Zusammenfassung
Die gegenwärtige soziologische Debatte rekonstruiert das Kreativitätsdispositiv als hegemoniales Diskursschema spätmoderner Gesellschaften. Das Kreativitätsdispositiv ist danach Ausdruck diverser Selbstverwirklichungspraktiken, die ästhetischer, aber weitgehend unpolitischer Natur sind. Ergänzend dazu kann anhand einer genealogisch-begrifflichen Analyse gezeigt werden, dass Kreativität auf ein Machtfeld verweist, das selbst politisch ist, das Gesellschaften hervorbringt und immer wieder reproduziert. Politische und gesellschaftliche Kreativitätsdispositive stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Freie Gemeinwesen und freie Subjekte sollten sich bewusst sein, dass sie dieser Dialektik nicht entrinnen können; dass sie ihr aber auch nicht tatenlos ausgeliefert sind. Was sie unter Emanzipation, Teilhabe, unter geglückten Lebensformen verstehen wollen, entscheiden und gestalten sie selbst.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
Ich entwickle hier Gedanken mit Blick auf die Kreativitätssemantik weiter, die ich bereits an anderer Stelle diskutiert habe, dazu Zabel (2019).
- 2.
Zu unterscheiden ist die Frage nach dem Ursprung und der politischen Philosophie von der Frage der Entstehung des Politischen als Sozialgeschichte, zu letzterem etwa Meier (1983, Kap. B und C).
- 3.
Zumal es auch Thales, Anaximander u. a. (wenngleich unter Rückgriff auf sog. Naturkräfte oder Naturelemente) darum ging, den Einfluss von Göttern auf die Handlungswelt der Menschen zu begrenzen oder sogar zurückzuweisen.
- 4.
Einschlägig sind vor allem die Erörterungen im Dialog Menon (Werke Bd. 2, 97b, 97e ff.).
- 5.
Zu nennen sind hier die Frühdialoge Láchēs, Charmídēs, Prōtagóras und Euthýphrōn.
- 6.
Platon (2004): Politeia (Werke Bd. 4. 400e, 429c 7 f., 499a 11–2). Dass das reale athenische Gemeinwesen gerade das Gegenteil einer gerechten Polis sein konnte, hat Platon am Tode Sokratesʼ selbst erfahren und in der Apología Sōkrátous theoretisch verarbeitet (Platon, Apología, Werke Bd. 2. 1/2 17a–19a).
- 7.
Zur Gerechtigkeit im Allgemeinen: Aristoteles (1999, V 1129b 12); zur im Text genannten Unterscheidung V 1131b 7 ff., V 1131b 25 ff.
- 8.
Inzwischen wird aber darauf hingewiesen, dass sich auch im griechischen politischen Denken Ansätze einer natur- und menschenrechtlichen Ausdifferenzierung finden lassen (Miller 1995).
- 9.
- 10.
- 11.
Paulus hat seine Position bekanntermaßen im Römerbrief entwickelt, siehe Röm. 3, 38; 4, 16; 9, 16; 9, 19 ff.; Augustinus (1841, 1224–1310).
- 12.
„Denn was liegt so sehr am Willen wie der Wille selbst?“
- 13.
Es spricht einiges dafür, dass Hobbes Tugendhaltungen mehrheitlich als Klugheitsregeln aufgefasst hat, insofern sie vom Selbsterhaltungsinteresse ausgehend gedacht und mit dem wohlverstandenen Eigeninteresse der Individuen kurzgeschlossen werden.
Literatur
Abel, G. (2005). (Hrsg.). Kreativität. Sektionsbeiträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie (2 Bde). Meiner.
Agamben, G. (2010). Herrlichkeit und Herrschaft. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung. Suhrkamp.
von Aquin, T. (1888). Summa Theologica (Leoninum Romae). Edition Leonina.
von Aquin, T. (1970). Quaestiones disputate de veritate (Leoninum Romae). Edition Leonina.
Arendt, H. (1976). Franz Kafka. Der Mensch mit dem guten Willen. In H. Arendt (Hrsg.), Die verborgene Tradition. Essays (S. 68–77). Jüdischer.
Arendt, H. (1985). Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. Piper.
Arendt, H. (1993). Was ist Politik? Piper.
Arendt, H. (2005). Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Piper.
Aristoteles. (1999). Nikomachische Ethik. In C. Rapp (Hrsg.), Werke (Bd. 6). De Gruyter.
von Arnim, H. (Hrsg.). (1964). Stoicorum veterum Fragmenta (4 Bde.). Teubner.
Augustinus. (1841). De libero arbitrio. In J. P. Migne (Hrsg.), Patrologia Latina (Bd. 32). Paris.
Augustinus. (1990). De diversis quaestionibus ad Simplicianum. In K. Flasch (Hrsg.), Excerpta classica (Bd. 8). Dieterich’sche.
Berlin, I. (1969). Two concepts of liberty. In I. Berlin (Hrsg.), Four essays on liberty (S. 118–172). Oxford University Press.
Boltanski, L., & Chiapello, È. (2006). Der neue Geist des Kapitalismus. UVK.
Böckenförde, E.-W. (2007). Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert. Carl Friedrich von Siemens Stiftung.
Bröckling, U. (2007). Das unternehmerische Selbst. Suhrkamp.
Brumlik, M., & Brunkhorst, H. (Hrsg.). (1993). Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Fischer.
Cicero, M. T. (1994). De officiis. Clarendon.
Dworkin, R. (1984). Rights as trumps. In J. Waldron (Hrsg.), Theories of rights (S. 153–167). Oxford University Press.
Ehrenberg, A. (2008). Das erschöpfte Selbst. Suhrkamp.
Foucault, M. (2002). Die Wahrheit und die juristischen Formen. Suhrkamp.
Foucault, M. (2004a). Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Suhrkamp.
Foucault, M. (2004b). Hermeneutik des Subjekts. Suhrkamp.
Graf, F. W., & Wiegandt, K. (Hrsg.). (2009). Die Anfänge des Christentums. Fischer Taschenbuch.
Habermas, J. (1962). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Luchterhand.
Hegel, G. W. F. (2009). Grundlinien der Philosophie des Rechts. In K. Grotsch & E. Weisser-Lohmann (Hrsg.), Gesammelte Werke (Bd. 14). Felix Meiner.
Heraklit. (1995). Fragmente. Artemis & Winkler.
Hobbes, T. (1984). Leviathan. In I. Fetscher (Hrsg.), Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Suhrkamp.
Hoffmann, S.-L. (2021). Geschichte der Menschenrechte. Suhrkamp.
Illouz, E. (2009). Die Errettung der modernen Seele. Therapie, Gefühl und die Kultur der Selbsthilfe. Suhrkamp.
Kant, I. (1968a). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Akademie-Ausgabe Bd. IV). De Gruyter.
Kant, I. (1968b). Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft (Akademie-Ausgabe Bd. V). De Gruyter.
Kant, I. (1968c). Metaphysik der Sitten (Akademie-Ausgabe Bd. VI). De Gruyter.
Kluxen, W. (1965–66). Ethik und Ethos. Philosophisches Jahrbuch, 73, 339–355.
Marx, K. (1977). Zur Judenfrage. In Institut für Marxismus-Leninismus (Hrsg.), Karl Marx/Friedrich Engels. Werke (Bd. 1, S. 347–377). Dietz.
Meier, C. (1983). Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Suhrkamp.
Menke, C. (2015). Kritik der Rechte. Suhrkamp.
Menke, C. (2018). Am Tag der Krise. In C. Menke (Hrsg.), Am Tag der Krise (S. 113–130). August.
Miller, F. D. (1995). Nature, justice, and rights in Aristotle’s politics. Oxford University Press.
Nietzsche, F. (1999). Zur Genealogie der Moral. In G. Colli & M. Montenari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe (Bd. 5). De Gruyter.
Platon. (2004). Sämtliche Dialoge (7 Bände). Felix Meiner Verlag.
Reckwitz, A. (2016). Jenseits der Innovationsgesellschaft. In A. Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis (S. 249–270). Transcript.
Reckwitz, A. (2012). Die Erfindung der Kreativität. Suhrkamp.
Reinhardt, K. (1966). Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung. Vandenhoeck & Ruprecht.
Rödel, R. (Hrsg.). (1990). Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Suhrkamp.
Sellin, V. (1978). Politik. In O. Brunner, W. Conze, & R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe (Bd. 4, S. 789–874). Klett-Cotta.
Strauss, L. (1977). Naturrecht und Geschichte. Suhrkamp.
Zabel, B. (2019). Hat die Idee der Sittlichkeit noch eine Zukunft? In M. Spieker (Hrsg.), Sittlichkeit. Eine Kategorie moderner Staatlichkeit? (S. 15–45). Nomos.
Zabel, B. (2020). Das Volk oder die totemistische Maske der Demokratie. Über den Zusammengang von Rechtsform und politischer Urteilskraft. In J. Bung & M. Kuhli (Hrsg.), Volk als Konzept in Recht und Politik (S. 33–61). De Gruyter.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2023 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Zabel, B. (2023). Ethos und Emanzipation – Kreativitätsdispositive des Politischen und sozialer Wandel. In: Jaeger, F., Voßkamp, S. (eds) Wie kommt das Neue in die Welt?. Abhandlungen zur Medien- und Kulturwissenschaft. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65196-4_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-65196-4_4
Published:
Publisher Name: J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-662-65195-7
Online ISBN: 978-3-662-65196-4
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)