Prävalenz und Inzidenz

Nach aktuellen Schätzungen hat Tinnitus unter den HNO-Erkrankungen ein beträchtliches Ausmaß angenommen. Die Punktprävalenz in der Allgemeinbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland beträgt etwa 3,9% (2,9 Mio. Bürger), die jährliche Inzidenzrate liegt bei etwa 250.000 Fällen [25].

Eine wichtige Orientierung für ein einheitliches Vorgehen in der Tinnitusdiagnostik und -therapie bieten Leitlinien [22, 23], wie diese national z. B. von der AWMF [21] bereitgestellt werden. Allerdings bestehen nach wie vor Defizite in deren Verbindlichkeit und damit in der Standardisierung der zur Beurteilung des Tinnitus zu erhebenden Parameter. Dies betrifft insbesondere die Erfassung des subjektiv wahrgenommen Schweregrades und die Erfassung psychischer Komorbidität.

Beeinträchtigungen

Stationär behandelte Patienten mit chronischem Tinnitus weisen in der überwiegenden Mehrzahl eine oder mehrere psychische Störungen, wie affektive Erkrankungen (Depressionen), Angststörungen und somatoforme Störungen (z. B. chronisches Schmerzsyndrom; [6, 7] oder Schlafstörungen [2]) auf. Bei Vorliegen relevanter psychischer Belastungen und Störungen wird von einem dekompensierten Tinnitus [7, 33] gesprochen. Diese Patienten sind in der Regel stark in ihrer Lebensqualität und der Teilhabe am Alltagsgeschehen beeinträchtigt. So zeigt sich die sozialmedizinische Relevanz von tinnitusassoziierter Depressivität u. a. darin, dass diese Patienten ein geringere Wahrscheinlichkeit haben, ihre Berufstätigkeit wieder aufzunehmen [18]. Über Einschränkungen in sozialen Lebens- und alltäglichen Funktionsbereichen aufgrund von Tinnitus wurde bislang nur vereinzelt berichtet [5], obwohl dieser Aspekt einer chronischen Erkrankung von der WHO als gleichwertige Behinderungsdimension—neben dem eigentlichen körperlichen Schaden—anerkannt wurde [32].

Diagnoseverfahren

Zur Erfassung von Depressivität und Ängstlichkeit können sowohl diagnostische Interviews als auch standardisierte Fragebögen eingesetzt werden. Letztere liegen entweder als eigenständige Verfahren vor (z. B. Beck Depression Inventory, BDI; Allgemeine Depressionsskala, ADS; State Trait Anxiety Inventory, STAI; [3]) oder wurden als Subskalen innerhalb mehrdimensionaler Instrumente konstruiert (z. B. Symptom Checkliste, SCL-90-R; [14]). Fragebögen haben im Vergleich zum Interview den Vorteil, dass diese kosten- und zeitökonomisch eingesetzt werden können. Wenn auch per Fragebogen eine Diagnosestellung in Hinblick auf eine psychische Störung nicht möglich ist, kann in der Regel anhand eines kritischen Wertes („Cut-off“) ein (Ja-nein-)Screening erfolgen. Weiterführende, diagnostische und therapeutische Maßnahmen können dann initiiert werden.

Während für die Erfassung der subjektiven Tinnitusbeeinträchtigung in Deutschland mit dem Tinnitus-Fragebogen [10] und dem Tinnitus-Beeinträchtigungs-Fragebogen [12, 13] 2 standardisierte und zur Anwendung empfohlene Instrumente vorliegen [31], gibt es bzgl. der psychischen Komorbidität und Lebensqualität bislang keine fachbereichsspezifischen Vorgaben. In den Rehabilitationswissenschaften hingegen wird seit einigen Jahren empfohlen, zur Erfassung von Depressivität und Ängstlichkeit die HADS [15] und für die Erhebung der subjektiven Lebensqualität den SF-36 [4] einzusetzen [24]. Beides sind standardisierte und international bewährte Verfahren, die in Hinblick auf den Einsatz bei Patienten mit chronischen Erkrankungen entwickelt wurden. Während für den SF-36 bislang keine Daten von Tinnituspatienten vorliegen, wurde die HADS als Screeningverfahren im Vergleich zum psychiatrischen Interview bei Tinnituspatienten erfolgreich eingesetzt [33].

In dieser Studie sollte die Eignung der genannten Verfahren zur Erfassung von Depressivität, Ängstlichkeit und Lebensqualität geprüft werden. Darüber hinaus soll die Häufigkeit komorbider affektiver und partizipativer Störungen sowie ein möglicher kompensatorischer Alkoholabusus bei Patienten bestimmt und in Relation zum Schweregrad der Tinnitusbeeinträchtigung gesetzt werden.

Tinnitussprechstunde

Die Daten wurden in der speziellen Konsiliarsprechstunde für Tinnituspatienten der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie in Kooperation mit der HNO-Klinik des Universitätsklinikums Freiburg gewonnen. Diese Sprechstunde besteht seit 1998 und hat insbesondere das Ziel, bei stationär behandelten Patienten mit einem hohen Belastungsgrad mögliche psychische Störungen zu entdecken und—wenn notwendig—zu behandeln (z. B. durch Empfehlung einer antidepressiven Medikation oder psychotherapeutischen Weiterbehandlung). Die Sprechstunde wird v. a. von Patienten genutzt, die sich in stationärer Behandlung befinden, allerdings erfolgen auch zahlreiche Überweisungen durch niedergelassene HNO-Ärzte, die eine psychiatrisch-psychotherapeutische (Mit-)behandlung als notwendig erachten.

Seit Beginn der Sprechstunde wurden über 200 Patienten gesehen, viele wurden an niedergelassene psychologische Psychotherapeuten mit spezieller Tinnitusexpertise überwiesen, oder es wurde eine Empfehlung hinsichtlich psychiatrischer Medikation (primär Antidepressiva und Anxiolytika) ausgesprochen. Alle Patienten erhalten in der Sprechstunde ein strukturiertes Beratungsangebot (Counseling) im Hinblick auf mögliche psychische Belastungen und deren Bewältigung. Allen Patienten wird vor Besuch der Sprechstunde ein spezieller Fragebogen ausgehändigt, um die Krankheits- und Beschwerdenanamnese systematisch zu erfassen.

Methodik

Es handelt sich um eine Querschnittuntersuchung. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von März 1998 bis März 2002. Studienprotokoll und die Einverständniserklärung für die Untersuchung wurden vorab von der Ethikkommission der Universitätsklinik Freiburg positiv begutachtet. Alle für die Sprechstunde angemeldeten Patienten füllten vor dem Besuch in der konsiliarischen Sprechstunde den Fragebogen aus und wurden konsekutiv erfasst. Neben der Erfragung soziodemographischer Daten wurde eine ausführliche Tinnitusanamnese durchgeführt, die u. a. Fragen zu Dauer, Klang, Hörminderung, Geräuschempfindlichkeit, Penetranz sowie Behandlungsversuchen bzgl. Tinnitus beinhaltete. Diese standardisierte schriftliche Anamnese orientierte sich weitgehend am Tinnitusinterview STI (Fragen 4–13, 17; [11]). Folgende, für diese Auswertung zentrale Variablen wurden darüber hinaus erhoben:

  1. 1.

    Die individuelle Belastung durch die Ohrgeräusche wurde durch die subjektive Tinnituslautstärke und die Lästigkeit der Ohrgeräusche—jeweils auf einer Skala von 0 (gar nicht) bis 100 (extrem laut)—erfasst.

  2. 2.

    Der standardisierte Tinnitus-Fragebogen (TF; [10]) wurde zur Erhebung der subjektiven Beeinträchtigung eingesetzt. Der TF wurde dem TB-12 [13] vorgezogen, da dieser die Einteilung der Tinnituskompensation anhand des Gesamtscores in 4 unterschiedliche Schweregrade ermöglicht: Schweregrad 1 bezeichnet einen leichten, kompensierten Tinnitus, Schweregrad 2 einen mittleren, kompensierten Tinnitus, Schweregrad 3 einen schweren, dekompensierten Tinnitus und Schweregrad 4 einen sehr schweren, dekompensierten Tinnitus.

  3. 3.

    Zur Erfassung der Lebensqualität und der psychischen Komorbidität kamen folgende standardisierte Fragebögen zum Einsatz:

    a):

    Zur Erhebung des subjektiven Gesundheitszustandes im Sinne der Lebensqualität wurde der Short-Form-36 (SF-36) eingesetzt [4]. Der SF-36 bildet 8 Unterskalen ab: Körperliche Funktionsfähigkeit, körperliche Rollenfunktion, körperliche Schmerzen, allgemeine Gesundheitswahrnehmung, Vitalität, soziale Funktionsfähigkeit, emotionale Rollenfunktion und psychisches Wohlbefinden. Aus den ersten 4 Unterskalen wird die Summenskala „körperliche Gesundheit“ und aus den letzten 4 die Summenskala „psychische Gesundheit“ gebildet.

    b):

    Zur Messung des Ausmaßes von Ängstlichkeit und Depressivität wurde die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D) eingesetzt [15]. Die HADS erfasst mit je 7 Items Ängstlichkeit und Depressivität bei Erwachsenen mit chronisch körperlichen Erkrankungen. Ängstlichkeitswerte über 10 gelten als auffällig, ebenso Depressionswerte über einem Cut-off von 8.

    c):

    Zur Erfassung eines möglichen, kompensatorischen Alkoholabusus wurde der Lübecker Alkoholismus-Screening-Test (LAST) verwendet [27]. Der LAST misst mit 7 Items einen potenziellen Alkoholmissbrauch. Bei einem Cut-off von mindestens 2 bejahten Antworten ist das Screening positiv.

Statistische Auswertung

Die soziodemographischen Angaben und Daten aus der Tinnitusanamnese wurden deskriptiv ausgewertet. Als Zusammenhangsmaße zwischen den Ausprägungen der Gesamtskalenwerte werden Pearson-Korrelationskoeffizienten berichtet. Die Stichprobe wurde anschließend anhand des Tinnitus-Fragebogens in die beschriebenen, 4 distinkten Schweregradgruppen unterteilt. Zur Ermittlung des Ausmaßes der möglichen unterschiedlichen psychischen Komorbidität wurden univariate Varianzanalysen mit den oben genannten metrischen Skalen als abhängige Variablen gerechnet. Post-hoc-Vergleiche mit Bon ferroni-Adjustierung der einzelnen Schweregradgruppen wurden zur Ermittlung der bivariaten Unterschiede vorgenommen. Als Effektstärkemaß wird η2 (Eta-Quadrat) angegeben. Für die nominalen Skalen kamen χ2-Techniken zum Einsatz. Für das Verhältnis der Tinnituskompensation (kompensiert vs. dekompensiert) und den Cut-off-Screeningresultaten der HADS wurde die Odds Ratio nebst 95%-Konfidenzintervall bestimmt.

Ergebnisse

Stichprobe

Insgesamt wurden in der Sprechstunde 110 Patienten konsekutiv rekrutiert. Alle Patienten wurden über den Inhalt der Studie aufgeklärt und unterzeichneten eine Einverständniserklärung. Der Frauenanteil beträgt 41,8% (n=46). Im Mittel ist das Kollektiv 50,1 Jahre alt (SD=11,7), mit einem Minimum bei 20 und einem Maximum bei 74 Jahren. 60% (n=66) der Patienten sind verheiratet. 51% (n=56) sind in Vollzeit berufstätig, 10% (n=11) sind Hausfrau bzw. Hausmann und 18,7% (n=20) der Stichprobe sind bereits in Rente oder in Pension. 34,5% (n=38) der Patienten sind zum Zeitpunkt der Befragung krankgeschrieben. Die Stichprobe ist insgesamt mit Stichprobenverteilungen anderer Studien vergleichbar [8, 25].

Tinnitusbezogene Variablen

In der Tinnitusanamnese wird im Mittel eine Tinnituslautstärke von 62,4 angegeben (SD=25,1), die subjektive Lästigkeit liegt bei M=61,7 (SD=26,7). In Tabelle 1 sind Angaben zur Tinnituslokalisation, Zeitdauer, der Art des Geräusches, dem Frequenzbereich und einer möglichen Hörminderung aufgeführt. Abbildung 1 zeigt bereits unternommene Behandlungsversuche der Patienten.

Tabelle 1 Tinnitusanamnese
Abb. 1
figure 1

Durchgeführte Behandlungen (Mehrfachnennungen möglich)

Es zeigt sich, dass nach diesen Angaben die meisten Patienten der Sprechstunde stark unter einem chronischen Tinnitus leiden. Es handelt sich dabei vornehmlich um einen hochfrequentes, tonartiges Geräusch unterschiedlicher Lokalisation. Fast bei jedem 2. Befragten liegt nach eigener Auskunft eine Hörminderung vor.

Die bisherige Behandlung erfolgte überwiegend durch somatische Therapiemaßnahmen, in etwa der Hälfte der Fälle auch durch Entspannungsverfahren und zu gut einem Drittel durch psychotherapeutische Verfahren.

Zusammenhangsanalysen

Zunächst wurden Zusammenhänge zwischen dem Gesamtwert des Tinnitus-Fragebogens und den verwendeten Verfahren gerechnet. Die Korrelationen des TF-Gesamtwertes mit der Einschätzung der subjektiven Lautstärke betragen: r=0,58 (p<0,001), mit der subjektiven Lästigkeit r=0,60 (p<0,001), mit der SF-36-Summenskala „körperliche Gesundheit“ r=−0,26 (p=0,02), mit der Summenskala „psychische Gesundheit“ r=−0,52 (p<0,001), mit der HADS-Ängstlichkeitsskala r=0,60 (p<0,001), mit der HADS-Depressivitätsskala r=0,61 (p<0,001) und mit der LAST r=0,16 (p=0,12).

Differenzielle Analysen der Schweregradgruppen

Die Stichprobe wurde anhand des Gesamtscores im TF in die oben genannten 4 Schweregradgruppen unterteilt. 21,4% (n=21) der Patienten befinden sich in der leicht belasteten Gruppe, 20,4% (n=20) in der mittleren, 31,6% (n=31) in der schwer und 26,5% (n=26) in der sehr schwer belasteten Gruppe. Bei 37,3% der Patienten liegt ein kompensierter Tinnitus vor (Gruppen leicht und mittel), bei 51,8% ein dekompensiertes Ohrgeräusch (Gruppen schwer und sehr schwer). 12 Patienten (10,9%) konnten wegen fehlender Daten im TF nicht gruppiert werden.

Die Ergebnisse der univariaten Varianzanalysen mit der Schweregradgruppierung als unabhängiger Variablen finden sich in Tabelle 2 für die metrischen Angaben zur subjektiven Lautstärke und subjektiven Lästigkeit des Ohrgeräusches, in Tabelle 3 für den SF-36 und in Tabelle 4 für die HADS-Skalen.

Tabelle 2 Skalen zur subjektiven Lautstärke und Lästigkeit: Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD), F-Statistik und Eta-Quadrat (η2)
Tabelle 3 SF-36: Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD), F-Statistik und Eta-Quadrat (η2)
Tabelle 4 HADS: Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD), F-Statistik und Eta-Quadrat (η2)

Es zeigt sich, dass die Belastungen durch Lautstärke und Lästigkeit signifikant über die Gruppen hinweg zunehmen. Die Analysen ergeben, dass sich jeweils die leichte Gruppe von der mittelschweren sowie die schwer belastete von der sehr schwer belasteten Gruppe nicht trennen lassen. Alle anderen Paarvergleiche sind mindestens auf dem 5%-Niveau signifikant.

Bis auf die Skala „körperliche Funktionsfähigkeit“ ergeben sich signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen, die konsistent durch eine Abnahme der körperlichen und v. a. der psychischen Befindlichkeit über die Schweregradgruppen gekennzeichnet ist. Die bivariaten Vergleiche belegen im Einzelnen, dass für die Subskala „körperliche Rollenfunktion“ signifikante Unterschiede zwischen den sehr schwer belasteten Patienten einerseits und den leicht sowie schwer belasteten Patienten andererseits bestehen. Für die Skalen „körperliche Schmerzen“, „Vitalität“ und „emotionale Rollenfunktion“ besteht ein Unterschied ausschließlich zwischen der leicht und der sehr schwer belasteten Gruppe. Für die „allgemeine Gesundheitswahrnehmung“ unterscheidet sich die sehr schwer belastete Gruppe signifikant von allen anderen Gruppen. Anhand der Skala „soziale Funktionsfähigkeit“ zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwischen der Gruppe der leicht belasteten Patienten und der schwer bzw. sehr schwer belasteten Gruppe. Auf der Skala „psychisches Wohlbefinden“ lassen sich alle Gruppen mit Ausnahme der schwer und der mittelschwer belasteten Patienten unterscheiden. Die Summenskala „körperliche Gesundheit“ erlaubt keine Trennung der Gruppen. Im Gegensatz dazu unterscheiden sich die schwer und die sehr schwer belasteten Patienten signifikant mittels der Summenskala „psychische Gesundheit“.

Sowohl Depressivität wie auch Ängstlichkeit nehmen bedeutend über die Gruppen hinweg zu (s. Tabelle 4). Die Analysen zeigen für beide Skalen signifikante Unterschiede zwischen allen Gruppen—außer zwischen den mittelschwer und schwer belasteten Patienten. Hinsichtlich der Cut-off-Einteilung sind 57,4% (n=54) der Personen auffällig depressiv (kritischer Wert über 8), 48,4% (n=45) sind auffällig ängstlich (kritischer Wert über 10). Dabei befinden sich signifikant mehr auffällig depressive (χ2 (3)=24,6; p<0,001) und ängstliche (χ2 (3)=29,6; p<0,001) Personen in den dekompensierten Schweregradgruppen. Hinsichtlich der dichotomisierten Tinntuskompensation sind 66,7% (n=36) der dekompensierten Patienten ängstlich und 23,1% (n=9) der kompensierten Gruppe. Für die Depressivität liegt der Anteil bei 72,7% (n=40) bzw. 35,9% (n=14). Die Odds Ratio für das Ängstlichkeits-Screening beträgt OR=6,7 (KI: 2,6–17; p<0,001) und für das Depressivitäts-Screening OR=4,8 (KI: 2,0–11,5; p=0,001).

Das LAST-Screening ist bei 20,2% (n=18) der Stichprobe positiv. Die Analyse eines potenziellen Alkoholmissbrauches zeigt keine signifikante Abhängigkeit in Bezug auf die Gruppenzugehörigkeit (χ2 (3)=3,4; p=0,33). Ebenso ist die Odds Ratio bzgl. der Tinnituskompensation nicht signifikant (OR=2; KI: 0,65–6,3; p=0,23).

Um mögliche Unterschiede in der soziodemographischen Zusammensetzung der Schweregradgruppen zu identifizieren, wurden abschließend Verteilungs- und Varianzanalysen mit Geschlecht, Alter und Berufstätigkeit gerechnet. Keine der Analysen ist signifikant: Geschlecht: χ2 (3)=3,2; p=0,36; Alter: F (3,94)=0,11; p=0,95; Beruf: χ2 (18)=22,6; p=0,21. Auch die Dauer des Tinnitus steht in keinem signifikanten Zusammenhang mit dem Schweregrad (χ2 (6)=6,3; p=0,39), sodass entsprechende Kovariationen ausgeschlossen werden können.

Bewertung und Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass Tinnituspatienten, die in die konsiliarische Tinnitussprechstunde kommen, in einem hohen Maße psychisch beeinträchtigt und von Einschränkungen in der Lebensqualität betroffen sind. Obwohl bereits mehr als die Hälfte Entspannungsverfahren und gut 1/3 der Patienten Psychotherapie in Anspruch genommen haben, kommen diese dennoch in die Spezialsprechstunde der Universitätsklinik. Diese Patienten leiden am meisten unter der subjektiven Tinnituslautstärke und Lästigkeit und sind nach wie vor am stärksten in ihrer körperlichen wie psychischen Lebensqualität beeinträchtigt.

Wichtigste Variablen

Die Höhe der Korrelationen von Lautstärke und Lästigkeit mit dem TF-Fragebogen entspricht Befunden anderer Autoren [30]. Der Vergleich der Effektstärken über alle Gruppen und Skalen hinweg zeigt, dass den psychischen Variablen wie der subjektiven Wahrnehmung der Lautstärke und Lästigkeit sowie den Subskalen zur psychischen Gesundheit (z. B. psychisches Wohlbefinden) im Vergleich zu den körperbezogenen Subskalen die höchste Bedeutung zukommt.

Psychische Komorbidität

Das gleiche gilt hinsichtlich der psychischen Komorbidität: 57% aller Patienten weisen nach den HADS-Resultaten eine depressive, 48% eine ängstliche Begleitsymptomatik auf. Bei dekompensierten Patienten sind erhöhte Depressivität oder Ängstlichkeit in etwa 70% der Fälle vorhanden. Unter Berücksichtigung des Verhältnisses (Odds Ratio) von kompensiertem zu dekompensiertem Tinnitus bedeutet das Ergebnis, dass die „Chance“ bei Patienten mit dekompensiertem Tinnitus, auffällig ängstlich oder depressiv zu sein, etwa 7- bzw. 5-mal so groß ist, wie bei Patienten mit kompensiertem Tinnitus. Diese Ergebnisse stimmen gut mit bisherigen Befunden überein, für Ängstlichkeit ist die ermittelte Häufigkeit etwas höher [7, 33].

Auch die Höhe der ermittelten Korrelationen von etwa r=0,60 gleicht Befunden, die mit anderen Einzelverfahren (z. B. BDI, STAI) ermittelt wurden [3]. Die Analysen zu einem riskanten Alkoholabusus bei Tinnituspatienten mit dem bewährten Screeningverfahren (LAST) deuten darauf hin, dass kein manifester Zusammenhang zum Tinnitusschweregrad besteht. Da allerdings etwa jeder 5. Patient in dieser Stichprobe von einem möglicherweise riskanten Konsum betroffen ist, sollte dieser Begleitsymptomatik (sekundärer Alkoholabusus) in der klinischen Routine eine größere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Insgesamt spiegeln die Ergebnisse die dringende Notwendigkeit wider, bei Tinnituspatienten mögliche psychische Störungen zu identifizieren [9]. Der zur Diagnostik der Tinnitusbeeinträchtigung verwendete Fragebogen hat sich zur Einteilung klinisch relevanter Patientengruppen bewährt und ist in dieser Hinsicht anderen Verfahren, wie dem TB-12 [13] oder der TF-Kurzversion [20] vorzuziehen, die keine entsprechende Gruppierung ermöglichen.

Diskriminatorische Verfahrensschwäche

Allerdings zeigt sich aufgrund der bivariaten Analysen, dass statistisch signifikante Unterschiede bei in den verwendeten Verfahren in der Regel nicht zwischen der mittleren und schweren Gruppe zu ermitteln sind. Eine Ausnahme bilden die Skalen zur subjektiven Lautstärke und Lästigkeit. Praktisch bedeutet dies, dass ein Unterschied im Ausmaß der Einschränkung der Lebensqualität und psychischen Belastung bei Patienten in der mittleren (kompensierten) Schweregradgruppe im Vergleich zur schwer belasteten (dekompensierten) Gruppe nicht ermittelt werden konnte. Insofern ist auch die Zweiteilung „kompensiert vs. dekompensiert“ für diese benachbarten Gruppen nicht hinreichend trennscharf. Hierin liegt ein diskriminatorische Schwäche des Verfahrens, wenn man die verwendeten Skalen als Kriterien zu Grunde legt.

Fazit für die Praxis

Zur Diagnostik psychischer und partizipativer Störungen hat sich der Einsatz von Screeningfragebögen bei Tinnituspatienten bewährt. Die untersuchten Verfahren sind wegen ihrer Kürze auch für die ambulante Praxis im Rahmen der Eingangsuntersuchung geeignet [14, 26]. Im Sinne einer notwendigen Ökonomisierung ist ggf. der SF-36 verzichtbar oder könnte durch seine Kurzform (SF-12; [4]) ersetzt werden. Patienten in der sehr schwer beeinträchtigten Gruppe (Grad 4) sollten in jedem Falle einer psychologischen/psychiatrischen Diagnostik und Therapie zugeführt werden, wie dies auch von der ADANO empfohlen wird [1]. Bei den mittleren und schwer belasteten Patienten (Grad 2 und 3) sollte nach den häufigen depressiven und Angststörungen sowie alkoholbezogenen Störungen gescreent werden, um bei Bedarf weitere konsiliarische Untersuchungen in die Wege leiten zu können [8, 16, 19]. Bei schwerstgradiger Tinnitusbelastung und Depression ist eine Pharmakotherapie indiziert und erfolgversprechend [29], eigene positive Erfahrungen bei akuten und chronischen Tinnituspatienten stützen dies.

Die empfohlene Diagnostik ist nicht nur in Kliniken möglich, die ein multiprofessionelles Behandlungsteam oder eine spezialisierte Sprechstunde für Tinnituspatienten vorhalten [28]. Die untersuchte Stichprobe beschreibt das Klientel, dass weltweit in HNO-Praxen täglich untersucht und behandelt wird. Auch im ambulanten Bereich liegen mittlerweile Strukturen vor, die eine interdisziplinäre Diagnostik und Behandlung von chronischem Tinnitus durch HNO-Ärzte und psychologische/ärztliche Psychotherapeuten sowie Psychiater ermöglichen, um so die psychosoziale Versorgung dieser Patienten zu verbessern.