et al. (2018) merken noch an, dass bei chronischen Reluxationen die offene der arthroskopischen Chirurgie überlegen ist (RR: 0,43). Die Misserfolgsrate ist bei arthroskopischer Chirurgie doppelt so hoch [3].

Postoperative Komplikationen

In den diesem Review zugrunde liegenden Studien werden direkte postoperative Komplikationen von Misserfolgsquote sowie Revisionsrate unterschieden. Eine Komplikation wird als direkte Folge des Eingriffs beschrieben, z. B. vorübergehende Schmerzen und Steifigkeit, vorübergehende Nervenschädigungen und seltene Wundinfektionen. Als Misserfolg bezeichnen sie das Nichteintreten der Wiederherstellung der Stabilität, und unter Revisionsrate wird die Zahl der erneut notwendigen chirurgischen Eingriffe zur Erreichung des Operationsziels verstanden.

In ihrer umfangreichen Übersichtsarbeit mit 56 Primärstudien aus den Jahren 2000–2018 und n = 4336 Fällen berichten Williams et al. (2019) über folgende Revisionshäufigkeiten infolge von Komplikationen [25]:

  • eine arthroskopische Weichteilreparatur: 1,6 %;

  • eine offene Weichteilreparatur: 6,2 %;

  • eine offene Labrumreparatur: 2,3 %;

  • ein offenes Knochenblockverfahren: 7,2 %;

  • ein arthroskopisches Knochenblockverfahren: 13,6 %.

In dem systematischen Review mit Metaanalyse von Adam et al. (2018) sowie bei anderen Autoren werden Misserfolgsquote und Revisionsrate zusammengefasst [12]:

  • Misserfolgsquote der arthroskopischen Behandlung der primären TAS: 13,7 % (7,7–19,6 %) [12];

  • Revisionsrate der arthroskopischen Behandlung der primären TAS: 7,1 % (3,8–10,4 %); 9 % [2], 2,5 % [5];

  • Revisionsraten zwischen der arthroskopischen Behandlung von primären gegenüber rezidivierenden Schulterluxationen: primäre (OR: 0,358; 95%-KI: 0,044–2,920) geringer als bei der rezidivierenden Luxationsbehandlung (OR: 0,423; 95%-KI: 0,117–1,522), jedoch war der Unterschied statistisch nicht signifikant [12];

  • Misserfolgsquote bei Arthroskopie vs. konservative Behandlung: in der arthroskopischen Gruppe hinsichtlich Reluxationsrate und Instabilität [3] signifikant geringer (OR: 0,103; 95%-KI: 0,052–0,201) [12];

  • Revisionsrate bei Arthroskopie vs. konservative Behandlung: geringere Revisionsrate mit der arthroskopischen Behandlung (OR: 0,217; 95%-KI: 0,078–0,607) [12].

Aydin et al. (2019) nehmen eine anhaltende Instabilität nach einer arthroskopischen Bankart-Reparatur von 8,1 % an [1]. Adam et al. beziffern die Misserfolgsquote in den Studien bei Bankart-Op. auf 13,7 % und führen das u. a. auf häufige technische Fehler in den operativen Verfahren oder falsche Patientenauswahl im Studiendesign zurück. Zudem postulieren sie, dass es keinen Einfluss auf die postoperative Stabilität hat, ob das verwendete Material bei chirurgischer Behandlung resorbierbar ist oder nicht [12].

Prädispositionen einer Reluxation

Das Alter spielt eine maßgebliche Rolle hinsichtlich der Reluxationsrate, unabhängig von der gewählten Behandlung. Junge (< 30 Jahre) und aktive Personen haben ein sehr viel höheres Reluxationsrisiko (64 %; männlich : weiblich = 2,64:1). Ältere Personen weisen deutliche bessere Langzeitergebnisse bei einer chirurgischen Behandlung auf [2]. Die Reluxationsrate wird in Abhängigkeit vom Alter wie folgt angegeben:

  • Gesamt: 28,7 %;

  • < 20 Jahre: 68 %;

  • < 30 Jahre: 54 %;

  • > 30 Jahre: 12 %.

In durchschnittlich 46 % aller Fälle reluxiert ein Schultergelenk binnen eines Jahres nach primärer anteriorer Schulterluxation. Reluxationen gefährden das Labrum und den anterioren Glenoidrand.

Weitere Risikofaktoren für Reluxationen sind laut Literatur männliches Geschlecht, Hyperlaxität, hohes Aktivitätslevel, hohes Schmerzlevel und hohe Reluxationsangst.

Direkte posttraumatische konservative Behandlung

Die konservative Behandlung besteht zunächst in einer Immobilisation, wobei unbedingt vorab möglicherweise bestehende Weichteilkomplikationen per MRT abzuklären sind [2]. Braun et al. (2019) veröffentlichten in ihrem Cochrane Review Ergebnisse aus 7 experimentellen Studien mit n = 704 Patienten [20]. Alle Primärstudien verglichen die posttraumatische Ruhigstellung in Innenrotation mit Ruhigstellung in Außenrotation. Die Autoren kamen zum Schluss, dass es zu diesem Zeitpunkt nicht möglich sei, eine Richtung der Immobilisation zu präferieren. Die Immobilisation in Außenrotation soll, so durch Itoi et al. (2003) an Leichenpräparaten nachempfunden, das Labrum glenoidale durch Spannung der anterioren Kapsel wieder gegen den Pfannenrand drängen und hiermit zu einer Refixation führen [26].

Offensichtlich führt allerdings die reine Außenrotation nur in 35 % der Fälle zu einer anatomischen Reposition des Labrum glenoidale (bei Bankart-Verletzungen) und erscheint daher in vivo wenig wirksam, so die Konklusion der Autoren in der Arbeit von Jordan et al. (2015). Das Ausmaß der labralen Schädigung konnte in den inkludierten Studien allerdings nicht ermittelt werden, was die Interpretation dieses Ergebnisses erschwert [27]. Im Langzeit-Follow-up (10 Jahre) ermittelten Aydin et al. (2019) eine Rezidivrate von 62 % im Vergleich zu 9 % bei chirurgischer Behandlung [1]. Adam et al. (2018) betonen, dass eine fehlende Ausheilung des Labrumrisses bei konservativ behandelter Schulterluxation die hohe Rezidivrate von bis zu 75 % in einigen Studien erklärt. Das Risiko ist besonders hoch bei jungen, sportlichen Personen mit variablen Raten der Rückkehr zum Sport [12].

Eine aktuelle RCT lässt die Immobilisation mit Außenrotation zukünftig effektiver erscheinen

Die Ergebnisse der randomisierten kontrollierten Studie (RCT) von Minkus et al. (2021) mit n = 112 Patienten, Alter: ± 26,2 Jahre, lässt die Immobilisation mit Außenrotation zukünftig effektiver erscheinen. Die Autoren haben die Außenrotation mit einer größeren Abduktion kombiniert, im Vergleich zu früheren Studien [28]. Dieser Schritt erscheint nach Meinung des Autors logisch und schon lange fällig. Bei einer reinen Abduktion wird die inferiore Kapsel gespannt. Erst mit zunehmender Außenrotation wird die anterior-inferiore Kapsel gespannt, wodurch diese auch tatsächlich in der Lage sein sollte, den Kontakt zwischen Labrum und Glenoid zu ermöglichen, um somit die Reduktion der Bankart-Läsion zu erreichen. Dieses Konzept wird bei einer Bony-Bankart-Läsion keine Wirkung zeigen. Minkus et al. argumentieren daher nachvollziehbar, dass eine Immobilisation bei 60° Außenrotation + 30° Abduktion optimal sei ([28]; Abb. 8).

Abb. 8
figure 8

Immobilisation der Schulter in 60° Außenrotation und 30° Abduktion in der Bledsoe ARC XR Brace. (Aus: Minkus et al. (2021) [28], mit freundlicher Genehmigung, alle Rechte vorbehalten)

Die Methodik der RCT in Kürze:

  • Interventionsgruppe (IG):

    • Beginn der Immobilisation 3 Tage posttraumatisch in 60° Außenrotation + 30° Abduktion;

    • Dauer 24/24; 7/7; 3/52;

    • 1 h täglich „off“ für Hygiene;

    • anschließend Standard-Physiotherapie wie postoperativ.

  • Kontrollgruppe (KG):

    • Beginn 3 Wochen nach Trauma;

    • arthroskopische Labrumwiederherstellung und Kapselshift;

    • anschließend 3 Wochen Immobilisation in Innenrotation und

    • danach Standard-Physiotherapie.

  • Resultate:

    • Die Reluxationsrate beträgt in der IG = 11 % und 2,3 % in der KG (p = 0,016).

    • Meist waren die Patienten jünger als 30 Jahre.

    • Im Mittel trat eine Reluxation nach 9,8 ± 4,4 Monaten auf.

    • Eine Re-Op. aufgrund von subjektiver und objektiver Instabilität benötigten 10,6 % der IG.

    • Nach 24 Monaten Follow-up gab es nur kleine Unterschiede in klinischen Outcomes.

Damit liegen die Reluxations- und Revisionsraten im Anschluss an eine arthroskopische Behandlung im Bereich der von Adam et al. (2018) publizierten Daten.

Rehabilitationsprogramm

Folgendes Rehabilitationsschema wird – unabhängig davon, ob eine operative oder konservative Behandlung erfolgt ist – grundsätzlich angesetzt:

  • Phase 1: Ruhigstellung in einer Armschlinge für 4 Wochen mit isometrischen Kontraktionen.

  • Phase 2: Limitierung des aktiven Bewegungsumfangs auf 45° Außenrotation für 4 Wochen.

  • Phase 3: Erreichen des vollen aktiven Bewegungsumfangs bei gleichzeitigem Widerstands- und plyometrischem Training zur Kräftigung der gelenkumgebenden Muskulatur und Verbesserung des propriozeptiven Feedbacks.

Die lizenzfrei zugängliche Arbeit von Gaballah et al. (2017) [29] sowie das kürzlich publizierte Review von Lloyd (2021) [30] bieten dem interessierten Leser einen detaillierten Einblick in die Rehabilitation.

Reluxations- und Arthroserisiko

Olds et al. (2015) berichten von folgenden Punkten [31]:

  • Männer haben ein 3,2-mal höheres Risiko als Frauen (47,3 % bzw. 25,5 %), nach einer erstmaligen TAS eine erneute Instabilität zu erleiden.

  • Menschen < 40 Jahren haben ein 13,5-mal höheres Risiko, nach einer erstmaligen TAS eine erneute Instabilität zu erleiden, als Menschen > 40 Jahren.

  • Menschen mit einer Fraktur des Tuberculum majus haben ein mehr als 7‑mal geringeres Risiko, an einer wiederkehrenden Instabilität zu leiden, als Menschen ohne Fraktur.

  • Menschen mit Hyperlaxität haben ein 2,7-mal höheres Risiko, nach einer erstmaligen traumatischen vorderen Schulterluxation eine erneute Instabilität zu erleiden, als Menschen ohne Hyperlaxität.

Das Risiko einer sekundären Arthrose steigt mit zunehmenden Komplikationen bei primären oder rezidivierenden Luxationen an, insbesondere dann, wenn Frakturen konservativ behandelt wurden: Die Arthroserate liegt 9 Jahre posttraumatisch bei 23 % [32]. Chapus et al. (2015) berichten in Bezug auf ein 10-Jahres-Follow-up nach arthroskopischer Chirurgie bei Bankart-Läsionen über eine Rate von 15 % leichter Arthrose [33].

„Return to sport“

Die große Variabilität der Verletzungen und die spezifischen individuellen Unterschiede, wie z. B. Handdominanz, Chronizität der Verletzung und Alter, machen es schwierig, eine genaue Zeitspanne abzuschätzen, die ein Patient benötigt, um zu seinem Sport zurückzukehren. Eindeutig ist nur, dass chirurgische Eingriffe mit einer längeren Zeit bis zur Rückkehr zum Sport verbunden sind, haben aber eine geringere Rezidivrate [3].

Infolgedessen besteht eine große Diskrepanz bezüglich des optimalen Managements und der Zeitspanne bis zur Rückkehr zum Sport nach einer TAS [2]. Derzeit gibt es keine Leitlinie, sondern lediglich anekdotischen Konsensus [2]. Folgende Angaben bzgl. Rückkehr zum Sport sind in der Literatur zu finden:

  • Eine einfache komplikationsfreie Schulterluxation, konservativ behandelt und geschlossene Reposition: Rückkehr zum Sport etwa 2–3 Wochen posttraumatisch (besser noch 6 Wochen) möglich.

  • Nach chirurgischer Behandlung ist eine Rückkehr zum Sport erst 4–6 Monate postoperativ möglich.

    • Binnen eines Jahres liegt die Rückkehr zum Vortraumalevel bei 98,7 % (Fußballer).

    • Bei Baseball-Spielern mit Bankart-Wiederherstellung beträgt die Zeitspanne bis zur Wiederaufnahme ihres Sports im Mittel 8,4 Monate.

    • Die Dauer bis zur Aufnahme des Baseball-Wettkampfsports („return to play“) ist größer und liegt binnen 24 Monaten [34].

  • Eine Rückkehr zum Sport wird als möglich angegeben, wenn der für die sportspezifischen Anforderungen benötigte Bewegungsumfang und die Kraft (skapulothorakal und glenohumeral, besonders Innen- und Außenrotatoren) nahezu der gesunden Schulter entsprechen [2, 19].

  • Konservative Therapie: Eine höhere Rückkehrrate zum Sport wird in der Gruppe gesehen, die mit Außenrotation immobilisiert wird (unsichere Evidenzlage) [20].

Die frei zugängliche Arbeit von Plat et al. (2015) bietet dem interessierten Leser einen detaillierten Einblick in die Rehabilitation [29].

Limitationen

Diese Literaturübersicht unterliegt methodisch allen Einschränkungen eines narrativen Reviews: keine systematische Suche und keine Suche in anderen Datenbanken als PubMed. Außerdem weisen die Autoren von Reviews und Metaanalysen durchgehend auf die hohe Heterogenität und methodologische Schwächen in den Primärstudien hin. Ferner gibt es zu wenige Informationen über Langzeiteffekte der verschiedenen Behandlungen [2].

Fazit für die Praxis

  • Alter, Geschlecht und Teilnahme am Sport sind neben individuellen ossären Faktoren die wichtigsten Risikofaktoren für eine primäre traumatische Schulterluxation.

  • In der Erstversorgung gibt es 2 unterschiedliche diskutierte Ansätze: manuelle Reposition am Spielfeldrand vs. erst Bildgebung und dann Reposition.

  • Innerhalb der posttraumatischen Bildgebung bekommt die Ultraschalldiagnostik einen höheren Stellwert.

  • Die möglichen posttraumatischen Komplikationen sind häufig und vielfältig. Sie bestimmen die weitere Behandlung.

  • Der arthroskopische Zugang hat sich, bei richtiger Indikationsstellung, gegenüber dem offenen Verfahren letztlich durchgesetzt.

  • Die konservative Therapie mit Immobilisation in Außenrotation mit Abduktion setzt sich gegenüber der Immobilisation in Innenrotation durch.