Zusammenfassung
In Fachkreisen galt es lange Zeit als weitgehend unumstritten, dass Friedrich Hölderlin sehr wahrscheinlich an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis erkrankte. Unter dem maßgeblichen Einfluss des französischen Literaturwissenschaftlers Pierre Bertaux (Bertaux P (1978) Friedrich Hölderlin. Suhrkamp, Frankfurt/Main) sowie der antipsychiatrischen Strömung der 1960/70er Jahre wurde dies jedoch kategorisch bestritten. Diese Auffassung wird auch heute in weiten Kreisen insbesondere der Geisteswissenschaften vertreten. Anhand umfangreicher Originaldokumente von namhaften Zeitzeugen sowie ärztlichen Attesten wird detailliert gezeigt, dass es an Hölderlins psychischer Erkrankung i. S. einer schizophrenen Psychose keinen Zweifel geben kann. Auch die übliche abschätzige Beurteilung seiner Behandlung im Tübinger „Clinicum“ wird durch die bekannten Fakten widerlegt.
Als mögliche Gründe für die Verleugnung von Hölderlins Erkrankung werden u. a. ein dualistisches Denken, die Negierung der Biologie psychischer Prozesse sowie generelle Vorbehalte gegenüber der Psychiatrie benannt.
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Boerner, R.J. (2022). Natur oder Geist – Die Verleugnung von Hölderlins schizophrener Erkrankung. Fakten und Mythen. In: Reuster, T., Schönknecht, P. (eds) Brücken zwischen Psychiatrie und Philosophie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-64295-5_15
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