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In den kommenden Ausgaben unserer Zeitschrift möchten wir die Präsenz der manuellen Medizin in verschiedenen Leitlinien darstellen.

Die Schriftleitung

Vorstellung der Leitlinie

Die S2k-Leitline Spezifischer Kreuzschmerz (LL SKS) ist registriert unter der AWMF-Registernummer 033-051, Stand 12/2017 [1]. Die Erstellung der Leitlinie erfolgte unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) unter Beteiligung weiterer 14 wissenschaftlicher medizinischer Gesellschaften, darunter auch der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin (DGMM). Die Leitlinie umfasst 57 Seiten, davon 235 Quellenangaben.

Die LL SKS wurde in Ergänzung der Nationalen VersorgungsLeitlinie Nichtspezifischer Kreuzschmerz (NVL NSKS) entwickelt. Für die praktische Umsetzung bedeutet dies, dass zu Beginn der Diagnostik bzw. Behandlung von Kreuzschmerzen zunächst die NVL NSKS gilt, „sofern sich nicht eindeutige Hinweise auf eine spezifische Ursache ermitteln lassen“. Sobald sich Hinweise auf in der LL SKS aufgeführte spezifische Ursachen ergeben, soll diese Leitlinie angewandt werden.

Empfehlungen aus S2k-Leitlinien enthalten keine Angabe von Evidenz- und Empfehlungsgraden, da der Evidenz keine systematische Aufbereitung zugrunde liegt. Kriterien einer S2k-Leitlinie sind [2]:

  • Die Leitliniengruppe sollte repräsentativ für den Adressatenkreis sein und Vertreter der entsprechend zu beteiligenden Fachgesellschaft(en) einbinden.

  • Die Methoden sind zur Formulierung der Empfehlungen klar beschrieben, dazu sind formale Konsensustechniken erforderlich (z. B. Konsensuskonferenz, nominaler Gruppenprozess oder Delphi-Verfahren).

  • Jede Empfehlung wird im Rahmen einer strukturierten Konsensfindung unter neutraler Moderation diskutiert und abgestimmt, deren Ziele die Lösung noch offener Entscheidungsprobleme, eine abschließende Bewertung der Empfehlungen und die Messung der Konsensstärke sind.

  • Der Leitlinie ist eine Beschreibung zum methodischen Vorgehen (Leitlinienreport) hinterlegt.

Die LL SKS enthält zwei funktionelle Entitäten als spezifische Ursache für Kreuzschmerzen:

  • die myofasziale Dysfunktion

  • die hypomobile segmentale Dysfunktion (Blockierung) der Lendenwirbelsäule [6].

Bereits in der Vorbereitung der LL wurde über beide Ursachen diskutiert [3, 4, 8, 9].

Als morphologische Entitäten werden folgende Syndrome und Morbiditäten aufgeführt:

  • Lumbales Facettensyndrom/Spondylarthrose

  • Diskogenes Lumbalsyndrom bis Osteochondrosis vertebralis

  • Axiale Spondyloarthritis

  • Morbus Baastrup

  • Spinalkanalstenose

  • Spondylolyse und Spondylolisthese

  • Bandscheibenvorfall

  • Osteoporotische Wirbelkörperfraktur

  • Pathologische Prozesse in den Sakroiliakalgelenken

Zu den Entitäten werden die Synonyme nach ICD-10 angegeben (Tab. 1) und jeweils die Definition, die Epidemiologie, die Pathogenese, die Klinik, die Diagnostik sowie die Therapie beschrieben. Psychische und psychosomatische Entitäten werden in eigenen Leitlinien dargestellt.

Wir beschränken uns nachfolgend auf Teil 3.1 der LL SRS: „Myofasziale Dysfunktion als spezifische Ursache für Kreuzschmerzen“ [1].

Tab. 1 Synonyme nach ICD-10 zur myofaszialen Dysfunktion

Definition der myofaszialen Dysfunktion

Die myofasziale Dysfunktion bezeichnet eine Störung der myofaszialen Funktionseinheit, die mit Schmerzen und/oder Bewegungskontrolldysfunktionen verbunden ist [179, 180]. Steht der Schmerz im Vordergrund der Symptomatik, wird häufig die Bezeichnung „myofasziales Schmerzsyndrom“ verwendet [181].

Die Dysfunktion der Muskulatur ist durch folgende Befunde gekennzeichnet:

  • Eingeschränkte Verlängerbarkeit [182, 183]

  • Abschwächung bzw. reflektorische Hemmung [183]

  • Triggerpunkte [181, 184]

  • Bewegungskontrolldysfunktion [185, 186]

Die fasziale Dysfunktion wird durch Spannungsveränderungen in den Faszien und daraus resultierend eine Einschränkung ihrer Verschieblichkeit gegenüber angrenzenden spezifischen Strukturen charakterisiert [187].

Epidemiologie

Kreuzschmerzen sind häufig myofaszial mitbedingt [188, 189]. Die Schwierigkeit, differenzierte Aussagen zur Epidemiologie der myofaszialen Dysfunktion bei Kreuzschmerzen zu machen, resultiert aus der aktuellen Studienlage. Myofasziale Dysfunktionen besitzen ein großes Chronifizierungspotenzial. Bei chronischen Kreuzschmerzen sind häufig Kombinationen aus degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule mit entzündlichen Anteilen der Wirbelgelenke (morphologische Befunde) und arthromyofaszialen Störungen (funktionelle Befunde) zu finden.

Pathogenese

Myofasziale Dysfunktionen sind Ursache und Folge von Fehlbelastungen des Bewegungssystems. Durch Modifikation einströmender Afferenzen sowohl propriozeptiven als auch nozizeptiven Ursprungs kommt es zur Veränderung der Bewegungs- und Haltungssteuerung (geänderte motorische Muster; [190, 191]).

Häufig wird diese motorische Systemaktivierung von vegetativ-trophischen Störungen begleitet [181, 192, 193].

Ein typisches Phänomen des Muskelschmerzes ist ein weitergeleiteter Schmerz („referred pain“; [194]). Prädisponierende Faktoren für die Ausbildung myofaszialer Dysfunktionen stellen u. a. konstitutionelle Hypermobilität, Dekonditionierung und autonome Dysregulation dar [180, 195].

Myofasziale Dysfunktionen können Kreuzschmerzen über folgende pathogenetische Wege generieren:

  1. 1.

    Als direkte Nozigeneratoren in Muskeln der Lenden-Becken-Hüft-Region [196]

    • Als hypertone sowie mit Triggerpunkten behaftete Muskulatur können sie Kreuzschmerzen lokal und mit Ausstrahlung auslösen (schmerzauslösende Einzelbefunde): M. quadratus lumborum, Hüftbeuger, M. rectus abdominis, Rückenstrecker, Beckenboden, Glutealmuskulatur, Tensor fasciae latae.

  2. 2.

    Als indirekte Nozigeneratoren über Veränderung des sensorischen Inputs an den arthroligamentären Strukturen der Wirbelsäule sowie an den Spinalnerven und deren Nervi nervorum

    • bei Störung der Arthrokinematik, z. B. Blockierung von Facettengelenken

    • durch lokale/regionale Fehlbelastung bedingte Entzündungsreaktion, z. B. Facettenreizung

    • durch Stellungsänderung der Strukturen der Bewegungssegmente bedingte Lumeneinengung und daraus resultierend kompressorische Wirkung, z. B Verstärkung einer Spinalkanalstenose [197]

Die Wirkung auf die morphologischen Substrate erfolgt über grundlegende Funktionsstörungen (Bewegungskontrolldysfunktion) wie

  • Koordinations‑/Bewegungsmusterstörungen und

  • insuffiziente muskuläre Becken- und Wirbelsäulenstabilisation (segmentale Stabilisation; [198]).

Diese stellen damit beträchtliche perpetuierende Faktoren für Kreuzschmerzen dar. Im Umkehrschluss gehen Affektionen der Strukturen der Lendenwirbelsäule sowie der Spinalnerven aufgrund der Konvergenz der afferenten Signale auf spinaler Ebene mit (arthro)myofaszialen Funktionsstörungen einher. Dabei können ebenfalls propriozeptive und/oder nozizeptive Afferenzen die verbindende Rolle spielen. Für einen gezielten und zugleich nachhaltigen Therapieansatz sind prädisponierende und perpetuierende Faktoren zu beachten.

Klinik

Myofasziale Dysfunktionen können selbst sowohl lokalen Kreuzschmerz als auch Kreuzschmerz mit Ausstrahlung hervorrufen, wenn sie hyperton und/oder mit Triggerpunkten behaftet sind. Durch Triggerpunkt induzierter Muskelschmerz wird brennend, bohrend und stechend beschrieben sowie als Zeichen zentraler Sensibilisierung häufig von Dys- und Parästhesien (u. a. Kribbeln und Schwellungsgefühl) begleitet [199]. Typisch ist ein Anstieg der Schmerzstärke unter fortlaufender Beanspruchung der schmerzauslösenden Muskulatur.

Weitere klinische Zeichen sind Störung

  • der Haltung,

  • des aktiven und passiven Bewegungsausmaßes und

  • des Bewegungsablaufs.

Aus der schmerzreflektorischen Hemmung einzelner Muskeln des Beckengürtels und der unteren Extremitäten resultierten Bewegungsunsicherheit, Haltungsunsicherheit und/oder Steifheit in der Lenden-Becken-Hüft-Region, die über Verkettung bis zum Schultergürtel möglich ist [200]. Somit kann die schmerzreflektorisch gehemmte Muskulatur ein motorisches Defizit vortäuschen, weshalb die Abgrenzung zu einem motorischen Radikulärsyndrom über den neurologischen Status erfolgen muss.

Diagnostik

Die Diagnostik der myofaszialen Dysfunktion erfolgt durch gezielte, auch anatomisch definierte klinische Funktionstests [183, 201, 202]. Diese sollen in einen manualmedizinischen bzw. funktionellen orthopädischen Untersuchungsgang [180, 203] integriert sein und anschließend strukturiert bewertet werden [6, 7, 204].

Kriterien für die Relevanz des erhobenen myofaszialen Befunds sind:

  • Schmerzauslösung („Reproduktion der bekannten Symptome durch mechanische Stimulation“) mit Konsistenz zwischen Befund und Schmerzlokalisation, Beschwerdeintensität, beschriebener Einschränkung (schmerzauslösende Einzelbefunde; [205])

  • Aufrechterhaltung der schmerzauslösenden Funktionsstörung (grundlegende Funktionsstörungen; [206,207,208,209])

  • Einfluss auf schmerzrelevante morphologische Veränderungen, z. B. funktionelle Unterhaltung bzw. Verstärkung eines Facettensyndroms durch mangelhafte dynamische Stabilisation [13]

Aufgrund der multisensorischen Konvergenz der afferenten Signale auf spinaler Ebene und der damit einhergehenden eingeschränkten zentralen Diskriminierung bezüglich der Nozigeneratorquelle müssen in die Diagnostik stets alle Organsysteme (u. a. „red flags“) differenzialdiagnostisch einbezogen werden.

Therapie

In der Therapie werden wie in der Diagnostik in erster Linie neuroreflektorische und biomechanische Mechanismen genutzt [210, 211].

Bei Patienten mit akuten und chronischen Kreuzschmerzen, die die o. g. Kriterien der myofaszialen Dysfunktion erfüllen, ist der Einsatz manueller Therapieverfahren aussichtsreich. Diese sind beim akuten, dysfunktionellen Kreuzschmerz einer medikamentösen Therapie überlegen, in jedem Fall aber wünschenswerter Bestandteil einer multimodalen Schmerztherapie [204, 212,213,214].

Empfehlungen

Bei rezidivierendem und chronischem Kreuzschmerz können die schmerzauslösenden Einzelbefunde sowie grundlegende Funktionsstörungen zur Vermeidung fortschreitender Chronifizierung behandelt werden ([215]; 83 % Zustimmung, d. h. Konsens).

Dazu erforderliche komplexe manualmedizinische Therapieprogramme sind bei chronischen Rückenschmerzen monomodalen Behandlungsansätzen überlegen [216]. Sie zeigen insbesondere im Rahmen einer multimodalen Komplextherapie nachhaltige Effekte bezüglich Schmerzlinderung und Beeinträchtigungserleben [11].

Für ein nachhaltiges Behandlungsergebnis sowie zur Rezidivprophylaxe sinnvoll sein kann ein Training von

  • intermuskulärer Koordination mit propriozeptivem Training [217] einschließlich

  • der Integration der segmentalen Stabilisation [218] im Therapieprogramm (100 % Zustimmung, d. h. starker Konsens).

Potenziale und klinische Relevanz

Aus manualmedizinischer Sicht sind neben dem Eingang zweier Funktionsentitäten als spezifische Ursachen in die neue Leitlinie die in der Präambel verankerten Aspekte für die diagnostische und therapeutische Herangehensweise von Bedeutung:

Ziel ist es, durch geeignete Diagnosemaßnahmen unter Detailkenntnis der Struktur und Funktion und unter Berücksichtigung aller bekannten modulierenden Faktoren eine zeitnahe diagnostische Zuordnung der Störung und eine entsprechende Therapie zu ermöglichen…

Bei der Diagnosestellung von Patienten mit spezifischen Kreuzschmerzen ist eine ausführliche Schmerzanalyse [5, 6] erforderlich. Diese umfasst Gespräch, Befragung, klinisch-orthopädische, klinisch-neurologische, schmerzpalpatorische und funktionspalpatorische Untersuchung und geeignete Laboruntersuchungen sowie bildgebende Verfahren.

Dies bedeutet neben der Wahrnehmung der Wertigkeit der Funktion für den spezifischen Kreuzschmerz die Beachtung der multifaktoriellen Genese (Tab. 2). Beide Aspekte bilden eine wichtige Grundlage für eine gezielte und zugleich umfassende, befundgerechte Behandlung.

Tab. 2 Multifaktorielle Genese von Erkrankungen am Bewegungssystem

Für die Beschreibung der pathogenetischen Einflussfaktoren der Entität „myofasziale Dysfunktion als spezifische Ursache für Kreuzschmerzen“ stellte die ihr zugrunde liegende enorme Komplexität eine besondere Herausforderung dar, insbesondere aufgrund des begrenzten Rahmens (Textumfang). Die vor diesem Hintergrund gewählte Herangehensweise soll im Folgenden kurz erläutert werden.

Zusammenhänge wurden ausschließlich für die somatischen Einflussfaktoren betrachtet. Die Relevanz psychischer Faktoren für Kreuzschmerzen ist in der Präambel der Leitlinie für alle enthaltenen Entitäten aufgeführt.

Durch die in der Leitlinie erfolgte Trennung von myofaszialer Funktions- und Gelenkfunktionsstörung ergibt sich eine von der üblichen funktionellen/manualmedizinischen Sichtweise abweichende Situation der Betrachtung. Die Facettenblockierung ist hier nicht Bestandteil der erläuterten myofaszialen Dysfunktion, sondern als „externer Faktor – also pathogenetischer Einfluss von außen“ zu betrachten und dementsprechend beschrieben.

Da der Fokus hinsichtlich der resultierenden Beschwerden auf Kreuzschmerz lag, erfolgte die Einteilung nach dem myofaszialen Einfluss auf die Schmerzgenerierung in direkte und indirekte Nozigeneratoren.

Als direkte Nozigeneratoren sind myofasziale Dysfunktionen zu verstehen, die selbst den Kreuzschmerz des jeweiligen Patienten auslösen. Beispielsweise kann ein lokaler Kreuzschmerz durch Triggerpunkte im M. quadratus lumborum hervorgerufen werden. Die Kombination von Triggerpunkten im M. glutaeus medius und M. glutaeus minimus kann zu Kreuzschmerz mit Ausstrahlung in die untere Extremität führen. (Die direkten Nozigeneratoren entsprechen damit dem, was unter myofaszialem Schmerzsyndrom verstanden wird: durch Triggerpunkt induzierter Schmerz.)

Myofasziale Dysfunktionen sind des Weiteren in der Lage, Kreuzschmerzen auf „Umwegen“ auszulösen. Sie fungieren dann als indirekte Nozigeneratoren. So können beispielsweise nichtschmerzhafte myofasziale Dysfunktionen an der Entstehung und Unterhaltung von direkten Nozigeneratoren beteiligt sein (z. B. Triggerpunkte im M. iliopsoas durch insuffiziente Tiefenstabilisation). Ebenso können sie Schmerzen an anderen Strukturen des Bewegungssystems, wie den kleinen Wirbelgelenken, hervorrufen und unterhalten. Hier sind wiederum mehrere pathogenetische Wege möglich. Einerseits können über die Störung der Arthrokinematik erzeugte Facettengelenkblockierungen – mit den entsprechenden Folgen auch für die Funktion – im Vordergrund stehen. Über die mit einer (myofaszialen und/oder arthromyofaszialen) Funktionsstörung einhergehende Fehlbelastung sind aber ebenso die Auslösung und Unterhaltung eines Reizzustandes möglich, wie z. B. in den Facettengelenken beim Facettensyndrom.

Des Weiteren kann eine „durch Stellungsänderung der Strukturen der Bewegungssegmente bedingte Lumeneinengung und daraus resultierend kompressorische Wirkung“ einen pathogenetischen Einfluss haben (z. B. auf Nervenwurzeln). Beispielsweise führt ein regionales Komplexmuster, wie das untere gekreuzte Syndrom nach Janda, zu einer Reduzierung der Weite der Neuroforamina und des Spinalkanals. Insbesondere bei vorbestehenden degenerativen Veränderungen, wie hypertrophen Spondylarthrosen, Ligamentum-flavum-Hypertrophien, mediolateraler/lateraler Verlagerung von Bandscheibengewebe und retrospondylophytären Anbauten, kann diese zusätzliche, myofaszial-funktionell bedingte Lumeneinengung letztlich die Nervenwurzelirritation auslösen. Die myofasziale Dysfunktion birgt damit das Potenzial, morphologische Faktoren – in diesem Fall degenerative Veränderungen – klinisch wirksam bzw. symptomatisch werden zu lassen. Dies ist ein wesentlicher Grund für die bekanntermaßen fehlende Korrelation zwischen dem in der Bildgebung zu findenden Ausmaß degenerativer Veränderung und der Klinik (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Rolle somatischer Funktionsstörungen in der Pathogenese von Kreuzschmerzen. (Zusammenhänge mit neurophysiologischen Schmerzmechanismen und psychischen Faktoren sind nicht dargestellt)

Die Aufrechterhaltung von schmerzauslösenden Funktionsstörungen und deren Wirkung auch auf andere Strukturen im Bewegungssystem, d. h. Auswirkung von Funktion auf Struktur, verleiht den indirekten myofaszialen Nozigeneratoren eine grundlegende Bedeutung bezüglich Chronifizierung. Diese zählen daher zu den grundlegenden Funktionsstörungen, zu denen auch prädisponierende Faktoren für die Ausbildung myofaszialer Dysfunktionen, wie die konstitutionelle Hypermobilität, die vegetative Dysfunktion und die Dekonditionierung, gehören (Tab. 3).

Tab. 3 Grundlegende Funktionsstörungen und Schmerzauslöser

Das Potenzial einer myofaszialen Schmerzgenerierung ist also ein weitaus größeres als das der unmittelbaren Schmerzauslösung. Es ist damit größer als das Potenzial des myofaszialen Schmerzsyndroms und daher im Hinblick auf Nachhaltigkeit des Behandlungsergebnisses nicht auf dieses zu reduzieren.

Aus den in der LL SKS dargestellten pathogenetischen Zusammenhängen resultieren für die diagnostische Herangehensweise die im Folgenden beschriebenen Anforderungen. Die klinische Untersuchung ist nicht auf das Detektieren von direkten Nozigeneratoren (schmerzauslösenden Befunden) zu begrenzen. Indirekte Nozigeneratoren (grundlegende Funktionsstörungen) sollen miterfasst werden können. Diesem Anspruch wird am ehesten ein Untersuchungsgang gerecht, mit dessen Hilfe neben lokalen bzw. Einzelbefunden regionale und globale Funktionsstörungen erfassbar sind. Im Anschluss daran ist die Wertigkeit der erhobenen Befunde, d. h. ihr Einfluss auf den Kreuzschmerz des jeweiligen Patienten, einzuschätzen.

Das Ergebnis von Untersuchung und anschließender Befundwertung bildet unter Einbeziehung weiterer modulierender (morphologischer, psychosozialer, neurophysiologischer) Faktoren die Behandlungsgrundlage.

In diese dafür notwendige differenzialdiagnostische Betrachtung ist auf somatischer Ebene die mögliche Einflussnahme morphologischer Faktoren im Rahmen der multifaktoriellen Genese von Kreuzschmerzen miteinzubeziehen (wechselseitiger Zusammenhang von Struktur und Funktion). So kann sich beispielsweise auch erst im Behandlungsverlauf herausstellen, dass die Nervenwurzelirritation eine größere Relevanz für den Kreuzschmerz des betreffenden Patienten hat als anfänglich angenommen. Eine Einflussnahme der Nervenwurzelirritation ist hier über die schmerzreflektorische Aufrechterhaltung der myofaszialen Dysfunktion möglich, die sowohl aus direkten als auch aus indirekten Nozigeneratoren bestehen kann. Die alleinige Behandlung der myofaszialen Dysfunktion ist in diesem Fall nicht zielführend. Eine Kombination mit schmerztherapeutischen Maßnahmen zur Minderung der Nervenwurzelirritation, z. B. in Form von periradikulärer Therapie oder periduraler Infiltration, ist dann im nächsten Schritt angezeigt.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von Verlaufsuntersuchungen, um erforderliche Therapieanpassungen vornehmen zu können.

Die Formulierungen zur Therapie für die einzelnen Entitäten zielt auf die jeweils wesentliche therapeutische Herangehensweise ab.

Bezüglich der myofaszialen Dysfunktion ergibt sich für die Praxis, dass bei akuten Kreuzschmerzen die Behandlung von schmerzauslösenden Einzelbefunden sinnvoll ist, bei rezidivierenden und chronischen Kreuzschmerzen zusätzlich die grundlegenden Funktionsstörungen miteinzubeziehen sind.

Zur Umsetzung dieser therapeutischen Herangehensweise sind in der Leitlinie die Einbeziehung intermuskulärer Koordination mit propriozeptivem Training [217] und die Integration der segmentalen Stabilisation aufgeführt. Auf die Wirksamkeit von komplexen manualmedizinischen Therapieprogrammen wird hingewiesen. „Sie zeigen insbesondere im Rahmen einer multimodalen Komplextherapie nachhaltige Effekte bezüglich Schmerzlinderung und Beeinträchtigungserleben“ [10].

Zusammenfassender Ausblick

Die Bedeutung (arthro)myofaszialer Funktionsstörungen für die Entstehung von Kreuzschmerzen ist noch immer weder hinreichend bekannt noch breit genug anerkannt.

Der Eingang der myofaszialen Dysfunktion als Entität in die LL SKS kann eine entscheidende Grundlage zur Verbesserung dieser Situation sein.

Besonders relevant für die praktische Anwendung der in der Leitlinie verankerten Inhalte zur myofaszialen Dysfunktion sind:

  • die Einbeziehung grundlegender Funktionsstörungen (indirekter Nozigeneratoren) in Diagnostik und Therapie sowie

  • die Beachtung des engen und wechselseitigen Zusammenhangs zwischen Funktion und Struktur.

Insbesondere im Hinblick auf den engen Zusammenhang zwischen Funktion und Struktur ist die aktuell angeregte Diskussion über eine eigenständige Funktionskrankheit bzw. -erkrankung (s. Beitrag von Niemier et al. in diesem Heft) kritisch zu führen.

Um nachhaltig funktionelles Denken zu etablieren und auszubauen, benötigen wir klare und einheitliche Begriffsbestimmungen und weitere wissenschaftliche Grundlagen. Dem kann ein strukturiertes Forschungskonzept gerecht werden. Wir brauchen die Untermauerung der Wertigkeit funktioneller Befunde im Rahmen der multifaktoriellen Genese von Erkrankungen am Bewegungssystem. Des Weiteren sind Ansätze aus der Versorgungsforschung erforderlich, um die Berücksichtigung der Funktion in multimodalen Therapieansätzen in ihrer Wirksamkeit zu prüfen und zu belegen.