Zusammenfassung
Angesichts zunehmender gesellschaftlicher Sensibilisierung für das Thema sexueller Gewalt überrascht auf den ersten Blick die medial verbreitete Klage einer angeblich steigenden Diskrepanz zwischen Anzeigeerstattungen wegen sexueller Nötigung und strafgerichtlichen Verurteilungen. Dieser Befund sollte aber nicht dazu veranlassen, dem rechtsstaatlichen Strafverfahren vorschnell das Vertrauen zu entziehen und in das populistische Horn der Justizschelte zu blasen. Eine ganze Reihe vertrauensrelevanter Dimensionen ist außerdem zu berücksichtigen: Das übermäßige Vertrauen in das Strafrecht als Mittel zur Anerkennung und Lösung gesellschaftlicher Konflikte, das Vertrauen in soziale Problemdiskurse um sexuelle Gewalt sowie nicht zuletzt das Vertrauen der Akteure in sozialen oder auch intimen Nahverhältnissen zueinander.
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Notes
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Die Datengrundlage dieser Studie umfasst gerade einmal einhundert Fälle der Staatsanwaltschaft Stuttgart. In drei Prozent der Fälle hatte die Staatsanwaltschaft oder die Polizei ausdrücklich eine Falschbeschuldigung vermerkt; in 20 % der Fälle wurde kein Verdächtiger identifiziert, und in 45 % der Fälle wegen Mangels an Beweisen eingestellt. Für 3 % der Fälle wurde ein fehlendes öffentliches Interesse angegeben, was im Falle von Vergewaltigungen ganz ausgeschlossen ist (s. hierzu Fischer 2017). Wie viele Falschbeschuldigungen den Fällen zugrunde lag, in denen kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte oder in denen wegen mangelnder Beweise eingestellt wurde, können wir nicht wissen. Da aber selbst in eindeutig erscheinenden Fällen i. d. R. von einer Strafverfolgung der Anzeigeerstatter*innen wegen falscher Verdächtigung oder dem Vortäuschen einer Straftat abgesehen wird, ist davon auszugehen, dass die Rate der Falschbeschuldigungen erheblich höher liegt. Fischer (ebd.) kommentiert: „Die Behauptung des bff e.V. über die angebliche ‚Marginalität‘ von Falschbeschuldigungen zeigt daher nicht nur eine erschreckende Unkenntnis selbst banalster Grundlagen der Kriminologie, sondern auch einen befremdlichen Willen zur Dramatisierung von Beschuldigungen und Leugnung von Fehlerquellen. Sie ist schlicht falsch.“
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Das von den Autoren durchgeführte und von der Polizeiakademie Niedersachsen geförderte Forschungsprojekt überprüft auf der Grundlage von insgesamt dreißig leitfadengestützten Experteninterviews mit ermittelnden Polizeibeamten aus dem Bundesgebiet den Prozess der Konstruktion und Dekonstruktion von Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen.
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Klimke, D., Blaimberger, A. (2022). Falschbeschuldigungen bei sexuellen Nötigungen. In: Schweer, M.K.W. (eds) Facetten des Vertrauens und Misstrauens. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29047-4_20
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