1 Einleitung

Die Frage, ob die Grundschule „vom Kinde aus“ zu entwerfen sei oder ob ihre gesellschaftliche Funktion und ihr Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft im Zentrum zu stehen haben, durchzieht die hundertjährige Geschichte der Grundschule wie ein roter Faden. Dabei geht es zumeist darum zu klären, wie (stark) die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes als von Gesellschaft beeinflusst gedacht werden muss, wie Gesellschaft überhaupt entworfen und wie das Verhältnis von Individualität und Sozialität theoretisch gefasst wird. Diese grundlegenden Fragen kann der vorliegende Beitrag selbstverständlich nicht beantworten.

Allerdings verlangt vor allem aus Gründen seiner praktischen Unauflösbarkeit der Gegensatz zwischen der Zentrierung auf das individuelle Kind auf der einen und der Gesellschafts- oder Kulturzentriertheit auf der anderen Seite nach einem „dritten Weg“ in der Grundschulpädagogik. Mit dem Konzept der Generationenvermittlung (Heinzel 2011) wurde ein entsprechender Vorschlag unterbreitet.

In diesem Beitrag soll zunächst auf das Problem der Doppelfunktion der Grundschule, dem Kind und der Gesellschaft verpflichtet zu sein, näher eingegangen werden. Dann werden Varianten der Konkretisierung des Konzepts der Kindgemäßheit in den verschiedenen Phasen der Grundschulgeschichte skizziert. Die Auseinandersetzung in der Grundschulpädagogik mit der sogenannten „veränderten Kindheit“ (Fölling-Albers 1989) seit den 1980er Jahren zeigt, dass in dieser Phase als problematisch ausgewiesene gesellschaftliche Entwicklungen als Begründung für die Individualisierung des Unterrichts in der Grundschule dienten. Auch hier wird Gesellschaft eher als Rahmen für grundschulpädagogische Entscheidungen herangezogen, nicht als Bedingung und Medium des Lernens in der Grundschule. Im letzten Teil des Beitrags wird dann das Konzept der Generationenvermittlung begründet.

2 Zur Doppelfunktion der Grundschule seit ihrer Entstehung

Nachdem das Grundschulgesetz von 1920 in § 1 festlegte, die Volksschule „in den untersten vier Jahrgängen als die für alle gemeinsame Grundschule, auf der sich das mittlere und höhere Schulwesen aufbaut“ (Schreibe 1974, S. 58) einzurichten, wurde in den Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule in Preußen 1921 konkretisiert, dass die Grundschule die Aufgabe habe, „den sie besuchenden Kindern eine grundlegende Bildung zu vermitteln“ (Schreibe 1974, S. 59), wobei die Auswahl der Unterrichtsinhalte „in erster Linie durch die Fassungskraft und das geistige Wachstumsbedürfnis der Kinder“ (Schreibe 1974, S. 60) zu bestimmen sei. Die Grundschule wurde damit ebenso als grundlegend bildende „Schule für alle“ wie als „kindgemäße Schule“ konzipiert. Seit ihrer Entstehung wird ihr demgemäß die individuelle Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit und die egalisierende Reproduktion der Gesellschaft als Doppelfunktion zugeschrieben – eine nicht zwingend konfrontative Entgegensetzung, aus deren Unbestimmtheit zahlreiche konfligierende Ansprüche abgeleitet werden können. Ungeachtet dessen wird die Geschichte der Grundschule als Erfolgsgeschichte berichtet, wobei die für alle gemeinsame „Schule der Demokratie“ und die „Schule des Kindes“ als Referenzen gelten, und es besteht die Frage der Vereinbarkeit von Individualisierung und Vergesellschaftung bzw. Egalisierung als ungelöstes Problem fort (Tenorth 2000).

Die grundschulpädagogische Losung der „Schule für alle“ erhielt in den letzten 100 Jahren ein kollektives, sinn- und identitätsstiftendes Wirkungspotenzial innerhalb der Grundschulpädagogik, obgleich diskrepante Entwicklungen zu verzeichnen waren, wie die wachsende Bedeutung des Sonderschulsystems, grundschultypische Formen institutioneller Diskriminierung (Gomolla und Radtke 2002), die Bildungsbenachteiligung von Kindern als Folge der sozialen Segregation von Städten in Verbindung mit dem Sprengelprinzip oder der Beitrag schulischer Akteure (Lehrkräfte, Kinder und Eltern) zur Differenzherstellung.

Die beiden Bezugspunkte der Grundschulpädagogik, Kind und Gesellschaft, wurden häufig als widersprüchlich oder unvereinbar problematisiert, wobei Gegenwarts- und Zukunftsorientierung des pädagogischen Handelns einander gegenübergestellt und die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern als zukünftig entworfen wurde. Nicht selten hat die Betonung gesellschaftlicher Aufgaben der Grundschule appellhaften Charakter. Sie scheint weniger Akzeptanz zu finden als die Orientierung am Kind, was sich besonders dann zeigt, wenn eindringlich argumentiert werden muss, dass das Schülerdasein nur Passage sein könne und die Zukunft der Kinder im Mittelpunkt grundschulpädagogischer Bemühungen zu stehen habe (Diederich und Tenorth 1997, S. 165 f.; auch Fölling-Albers 2010, S. 19), oder wenn betont wird, dass die Grundschule Brücken zu bauen habe vom Kindsein zum Erwachsenwerden, weshalb sie nicht ausschließlich ein Ort der Kinder sein und sich nicht auf Kindorientierung beschränken könne (Duncker 2007, S. 55). Der vorliegende Beitrag argumentiert aus einer interaktionistischen Perspektive und pointiert dabei Prozesse, die unter der Perspektive der Vermittlung generationaler Positionierung sichtbar werden.

Das Konzept der Kindgemäßheit der Grundschulpädagogik hat, wie die folgenden Ausführungen zunächst zeigen werden, verschiedene Ausprägungen erfahren und stellt eine spezifische Form der Auseinandersetzung mit der Doppelfunktion der Grundschule dar, Kind und Gesellschaft verpflichtet zu sein. Zu berücksichtigen ist dabei sowohl, dass es unterschiedliche Modelle von Gesellschaft gibt und der Stand gesellschaftlicher Entwicklung unterschiedlich beurteilt werden kann, als auch, dass die Grundschule mit Kindheitskonstruktionen arbeitet, die im Rahmen sie überschreitender, allgemeiner gesellschaftlicher Diskurse emergieren und somit von außen zur Verfügung gestellt werden.

3 Das Konzept der Kindgemäßheit

Lange Zeit war weitgehend unbestritten, dass Kindgemäßheit als spezifisches Merkmal der Grundschulpädagogik zu verstehen sei. So schreibt Rabenstein (1981, S. 23 f.): „Grundnorm einer pädagogischen Theorie des Grundschulunterrichts ist das Prinzip der Kindgemäßheit, das im Unterschied zu anderen Unterrichtsprinzipien (Wissenschafts‑, Gesellschafts‑, Lebensorientierung …) nur die Grundschule betrifft.“ Im erstmals 1974 erschienenen Standardwerk von Elisabeth Neuhaus „Reform der Grundschule“ schildert diese die bereits zur damaligen Zeit lange Tradition der „Pädagogik vom Kinde aus“ (Neuhaus 1974, S. 23 ff.). Seit dem 19. Jahrhundert sei in progressiven bzw. reformpädagogischen Kreisen der Gedanke federführend, „das Kind [müsse] sich in Ruhe entfalten“, wobei der Erzieher als Gärtner im rousseauschen Sinne gezeichnet worden sei (Neuhaus 1974, S. 23). Auch wenn Neuhaus zugunsten einer „Wissenschaftsorientiertheit“ mit dem traditionellen Gesamtunterricht zu brechen bereit ist, sind Wissenschaftsorientiertheit und Kindgemäßheit ihr zufolge keine einander ausschließenden Prinzipien, womit sie dieses Konzept grundsätzlich beibehält, wenn auch in modifizierter Form (Neuhaus 1974, S. 176 f.). Erwin Schwartz betont demgegenüber die Kontinuität menschlichen Lebens, wonach ein Kind „immer schon ein Heranwachsender“ sei und „der Erwachsene […] immer auf seine Kindheit bezogen“ bleibe, weshalb Kinder „nicht in einen Wartesaal zu verbannen“ seien (Schwartz 1969, S. 90). Er spricht sich in dieser Logik dann auch folgerichtig gegen eine gesonderte Grundschule (mit gesonderten Prinzipien) aus (Schwartz 1969, S. 91 f.). Ilse Lichtenstein-Rother und Edeltraud Röbe hingegen festigen in ihrem prägenden Werk „Grundschule: Der pädagogische Raum für Grundlegung der Bildung“ (1982, S. 93) das Prinzip der „Kindorientierung“, die sie wie folgt definieren: „Kindorientierung heißt dann: auch in der Schule Raum und Zeit geben für dieses Kindsein-Dürfen, für neue Kontakte, für Aufgaben und Anregungen, die den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Kindes entgegenkommen, diese weiterführen und auf neue Ziele und Sinnperspektiven hinlenken“. Dieser Begriffsbestimmung liegt der Gedanke kindesspezifischer Bedürfnisse ebenso zugrunde wie der einer fortschreitenden Entwicklung, die bestimmte Angebote verlangt.

Der historische Rückblick auf die Grundschule zeigt allerdings auch, dass die große Bedeutung des Konzepts der Kindgemäßheit nicht für die Grundschule im Nationalsozialismus galt. Hier wurde die „Erziehung vom Kinde aus“ ersetzt durch die Erziehung zum „physisch robusten, für Führer und Volk stets einsatzbereiten deutschen Menschen“ (Rodehüser 1987, S. 301 ff.; umfassend Götz 1997; Götz und Sandfuchs 2014, S. 38). In der Phase der zweigeteilten deutschen Geschichte der Grundschule von 1945 bis 1990 (Jung et al. 2011) wurde eine „Erziehung vom Kinde aus“ als reformpädagogisch geprägte, reaktionäre Methode eingeordnet und deshalb für die Grundschule in der SBZ und später die polytechnische Unterstufe in der DDR abgelehnt (Tenorth 2011).

In den verschiedenen Phasen der Grundschulgeschichte der Bundesrepublik Deutschland war das Konzept der Kindgemäßheit höchst einflussreich, besagte aber Unterschiedliches in Abhängigkeit davon, welche Bilder vom Kind und welche theoretischen Vorstellungen des Teilwerdens oder Teilhabens von Kindern an Gesellschaft dominierten und welche (neuen) wissenschaftlichen Erkenntnisse über Entwicklung oder Sozialisation von Kindern sich durchsetzen konnten (z. B. Faust-Siehl 1994; Fölling-Albers 1994; Rosenberger 2005; Fournés 2008; Götz 2008; Deckert-Peaceman und Seifert 2013). Ein Blick auf die verschiedenen Phasen der Grundschulgeschichte zeigt daher verschiedene Facetten der Ausgestaltung des Konzepts der Kindgemäßheit (Heinzel 2010; Götz 2011).

In der Weimarer Grundschule wie in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik waren vor allem endogenetische Reifungs- und Stufenmodelle einflussreich (insbesondere Kroh 1931 [Erstauflage 1928]). Eine kindgemäße Grundschule wurde in dieser Phase der Grundschulentwicklung folgerichtig als Schonraum konzipiert, wobei die pädagogische Abgrenzung zur weiterführenden Schule auch als Daseinsberechtigung der damals noch jungen Schulstufe interpretiert wurde (Kroh 1931, S. 327). Mit dem Prinzip der „Kindgemäßheit“, das auch didaktisch ausgearbeitet wurde, war ein lebensnaher und ganzheitlicher Unterricht verbunden, orientiert an Vorstellungen einer volkstümlichen Bildung (Kroh 1931, S. 334; Fölling-Albers 1994).Footnote 1

In der Curriculumsphase (ca. 1965 bis 1975) wurde das endogenetische Reifungskonzept durch ein dynamisches Begabungskonzept ersetzt. Kognitive Entwicklungs- und Lerntheorien sowie Sozialisationstheorien wurden bedeutsam, nach denen sich das Kind den Anforderungen der Umwelt zunehmend anpasst, Normen übernimmt und nach ihnen zu handeln lernt. Insbesondere im Rahmen der Sozialisationstheorie wurden die Aufwachsensbedingungen von Kindern betont, die auf deren Entwicklung einwirken. Kindheit wurde als bildsamste Phase im Leben entworfen. Eine als kindgemäß eingeschätzte Didaktik hatte sich an der Lernfähigkeit des Kindes zu orientieren und Startchancen sowie Bildungsgerechtigkeit zu verbessern. Versäumnisse im Bildungsbereich sollten durch Wissenschaftsorientierung in der Grundschule behoben werden. Unterricht galt dann als kindgemäß, wenn er kognitiv anregend gestaltet wurde. Unter Kindgemäßheit wurde eine Orientierung an der Lernfähigkeit des Kindes sowie die Herstellung von Startchancen- und Bildungsgerechtigkeit verstanden (Nickel 1980). Götz (2011, S. 34) nennt den häufig kritisierten wissenschaftsorientierten Unterricht „eine curriculare Spielart“ der Kindorientierung.

Nach der Herstellung der deutschen Einheit fanden in der gemeinsamen deutschen Grundschule verstärkt sozialkonstruktivistische Theorien der Lehr-Lern-Forschung und Konzepte der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung Eingang in zentrale wissenschaftliche Diskurse der Grundschulpädagogik. Mit der Verbreitung des Bildes vom Kind als sozialem und ko-konstruierendem Akteur werden Konzepte wie „Phänomenorientierung“ oder „konkretes Denken“ nun abgelöst durch Leitideen wie individuelle Förderung, adaptiven Unterricht und (kognitive) Aktivierung in entwicklungsstimulierenden und kompetenzorientierten Lernsettings. Kindgemäßheit bedeutet seitdem, Lernumgebungen zu schaffen für das im Umweltkontext mehr oder weniger autonom konstruierende Kind, das als Subjekt seines eigenen Lernprozesses angesehen wird und dessen Kompetenzen im Fokus stehen.

Einsiedler, der sich auf neuere Ergebnisse der Lern- und Entwicklungsforschung (vgl. Stern 2002) bezieht, schlägt vor, das Prinzip der Kindgemäßheit aufzugeben, weil es wissenschaftstheoretisch gesehen lediglich „ein aufforderndes Postulat“ (Einsiedler 2015, S. 279) sei. Er plädiert für ein neues Verständnis eines „entwicklungsgemäßen Grundschulunterrichts“ (Einsiedler 2015, S. 283), das die Starrheit traditioneller entwicklungspsychologischer Modelle, die eine Anpassung des Unterrichts an einen altersbezogenen Entwicklungsstand mit sich führten, zu überwinden vermag. So sei es möglich, dass Kinder „bereichsspezifisch viel mehr lernen“, als dies beispielsweise durch Piagets Entwicklungsstadien angenommen werde (Einsiedler 2015, S. 285). Selbst wenn Kindgemäßheit als grundschulpädagogisches Prinzip aufgegeben werden soll, folgt diese Vorstellung vom Kind in der Grundschule auch hier der Entwicklungsprämisse. Im Sinne einer „anreizbezogene[n] Entwicklungsgemäßheit“ (Einsiedler 2015, S. 287) kann auch die Kompetenzorientierung als Spielart der Kindorientierung in der Grundschule betrachtet werden.

Für alle skizzierten grundschulpädagogischen Konzeptionen von Kindgemäßheit gilt, dass sie die Gegenwart des Kindes mit Blick auf seine Zukunft prüfen. Das Kind wird als werdender Mensch betrachtet und es besteht die Annahme, dass Kinder eine gleichberechtigte Teilhabe an Gesellschaft erst durch Entwicklung im Sinne von „Lernen und Leisten“ zu erwerben haben. In allen diesen Varianten von Kindgemäßheit steht dem Kind so die Gesellschaft mit ihren Werten, Überzeugungen, Traditionen oder Sprachen gegenüber und erscheint allenfalls als sinngebender Kontext der Entwicklung oder der Strukturierung grundschulpädagogischen Handelns. Wenn im Gegensatz dazu Sozialität als soziale Praxis der Herstellung sozialer Passung und sozialer Beziehungen zwischen Gesellschaftsmitgliedern begriffen wird, dann muss im Rahmen der Grundschule sowohl die Interaktion und Vermittlung der Kinder mit Erwachsenen wie auch mit Gleichaltrigen als bedeutsam erachtet werden. Im Folgenden sollen zunächst Herausforderungen und Muster der Balance von Kind- und Gesellschaftsorientierung am Beispiel der Auseinandersetzung mit der „veränderten Kindheit“ seit den 1980er Jahren weiter konkretisiert werden.

4 Zum Balanceakt seit der Diskussion um „veränderte Kindheit“ seit den 1980er-Jahren

Der dritte Bundesgrundschulkongress des Grundschulverbandes im Jahr 1989 fand unter der Überschrift „Veränderte Kindheit – Kindheit heute – Herausforderungen für die Grundschule“ statt.Footnote 2 Auf diesem Kongress wurden sowohl der gesellschaftliche Modernisierungsschub und dessen Folgen für die Grundschule thematisiert als auch die Anforderungen, die daraus für die Grundschule entstehen. Das Kongressthema dokumentiert, dass Forschungsergebnisse der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung zu relevanten Aspekten der Lebenswelt von Kindern in der Grundschulpädagogik bereitwillig aufgegriffen wurden, um Passungsprobleme von Kind und Grundschule (Heinzel 2005) zu thematisieren.

Die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung befasste sich seit den 1980er Jahren intensiv mit der Pluralisierung der Familienformen, familialen Erziehungsnormen, Mediennutzung, Freizeitverhalten und Konsum, interkulturellen Erfahrungen sowie mit der sozioökonomischen Situation von Kindern. Unter dem Schlagwort „veränderte Kindheit“ entwickelte sich ein sozialwissenschaftlicher Diskurs, der einen weitreichenden gesellschaftlichen „Modernisierungsschub“ (Hengst 2008, S. 560) diagnostizierte. Generationentypische Merkmale von Heranwachsenden wurden auf sozialisatorische Bedingungen ihres Aufwachsens bezogen („Kriegskinder“, „Konsumkinder“, „Krisenkinder“, Preuss-Lausitz et al. 1983), verbunden mit der Einschätzung, dass die bis dahin bestehenden Verhältnisse (z. B. auch zwischen den Generationen) erodieren und der Prozess beschleunigter und vielschichtiger Entwicklung nahezu alle Lebensbereiche der Kinder betrifft (z. B. Behnken et al. 1989; du Bois-Reymond et al. 1994). Vor dem Hintergrund einer „Diversifikation von Kindheitsmustern“ und der damit verbundenen „Ausweitung der Entwicklungsschere“ wurde der „Individualisierungsanspruch der Kinder“ als ‚neue‘ pädagogische Orientierung „vom Kinde aus“ formuliert (vgl. hierzu Fölling-Albers 1993, 1994, 2005). Der doppelte Anspruch der Grundschule, dem Kind und der Gesellschaft verpflichtet zu sein, wurde mit Bezug auf die veränderte Kindheit dadurch bearbeitet, dass Individualisierung als Bedarf und Anliegen von Kindern im Rahmen einer zunehmend pluralistisch ausgerichteten Gesellschaft herausgestellt wurde (Fölling-Albers 1994, S. 125). Diese Argumentation stützt die in der Grundschulpädagogik zunehmend zur Leitidee avancierenden Konzepte der „Individualisierung von Unterricht“ sowie des „individualisierten Lernens“, welche die kompetenzorientierte Förderung jedes einzelnen Kindes innerhalb einer Lerngruppe entsprechend seiner individuellen Lernvoraussetzungen, der individuell benötigten Zeit und auch individuell vorhandener Leistungsstandards favorisiert.

Der soziologische Individualisierungsbegriff der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung erhielt in der grundschulpädagogischen Lesart eine spezifische Konnotation: Sie richtet sich auf die individuellen Lernprobleme und Lernchancen von Kindern, für die Ursachen in gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens vermutet werden. Damit bezieht sich Grundschulpädagogik in erster Linie auf das individuelle Kind und weniger auf die gesellschaftlich verfasste Kindheit. Die veränderte Kindheit wird zu einem pädagogischen Topos, indem eine spezifische Ausprägung gesellschaftlicher Entwicklung in ein pädagogisch zu bearbeitendes Problem übertragen wird (Eckermann und Heinzel 2018).

Auch das für die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung prägende Konzept der „Agency“ (Eßer 2014; Eßer et al. 2016), das die soziale Handlungsfähigkeit und die -möglichkeiten von Kindern und ihren aktiven Beitrag bei der Gestaltung ihrer sozialen Umwelt und der Gesellschaft betont, erfährt im Rahmen der grundschulpädagogischen Programmatik eine spezifische Deutung. Die Akteursperspektive in der Kindheitsforschung beschränkt sich nicht darauf, dass Kinder Anregungen der Umwelt aktiv aufgreifen und interpretieren. Vielmehr wird das Handeln von Kindern für Sozialität allgemein als bedeutsam herausgestellt und Agency relational gefasst, nicht als Voraussetzung, sondern als Ergebnis sozialer Beziehungen und Geflechte. Demnach ist Agency in sozialer Interdependenz und nicht in individueller Unabhängigkeit verortet (Eßer 2014, S. 243). Im grundschulpädagogischen Kontext wird jedoch das Handlungspotential von Kindern vorrangig in Bezug auf ihre individuellen Lernprozesse gesehen, wobei sich im Spannungsverhältnis der „Grundschule für alle“ und den zunehmenden Individualisierungstendenzen die Reproduktion von sozialer Ungleichheit fortsetzt oder sogar verstärkt. Der Akteursstatus des Kindes beim Lernen im Unterricht erscheint so, indem von den sozialen und handlungslimitierenden Bedingungen und den Ermöglichungspotenzialen der Akteurschaft im Kontext pädagogischer Institutionen abstrahiert wird naturalistisch vorausgesetzt (Eckermann und Heinzel 2015). Eine solche pädagogischen Perspektive auf Kindheit bezieht sich nicht auf das „Kind der Gesellschaft“, sondern auf das „Kind als pädagogische Form“, wobei die Wirklichkeit der Kinder immer bereits im Lichte einer pädagogischen Aufgabe beobachtet und dargestellt wird (Honig 2007, S. 330).

Im folgenden Kapitel soll aus einer theoretischen Perspektive argumentiert werden, in der mit Bezug auf das Konzept der „generationalen Ordnung“ oder – genauer – auf die permanenten Prozesse des „generationalen Ordnens“ das Verhältnis von Kindheit und Erwachsenheit dynamisch und relational gefasst und damit „Vermittlung“ im Rahmen des Grundschulunterrichts als interaktive und soziale Praxis verstanden wird.

5 Das Konzept der Generationenvermittlung

Die zentrale Aufgabe der Grundschule besteht darin, die verpflichtende Teilnahme am Unterricht einzuführen, durchzusetzen und die schulischen Interaktions- und Partizipationsformate zum Alltag von Kindern werden zu lassen. Kinder werden in der Grundschule in die Beteiligung an der Hervorbringung von Unterricht als einem „sozialen Geschehen“ eingeführt (Mehan 1979). Die generationale Ordnung bzw. die permanenten Prozesse des generationalen Ordnens im Grundschulunterricht legitimieren im alltäglichen Vollzug die Durchsetzung der verpflichtenden Teilnahme an einem schulischen Unterricht, der von einer erwachsenen, professionell gebildeten Lehrperson strukturiert wird. Die Praxis des Unterrichtens und Erziehens ist demnach an die Form des generationalen Ordnens gebunden, die es erlaubt, zwischen Lehrperson und den Adressaten der Erziehung zu differenzieren (Heinzel 2011; Eckermann und Heinzel 2015, 2018).

Generationales Ordnen in der Grundschule geschieht strukturbasiert und strukturbildend auf der Ebene des Alltagshandelns, wobei Grundschulkindheit im Schüler*innenmodus sowohl als individuelle wie auch als kollektive Erfahrung zu verstehen ist. Schüler*innenhandeln und Lehrer*innenhandeln werden in der Grundschule sowohl auf der intergenerationalen Lehrer*innen-Schüler*innen-Ebene als auch auf der intragenerationalen Schüler*innen-Schüler*innen-Ebene durch Orientierung an Peers und an den Inhalten und Bedeutungsordnungen der Peerkultur ständig erzeugt, reproduziert und verändert. Subjektwerdung und Individuation vollziehen sich in der Auseinandersetzung mit der Lehrperson und mit Gleichaltrigen im Rahmen von Unterricht und Schulleben, wobei für die Grundschule kennzeichnend ist, dass eine zentrale Lehrperson (als Klassenlehrer*in) über mehrere Jahre mit einer festen Gruppe von Kindern arbeitet, die ein ausgeprägtes soziales und disziplinierendes Netzwerk entwickeln. Dabei tritt zudem eine Kindergeneration (nicht Jugendgeneration!) – zur Jahrgangsklasse formiert – einer Erwachsenengeneration gegenüber, vertreten durch die Lehrerperson, deren gesetzlicher und curricularer Auftrag darin besteht, grundbildend zu arbeiten und zu handeln. Die individuelle Lehrer*in-Schüler*innen-Beziehung wird alltäglich im Handlungsraum der Schulklasse konkretisiert und ist deshalb weniger als dyadische Beziehung, sondern eher als polyadische Beziehung zu denken. Auch die Unterrichtsgegenstände werden, sowohl im gemeinsamen klassenöffentlichen und auch im individualisierten Unterricht in der Interaktion der Klasse entfaltet oder ihre Aufnahme behindert.

Insgesamt ist von einer grundsätzlichen generationalen Verfasstheit der Bildungs- und Erziehungs‑, Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse auszugehen, wobei in der Grundschule alltäglich intergenerationale wie intragenerationale Interaktionsprozesse wiederkehren und prägend sind. Als zentral für den Grundschulunterricht erweisen sich die konkreten Praktiken der Interaktionsorganisation und Interaktionsmuster des klassenöffentlichen, kooperativen oder individualisierten Unterrichts, in denen sich Unterricht als Vermittlung und Aneignung erst konstituiert. Während Lehrpersonen in Praktiken der Strukturierung ausgewählte fachliche Gegenstände zur Geltung bringen, bewältigen Schüler*innen in Praktiken der Aufgabenbearbeitung die Gegenstände des Unterrichts, schon in der Grundschule zunehmend orientiert an Korrektheit, Pragmatik und Effizienz (Lipowsky und Lotz 2015; Breidenstein und Rademacher 2017).

Unterrichtsinteraktion in der Grundschule impliziert „Generationenvermittlung“, wobei dieser Begriff absichtsvoll eine auf möglichst herrschaftsfreien Diskurs und Ausgleich setzende Vorstellung von Kommunikation und Interaktion mit sich führt. Generationenvermittlung betont die Notwendigkeit einer dialogischen Vermittlung von Generationenperspektiven, die Reflexion des Verhältnisses von vermittelnden und aneignenden Generationen und die Notwendigkeit einer professionellen Ethik. Der Begriff der Vermittlung unterstreicht die Wechselseitigkeit und interaktive Abhängigkeit und er führt zudem eine auf inhaltlichen Diskurs, dialogische Dimensionen des Lernens und auf sozialen Ausgleich setzende Vorstellung von Kommunikation und Interaktion mit sich. Er kann sowohl deskriptiv-analytisch als auch normativ-programmatisch verstanden und weiter ausgearbeitet werden.

Theoretische Annahmen und weiterführende Überlegungen, die auf das Konzept „Generation“ bezogen werden, eröffnen einen Zugang zu Aufgaben und Möglichkeiten der Grundschule aus der Perspektive geteilter ebenso wie differenter Lebenserfahrung und Umgebungswahrnehmung von Kindern als Schüler*innen und Erwachsenen als Lehrer*innen. Der Ansatz der Generationenvermittlung hebt die soziale Praxis von Vermittlung in der Grundschule hervor, im Rahmen einer generationalen Ordnung und mit Fokus auf der Handlungsfähigkeit (Agency) von Kindern. Dabei sind drei Ebenen zu unterscheiden: „Vermittlung von“ (Inhalte, Aufgaben, Planung), „Vermittlung zwischen“ (Interaktionen, Beziehungen) sowie „Vermittlung der Vermittlung“ (Performativität, Darstellung des Lernens) (Heinzel 2011).

„Vermittlung von“

bezieht sich auf die soziale Praxis der Herstellung, Auswahl und Begründung grundschulpädagogischer Inhalte, Methoden und Materialien. Es geht z. B. sowohl um den Umgang mit Bildungsansprüchen, Themenvorschlägen und Fragen von Kindern als auch um Probleme der Curriculumsentwicklung.

„Vermittlung zwischen“

umfasst sowohl die soziale Praxis der Lehrer*innen-Schüler*innen-Interaktion als auch die der Schüler*innen-Schüler*innen-Interaktion in Grundschulklassen. Die Aufrechterhaltung komplementärer Vermittlungsstrukturen, die Vermittlung unterrichtlicher Interaktionsordnungen sowie Formen des Zeigens, Anerkennens und Differenzherstellens im Rahmen des Anfangsunterrichts und der Grundschulklasse sind hier bedeutsam.

„Vermittlung der Vermittlung“

meint den Doppelcharakter von Handlungen in der Grundschule, die soziale Praxis des „Pendelns“ von Kindern zwischen schulischen und peerkulturellen Anforderungen, die Bewältigung der Herausforderungen des Handelns in der Klassenöffentlichkeit (Bühnencharakter des Unterrichts) sowie Herausforderungen bei der Darstellung von Lernen in der Grundschulklasse.

Das Konzept der Generationenvermittlung betont zwar „Kindorientierung unter der Eigenständigkeitsperspektive“ (Götz 2008, S. 20), doch steht dabei gerade die Sozialität von Kindern und ihre Eingebundenheit in Gesellschaft im Mittelpunkt. Insofern wird nicht die Individualperspektive in Gegenübersetzung zu einer Kollektivperspektive hervorgehoben, sondern ein relationales Verhältnis, auch weil sich die Interaktionen der Kinder im Rahmen einer Grundschulklasse nicht trennen lassen von den Verhältnissen zu anderen gesellschaftlichen Gruppen und Bezügen (ihren Familien und deren sozialen Netzwerken, ihren Freizeitgruppen, ihren Medienzirkeln). Die Interaktionen in der Grundschulklasse gehen mit Intergruppenprozessen und sozialen Differenzierungsprozessen einher. Kinder bzw. Schüler*innen wirken demnach also nicht erst als Erwachsene an der Reproduktion von Gesellschaft mit; sie sind aktiv beteiligt an der (Re‑)Produktion des Sozialen und der generationalen Ordnung im Rahmen der Grundschule und des Grundschulunterrichts. Wenn schulische Sozialität außerdem sowohl als generationale Differenz wie auch als generationale Gleichzeitigkeit verstanden wird, dann bedeutet dies auch, dass die Zukunftsorientierung von Bildungsprozessen selbstverständlich eingeschlossen ist.

6 Fazit

In diesem Beitrag wurden in theoretisierender Absicht Formen des Umgangs der Grundschule mit dem Balanceakt, Kind und Gesellschaft verpflichtet zu sein, mit dem Schwerpunkt auf der Entwicklung seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bearbeitet. Ausgestaltungen des Konzepts der Kindgemäßheit wurden unterschieden und die aktuelle Leitidee der Individualisierung des Grundschulunterrichts in die seit den 1980er-Jahren relevante Diskussion um veränderte Kindheit eingeordnet. Als ein „dritter Weg“ wurde das Konzept der Generationenvermittlung präsentiert. Mit diesem Ansatz wird weder eine orientierende Zielbestimmung für kindliche Entwicklung vorgenommen noch eine soziologische Reflexion der Institution geleistet, die das Unterrichtsgeschehen auf seine Funktionen für das Gesellschaftssystem reduziert. Vielmehr besteht das Ziel darin, das konkrete Handeln der Akteure in der Grundschule in den Mittelpunkt erziehungswissenschaftlicher Analysen zu rücken und Sozialität als eine relevante Bedingung und als vermittelndes Medium des Lernens in der Grundschule zu verstehen (Ricken 2018).

Damit verbunden ist, die Grundschule als grundbildende Institution nicht bloß zu behaupten, sondern die Praxis grundbildenden Handelns an Grundschulen und im Grundschulunterricht distanziert zu analysieren. Wenn es ethisch geboten scheint, einen egalisierenden gesellschaftlichen Auftrag der Grundschule zu erhalten bzw. zu postulieren, wird ein bedeutendes Erkenntnisinteresse der Grundschulforschung darin bestehen, die institutionelle und alltägliche Differenzherstellung durch die Praxis der Grundschulpädagik in den Blick zu nehmen und das relationale Verhältnis der Beteiligten – Lehrer*innen und Schüler*innen – als wechselseitig vermittelte Praxis sehen zu lernen. Dazu gehört vor allem auch, Struktur und Qualität fachlicher Lehr-Lern-Prozesse in der Grundschule auf der Basis der Analyse von Unterrichtsinteraktionen zu untersuchen sowie umfassende Studien zur situierten Praxis fachlichen Lernens im Unterrichtsvollzug der Grundschule zu initiieren.