Hintergrund

Eine Vielzahl internationaler Studien belegen, dass psychische Erkrankungen mit einer verkürzten Lebenserwartung einhergehen. Untersuchungen zeigen, dass alle psychischen Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko für einen frühzeitigen Tod korrelieren, wobei Essstörungen und Substanzabhängigkeit diesbezüglich das höchste Risiko aufweisen [14]. Unfälle und Suizide schei-nen jedoch nur für einen Teil dieser erhöhten Mortalität verantwortlich zu sein, somatische Erkrankungen dürften aufgrund der großen Verbreitung aber eine zumindest gleich große, wenn nicht noch größere Rolle spielen.

Zahlreiche Studienergebnisse weisen darauf hin, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen häufiger an somatischen Erkrankungen leiden als die Allgemeinbevölkerung [2, 5, 6]. Es wurden höhere Inzidenz- und Prävalenzraten für kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus (assoziiert mit Übergewicht, verminderter Glukosetoleranz), verschiedene Formen von Malignomen, Infektionskrankheiten, sowie Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes beschrieben [5, 710]. So zeigen zum Beispiel Studienergebnisse, dass bis zu 50 % der an Schizophrenie Erkrankten an somatischen Komorbiditäten leiden, wobei Diabetes mellitus kardiovaskuläre Erkrankungen, Osteoporose, Erkrankungen der Atemwege, Adipositas und das metabolische Syndrom die häufigsten Krankheitsbilder darstellen [11].

Diese Daten weisen auf die hohe Bedeutung der somatischen Komorbidität und deren epidemiologischen Erfassung bei psychisch Kranken hin [2]. Anspruchsvolle epidemiologische Studien zur somatischen Komorbidität psychisch Kranker auf europäischer Ebene sind selten, für Österreich fehlen diese zur Gänze.

Epidemiologische Daten bilden genauso wie routinemäßig erhobene administrative Daten eine wichtige Grundlage für die Planung von Gesundheitssystemen im ambulanten als auch stationären Bereich [12]. Ergebnisse aus anderen Studien zeigen, dass administrative Daten auch zum internationalen Vergleich von Versorgungsstrukturen herangezogen werden können [13].

Ziel dieser Studie ist eine erste Analyse österreichischer administrativer Daten über somatische Komorbidität psychisch Kranker im stationär-psychiatrischen Bereich.

Methoden

Die Studie stellt ein Teilprojekt der HELPS-Studie dar [14], die von der Europäischen Union als Teil des Förderprogramms im Bereich öffentliche Gesundheit finanziert wurde (CN:20063344).

Die hier ausgewerteten teil-aggregierten Daten zur stationär-psychiatrischen Versorgung wurden vom Österreichischen Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG) zur weiteren wissenschaftlichen Analyse zur Verfügung gestellt. ÖBIG führt Forschungs- und Planungsarbeiten durch und erstellt Grundlagen für die Steuerung des Gesundheitswesens im Auftrag der Republik Österreich.

Die verwendeten Daten stammen aus der Diagnosen- und Leistungsdokumentation der österreichischen Krankenanstalten [15]. Diese umfasst die Dokumentation jedes einzelnen stationären Aufenthaltes. Zu jedem Aufenthalt gibt es Informationen über die Patientin bzw. den Patienten sowie zu den gestellten Diagnosen und zu den belegten Abteilungen. Einschränkend ist anzumerken, dass ein Aufenthalt erst nach der Entlassung dokumentiert wird, alle Informationen beziehen sich daher auf den Wissensstand zum Zeitpunkt der Entlassung. Verlegungen zwischen Abteilungen innerhalb einer Krankenanstalt werden nicht als eigene Aufenthalte gewertet. Erst im Falle der Verlegung in eine andere Krankenanstalt entsteht ein neuer Aufenthalt. Wenn eine Patientin bzw. ein Patient entlassen und wieder aufgenommen wird, werden die Aufenthalte separat gezählt. Stationäre Rehabilitationseinrichtungen wurden in der vorliegenden Auswertung nicht berücksichtigt. Weiters wurden Aufenthalte, die weniger als 24 h dauerten, in der Auswertung nicht berücksichtigt.

Die administrativen Daten beinhalten Haupt- und Nebendiagnosen aller psychiatrischen Krankenhausabteilungen Österreichs (stationäre Aufnahmen) für das Jahr 2007. Diese Diagnosen wurden entsprechend der 10. Version der International Classification of Diseases (ICD-10 [16]) vergeben.

Ergebnisse

Im Jahr 2007 kam es insgesamt zu 79.027 Aufnahmen an psychiatrischen Stationen in Österreich, wobei mehr Frauen (n = 41.090) als Männer (n = 37.937) aufgenommen wurden (Tab. 1). Von diesen Gesamtaufnahmen wurden 75.224 mit einer psychiatrischen Hauptdiagnose entlassen bzw. transferiert. Somit erhielten 3803 Patienten (4,8 %) keine psychiatrische, sondern eine somatische Hauptdiagnose.

Tab. 1 Anzahl psychiatrisch-stationärer Aufenthalte für Österreich (2007) aufgegliedert nach psychiatrischen Hauptdiagnosen, klassifiziert nach ICD-10

Erkrankungen aus dem affektiven Bereich (ICD-10: F30-39) stellten die häufigste psychiatrische Hauptdiagnose dar (n = 21.952), gefolgt von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (F20–F29), wobei hier bei den Entlassungsdiagnosen kaum geschlechtsspezifische Unterschiede in der Gesamtanzahl zu finden sind. Im Bereich der Störungen durch psychotrope Substanzen (ICD-10: F10-19) findet man von den insgesamt 17.020 gestellten Diagnosen mehr als doppelt so viele Männer (n = 11.446) als Frauen (n = 5.574) (Tab. 1).

Betrachtet man die Prävalenz der somatischen Komorbidität bezogen auf alle Patienten (Tab. 2), zeigt sich, dass Erkrankungen des Kreislaufsystems (20 %) die häufigste somatische Diagnose darstellen, gefolgt von Erkrankungen aus dem endokrinen Bereich bzw. Krankheiten des Ernährungs- und Stoffwechsels (16,4 %) sowie Erkrankungen aus dem neurologischen Formenkreis (14,4 %).

Tab. 2 Punktprävalenz (%) der somatischen Komorbidität (Haupt- und Nebendiagnosen) bei Patienten im psychiatrisch stationären Bereich in Österreich (Jahr 2007) bezogen auf alle Aufnahmen

Tabelle 3 gibt einen Überblick über die Prävalenz der somatischen Komorbidität in Bezug auf die jeweiligen psychiatrischen Hauptdiagnosen, klassifiziert nach ICD-10. Die häufigste Komorbidität im Bereich der Krankheiten durch psychotrope Substanzen (ICD-10: F10-19) stellen Erkrankungen des Verdauungssystems dar (19,7 %). Bei den Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (ICD-10: F20-F29) finden sich am häufigsten endokrine Erkrankungen bzw. Störungen im Bereich Ernährung und Stoffwechsel. Bei den affektiven Störungen (ICD-10 F30-F39) stellen Erkrankungen des Kreislaufsystems mit einer Prävalenz von 20,8 % die häufigste körperliche Erkrankung dar, wobei auch hier Störungen des endokrinen Systems bzw. Störungen im Bereich der Ernährung und Stoffwechsels häufig zu finden sind (18,9 %). Im Bereich der Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Faktoren (ICD-10: F50-59) findet man die Störungen des endokrinen Systems bzw. Stoffwechselerkrankungen mit einer Prävalenz von 5,6 %.

Tab. 3 Prävalenz (Spaltenprozent) der somatischen Komorbidität (Nebendiagnosen) bezogen auf die Hauptdiagnosen bei Patienten im psychiatrisch-stationären Bereich in Österreich (Jahr 2007)

Diskussion

Die vorliegende Studie präsentiert erstmals österreichweite Daten zur Häufigkeit somatischer Komorbidität bei Patienten im stationär-psychiatrischen Bereich, basierend auf administrativen Daten. Die häufigsten somatischen Diagnosen waren Erkrankungen des Kreislaufsystems, gefolgt von Erkrankungen des endokrinen Systems, der Ernährung und des Stoffwechsels, sowie Erkrankungen aus dem neurologischen Formenkreis. Auch in Bezug auf die verschiedenen psychiatrischen Diagnosegruppen kamen diese somatischen Erkrankungen am häufigsten vor.

Interessanterweise findet man in der internationalen Literatur gerade zu diesen somatischen Kategorien auch Studien zur Komorbidität bei psychiatrischen Patienten. Bernardo et al. [17] fanden in einem Sample von Patienten, die im Rahmen eines stationär psychiatrischen Aufenthaltes mit Antipsychotika der zweiten Generation behandelt wurden, eine Prävalenz von 19 % für ein metabolisches Syndrom. Bobes et al. [18] führten im Rahmen einer spanischen Multicenterstudie eine retrospektive Datenanalyse durch, die ambulante Patienten mit einer Schizophrenie oder schizoaffektiven Störung und einer antipsychotischen Medikation für mindestens 12 Wochen untersuchten: 24,6 % hatten ein metabolisches Syndrom, 42,4 % abdominelle Adipositas, 35,4 % niedrige HDL Werte, 37,3 % hatten eine Hypertriglyzeridämie und 14 % eine Hyperglykämie.

Bedenkt man, dass oft psychiatrische Erkrankungen in somatischen Abteilungen nicht erkannt werden [19], muss davon ausgegangen werden, dass auch somatische Erkrankungen in psychiatrischen Abteilungen oft nicht erkannt werden [20, 21]. Dies könnte dazu führen, dass somatische Krankheiten in den Routinedaten nicht ausreichend erfasst sind.

Einschränkend ist anzumerken, dass es sich bei den dargestellten Ergebnissen um Auswertungen aus Routinedokumentations- bzw. Verrechnungssystemen handelt. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Geldwert der einzelnen Entlassungsdiagnosen das Verhalten der diagnostizierenden Ärzte auf eine Weise beeinflusst hat, die dazu führt, dass „lukrativere“ Diagnosen häufiger gestellt wurden [22]. Auch wenn diese Systeme mit Erhebungsverfahren, die für rein wissenschaftliche Zwecke entwickelt wurden, nicht vergleichbar sind, kann davon ausgegangen werden, dass die Datenqualität für einen groben Überblick wie den vorliegenden ausreicht [15]. Als Limitation muss aber festgehalten werden, dass die Prävalenzzahlen nicht pro Person, sondern pro stationärer Aufnahme berechnet wurden. Wenn eine Patientin bzw. ein Patient entlassen und nach ein paar Tagen wieder aufgenommen wird, werden zwei Aufenthalte gezählt, sodass Patienten, die mehrfach aufgenommen wurden, auch mehrfach berücksichtigt wurden. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass eine somatische Komorbidität das Risiko für eine rasche Wiederaufnahme erhöht, was dazu führen würde, dass Personen mit somatischer Komorbidität in der vorliegenden Auswertung überrepräsentiert sind. Bei der Interpretation dieser Daten muss auch berücksichtigt werden, dass die Ergebnisse auf den stationären Bereich beschränkt sind. Auch ist anzuführen, dass ICD-10: F 0 Diagnosen im Rahmen des internationalen Studiendesigns nicht berücksichtigt wurden, da dies zu einer möglichen Verzerrung der Ergebnisse hätte führen können, da der Fokus vor allem auf somatische Komorbiditäten bei primär psychiarischen Erkrankungen gelegt wurde.

Auch unter Berücksichtigung all dieser möglichen methodischen Einschränkungen zeigt sich, dass körperliche Krankheiten bei Patienten psychiatrischer Stationen enorm häufig sind. Wenn diese – wie oben erwähnt – möglicherweise zum Teil nicht erkannt werden, können sie natürlich auch nicht behandelt werden. Die Verwendung von Screening-Verfahren auf häufige körperliche Krankheiten bei psychiatrischen Patienten ist bislang noch kaum untersucht, weshalb es bisher nicht möglich ist, einzelne Tests zu empfehlen [23]. Dies ist eine der zukünftigen Herausforderungen für die Forschung, die von Fachleuten der somatischen Medizin gemeinsam mit Psychiatern durchgeführt werden muss.

Integrative Behandlungs- und Präventionsstrategien, wie zum Beispiel spezifische psychoedukative Programme, könnten sich als effektiv herausstellen [2427]. Die Identifizierung von Risikofaktoren für die erhöhte somatische Komorbidität bei psychiatrischen Patienten ist wichtig. Bezüglich der Versorgung psychisch Kranker muss berücksichtigt werden, dass somatische Komorbiditäten auch einen Einfluss auf die Krankenhausaufenthaltsdauer haben können und somit relevant für die Planung von Versorgungsstrukturen sind.

Über die Analyse administrativer Daten wie in dieser Studie wird es künftig aber auch nötig sein, Stichproben psychiatrischer Patienten auf das Vorhandensein von körperlichen Krankheiten zu untersuchen, um einen Hinweis auf die Aussagekraft von administrativen Daten zu gewinnen. Diese Daten können dann auch dazu verwendet werden, um die nötigen Versorgungsstrukturen entsprechend zu planen [28]. Dies kann dann hoffentlich dazu beitragen, die hohe Mortalität psychisch Kranker aufgrund somatischer Komorbidität zu senken.