Zusammenfassung
Komorbidität bezeichnet die Anwesenheit eines oder mehrerer diagnostisch abgrenzbarer Krankheits- oder Störungsbilder, die zusätzlich zu einer Grunderkrankung vorliegen, oder die Auswirkungen zusätzlicher Krankheits- und Störungsbilder. Da Komorbiditäten einen negativen Einfluss auf Krankheitsverläufe ausüben können, ist dies auch bei Patienten mit Tinnitus eine zusätzliche Komponente, die die Habituation an Ohrgeräusche erschweren kann. Häufig auftretende psychische Störungen bei Patienten mit dekompensiertem Tinnitus sind affektive, somatoforme und Angststörungen. Bei der HNO-ärztlichen Anamnese sollten besonders bei Patienten mit den Schweregraden III und IV (dekompensierter Tinnitus) mögliche komorbide psychische Erkrankungen Beachtung finden. Aus otologischer Sicht sind die psychischen Leiden der Patienten ernst zu nehmen und sollten durch gezielte Diagnostik erkannt werden können. Eine effektive Behandlung dieser psychischen Begleiterkrankungen mithilfe psychologischer Techniken wie der kognitiven Verhaltenstherapie (VT) in Verbindung mit Medikamenten reduziert häufig die Tinnitusbelastung.
Abstract
Comorbidity is the presence of one or more disorders in addition to the main disorder. Comorbidities negatively influence the development of the main disease. For patients with tinnitus a comorbidity is an additional component complicating the habituation of ear noise and patients with decompensated tinnitus often have psychological comorbidities, e.g. affective, somatoform or anxiety disorders. At the time of first presentation and also during further follow-up, it is essential to pay particular attention to the presence of potential comorbid mental disorders. This is of special importance for patients with decompensated ear noise (severity grades 3 and 4). For ENT specialists it is important that the mental discomfort of patients must be taken seriously and should be identified through a targeted diagnosis. Effective treatment of the co-symptoms using cognitive behavior therapy (CBT) in conjunction with medication often reduces the severity of tinnitus perception and discomfort.
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Ein enger Zusammenhang zwischen subjektiver Belastung durch Ohrgeräusche und psychischen Störungen konnte bereits nachgewiesen werden. Dennoch bleiben pathopsychologische Mechanismen bei Patienten mit Tinnitus häufig unerkannt. Die Folge können mangelnde Therapieerfolge und unnötige Behandlungskosten sein. Bei Patienten mit dekompensiertem Ohrgeräusch findet sich in 70% der Fälle eine erhöhte psychische Komorbidität [18]; hierbei werden Depressionen, Angst- und somatoforme Störungen am häufigsten diagnostiziert [25].
Tinnitushäufigkeit in Deutschland
Nach einer repräsentativen Studie der Deutschen Tinnitus-Liga von 1999 erleben pro Jahr etwa 10 Mio. Menschen in irgendeiner Form einen akuten Tinnitus, der bei ca. 340.000 Menschen in ein chronisches Stadium übergeht (Jahresinzidenz chronischer Tinnitus; [29]). Nach dieser Studie sind etwa 3 Mio. Erwachsene von chronischem Tinnitus betroffen (4% der Bevölkerung, Punktprävalenz chronischer Tinnitus). Die meisten Menschen gewöhnen sich an die Ohrgeräusche und fühlen sich durch diese nicht belästigt. Etwa 10–20% der chronisch Betroffenen leiden allerdings erheblich darunter [29].
Tinnitusschweregrad
Patienten mit einem geringen Tinnitusbelastungsgrad weisen weniger psychische Störungen auf als Patienten mit dekompensiertem Tinnitus, bei denen Komorbiditätsraten von bis zu 90% festgestellt werden konnten ([19]; Abb. 1).
Es gibt verschiedene Annahmen darüber, warum manche Patienten Ohrgeräusche nicht kompensieren können. Audiologische Parameter, die die Tinnitusfrequenz oder -lautstärke bestimmen, stehen jedoch nicht im Zusammenhang mit dem Tinnitusbelastungsgrad [16]. Es gibt demzufolge Patienten, die ein eher leises Ohrgeräusch als sehr quälend empfinden, während sich andere Patienten durch ein lautes Ohrgeräusch nicht beeinträchtigt fühlen. Es wurde jedoch festgestellt, dass Patienten mit dekompensiertem Tinnitus im Vergleich zu Patienten mit kompensiertem Tinnitus mehr depressive Verstimmungen, weniger effektive Krankheitsbewältigungsstrategien und eine höhere körperliche Morbidität aufzeigen [32]. Der Tinnitusschweregrad steht bezüglich psychischer Belastungen in Beziehung zu psychischen Störungen genauso wie der Schweregrad von Angststörungen und Depressionen bei Tinnituspatienten [38].
Als standardisiertes „tool“ zur Beurteilung der seelischen Beeinträchtigung durch den Tinnitus gilt der Tinnitus-Fragebogen (TF), der neben seinem Gesamt-Score („range“: 0–84) zusätzlich die evaluierte Graduierung des Tinnitus in 4 Schweregrade ermöglicht. Nach einer Untersuchung von Härter et al. [18] weisen Patienten mit dekompensiertem Tinnitus (Schweregrade III und IV des TF) ein 5- bis 7-faches Risiko bezüglich Depressivität und Ängstlichkeit auf (Hospital Anxiety and Depression Scale, HADS: r=0,60, p<0,001 resp. HADS: r=0,61 p<0,001; [18], Tab. 1, Tab. 2). Ähnlich sehen auch D’Amelio et al. [7] sowie Svitak et al. [34] eine hohe psychische Belastung bei Personen mit dekompensiertem Tinnitus (TF> 47 Punkte im TF-Gesamtscore) gegenüber einer Gruppe von Tinnitusbetroffenen mit kompensiertem Tinnitus (TF-Gesamtscore <47 Punkte; Tab. 2).
Darüber hinaus ist eine erstorientierende Einteilung der Tinnitusbelastung z. B. mithilfe von „Analogskalen“ möglich. Diese Selbstbeurteilungsinstrumente sind repliziert von guter Testgüte (z. B. Korrelationen mit dem TF bis zu r=0,77), in ihrer Dezimalversion international anerkannt [12, 35], in den Leitlinien Tinnitus empfohlen und in unzähligen Therapieevaluationen Grundlage der Effektstärkenbeurteilung [15, 35]. Sie sind auch Bestandteil des Strukturierten Tinnitus-Interviews (STI; [14]). Dabei wird der Patient gebeten, auf einer 10 bzw. 100 mm langen Linie seine Tinnitusbelastung mit einem Strich zu markieren. Die Linie ist links mit der Information „keinerlei Belastung“ und rechts mit der Information „extreme Belastung“ begrenzt. Ein Wert unter 4 resp. 40 entspricht einer leichten Tinnitusbelastung, ein Wert über 8 resp. 80 einer sehr starken Belastung [18, 35]. Wie bei allen Selbstbeurteilungsinstrumenten sind persönliche Angaben der Betroffenen in der Begutachtenssituation natürlich mit Vorsicht zu verwerten.
Eine weitere Methode ist die orientierende Experteneinschätzung nach der persönlichen Erstexploration [6]. Entsteht der Eindruck, dass der Patient zwar das Ohrgeräusch registriert, jedoch so damit umgehen kann, dass keine bedeutende Sekundärsymptomatik auftritt, würde man von einem kompensierten Tinnitus ausgehen:
-
Schweregrad I: keinerlei Belastung und
-
Schweregrad II: hauptsächlich in der Stille, stört bei Stress und psychischen Belastungen,
Kommt man allerdings zu der Einschätzung, dass der Tinnitus massive Auswirkungen auf alle Lebensbereiche hat und zur Entwicklung einer Sekundärsymptomatik mit hohem Leidensdruck führt, würde man von einem dekompensierten Tinnitus sprechen:
-
Schweregrad III: Der Tinnitus führt zur dauernden Beeinträchtigung im privaten und beruflichen Leben mit Störungen im emotionalen, kognitiven sowie körperlichen Bereich.
-
Schweregrad V: Der Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten und beruflichen Bereich.
Psychische Komorbiditäten bei Patienten mit dekompensiertem Tinnitus
Komorbidität bezeichnet:
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die Anwesenheit eines oder mehrerer diagnostisch abgrenzbarer Krankheits- oder Störungsbilder, die zusätzlich zu einer Grunderkrankung vorliegen, oder
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die Auswirkungen zusätzlicher Krankheits- und Störungsbilder.
Komorbiditäten können, müssen aber nicht ursächlich mit der Grunderkrankung zusammenhängen.
Seit den frühen 90er Jahren ist eine Klassifikation psychischer Störungen anhand der Klassifikationssysteme Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) und International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems [ICD, Kapitel V (F)] eingeführt. Anhand dieser Systeme sind eine sorgfältige Operationalisierung von Kriterien und reliablere diagnostische Prozesse möglich. Im klinischen Anwendungsfeld können zur Diagnosestellung strukturierte Interviews wie das Structural Clinical Interview for DSM Disorders (SCID für DSM-IV), das Composite International Diagnostic Interview (CIDI) für ICD-10 und DSM-IV oder die Internationale Diagnosen-Checklisten für ICD-10 (ICDL) und DSM-IV [21] genutzt werden.
Da Komorbiditäten einen negativen Einfluss auf Krankheitsverläufe ausüben können, ist dies auch bei Patienten mit Tinnitus eine zusätzliche Komponente, die die Habituation an Ohrgeräusche erschwert [13]. Im Folgenden werden häufig auftretende psychische Störungen bei Patienten mit dekompensiertem Tinnitus beschrieben.
Angststörungen (ICD-10: F40 bis F48)
Angst ist an sich ein menschliches Grundgefühl, das erst dann zu einem pathologischen Phänomen wird, wenn die Angst situationsunangemessen ohne reale äußere Gefährdung ausgelöst wird und Bewältigungsmöglichkeiten fehlen. Die Zwölfmonatsprävalenz in der Bevölkerung wird mit 16% eingeschätzt [4].
Phobische Störungen (ICD-10: F40 bis F41)
Agoraphobie (F40.0)
Hierunter fallen Ängste vor Orten mit schlechten Flucht- bzw. Hilfemöglichkeiten, z. B. allein außer Haus zu sein, in einer Menschenmenge zu sein, mit dem Bus, Zug oder Auto zu reisen. Diese Situationen werden bewusst vermieden oder nur mit deutlichem Unbehagen, panikähnlichen Symptomen oder Angst vor dem Auftreten einer Panikattacke durchgestanden. Abzugrenzen ist die Agoraphobie von der sozialen Phobie (F40.1) und der spezifischen Phobie (F40.2), zu der manche Formen der Hyperakusis bzw. Phonophobie subsumiert werden können [11].
Panikattacke (F41.0)
Darunter wird eine abgrenzbare Periode intensiver Angst und intensiven Unbehagens verstanden, die plötzlich auftritt und innerhalb von 10 min ihren Höhepunkt erreicht. Mindestens 4 von 13 somatischen und kognitiven Symptomen wie z. B. Herzklopfen, Zittern, Atemnot, sekundäre Ängste vor dem Sterben, Kontrollverlust oder das Gefühl verrückt zu werden, müssen erfüllt sein. Treten Panikattacken unerwartet immer wieder auf und gehen mit einer anhaltenden Besorgnis bzw. einer Verhaltensänderung aufgrund der Panikattacken einher, spricht man von einer Panikstörung (http://www.dimdi.de).
Affektive Störungen (ICD-10: F30 bis F39)
Zu den affektiven Störungen zählen krankheitsrelevante Veränderungen im Ausdruck von Affekten; hierbei wird Affekt hier im Sinne von „Grundstimmung“ gebraucht. Affektstörungen drücken sich entweder durch gedrückten Affekt (Depression) oder einen gesteigerten Affekt (Manie) aus. Die Zwölfmonatsprävalenz in der Bevölkerung wird mit 14,8% eingeschätzt [4].
Im Folgenden werden 2 wichtige Bausteine für die Störungsdiagnosen affektiver Störungen beschrieben.
Depressive Episode (F32)
Während derselben Zweiwochenperiode zeigt sich eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit mit einer leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) oder schweren (F32.2 und F32.3) depressiven Verstimmung oder dem Verlust an Interesse oder Freude einhergehend an allen oder fast allen Tagen, für die meiste Zeit des Tages. Darüber hinaus kann es zu Gewichtsschwankungen, Schlaflosigkeit oder vermehrtem Schlafbedürfnis, Konzentrationsbeeinträchtigungen, Gefühl der Wertlosigkeit, Schuldgefühlen, suizidalen Gedanken etc. kommen.
Störungen, die durch wiederholte depressive Episoden (F32.-) charakterisiert sind, werden unter dem Begriff rezidivierende depressive Störung (F33) kategorisiert. Eine chronisch gedrückte Stimmungslage, die aber nicht das Ausmaß einer eigentlichen Depression erreicht, bezeichnete man früher als neurotische Depression, jetzt dysthyme Störung (F34.1).
Manische Episode (F30)
Es handelt sich um eine mindestens einwöchige, abgrenzbare Periode mit übersteigerter gehobener, expansiver oder reizbarer Stimmung. Es können Symptome wie übersteigertes Selbstwertgefühl, Rededrang, gesteigerte Betriebsamkeit oder vermindertes Schlafbedürfnis auftreten.
Treten Episoden einer „major depression“ und einer manischen Episode mehr oder minder regelmäßig abwechselnd auf, spricht man von einer bipolaren affektiven Störung (F31).
Somatoforme Störungen (F45)
Wichtige Komorbiditäten in der HNO-Praxis sind die somatoformen Störungen. Die Zwölfmonatsprävalenz in der Bevölkerung wird mit 12% eingeschätzt [4]. Hierzu zählen folgende Symptomkomplexe:
-
Unter einer Somatisierungsstörung (F45.0) versteht man die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischer Untersuchung trotz wiederholt negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind.
-
Bei einer Konversionsstörung (dissoziative Störungen, F44.8) führt ein unbewusster psychischer Konflikt zu Symptomen oder Ausfällen motorischer oder sensorischer Funktionen, wie z. B. Lähmungen, Krampfanfällen und Blindheit.
-
Hypochondrie (F45.2) bezeichnet die unrealistische Angst, an einer körperlichen oder seelischen Erkrankung zu leiden. Bei 13% der Patienten von HNO-Praxen liegt eine gesicherte Hypochondrie vor [30].
Prävalenz
In Studien wird von folgenden Prävalenzen psychischer Komorbiditäten bei Patienten mit Ohrgeräuschen berichtet [5, 25, 32, 38]; hierbei waren Mehrfachdiagnosen möglich:
-
18–39%: depressive Störungen,
-
8–34%: somatoforme Störungen,
-
19%: Persönlichkeitsstörungen und
-
11–19%: Angststörungen.
Patienten mit dekompensiertem Tinnitus haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine deutlich erhöhte psychische Komorbidität [22].
Tinnitus und Angststörungen
Den Angst- und depressiven Störungen ist gemeinsam, dass sie ähnlich häufig bei Patienten mit Tinnitus auftreten und im Zusammenhang mit dem Tinnitusbelastungsgrad stehen ([2]; Tab. 1, Tab. 2). Hierfür gibt es die im Folgenden aufgeführten Erklärungsansätze.
Bereits 1984 postulierten Hallam et al. [17] ein Habituationsmodell, nach dem die Kompensation von Ohrgeräuschen durch eine erhöhte Aufmerksamkeit und wiederholte Beachtung des Ohrgeräusches sowie deren negativer Bewertung verhindert wird. Nach dem bisherigen Wissenstand wird die Tinnitusempfindung von einer lokal begrenzten Aktivierung des Hörkortex begleitet, wie sie auch als Reaktion auf einen real existierenden Pfeifton entsteht. Dies ist tierexperimentell belegt [24, 28, 37]. Fokussierung unserer Aufmerksamkeit auf das Ereignis im Kortex und seiner Wertung [aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem (ARAS), Locus caeruleus, Amygdala) können sich bis zur Qual aufschaukeln. Vor allem eine negative emotionale Bewertung der Ohrgeräusche durch Angst, Trauer oder Wut kann die Aufmerksamkeit auf das Tinnitusgeräusch so steigern, dass der Krankheitsverlauf erheblich negativ beeinflusst wird [12]. So geben bis zu 56% der Personen mit Angststörungen bei Befragung an, einen Tinnitus wahrzunehmen [29]. Patienten mit Tinnitus, die unter einer komorbiden Angststörung oder Hypochondrie leiden, reagieren möglicherweise eher ängstlich auf ein Ohrgeräusch, oder die Angst bewirkt, dass ein fast nicht wahrnehmbares Ohrgeräusch bewusst wird. So besteht die Gefahr eines Circulus vitiosus [12]. Belegt wird dies durch prospektive Verlaufsbeobachtungen bei Patienten mit frischem Tinnitus: Besteht zum Zeitpunkt des akuten Tinnitus (idiopathisch, nach Hörsturz) eine Angst- oder depressive Störung, erklärt dies bereits 4 Monate später mit einer Varianz von 56% die Chronifizierung und/oder Dekompensierung des Tinnitus [26]. Goebel et al. [10] sehen ein Zusammenspiel aus psychologischen, sozialen und organischen Faktoren als Begründung für eine mögliche Dekompensation von Ohrgeräuschen. Sie betonen, dass vor allem Belastungen psychischer Art wie z. B. Angstzustände, Schlafstörungen und affektive Störungen als Primär- oder Sekundärsymptomatik für eine Tinnitusverarbeitung, die zur Dekompensierung führt, verantwortlich sein können.
Tinnitus und affektive Störungen
Affektive Störungen zählen zu den häufigsten psychischen Störungen bei Tinnitusbetroffenen. Goebel u. Hiller [14] berichten sogar bei 85% aller untersuchten stationären Patienten mit Tinnitus von einer affektiven Störung mit Major depression, Dysthymie oder Anpassungsstörung. Im Zusammenhang mit dem Tinnitusbelastungsgrad ist bemerkenswert, dass sich Patienten mit einer depressiven Symptomatik stärker durch ihr Ohrgeräusch belastet fühlten als eine nichtdepressive Vergleichsgruppe, obwohl deren Tinnitusgeräusch (in Dezibel) subjektiv lauter angegeben wurde [36]. Darüber hinaus ist auffällig, dass 48–60% aller Patienten mit depressiver Symptomatik gleichzeitig auch unter einem Ohrgeräusch leiden [33]. Jäger u. Lamprecht [23] kommen nach ihrem Vergleich der Symptome eines dekompensierten Tinnitus und einer depressiven Störung ähnlich wie Härter et al. [18] zu dem Schluss, dass die Merkmale beider Störungsbilder nahezu identisch sind. Eine Behandlung mit Antidepressiva führt jedoch nur bei Patienten mit einer depressiven Störung zu einer Verringerung der Tinnitusbelastung [3].
Tinnitus und Suizidalität
Von besonderem Interesse ist die Häufigkeit von Suizidalfällen bei Tinnituspatienten, denn auch hier spielen psychische Begleiterkrankungen eine große Rolle. Das Lebensrisiko für Suizid wird bei schweren affektiven Störungen mit etwa 20% angegeben [9], von denen die Major depression eines der höchsten Risikofaktoren für Suizid ist.
Erlandsson u. Persson [8] haben die Suizidalität bei 104 Tinnitusbetroffenen in einer schwedischen Klinik von 1992 bis 1995 untersucht. Es hatten etwa 20% der Patienten suizidale Gedanken geäußert, 3% hatten konkrete Suizidwünsche gezeigt und bei 1% war es in der Vergangenheit bereits zu einem Suizidversuch gekommen.
Auf der Basis einer weltweiten Befragung an Tinnituszentren wurde 1990/1991 die gemeldete kleine Zahl von 28 Suizidfällen Tinnitusbetroffener untersucht [27]. Etwas mehr als die Hälfte wurden aus England selbst gemeldet, die Übrigen verteilten sich über das restliche Europa, Nordamerika, Australien und Japan. Etwa zwei Drittel waren Männer, das mittlere Alter betrug 57 Jahre (Range: 17–82 Jahre). Bei den meisten Betroffenen (85%) bestanden gleichzeitig Hörprobleme. Nur bei einer Person wurde als zusätzliches Symptom eine Hyperakusis bzw. Phonophobie angegeben. Audiologische Charakteristika wiesen insgesamt keine besonderen Zusammenhänge auf. Bei etwa zwei Drittel kündigte sich der Suizid bereits im Vorfeld durch eine Depression an, und bei einem Drittel passierte er innerhalb des ersten Tinnitusjahres. Von den Betroffenen hatten 30% allerdings bereits vor Beginn des Tinnitus eine psychische Störung (5-mal schwere Depressionen, 2-mal Schizophrenie und Angststörungen, einmal Persönlichkeitsstörung) und 4 Betroffene hatten zusätzlich Alkoholprobleme.
In der Untersuchung von Erlandsson u Persson [8] wurden bei 150 fortlaufend registrierten Suiziden in Stockholm (Department of Psychiatry, Huddinge Hospital) nur in 6% der Fälle Anhaltspunkte dafür gefunden, dass es sich um Tinnitusbetroffene gehandelt hatte. Dabei wurde eine Untergruppe von Tinnitusbetroffenen am suizidgefährdesten eingeschätzt, wenn ein hoher Angstpegel, gepaart mit einer schweren Depression und gestörten Persönlichkeitsprofilen (neurotische Angst sowie Depression), erkennbar gewesen sei. Betroffene, die zusätzlich an einer höhergradigen Schwerhörigkeit leiden, tragen sich deutlich häufiger mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen [8].
Tinnitus kann somit eines von solchen Schicksalsereignissen sein, die psychische Störung bis hin zu Suizidalität auslösen. Die Untersuchung gibt allerdings zur Hoffnung Anlass, dass trotz hoher latenter Suizidalität sowie beträchtlicher Depressions- und Angsthäufigkeit die Suizidrate im Anfangsstadium des Tinnitus und beim komplexen chronischen Tinnitus nicht ausgeprägt hoch ist. Gefährdet erscheinen besonders Männer in höherem Alter in Verbindung mit sozialer Isolation und Schwerhörigkeit [31]. In den meisten Fällen sind die psychischen Symptome nicht zu übersehen. Das Leiden der Betroffenen muss ernst genommen, bei den Kontaktpersonen und Angehörigen um mehr Verständnis geworben sowie rasch eine psychiatrische und/oder psychotherapeutische Betreuung initiiert werden.
Tinnitus und somatoforme Störungen
Eine internationale Studie der World Health Organization (WHO; [20]) zeigt, dass 42% aller Patienten mit einer somatoformen Störung einen Tinnitus angeben und ca. ein Drittel dieser Patienten ihr Ohrgeräusch als sehr belastend empfindet. Schaut man sich die Definition einer Somatisierungsstörung an [s. Abschn. “Somatoforme Störungen (F45)“], zeigen sich deutliche Gemeinsamkeiten mit dem Krankheitsbild des Tinnitus. Hiller et al. [20] formulierten bereits 1997 die Annahme, dass Tinnitus als somatoforme Störung bezeichnet werden kann.
Depressionen oder somatoforme Störungen, die ca. zur Hälfte schon vor der Wahrnehmung des Ohrgeräusches vorhanden waren, können als Risikofaktoren für die Entwicklung eines Tinnitus angesehen werden [20]. Eine frühzeitige Behandlung dieser Risikopatienten scheint also sinnvoll, um einer Chronifizierung bzw. Dekompensierung von Tinnitus entgegenzuwirken.
Fazit für die Praxis
In der HNO-ärztlichen Anamnese sollten mögliche komorbide psychische Erkrankungen bei Patienten mit einem dekompensierten Ohrgeräusch Beachtung finden. Insbesondere Patienten mit den Schweregraden III und IV (dekompensierter Tinnitus) sind bezüglich einer psychischen Komorbidität zu explorieren. Hier können v. a. depressive Störungen, Angst- und somatoforme Störungen von Bedeutung sein, die in einem engen Zusammenhang mit dem Grad der Tinnitusbelastung stehen.
Aus otologischer Sicht sind die psychischen Leiden der Patienten ernst zu nehmen und sollten durch gezielte Diagnostik erkannt werden können. Hierfür geben der TF nach Goebel u. Hiller [13], strukturierte Interviews für ICD-10 (STI, CIDI, ICD-Checkliste) oder Fragebögen in Kurzversion zur Erfassung von Angst und Depressivität [HADS, Beck Depression Inventory (BDI)] genügend Anhaltspunkte. Absolut übertrieben ist die Empfehlung von Belli et al. [5], alle Personen mit Tinnitus bezüglich psychischer Komorbidität zu untersuchen [29]. Wird eine psychische Komorbidität erkannt, ist entsprechend supportiv eine Psychopharmakomedikation und/oder Psychotherapie in das Behandlungsspektrum einzubeziehen [[6]; Richtlinie der modifizierten Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT-ADANO); [1]]. Nach dem Review des Cochrane Instituts 2006 haben die Studien, die den positiven Einfluss von Antidepressiva auf die Tinnituslautheit bzw. -belastung untersucht haben, den evidenzbasierten Wirknachweis wegen der hohen Ausfallrate (bis 27%) und unsicheren Dokumentation nicht erbracht [3]. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass Antidepressiva zur Behandlung der psychischen Störungen den Patienten vorenthalten werden dürfen.
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Zirke, N., Goebel, G. & Mazurek, B. Tinnitus und psychische Komorbiditäten. HNO 58, 726–732 (2010). https://doi.org/10.1007/s00106-009-2050-9
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