Manuelle Medizin ist Osteopathie, und Osteopathie ist manuelle Medizin, so lautet die Kurzformel. Im Einzelnen gibt es tatsächlich ein hohes Maß an Übereinstimmung: In der Diagnostik benutzen beide die schmerzhafte Spannung, die funktionelle Asymmetrie, das Bewegungsausmaß und die Gewebeveränderungen. In der Therapie finden sich bei beiden diverse Muskel- und Faszientechniken, Mobilisationen und Manipulationen sowie die gezielte Nutzung der freien bzw. der gesperrten Richtung. Nicht zufällig hat Philip Greenman sein Lehrbuch der Osteopathie Principles of manual medicine genannt [1].

Welche Bedeutung hat nun die Aussage im Gutachten der Bundesärztekammer (BÄK): „Osteopathie ist Bestandteil und Erweiterung der Manuellen Medizin“ [2]? Ist Osteopathie wirklich so viel mehr und anders als die manuelle Medizin (MM)? Diese Aufteilung ergab sich auf der Grundlage, dass nicht alle manuellen Techniken in 320 Stunden gelehrt werden können, dass es viel mehr Techniken gibt, die dann eben unter der Überschrift „ärztliche Osteopathie“ gelistet werden. Und es ist nicht zu verschweigen, dass Osteopathie auch ein Geschäftsmodell ist. Die Schweiz mit einer ähnlich hohen Dichte an Manualmedizinern wie Deutschland hat relativ fast keine ärztlichen Osteopathen – es gibt in der Einheitsversicherung mit dem Einheitstarif keine zusätzliche Abrechnungsmöglichkeit, wenn man nach den 300 Stunden MM mit Diplom dann noch 450 Stunden Fortbildung in Osteopathie betreibt. Also interessiert sich kaum einer dafür. In Deutschland ist dies eindeutig anders.

Die Definitionen unterscheiden sich jedenfalls nicht besonders:

Die Manuelle Medizin (MM) ist die medizinische Disziplin, in der unter Nutzung der theoretischen Grundlagen, Kenntnisse und Verfahren weiterer medizinischer Gebiete die Befundaufnahme am Bewegungssystem, dem Kopf, viszeralen und bindegewebigen Strukturen sowie die Behandlung ihrer Funktionsstörungen mit der Hand unter präventiver, kurativer und rehabilitativer Zielsetzung erfolgt. Diagnostik und Therapie beruhen auf biomechanischen und neurophysiologischen Prinzipien. ((Muster-)Kursbuch Manuelle Medizin/Chirotherapie, Bundesärztekammer, S. 4)

Osteopathie beruht auf dem manuellen Kontakt für Diagnose und Therapie. Sie berücksichtigt die Beziehungen zwischen Körper, Seele und Geist in Gesundheit und in Krankheit. Sie legt großen Wert auf die strukturelle und funktionelle Integrität des Körpers sowie auf die intrinsische Fähigkeit zur Selbstheilung. Osteopathische Anwender nutzen eine große Bandbreite therapeutischer manueller Techniken, um die physiologische Funktion zu verbessern und/oder die Homöostase zu unterstützen, sofern sie durch somatische Dysfunktion verändert wurden; d. h. durch gestörte oder veränderte Funktion der Bestandteile des somatischen Systems aus skeletalen, gelenkigen und myofaszialen Komponenten sowie den dazu gehörigen vaskulären, lymphatischen und neuralen Elementen. (Benchmarks for Training in Osteopathy, World Health Organization, S. 1; Übersetzung vom Autor)

Sicher ist über die Osteopathie: Der Begriff Osteopathie leitet sich ab von: altgr. ὀστέον, ostéon, „Knochen“ und πάθος, páthos, „Leiden“, was heute heißen soll: „krank durch Fehlfunktion der Knochen“. Dabei sind Unterscheidungen möglich, in parietale Osteopathie, betreffend das Haltungs- und Bewegungsorgan, viszerale, betreffend innere Organe, Lymph- und Blutgefäße, sowie kraniosakrale, basierend auf dem Modell einer autonomen Liquorwelle im Körper. Parietale Osteopathie hat eine sehr große Schnittmenge mit der MM; viszerale und kraniosakrale Techniken beruhen heute noch wesentlich auf Empirie und sind – das gilt zumindest für die kraniosakralen – nicht unmittelbar in die MM integrierbar [2].

Juristisch und gesundheitspolitisch stellt sich die Osteopathie heute so dar:

  • Osteopath darf sich in den USA nur derjenige nennen, der ein 6‑jähriges ärztliches Studium an einer Osteopathie-Universität absolviert hat.

  • In Europa ist dieser Begriff juristisch nicht geschützt; jeder darf ihn benutzen.

  • Die Europäische Union (EU) und die deutsche Bundesregierung lehnen bisher die Einführung des Berufsbildes eines nichtärztlichen Osteopathen ab. Letztere wünscht aber von den Ärzten (BÄK) eine qualitätskontrollierte Besetzung dieser Lücke.

  • In Deutschland bemühen sich die nichtärztlichen Therapeuten politisch und auf dem Klageweg um die Anerkennung eines Abschlusses und den Primärzugang zum Patienten.

  • Die BÄK hat eine curriculare, zertifizierte Fortbildung „osteopathische Verfahren“ für Ärzte mit MM mit 160 Stunden beschlossen.

Inhaltlich gehören aus den US-amerikanischen Lehrbüchern folgende Techniken zur Osteopathie, die jeweils ein komplettes System zur Behandlung des ganzen Menschen anbieten (die ersten vier sind praktisch identisch mit den Techniken der MM, wie sie in den 320 Stunden gemäß dem (Muster-)Kursbuch der BÄK betreffend Manuelle Medizin/Chirotherapie, vorgesehen sind, auch wenn mancher Osteopath dies anders sehen will; [3]):

  • „myofascial release“ (MFR),

  • „integrated neuromuscular release“ (INR),

  • „high velocity – low amplitude“ (HVLA),

  • „muscle energy techniques“ (MET),

  • „balanced ligamentous tension“ (BLT),

    • „ligamentous articular strain“ (LAS),

  • „counterstrain“ (CnStr),

    • „facilitated positional release“ (FPR),

  • „Still techniques“,

  • „visceral techniques“,

  • „osteopathy in the cranial field“.

Wie sind (scheinbar) trennende Begrifflichkeiten einzuordnen [4]?

FormalPara Körper, Geist und Seele.

Die präzise Einordnung der Begriffe Geist und Seele ist aus der Sicht des naturwissenschaftlich orientierten Mediziners weiterhin nicht möglich. Diese Fragestellung ist Gegenstand umfangreichster philosophischer und theologischer Diskussionen – es handelt sich also auch um weltanschauliche Fragen. Dagegen ist im Bereich ärztlicher Diagnostik und Therapie die zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen Psyche und Soma unstrittig; eine Dualisierung in Psyche und Soma darf aus medizinischer Sicht als obsolet gelten. Schmerzwahrnehmung ist auch die Folge eines zentralen komplexen Integrationsprozesses auf der Basis von biologischem Stress auf die peripheren Nozizeptoren und auf der Basis von psychosozialem Stress.

FormalPara Struktur, Funktion und Ganzheitlichkeit.

Unstrittig ist die Verbindung von Struktur und Funktion. Diese Ganzheitlichkeit kann nicht als spezifischer Teil eines eigenständigen medizin-philosophischen Konzepts, der Osteopathie, betrachtet werden. Sie ist nicht an die Methode Osteopathie gekoppelt, sondern eine Frage der Grundhaltung des Arztes bzw. des Therapeuten gegenüber der Problemstellung bzw. dem Patienten. Ganzheitlichkeit hat v. a. mit der Integration des Komplexitätsbegriffes zu tun.

FormalPara Selbstregulation und funktionsorientierte Betrachtung vs. Pathogenesemodelle.

Medizin fußt keineswegs alleinig auf dem Pathogenesemodell. Salutogenesemodelle (z. B. nach Antonovsky) sind im Rahmen des biopsychosozialen Krankheitsmodells heute Standard. In der Rehabilitation sind neben pathogeneseorientierten Klassifizierungen (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, ICD) auch funktionsorientierte Klassifizierungen (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) Standard. Selbstregulation ist ein Grundelement eines komplexen adaptiven Systems, wie es der menschliche Organismus in seiner Gesamtheit darstellt.

FormalPara Klinische Bilder als komplexe adaptive Systeme.

Die Funktionsweisen des autonomen Nervensystems und anderer zentraler Nerven sind wesentliche Elemente des hochadaptiven menschlichen Systems. Klinische Bilder, v. a. bei chronischen Zuständen, sind also als Resultat komplexer adaptiver Systeme zu sehen, gemäß einem systemtheoretischen Ansatz. Die Reaktionsweise dieses hochkomplexen menschlichen Systems auf den beliebigen therapeutischen Zugriff ist nicht oder nur begrenzt vorhersehbar (nach dem Prinzip der Emergenz und Nichtlinearität komplexer adaptiver Systeme).

FormalPara Komplexe adaptive Systeme.

Man kann dies auch so zusammenfassen:

  • einfache Systeme: wenige Elemente, Beziehungen und Verhaltensmöglichkeiten: lineares System,

  • komplizierte Systeme: viele Elemente und Beziehungen; Verhalten ist determiniert, d. h. vorausseh- und gezielt beeinflussbar (auflösbar in die einzelnen Elemente: Summe linearer Systeme),

  • komplexe Systeme: Vielzahl von Elementen mit vielfältigen Beziehungen; große Vielfalt an Verhaltensmöglichkeiten mit veränderlichen Wirkungsverläufen zwischen den Elementen, d. h., sie entziehen sich der Vereinfachung, zeigen Emergenz; die Reaktion des Systems auf veränderte Input-Faktoren ist nicht voraussehbar.

Der Hauptfehler, der in der Diagnostik und der Therapie von v. a. chronisch-dysfunktionalen Zuständen bzw. Schmerzzustände gemacht wird, ist, dass man so tut, als würde es sich um lineare Systeme bzw. um die Summe von linearen Systemen handeln. Auch bahnbrechende neue diagnostische und therapeutische Ansätze eines bestimmten klinischen Elements ändern nichts an der Nichtlinearität der nichtvorhersehbaren Reaktion in einem komplexen System. Ein weiterer Irrtum besteht darin, dass oft geglaubt wird, man könne durch eine sog. ganzheitlichere Analyse mithilfe angeblich noch differenzierterer Diagnostik dem diagnostischen und dem therapeutischen Komplexitätsdilemma entrinnen. Eine so verstandene Ganzheitlichkeit verletzt das Komplexitätsprinzip. Diese Erkenntnisse haben wichtige Konsequenzen auf Diagnostik und Therapie komplexer Befund- und Krankheitssituationen. Diese dürfen nicht wie eine Summe linearer Systeme behandelt werden. Sie können nicht besser diagnostiziert und behandelt werden, durch weiterhin hypothetische erfahrungsmedizinische Konzepte. Die Reagibilität des Systems bleibt extrem variabel [4].

Zur naturwissenschaftlichen Einordnung der heute noch vorwiegend empirisch begründeten kraniosakralen Osteopathie gibt es nicht viele positive Daten. Das zentrale Element, die Existenz und Palpierbarkeit einer autonomen Liquorwelle unter dem Begriff des „primären, respiratorischen Mechanismus (PRM)“ (Sutherland), konnte in keiner Kappa-Studie als reproduzierbarer, lehrbarer Palpationsbefund belegt werden. Die Intertester-Reliabilität beträgt danach κ = −0,09 bis 0,31 [5]. Wenn die Intratester-Reliabilität eigentlich ganz gut erscheint, so ist dies dadurch erklärt, dass der Tester seinen eigenen Rhythmus palpiert [6] . Die Frequenz des PRM variiert dann auch noch um das Doppelte zwischen erfahrenen und unerfahrenen Testern [7]. Hier gibt es dringenden Bedarf für ein anderes Erklärungsmodell, wie es der Vorschlag zur Nutzung inhibitorisch-rezeptiver Felder an den transkraniell verlaufenden Nervenästen (z. B. des Trigeminus) aus den Instituten für Anatomie und Physiologie der Universität in Erlangen darstellt [8, 9].

Für die zur viszeralen Technik gehörende „Lymph-Pumpe“ konnte im Tiermodell nachgewiesen werden, dass im Vergleich zu normaler Alltagsbeweglichkeit die Lymph-Pumpe fast einen normalen Lymphabfluss erreichen kann [10]. Das wäre eine Indikation für immobilisierte Patienten.

Bei den therapeutischen Evidenzen steht die parietale Osteopathie, wie auch die MM, gut dar. Es gibt heute viele methodisch gute Studien, die eine gute Wirksamkeit dieser Techniken belegen (z. B. Licciardone et al. [11]; Franke et al. [12]; Ceritelli et al. [13]). Für die viszeralen Techniken liegen zu wenige und auch nicht vergleichbare Daten vor [14, 15]. Eine Therapieevidenz für die kraniosakrale Technik fehlt völlig. In den Zusammenfassungen der durchgeführten Studien wird von der Anwendung abgeraten [16].

Allerdings kommen immer wieder Behauptungen auf den Markt, für die eine Überprüfbarkeit nicht möglich ist, weil die Daten nicht publiziert werden. So behauptet die BKK advita gemäß einer Presserklärung des Verbands der Osteopathen Deutschland e. V. (VOD), osteopathische Behandlungen hätten eine Reduktion der Behandlungskosten um 45 % erreicht. Das klingt super – wenn man die Daten prüfen könnte. Die sind aber geheim. Zumindest wird zugegeben, dass die Kosten für die Osteopathie nicht enthalten sind; somit verringert sich die Einsparung um 20 % [17].

Wie sieht die Zukunft des Miteinanders von MM und ÄO aus? Der Facharzt/-anwärter sollte mit einer Weiterbildung in MM (320 Stunden) beginnen und damit praktische Erfahrungen sammeln. Sofern er für sich entscheidet, dass ihm dies nicht reicht, dass er seine ganze Tätigkeit mit manueller Diagnostik und Therapie füllen will, kann er seinen Horizont mit den dann sog. osteopathischen Techniken erweitern. Es wird sich zeigen, ob die BÄK zukünftig die Kurse für ärztliche Osteopathie als Zusatzweiterbildung anerkennt und es dafür einen führbaren Titel mit der Möglichkeit eigener Gebührenziffern geben wird. In jedem Fall sollten sich die ärztlich-osteopathischen Gruppierungen intensiv darum bemühen, durch

  • Sammlung und Interpretation der translationalen Grundlagenforschung die jeweiligen Erklärungsmodelle für die pathologischen Befunde und die Therapieansätze zu begründen,

  • klinische Studien zum Vergleich der Osteopathie mit anderen konservativen Therapien (einschließlich der MM) und medikamentösen Leitlinientherapien, je mit einer Placebogruppe, zur Evidenz dieser Methode beizutragen,

  • Vermeidung jeden Anscheins eines esoterischen Glaubens, zur Integration der ärztlichen Osteopathie in die Konzepte der europäischen Hochschulmedizin (speziell auch für den europäischen Facharztverband UEMS) beizutragen.