Die Zielsetzung des Manualmediziners und des (ärztlichen) Osteopathen ist identisch – beide wollen mit ihren Händen funktionsverbessernd, schmerzlindernd, letztlich heilend auf den Organismus des Patienten einwirken.

Die Elemente der osteopathischen Philosophie (basierend auf Still und Sutherland aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert) werden bis heute als Kern- und Alleinstellungsmerkmal der Osteopathie bezeichnet (z. B. Riedel [10]):

  • Körper („body“), Geist („mind“) und Seele („spirit“) bilden eine Einheit.

  • Struktur und Funktion sind miteinander verbunden und voneinander abhängig.

  • Der Körper verfügt in einem ständigen Gleichgewicht über die Fähigkeit zur Selbstregulation und Selbstheilung.

  • Eine sinnvolle Therapie beruht auf dem Vorgenannten (Prinzip der Einheit des Körpers, der Selbstregulation und der Abhängigkeit von Funktion und Struktur).

Diese Aspekte sollen zunächst im Kontext mit naturwissenschaftlichen Prinzipien betrachtet werden.

Körper, Geist und Seele

Die präzise Einordnung der Begriffe Geist und Seele ist aus der Sicht des naturwissenschaftlich orientierten Mediziners weiterhin nicht möglich. Diese Fragestellung ist Gegenstand umfangreichster philosophischer und theologischer Diskussionen – es handelt sich also auch um weltanschauliche Fragen. Dagegen ist im Bereich ärztlicher Diagnostik und Therapie die zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen Psyche und Soma unstrittig; eine Dualisierung in Psyche und Soma darf aus medizinischer Sicht als obsolet gelten (z. B. [12]). Schmerzwahrnehmung ist auch die Folge eines zentralen komplexen Integrationsprozesses auf der Basis von biologischem Stress auf die peripheren Nozizeptoren und basierend auf psychosozialem Stress (z. B. [9]: „from the gate to the neuromatrix“).

Struktur, Funktion und Ganzheitlichkeit

Unstrittig ist auch die Verbindung von Struktur und Funktion. Diese Ganzheitlichkeit kann nicht als spezifischer Teil eines eigenständigen medizinphilosophischen Konzepts, der Osteopathie, betrachtet werden. Sie ist nicht an die Methode Osteopathie gekoppelt, sondern eine Frage der Grundhaltung des Arztes bzw. des Therapeuten gegenüber der Problemstellung bzw. dem Patienten. Ganzheitlichkeit hat vor allem mit der Integration des Komplexitätsbegriffs zu tun.

Selbstregulation und funktionsorientierte Betrachtung versus Pathogenesemodelle

Medizin fußt keineswegs allein auf dem Pathogenesemodell. Salutogenesemodelle sind im Rahmen des biopsychosozialen Krankheitsmodells heute Standard. In der Rehabilitation werden neben pathogeneseorientierten Klassifizierungen (ICD) auch funktionsorientierte Klassifizierungen (ICF) verwendet.

Selbstregulation ist ein Grundelement komplexer adaptiver Systeme, die der menschliche Organismus in seiner Gesamtheit darstellt – darauf wird unten noch eingegangen.

Medizin, Empirie und Naturwissenschaft

Medizin ist ihrem Wesen nach keine Naturwissenschaft. Sie bedient sich so weit möglich derer Methoden, verzichtet aber nicht auf Empirie. Besonders kraniosakrale und viszerale Osteopathie haben bisher überwiegend empirische Methoden angewendet und eine prinzipielle Vorhersagbarkeit der Beeinflussbarkeit der Selbstheilungskräfte des Körpers unterstellt. Osteopathische Philosophie ist nicht auf die Erkenntnisse der modernen naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung angewiesen, in Teilen der Osteopathie (nichtparietalen Osteopathie) hat man sich viel zu lange wenig um Grundlagenforschung bemüht, sondern man hat sich empirischer Phänomene und Beobachtungen bedient. Die postulierten Mechanismen lassen sich nicht oder nur eingeschränkt evidenzieren, wie z. B. der primäre respiratorische (kraniosakrale) Rhythmus oder dysfunktionelle Veränderungen von inneren Organen und ihren Aufhängungen. Aus naturwissenschaftlicher Sicht läuft man bei einigen Konzepten der Osteopathie Gefahr, empirische, ansprechende und letztlich irrationale Ideen durch repetitive, inflationäre Tradierung zu vergrößern und zu verfestigen. Dass irrationale Ideen für das Nachdenken über die Wissenschaft und den wissenschaftlichen Fortschritt überaus fruchtbar sein können, wird nicht infrage gestellt. Der emeritierte Professor für theoretische Physik an der technischen Hochschule ETH in Zürich, J. Fröhlich, schrieb dazu in einem Manuskript 2011 [2]:

Das ist ein oft beobachtetes Phänomen. Irrationale Ideen, die aus den Tiefen des Unbewussten aufsteigen, führen aufs Mal auf wunderbare und überaus rationale Entdeckungen. Was aber den erfolgreichen Wissenschaftler vor dem Durchschnittsmenschen auszeichnet, ist seine Fähigkeit, den Weizen von der Spreu zu scheiden und der Gefahr zu entrinnen, dass irrationale, aber möglicherweise ästhetisch ansprechende Ideen inflationär vergrößert werden und sich zu Vorurteilen verfestigen. [2]

Klinische Bilder als komplexe adaptive Systeme

Die Funktionsweise des autonomen Nervensystems und anderer zentraler Nervenfunktionsweisen sind wesentliche Elemente des hochadaptiven menschlichen Systems. Klinische Bilder vor allem bei chronischen Zuständen sind also als Resultat komplexer adaptiver Systeme, zu sehen gemäß eines systemtheoretischen Ansatzes. Die Reaktionsweise dieses hochkomplexen menschlichen Systems auf den beliebigen therapeutischen Zugriff ist nicht oder nur begrenzt vorhersehbar (nach dem Prinzip der Emergenz und Nichtlinearität komplexer adaptiver Systeme).

Funktionelle Zusammenhänge und Wechselwirkungen

In der praktischen Konsequenz, z. B. bezogen auf kraniosakrale Osteopathie, bedeutet das nicht, dass eine naturwissenschaftlich orientierte manuelle Medizin keinen Zugriff auf den Kopf mit seinen gelenkigen, muskulären, myofaszialen und nervösen Strukturen kennt. Ebenso wenig werden funktionelle Irritationen, wie etwa von Hirnnerven, in ihren Verläufen infrage gestellt.

Eine naturwissenschaftlich orientierte manuelle Medizin schließt aber die Implementierung eines primären respiratorischen Rhythmus als Ursache oder Ziel von Diagnostik und Therapie speziell auch am Kranium aus.

Die manuelle Medizin berücksichtigt aber die kraniospinosakralen neuroanatomischen Grundlagen der Interneuronenlandschaft zwischen der oberen Halswirbelsäule und dem Sakrum, für den Kopf-Hals-Bereich die wichtigen neuronalen Verknüpfungen zervikotrigeminal und bedient sich der Analyse funktioneller Verkettungen über große Strecken unter verschiedenen funktionellen Aspekten (kinetisch-funktionelle, neuroanatomische, muskulär-fasziale und Chronifizierungsaspekte).

Ebenso wenig werden die vertebroviszeralen und viszerovertebralen Funktionen und ihre Bedeutung im klinischen Alltag angezweifelt. Allerdings sind die osteopathisch postulierte Diagnostik und Therapie von inneren Organen und ihrer Aufhängungen speziell in ihren Auswirkungen auf vertebrale Schmerzsyndrome und Organfunktionsstörungen nicht evidenzbasiert, soweit sie nicht auf den physiologisch-anatomischen Grundlagen der interozeptiv-nozizeptiven Afferenzen aufbauen. Auch hier sind aufgrund des Funktionsprinzips komplexer Systeme die postulierten spezifischen Diagnostik- und Therapieansätze in reproduzierbaren Studien zu überprüfen.

Überdies ist es nicht möglich, exakt definierbare lokoregionäre sog. „manualmedizinisch-osteopathische Syndrome“ zu beschreiben, die als pathologiebezogene Diagnosen den Weg zu einer zuverlässigen, reproduzierbaren Therapie eines komplexen Systems eröffnen könnten. Vielmehr sind fallbezogen die einzelnen Funktionen zu erfassen [1]: myofasziale, artikuläre (Mobilität, Irritation, Provokation) und neuromeningeale Ebene sowie Stabilisationsfunktion und zentrale Verarbeitungsmechanismen (periphere/zentrale Sensibilisierung, psychosoziale Einflussfaktoren). Diese sind im Rahmen einer umfassenden Schmerz- und Funktionsanalyse einzuordnen: Nozigeneratoren, somatopsychische Reflexantwort, Chronifizierungsmechanismen und inhibitorische Systeme. Die Diagnose basiert schlussendlich auf den Ebenen

  • subjektives Erleben (Symptome, zeitlicher Verlauf, Ausdehnung),

  • Struktur (strukturelle und pathobiochemische Veränderungen) sowie

  • funktionelle und psychosoziale Umgebungsfaktoren.

Darauf basierend erfolgt die Therapieplanung gemäß therapeutischer Hierarchie (Schmerztherapie, Beseitigung von Nozigeneratoren, Rückbau von Chronifizierungsvorgängen und Elimination von psychosozialen Belastungsfaktoren, Wiederherstellung der Funktionen und motorischen Koordination, Alltagsbelastbarkeit und Selbstmanagement sowieTraining der motorischen und koordinativen Leistung etc.) unter laufender Berücksichtigung der Reaktionen des Systems (Prinzip des „test and treat and retest“). Mit Blick auf die Komplexität ist die aktive Diagnose der Chronifizierung entscheidend, weil auf der Zeitachse das System sich zunehmend im Sinne der Komplexität verändert.

Komplexe adaptive Systeme

Was haben also komplexe Systeme mit osteopathischer Philosophie zu tun? Die systemtheoretische Beschreibung komplexer Systeme hat vor allem seit den 1980er Jahren eingesetzt. Maßgebend beteiligt ist das Santa Fe Institute in New Mexico (http://www.santafe.edu), das 1984 von namhaften Grundlagenwissenschaftler zur Erarbeitung einer interdisziplinären Theorie komplexer adaptiver Systeme gegründet wurde. Die Theorie komplexer Systeme ist Gegenstand der Forschung in Wirtschaft (Märkte), Managementsystemen, sozialen Systemen (Volkswirtschaftslehre), Meteorologie, Ökosystemen, Physik oder Hirnfunktionen – um einige Beispiele zu erwähnen (zusammenfassende Darstellungen bei Gell-Mann, Nobelpreisträger für Physik [3], Holland [5, 6], Ulrich u. Probst [11]).

Komplizierte Systeme sind lediglich abhängig von der Anzahl und Unterschiedlichkeit der Elemente und der Beziehungen. Komplexe Systeme dagegen hängen von der Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten der Elemente und der Veränderlichkeit der Verläufe zwischen den Elementen ab.

Komplexe adaptive Systeme zeigen eine Anpassung an die Umwelt und die Möglichkeit, aus Erfahrung zu lernen.

Komplexe Systeme zeigen Emergenz (z. B. Kubik [7], Holland [5, 6]): spontane Entstehung von neuen Eigenschaften eines Systems durch das Zusammenspiel seiner Elemente. Solche emergenten systemischen Eigenschaften lassen sich nicht auf das Verhalten einzelner isoliert betrachteter Elemente zurückführen. Das Hinzufügen eines neuen Elements oder eine Änderung eines Input-Faktors lässt neue emergente Eigenschaften entstehen, die wiederum nicht voraussehbar bzw. nicht vorausberechenbar sind (auch nicht theoretisch durch noch so komplexe Rechnersysteme). Der Emergenzbegriff bedeutet nicht einfach das Auftauchen einer bisher verborgenen Eigenschaft, wie der Begriff suggerieren könnte, sondern die spontane Entstehung eines neuen Verhaltens des Systems. Aus diesem möglichen Missverständnis heraus hat z. B. K. Lorenz den Begriff Fulguration anstelle von Emergenz vorgeschlagen [8].

Dies lässt sich auch so zusammenfassen:

  • Einfache Systeme: wenige Elemente, Beziehungen und Verhaltensmöglichkeiten – lineares System

  • Komplizierte Systeme: viele Elemente und Beziehungen; Verhalten ist determiniert, d. h. voraussehbar und gezielt beeinflussbar (auflösbar in die einzelnen Elemente – Summe linearer Systeme)

  • Komplexe Systeme: Vielzahl von Elementen mit vielfältigen Beziehungen; große Vielfalt an Verhaltensmöglichkeiten mit veränderlichen Wirkungsverläufen zwischen den Elementen, d. h. sie entziehen sich der Vereinfachung, sie zeigen Emergenz, die Reaktion des Systems auf veränderte Inputfaktoren ist nicht voraussehbar.

Der Hauptfehler, der in der Diagnostik und Therapie von vor allem chronischen dysfunktionalen Zuständen bzw. Schmerzzuständen gemacht wird, ist, dass man so tut, als würde es sich um lineare Systeme bzw. um eine Summe von linearen Systemen handeln.

Auch bahnbrechende neue diagnostische und therapeutische Ansätze eines bestimmten klinischen Elements ändern nichts an der Nichtlinearität der nichtvorhersehbaren Reaktion in einem komplexen System. Ein weiterer Irrtum besteht darin, dass oft geglaubt wird, man könne durch eine sog. ganzheitlichere Analyse mittels angeblich noch differenzierterer Diagnostik dem diagnostischen und therapeutischen Komplexitätsdilemma entrinnen.

Eine falsch verstandene Ganzheitlichkeit verletzt das Komplexitätsprinzip.

Diese Erkenntnisse haben wichtige Konsequenzen auf Diagnostik und Therapie komplexer Befund- und Krankheitssituationen. Wir dürfen diese nicht wie eine Summe linearer Systeme behandeln. Diese können nicht besser diagnostiziert und behandelt werden durch weiterhin hypothetische erfahrungsmedizinische Konzepte. Die Reagibilität des Systems bleibt extrem variabel.

Die eingangs erwähnten Alleinstellungsmerkmale der osteopathischen Philosophie lassen sich problemlos naturwissenschaftlich integrieren. Entscheidend ist die Akzeptanz des dargelegten Verhaltens komplexer Systeme. Diese entziehen sich der Vereinfachung, und die mitunter fast zwanghafte Absicht, durch neue und angeblich weiter vertiefte diagnostische und therapeutische funktionelle Konzepte noch genauer und besser zu sein, läuft diesem eigentlichen Grundgesetz in der Natur entgegen.

Hier soll erwähnt werden, dass die Vereinfachung auf Prinzipien und die „klaren“ Denkmodelle bei psychosozial belasteten Patienten mit Chronifizierungsphänomenen dazu führen können, dass die Patienten für einen psychosozialen Ansatz nicht mehr zugänglich sind und die Chronifizierung und das regressive Krankheitsverhalten durch repetitive Anwendung derartiger Therapieansätze sogar gefördert werden. Der passive „angenehme“ und heilende Ansatz behindert die Einsicht für eine aktive Beteiligung und damit für eine aktive Übernahme von Verantwortung für die eigene Gesundheit, was auch als „unerwünschte Nebenwirkung“ bezeichnet werden kann.

Osteopathie als medizinphilosophisches Konzept

Zusammenfassend ist die sog. osteopathische Philosophie von einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin teleologisch betrachtet nicht abgrenzbar, bedient sich aber terminologisch/argumentativ und wissenschaftstheoretisch unterschiedlicher Begrifflichkeiten und Schlussfolgerungen (Tab. 1). So interessieren uns in der manuellen Medizin diagnostische Herangehensweisen und Behandlungstechniken anderer erfahrener Schulen in Chiropraktik und Osteopathie – weniger aber die sog. osteopathische Philosophie. Etwas pragmatisch formuliert sind Behandlungstechniken der manuellen Medizin, Chiropraktik und Osteopathie eo ipso teleologisch und in ihren neurophysiologischen Auswirkungen nicht unterscheidbar. Die manuelle Medizin betrachtet sich als ein Zweig der medizinischen Wissenschaften, ohne sich dabei auf fundamental andere „medizinische Prinzipien“ zu berufen. Die eingangs dargestellten Elemente dieser Philosophie als Kern- und Alleinstellungsmerkmal einer Osteopathie in Abgrenzung zu einer nichtosteopathischen Medizin lösen sich bei genauer Betrachtung weitgehend auf.

Tab. 1 Begrifflichkeiten der osteopathischen Philosophie und der naturwissenschaftlich orientierten Medizin

Osteopathische Verfahren

Mit Blick auf die berufspolitischen Entwicklungen in Deutschland stellt sich die Frage für den Manualmediziner, inwiefern es streng inhaltlich gesehen „osteopathische Verfahren“ gibt, die von „manualmedizinischen Verfahren“ abgrenzbar sind. Im Gutachten der Bundesärztekammer zur Osteopathie 2009 [7] werden die „osteopathischen Verfahren“ als Behandlungstechniken der Osteopathie ohne die „philosophischen Grundlagen“ der Osteopathie definiert:

Denn osteopathische Verfahren lassen sich, wie bereits angedeutet, auch anwenden, ohne das besondere Menschenbild der „Osteopathie“ US-amerikanischer Prägung und die damit kongruenten Funktionsvorstellungen zu übernehmen, wenn man sich dazu auf die Ebene anatomischer und neurophysiologischer Grundlagenforschung begibt. [7]

Dem ist Folgendes entgegenzuhalten:

  • Die moderne amerikanische universitäre Osteopathie bezieht sich keineswegs auf philosophische Aspekte aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Sie versteht sich dort als naturwissenschaftlich geprägte, vorwiegend muskuloskeletal tätige medizinische Wissenschaft, die aktuell neben den Chiropraktoren den wohl höchsten Anteil an wissenschaftlichen Studien zu mobilisierenden Behandlungsverfahren in namhaften Zeitschriften der muskuloskeletalen Fachgebiete publiziert. Der Facharzttitel der US-amerikanischen Osteopathen lautet demgemäß „specialist in neuromusculoskeletal medicine“. Dazu sei auf die Darstellungen des osteopathischen Mediziners Greenman [4] verwiesen, der ausdrücklich auf die fehlende Abgrenzbarkeit von manueller Medizin (dort verstanden als manuelle Tätigkeit eines D.O., D.C. oder M.D.) zur Schulmedizin verweist.

  • US-amerikanische Osteopathen (D.O.) praktizieren weitgehend parietale Osteopathie und somit keine kraniosakrale und viszerale Osteopathie.

  • Viele Behandlungstechniken können nicht als osteopathische Verfahren bezeichnet werden, nur weil sie ursprünglich in bestimmten osteopathischen Universitäten Amerikas oder in anderen Schulen gelehrt wurden. Das entspräche einem Festhalten an personengebundenen Definitionen und ist in einem modernen Wissenschaftsverständnis nicht haltbar.

  • Ohne „osteopathische Philosophie“ ist eine Abgrenzung von osteopathischen Verfahren inhaltlich genauso wenig zweckmäßig, wie es beispielsweise abzugrenzende chiropraktische Verfahren wären, nur weil sie ursprünglich in Lehrbüchern der amerikanischen Chiropraktoren standen.

Berufspolitische Interessen an der Osteopathie

Begrifflichkeiten wie „osteopathische Verfahren“ sind also mehr berufspolitisch und marktstrategisch zu begründen: Einerseits möchten die Ärzte in Deutschland nicht zu Osteopathen werden, aber gleichzeitig auf den boomenden Zug der Osteopathie aufspringen, indem sie zu kommunizieren versuchen, dass auch sie „osteopathisch“ arbeiten. Daraus entstehen dann Konstruktionen wie die Existenz einer Grundausbildung in manueller Medizin mit zusätzlichen abgrenzbaren „osteopathischen Verfahren“.

Abgrenzbarkeit manuelle Medizin und Osteopathie

Wenn wir zurückkehren zum einleitenden Abschnitt der naturwissenschaftlichen Prinzipien, wäre die Fragestellung der Abgrenzbarkeit von der funktionellen manuellen Medizin dahingehend zu beantworten, dass vor allem Konzepte der kraniosakralen und viszeralen Osteopathie, die auf Modellen wie dem kraniosakralen Rhythmus oder der Vorstellung von spezifischen Funktionsstörungen innerer Organe basieren, wie auch die sog. osteopathische Philosophie von der manuellen Medizin abzugrenzen sind.

In diesem Zusammenhang sei nochmals erwähnt, dass der Großteil der universitären amerikanischen osteopathischen Mediziner (D.O.) solche Behandlungsprinzipien ebenfalls nicht anwenden. Diese sind primär ärztlich ausgebildet wie in anderen medizinischen Universitäten und haben lediglich ca. 200 Stunden Pflichtausbildung in manueller Medizin bzw. osteopathisch-manueller Medizin; sie arbeiten später oftmals nicht als Osteopathen im engeren Sinne, sondern als Mediziner wie alle Ärzte mit klassischer Ausbildung. Je nach College ist es den Studenten möglich, die Kenntnisse auf dem Gebiet der manuellen Diagnostik und Therapie („osteopathic manipulative medicine“) um weitere 200–500 fakultative Stunden zu ergänzen. Der oft zelebrierte Schwerpunkt auf die traditionellen Grundsätze der osteopathischen Philosophie mit dem Anspruch einer besonderen Ganzheitlichkeit, verbunden mit viszeralen und kraniosakralen Behandlungsmethoden, ist eher als ein europäisches Phänomen der letzten 2–3 Jahrzehnte zu bezeichnen und unterstreicht die Heterogenität des Begriffs Osteopathie.

Fazit für manualmedizinische Schulen

Wir möchten nicht verschweigen, dass die dargestellten inhaltlich und berufspolitisch begründeten Unterschiede durch eine weitere Komponente noch komplexer (komplizierter) werden: Da die meisten Schulen für manuelle Medizin privatrechtliche Institutionen darstellen mit einem oft handfesten wirtschaftlichen Interesse, entsteht naturgemäß ein eigentlicher Zielkonflikt. Während universitär abgebildete und ausgebildete Fachgebiete primär an den Inhalten orientiert sind, laufen „private“ manualmedizinische Schulen Gefahr, Inhalte mit wirtschaftlichen Interessen zu verquicken. Dass unterschiedliche Anreizsysteme durch Gebührenordnungen (Schweiz: Arzttarife) eine direkte Auswirkung haben, zeigt der Vergleich zwischen der Schweiz und Deutschland. Während sich die manuelle Medizin in beiden Ländern parallel als Zusatzbezeichnung entwickelt hat, finden sich in der Schweiz mit einem ambulanten Einheitskassentarif für alle Patienten auch nach 15 Jahren praktisch keine Ärzte, die bereit sind, eine 450-Stunden-Weiterbildung in osteopathischer Medizin zu absolvieren – ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo „osteopathische Leistungen“ in der Praxis über die privaten Versicherungen und zunehmend auch durch Sonderleistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen attraktiv abgerechnet werden können.

Der wirtschaftliche Erfolg und aktuelle Markt definieren die Weiterbildungsinhalte, weniger deren wissenschaftlicher Hintergrund.

Diese Zusammenhänge sind ein wichtiger Fingerzeig dafür, dass die manuelle Medizin gut daran tut, in Zukunft die (inhaltliche) Zertifizierung durch unabhängige universitäre Institute kooperativ vornehmen zu lassen, während die operative Durchführung des Kurswesens durchaus bei den bisherigen Institutionen bleiben kann und soll.

Die moderne manuelle Medizin berücksichtigt funktionell alle Körpersysteme neuromuskuloskeletal (wozu auch das Zentralnervensystem gehört) und in ihren vertebroviszeralen und viszerovertebralen Wechselwirkungen. Sie basiert auf naturwissenschaftlichen Grundlagen. Die angewendeten Techniken sind einer steten Entwicklung unterworfen und haben z. T. ihre Wurzeln in verschiedenen Schulen wie Chiropraktik, Osteopathie und Physiotherapie. Darüber hinausgehend eine „ganzheitlichere Philosophie“ zu postulieren, macht aus naturwissenschaftlicher Sicht wenig Sinn, sofern man das Komplexitätsprinzip versteht und umsetzt.