Zusammenfassung
Martin Bubers einflussreiche programmatische Überlegungen zu einer kollektiven Orientierung sowie zu einem gemeinschaftlichen Bewusstsein von Identität und Zugehörigkeit, in denen er zugleich nationale Denkmuster aufruft, werden im ersten Teil des Beitrages erörtert. Auch zeitgenössische Wirkungen seiner Überlegungen im zivilgesellschaftlichen Kontext werden berücksichtigt. Weiter untersucht der Beitrag die Mitmenschlichkeit, wie Käte Hamburger sie im Zusammenhang der philosophischen Mitleidsethik diskutiert und Hermann Cohen sie im Rahmen der jüdischen Sozialethik als praktizierte Gesinnung des Wohltuns verteidigt, die auch den Fremden einbezieht.
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Notes
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Für Diskussionen und weiterführende Anregungen danke ich Anne Cress und Hans-Peter Kunz.
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Ähnlich äußert sich später auch Amitai Etzioni. Für ihn sind Gemeinschaften – und hierbei verweist er auf Durkheim – dann als solche anzusehen, wenn sie affektive Beziehungen pflegen und darüber hinaus „einige gemeinsame zentrale Werte aufrechterhalten“ sowie „gemeinsame Formulierungen des Guten“ zu Wege bringen, die wiederum – und hierbei verweist er auf Buber – im Dialog entwickelt werden (Etzioni 1999, S. 32, 27–28).
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Buber erläutert: „Hebräischer Humanismus bedeutet also: erstens, Zurückgreifen auf die sprachliche Überlieferung unserer klassischen Antike, auf die hebräische Bibel; zweitens, Aufnahme der Bibel nicht um ihres literarischen, geschichtlichen und nationalen Wertes willen, wie wichtig auch all dies im übrigen ist, sondern um des normativen Wertes des biblischen Menschenbildes willen; …“ (Buber 1941, S. 4).
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Als Prager ‚Kulturzionistinnen‘ zählen mindestens Else Bergmann, geb. Fanta und Elsa Brod, geb. Taussig, die den ‚Klub jüdischer Frauen und Mädchen‘ mit begründeten, aber auch Grete Straschnow und Lise Weltsch, die als dessen Präsidentin fungierten (Neubauer 2016, S. 28). Als im Jahre 1916 „die führenden Vertreter des Prager Kulturzionismus eingezogen“ waren (Neubauer 2016, S. 28), ergriffen die Mitglieder der verschiedenen Frauenvereine erheblich mehr Aufgaben: „So war es in Prag vor allem Nelly Thieberger, die die offiziellen Positionen in der zionistischen Bewegung einnahm. Ebenso wie Max Brod war auch sie nun Vertreterin des Distriktskomitees. Darüber hinaus übernahm sie die Leitung der ‚Selbstwehr‘, die in Prag herausgegebene kulturzionistische Wochenschrift“ (Neubauer 2016, S. 28).
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Ein Bruchteil ihrer Publikationen, rund dreißig im ‚langen neunzehnten Jahrhundert‘ veröffentlichte Texte wurden jüngst in einem von mehreren Bänden der „Schriften zur jüdischen Sozialethik“ neu herausgegeben (Brocke und Paul 2015). In den im Band zur Nächstenliebe – als einem thematischen Unterbereich jüdischer Sozialethik – präsentierten Texten geht es „ums praktische Handeln“ nicht auf institutioneller, sondern „auf der individuellen Ebene (…) im Bereich von Sorge, Fürsorge, Liebe, Verantwortung“, reflektiert wird über tätige Hilfe sowie über den Anderen als bedürftigen Mitmenschen, aber auch über Humanität und Versöhnung (Paul 2015, S. 8–9).
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Vermutlich ist nur ein Teil dieser Texte um der religionsphilosophischen Reflexion selbst willen entstanden. Eher wirkt es so, als sahen sich etliche der Autoren zu einer berichtigenden Reaktion genötigt. Denn sie waren starken Angriffen ausgesetzt, die auf Missverständnissen oder sogar gezielt provokanten Missdeutungen beruhten. Manche der Angreifer erlaubten sich darüber hinaus, gemeinsam mit der Deutung bestimmter Inhalte auch die bürgerliche Existenz der Angegriffenen in Frage zu stellen.
Literatur
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Conradi, E. (2018). Mitmenschlichkeit in der modernen jüdischen Sozialethik. Elemente kommunitarischen Denkens bei Martin Buber, Käte Hamburger und Hermann Cohen. In: Reese-Schäfer, W. (eds) Handbuch Kommunitarismus. Springer Reference Geisteswissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16864-3_8-1
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