Die steigende Prävalenz onkologischer Krankheitsbilder führt immer häufiger zur Vorstellung von Patienten in der neurologischen Sprechstunde oder der Notaufnahme, oft wegen direkter zerebraler Metastasierung der Primärtumoren [17]. Aber auch bei Fehlen von ZNS-Metastasen existieren häufig Anlässe zur neurologischen Konsultation bei Krebspatienten: Neben den paraneoplastischen Syndromen, die als immunologische Fernwirkung von bestimmten Krebsarten sogar eine wichtige diagnostische Funktion im Sinne eines ersten Hinweises auf eine Tumorerkrankung haben können [15], gehören die direkten neurotoxischen Effekte von Chemotherapien zu den Nebenwirkungen, die eine neurologische Verlaufsbeurteilung notwendig machen. Ein bislang seltenes, aber wegen der Verwechslungsmöglichkeit mit einem bilateralen Posteriorinfarkt in der Akutneurologie wichtiges onkologisches Krankheitsbild ist das chemotherapieassoziierte reversible posteriore Leukenzephalopathiesyndrom (RPLS) [5]. Wir berichten über einen 37-jährigen Patienten, bei dem sich ein ungewöhnlicherweise rezidivierendes RPLS im Rahmen einer Chemotherapie manifestierte.

Kasuistik

Der 37-jährige, neurologisch bislang unauffällige Patient erhielt wegen eines Magenkarzinoms (siegelringzelliges schleimbildendes Adenokarzinom) nach einer erweiterten Gastrektomie von Januar bis August 2004 eine Chemotherapie mit monatlichen Zyklen Cisplatin (50 mg/m2 Körperoberfläche) und 5-Fluorouracil (2000 mg/m2 Körperoberfläche). Am 20.07.2004 wurde er erstmals notfallmäßig wegen starker Kopfschmerzen vorgestellt. Eine Woche zuvor war der 7. Chemotherapiezyklus verabreicht worden.

Bei der initialen neurologischen Untersuchung war der Patient desorientiert und psychomotorisch unruhig. Es fand sich ein positives Babinski-Zeichen links bei sonst unauffälligem neurologischem Befund. Gegen Ende der Untersuchung erlitt der Patient einen typischen Grand Mal. Während die kraniellen CT-Aufnahmen (cCT) vom 20.07.2004 sowohl nativ (Abb. 1a,b) als auch mit Kontrastmittel unauffällig waren, zeigte die kranielle Magnetresonanztomographie (cMRT) vom 23.07.2004 in der T2-Wichtung und der FLAIR-Sequenz artdiagnostisch nicht zuzuordnende Signalintensitätserhöhungen in der Postzentralregion beidseits (Abb. 1c) ohne KM-Aufnahme in der T1-Wichtung. Das EEG war unauffällig, die Labordiagnostik inklusive Liquor erbrachte keine richtungweisenden Befunde. Ätiologisch wurde ein ursächlicher Zusammenhang mit der Chemotherapie vermutet, das Krankheitsbild jedoch initial nicht als RPLS erkannt. Die psychopathologischen Auffälligkeiten bildeten sich innerhalb weniger Tage zurück, und der Patient wurde mit einer antikonvulsiven Therapie (Carbamazepin, Serumkonzentration 4,3 mg/dl) entlassen.

Zwei Wochen nach dem nächsten und letzten geplanten Chemotherapiezyklus wurde der Patient am 02.09.2004 erneut wegen einer Grand-mal-Anfallsserie stationär aufgenommen, die Carbamazepin-Serumkonzentration betrug 6,8 mg/dl. Die Notfall-cCT zeigte biokzipitale Hypodensitäten unter Aussparung der paramedianen und kaudal des Sulcus calcarinus gelegenen Anteile des Okzipitallappens (Abb. 2b). Die cMRT zeigte jetzt neu disseminierte subkortikale Hyperintensitäten in T2-Wichtung und FLAIR mit okzipitalem Schwerpunkt ohne KM-Aufnahme in der T1-Wichtung. Dagegen waren die in der initialen cMRT nachweisbaren Veränderungen in der Postzentralregion nun deutlich regredient (Abb. 2c,d; siehe zum Vergleich Abb. 1c,d). Das EEG war wiederum unauffällig, die Labordiagnostik erbrachte bis auf eine Serummagnesiumkonzentration am unteren Rand des Referenzbereiches (0,7 mmol/l; interner Referenzbereich 0,73–1,06 mmol/l) erneut keine richtungweisenden Befunde. Insbesondere fand sich kein Hinweis für eine infektiöse (HIV und JC-Virus-PCR negativ, Liquor ohne pathologischen Befund inkl. fehlenden Nachweises oligoklonaler Banden) oder onkologische Ursache (Liquor ohne Nachweis von transformierten Zellen, Anti-Hu- und Anti-Yo-Antikörper negativ). Eine cMRT-Verlaufskontrolle vom 23.09.2004 zeigte eine komplette Rückbildung der Läsionen (Abb. 3a,b). Ohne Auftreten neuer neurologischer Symptome verstarb der Patient etwa ein Jahr später an den Folgen der Tumorerkrankung.

Abb. 1
figure 1

a, b Kranielle CT nativ vom 20.07.2004. Sowohl (a) postzentral als auch (b) in den Okzipitallappen unauffälliger Befund. c, d Kranielle MRT vom 23.07.2004. Es zeigen sich beidseits in der Postzentralregion (c) Signalintensitätserhöhungen, während die (d) Okzipitallappen zu diesem Zeitpunkt unauffällig sind

Abb. 2
figure 2

a, b Kranielle CT nativ vom 02.09.2004. Weiterhin unauffällige (a) Postzentralregion. Neu sind (b) Hypodensitäten in beiden Okzipitallappen (siehe zum Vergleich Abb. 1b). c, d Kranielle MRT vom 02.09.2004. Deutliche Regredienz der (c) initial in der Postzentralregion gelegenen Veränderungen (siehe zum Vergleich Abb. 1c), während gegenüber der Untersuchung vom 23.07.2004 neu aufgetretene Hyperintensitäten mit (d) Schwerpunkt in beiden Okzipitallappen nachweisbar sind (siehe zum Vergleich Abb. 1d)

Abb. 3
figure 3

Kranielle MRT vom 23.09.2004. Vollständige Remission der Veränderungen in der (a) Postzentral- und (b) Okzipitalregion

Diskussion

Das reversible posteriore Leukenzephalopathiesyndrom (RPLS) wurde erstmals 1996 von Hinchey et al. [5] als eigenständige nosologische Entität beschrieben. Klinisch manifestiert sich das RPLS — unabhängig von der zugrunde liegenden Ursache — durch Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Sehstörungen inklusive kortikaler Blindheit, Doppelbilder, epileptische Anfälle, Bewusstseinsstörungen bis zum Koma, Hemiparesen, Desorientiertheit, Halluzinationen, Agitiertheit oder auch Apathie bis zum Stupor [5, 8]. Die cMRT zeigt als Ausdruck eines Ödems in bilateraler und häufig symmetrischer Verteilung Signalintensitätserhöhungen überwiegend der weißen Substanz in T2- und FLAIR-Wichtung mit Schwerpunkt in den posterioren Hirnregionen ohne Bezug zu arteriellen Gefäßterritorien [3, 5, 8]. Zumeist sind hierbei die paramedianen und kaudal des Sulcus calcarinus gelegenen Anteile des Okzipitallappens im Unterschied zu bilateralen Posteriorinfarkten ausgespart (so auch bei unserem Patienten). Die neuroradiologische Differenzialdiagnostik umfasst zerebrale Ischämien (v. a. bilaterale Posteriorinfarkte), Sinusvenenthrombosen, die akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM), Vaskulitiden, postiktale Ödeme, Mitochondriopathien (MELAS-Syndrom), die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) und Enzephalitiden.

Ätiologisch ist das RPLS mit einer Vielzahl von Erkrankungen und Medikamenten in Verbindung gebracht worden (Tabelle 1). Das Auftreten eines chemotherapieassoziierten RPLS wurde erstmals von Ito und Kollegen beschrieben [6], allerdings unter einer Cisplatin-Monotherapie. In der Folge erschienen weitere Kasuistiken eines RPLS sowie eines ähnlichen Krankheitsbildes mit multiplen Hämorrhagien im Corpus callosum unter einer Kombinationstherapie mit Cisplatin und anderen Chemotherapeutika [4, 12].

Tabelle 1 Mögliche Ursachen eines reversiblen posterioren Leukenzephalopathiesyndroms

Unseres Wissens bislang in der Literatur nicht beschrieben ist das rezidivierende Auftreten eines RPLS. In dem vorgestellten Fall handelte es sich um remittierende klinische Episoden mit begleitenden reversiblen bildgebenden Veränderungen: Während die initialen Läsionen in der Postzentralregion im Verlauf fast vollständig regredient waren, traten neue, diesmal okzipital lokalisierte Läsionen 2 Wochen nach dem nächsten Chemotherapiezyklus auf. Die Diagnose eines RPLS stützt sich dabei auf die klinische Symptomatik, den Verlauf sowie die Bildgebung. Insbesondere die enge zeitliche Korrelation der neuroradiologischen Veränderungen mit der Chemotherapie (eine bzw. 2 Wochen nach dem 7. bzw. 8. Zyklus) und die vollständige Reversibilität nach Beendigung derselben sprechen in unserem Fall für einen ursächlichen Zusammenhang mit der Cisplatin- und Fluorouracil-Gabe.

Differenzialdiagnostisch hatte sich kein Hinweis für Hirnmetastasen des Primärtumors, eine Meningeosis carcinomatosa, eine Meningoenzephalitis, eine Sinusvenenthrombose oder ein paraneoplastisches Syndrom ergeben. Zur Abklärung einer möglichen Paraneoplasie haben wir Anti-Hu-Antikörper bestimmt, da diese sowohl bei der (limbischen) Enzephalitis als auch bei paraneoplastischen neurologischen Syndromen insgesamt die häufigste Antikörperreaktivität darstellen [15]. Darüber hinaus wurden trotz fehlender zerebellärer Symptomatik auch Anti-Yo-Antikörper aufgrund von Fallberichten über eine Assoziation dieser Reaktivität mit Adenokarzinomen des Gastrointestinaltraktes bestimmt [9, 13].

Gegen eine Wertung der bildgebenden Befunde als postiktuale Veränderungen spricht die fehlende kortikale Beteiligung [16]. Bei fehlenden kortikalen Veränderungen in der Bildgebung sind die epileptischen Anfälle unseres Patienten möglicherweise direkte Folge einer neurotoxischen Wirkung der Chemotherapeutika, unter Cisplatin ist das Auftreten epileptischer Anfälle sogar bei völlig unauffälligen neuroradiologischen Befunden beschrieben [11]. Der geringgradig erniedrigte Serummagnesiumspiegel könnte einen begünstigenden Faktor für Cisplatin-induzierte epileptische Anfälle darstellen [14], ähnlich der häufigen Cyclosporin-Neurotoxizität, für die ebenfalls eine Hypomagnesiämie als wesentlicher Risikofaktor postuliert wird [7]. Eine unter Chemotherapie mit Cisplatin mögliche Absenkung der Serumkonzentration von Antikonvulsiva [10] als Ursache der Grand-mal-Anfallsserie bei Wiederaufnahme ist sehr unwahrscheinlich, da der Carbamazepin-Spiegel im Referenzbereich lag und gegenüber dem Vorwert sogar angestiegen war.

Die Pathophysiologie des RPLS ist nicht geklärt. Ein Zusammenbruch der zerebralen Autoregulation bei Überschreiten eines bestimmten Blutdrucks, der interindividuell je nach Ausgangssituation (z. B. vorbestehende Hypertonie) sehr variabel sein kann, mit konsekutiver Flüssigkeitsextravasation ins Interstitium (vasogenes Ödem) wird als ein wesentlicher Mechanismus diskutiert [5, 8]. Die Bevorzugung der posterioren Hirnregionen ist pathophysiologisch nicht wirklich verstanden. Es wird ein Zusammenhang mit der im Vertebralisstromgebiet im Vergleich zum Karotisstromgebiet deutlich schwächer ausgeprägten sympathischen Innervation der Hirngefäße angenommen, die das Gehirn normalerweise vor Blutdruckspitzen schützen soll [1, 2]. Als weiterer wesentlicher Pathomechanismus wird eine Endotheldysfunktion angesehen, vor allem in den Fällen, in denen ein RPLS ohne hypertensive Entgleisung auftritt. Dies gilt für viele der medikamentös bedingten RPLS, bei denen eine direkte toxische Wirkung der jeweiligen Substanz (v. a. Immunsuppressiva und Zytostatika) auf das vaskuläre Endothel postuliert wird. Als begünstigende Faktoren gelten metabolische Störungen mit Elektrolytentgleisungen (Hypomagnesiämie, Hypokalziämie, Hypokaliämie) im Rahmen der Grunderkrankung oder als Nebenwirkung der Medikamente. Ein spezifischer Pathomechanismus der Entstehung eines RPLS durch Cisplatin ist nicht bekannt, auch die wenigen autoptischen Fallberichte von Patienten mit einer Cisplatin-assoziierten Enzephalopathie konnten bislang zur Klärung nicht beitragen. Dagegen ist 5-Fluorouracil deutlich seltener als Cisplatin Ursache einer Leukenzephalopathie und betrifft vor allem Patienten mit einem Enzymdefekt der Dihydropyrimidin-Dehydrogenase [14].

Fazit für die Praxis

Das reversible posteriore Leukenzephalopathiesyndrom ist neben Hirnmetastasen, einer Meningeosis carcinomatosa, einer Sinusvenenthrombose, paraneoplastischen Syndromen, infektiösen Meningoenzephalitiden und metabolischen Störungen eine wichtige Differenzialdiagnose neu auftretender neurologischer Symptome bei Krebspatienten. Trotz typischer bildgebender Veränderungen ist das RPLS eine Ausschlussdiagnose. Zur Verhinderung bleibender neurologischer Schäden durch Infarkte oder Blutungen ist die rechtzeitige Abklärung auslösender Ursachen und deren konsequente Behandlung unabdingbar. Wie der vorgestellte Patient erstmals zeigt, ist auch an eine rezidivierende reversible Manifestation dieses Syndroms zu denken.