1 Ausgangspunkt

Die Debatte um die theoretische Fassung von Professionalität und Professionalisierung von Lehrpersonen reißt nicht ab. Die Einschätzung der gegenwärtigen Situation wird jedoch durchaus widersprüchlich wahrgenommen. Faktum ist, dass sich zwei „Theoriefamilien“ herauskristallisiert haben: eine quantitative Forschung mit psychologischem Theoriehintergrund und eine qualitative Forschung mit soziologischem Theoriehintergrund (Tillmann 2011). Der ersten Gruppe ordnet Tillmann jene Ansätze zu, die sich am Persönlichkeits- bzw. dem Expertenparadigma ausrichten, der zweiten die strukturtheoretischen sowie kulturtheoretisch-ethnographischen Ansätze. Nach einer Phase der „wechselseitigen Nichtbeachtung“ (ebd., S. 238) kulminierte die Kontroverse in einer Auseinandersetzung zwischen Baumert und Kunter (2006) und Helsper (2007) in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Kern der Auseinandersetzung war und ist die Frage nach dem Verhältnis von Erziehen und Unterrichten, einer umfassenden Menschenbildung und Wissensaneignung, Person und Rolle in der Tätigkeit von Lehrpersonen. Tillmann (2011) resümiert kritisch, dass es zwischen den beiden Theoriefamilien fast keine Bezüge und in der jeweils verwendeten Literatur so gut wie keine Überschneidungen gibt. Ein Arbeitsbündnis zwischen den Kontrahenten wäre bis heute nicht in Sicht. Quer dazu ordnet er den Ansatz der Aktions- und Praxisforschung ein, in dem der „reflektierte Praktiker“ im Mittelpunkt steht.

Gleichzeitig lassen sich Anzeichen erkennen, dass man ins Gespräch kommen will. So beginnt der Sammelband von Zlatkin-Troitschanskaia et al. (2009) zu Lehrprofessionalität mit soziologisch fundierten und strukturtheoretischen Überlegungen (Reinisch 2009; Kurtz 2009). Das verwundert angesichts der doch sehr deutlichen Schwerpunktsetzung des Bandes auf quantitativen und tendenziell psychologisch ausgerichteten Forschungsergebnissen. Allerdings werden in etlichen Beiträgen Konzepte vergleichend dargestellt, jeweilige blinde Flecken ausgeleuchtet und alternative Zugänge ausgelotet (u. a. Oser und Heinzer 2009).

Im Sonderheft der Zeitschrift für Pädagogik (2011) versuchen Helsper und Tippelt einen neuerlichen Anlauf, Brücken herzustellen und Gemeinsamkeiten auszuloten. Vertreter/innen beider Theoriefamilien kommen zu Wort und deren Aussagen werden auf Gemeinsamkeiten und Divergenzen abgeklopft. Terhart (2011) greift in seinem Beitrag ebenfalls die bestehenden Theoriefamilien auf und stellt dem strukturtheoretischen den kompetenztheoretischen Bestimmungsansatz gegenüber, benennt weiters einen quer dazu liegenden dritten Zugang: den berufsbiographischen Ansatz, durch den sich individualisierte und im Rahmen der jeweiligen situativen Kontexte entstehende Dynamiken fassen lassen. Helsper und Tippelt (2011) fordern in ihrem abschließenden Resümee: 1) Anschlüsse und Schnittstellen wären genauer konzeptionell zu fassen. 2) Die Struktur(en) pädagogisch-professionellen Handelns seien angesichts der sich verändernden hybriden pädagogischen Handlungsfelder und Organisationsformen in der derzeitigen Debatte unterbelichtet und gehörten stärker auf ihre Gemeinsamkeit in der Vielfalt abgeklopft. 3) Den neuen Entwicklungen müsste empirisch verstärkt nachgegangen werden.

Der folgende Beitrag will sich diesen Herausforderungen stellen. Dazu haben wir folgende Herangehensweise gewählt: Anschlüsse und Schnittstellen ergeben sich unserer Einschätzung nach, indem wir auf das konkrete Tun von Lehrpersonen blicken: auf das Unterrichten generell und im Besonderen die Frage nach der Ermöglichung eines qualitätsvoll gelebten Unterrichts. In unserer Analyse greifen wir dazu zunächst das Forschungsprogramm COACTIV auf, um zentrale Aspekte, Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den oben beschriebenen Ansätzen auszuloten und so zu wenden, dass jene Strukturen und Qualitätsmerkmale pädagogischen Handelns sichtbar werden, die hinter den Erscheinungen und der Oberfläche arbeiten. Dabei soll – als Brückenschlag – auf einen Ansatz zurückgegriffen werden, der sowohl Kompetenzen als auch Strukturen dialektisch verbindet (Paseka et al. 2011). Schließlich werden wir anhand von zwei ausgewählten Unterrichtssequenzen versuchen, unsere Überlegungen zu illustrieren.

2 COACTIV und die Bestimmung der professionellen Handlungskompetenz von Lehrerinnen und Lehrern

In den Mittelpunkt der Forschungen zur Professionalisierung des Lehrerberufs rückt mehr und mehr die Frage nach der Ermöglichung eines qualitätsvoll gelebten Unterrichts, der am verstehenden Lernen orientiert ist. Eine zentrale Frage dabei ist: Welche Voraussetzungen sind lehrerseits notwendig, um einen solchen am Verstehen ausgerichteten, qualitätsvollen Unterricht zu gestalten? Dieser Frage widmet sich das Forschungsprogramm „Professionswissen von Lehrkräften, kognitiv aktivierender Mathematikunterricht und die Entwicklung mathematischer Kompetenz (COACTIV)“, das vom Berliner Max-Planck-Institut durchgeführt wurde.

Nunmehr ist die sog. COACTIV-Studie in der Gesamtheit ihrer Konzeptualisierungen, den methodischen Facetten und den Ergebnissen zugänglich (Kunter et al. 2011)Footnote 1. Die Anforderungen an das Professionswissen der Mathematiklehrer steht – wie die Widmung des Forschungsprogramms zum Ausdruck bringt – v. a. unter der Leitfigur eines kognitiv herausfordernden, aber gleichzeitig unterstützenden und gut strukturierten Unterrichts, der die Schüler/innen in verständnisvolle, sinnstiftende Lernprozesse verwickelt (COACTIV, S. 12). Der folgende Beitrag soll u. a. ein Bild davon vermitteln, welche Umstellung in der Kartographie der schulischen Lehr-Lernsituation dieser Ansatz, insbesondere in seiner Fokussierung auf kognitiv herausfordernde Lerngelegenheiten, darstellt. Aber zunächst müssen wir etwas weiter ausgreifen, um den Ideen, dem Vorgehen und den Ergebnissen dieses Forschungsprogramms gerecht zu werden – auch, um die uns interessierenden Fragen herausarbeiten zu können.

Eine besondere Aufmerksamkeit verdient zunächst die Tatsache, dass COACTIV auf das den Lehrern und Lehrerinnen verfügbare Wissen zurückgreift, um Kompetenzen zu beschreiben und zu messen. Dieses Wissen wird differenziert in

  • Fachwissen (vertieftes konzeptuelles Verständnis der zu vermittelnden schulischen Sachverhalte),

  • Fachdidaktisches Wissen (als Wissen über das Potenzial von Aufgaben, über die Schwierigkeiten der Lernbarkeit von fachlichen Inhalten und als Wissen über Erklärungs- und Darstellungsmöglichkeiten) sowie

  • Pädagogisch-psychologisches Wissen über die Optimierung von Lehr-Lernsituationen (betreffend Klassenführung oder die Gestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung).

In diesem mehrdimensionalen Zugang zur professionellen Handlungskompetenz werden darüber hinaus unterrichtsnahe „Überzeugungen“ – z. B. lerntheoretischer Art – sowie motivationale und selbstregulative Ressourcen zur Bewältigung der Anforderungen des Lehrerberufs einbezogen. Die in COACTIV erfolgreiche innovative Bemühung um die konzeptuelle Eingrenzung und zugleich die Messung einzelner Bereiche zeigt eindrücklich, welch multidimensionales Konstrukt die professionelle Kompetenz von Lehrkräften darstellt, ja darstellen muss. Dass diese Multidimensionalität bei aller konzeptuellen Herleitung und Plausibilität der einzelnen Bereiche hinsichtlich der inneren Zusammenhänge und Konstellationen noch nicht „ausgereizt“ ist, ist nach dieser ersten Phase des Untersuchungsprogramms auch gar nicht zu erwarten.

Gleichwohl konnten mit diesen Wissenskomponenten bestimmte grundsätzliche Erkenntnisse in Bezug auf Rolle und den Bedeutungsumfang der einzelnen Wissensdimensionen dargestellt und im Sinne der Vorhersage von Unterrichtsqualität und Lernfortschritten von Schülerinnen und Schülern sichtbar gemacht werden. Dies betrifft etwa die Rolle des in seiner Funktion nun präziser zu fassenden Fachwissens als Voraussetzung für die fachdidaktische Beweglichkeit (vgl. etwa COACTIV, S. 331). Dies betrifft auch den Bedeutungsumfang eines bestimmten, in einzelne Wissenselemente aufgefächerten fachdidaktischen Wissens für positive Lernergebnisse der Schüler und Schülerinnen. Lehrerinnen und Lehrer müssten in der Logik der COACTIV-Studie z. B. fähig sein, mathematische Aufgaben in ihrem Schwierigkeitsgrad zu klassifizieren und Lösungsprozesse im Umgang mit diesen Aufgaben zu analysieren. Im laufenden Unterrichtsprozess müssten Lehrpersonen über die Kompetenz verfügen, entwicklungstreibende Fragen zu stellen und auf Antworten der Schüler zu achten, um Hinweise über deren Verstehensprozesse und für die Diagnose des erreichten Verständnisses zu erhalten. Weit mehr als bisher üblich müssten Lehrer und Lehrerinnen dazu angeregt werden, die Handlungswirksamkeit ihrer eigenen Überzeugungen zu überprüfen und intensiv über die Verbindung zwischen ihrem eigenen Handeln und dem Lernen der Schüler/innen nachzudenken.

Schon diese knappe Darstellung der aus dem COACTIV-Ansatz gefolgerten konkreten Handlungskompetenzen zeigt die Anforderung einer reflexiven Durchdringung der eigenen Tätigkeit. Wird eine solche Reflexionsfähigkeit allenthalben zur Schlüsselkompetenz der Profession erhoben (vgl. Reh 2004), so gelingt in der COACTIV-Studie ein speziell für das Tun der Lehrer und Lehrerinnen wesentlicher Konkretisierungsschritt: Verlangt ist in der Logik von COACTIV nach unserer Sicht eine kognitiv-imaginative Reflexivität. Vor allem kommt der Fähigkeit zur gedankenexperimentellen Vorwegnahme von Lernsituationen und damit Phantasieaktivitäten eine große Bedeutung zu. Diese helfen uns, Möglichkeiten auszuprobieren und sich dabei viele mögliche Züge und Gegenzüge des Handelns im jeweiligen inhaltlichen Zusammenhang vorzustellen (vgl. zur Fassung unterschiedlicher Phantasieformate Combe und Gebhard 2012, S. 49 ff.). Das alles sind Ergebnisse, die auch Orientierungen für die Ausrichtung der Lehrerbildung darstellen (vgl. COACTIV, S. 323 ff.). Und selbst wenn die Verfasserinnen und Verfasser der COACTIV-Studie zurückhaltend sind, weitreichende praktische Schlussfolgerungen etwa für die Frage zu ziehen, was Lehrkräfte von ihrer Untersuchung profitieren könnten (COACTIV, S. 353), Stoff und Anlässe für die Frage, was wäre, wenn dieses Konzept in die Praxis einginge, gibt es allemal.

Ein Grund zur Frage nach der praktisch-operativen Gestalt dieser Wissensdimensionen ergibt sich allerdings durch eine Konstellation innerhalb der Anlage der Studie selbst, nämlich durch eine von Indikatoren gestützte, sagen wir: indirekte modellhafte Abbildung der Unterrichtsprozesse selbst. Wie ist das zu verstehen? Von der methodologischen Seite her gedacht, stellte die detaillierte methodische Abbildung kognitiv aktivierender Lerngelegenheiten im Unterrichtsprozess im Rahmen des large-scale-assessment von COACTIV eine besondere Herausforderung dar. Die zentrale Idee war schließlich: Die in einer Klasse gestellten Aufgaben wie Klassenarbeiten, Hausaufgaben und Aufgaben zum Unterrichtseinstieg sollten im Hinblick auf ihr didaktisches Potenzial von Experten eingeschätzt werden und als Indikatoren für einen geistig herausfordernden Unterricht und eine verstehensorientierte Unterrichtgestaltung gelten (COACTIV, S. 92).

Die auf den ersten Blick überraschende Idee, die „gestellten“ Aufgaben als Substrat für die im Unterricht geschaffenen Lerngelegenheiten anzusehen, erinnert daran, dass sich die COACTIV-Studie auf den Mathematikunterricht bezieht und von der Annahme geleitet ist, in diesem Bereich seien Aufgaben „Träger der kognitiven Aktivitäten der Schüler“ (COACTIV, S. 116). Eine gewisse Rechtfertigung fand diese Konstruktion auch dadurch, dass Neubrand (2002) in der TIMSS-Video-Studie diesen Ausstrahlungseffekt der Aufgaben etwa auf die Tiefe der konzeptuellen Bearbeitung durch die Schüler und Schülerinnen angetroffen hatte. Im vorliegenden Fall liegen allerdings keine direkten, parallel geführten Unterrichtsbeobachtungen vor wie in der TIMSS-Video-Studie. Ein Set von Aufgaben über einen gewissen Zeitraum und ein Expertenrating informieren über die konkrete Unterrichtsgestaltung. Nimmt man hinzu, dass Videoanalysen des deutschen Mathematikunterrichts die Tendenz zeigen, an sich komplexe Aufgabenstellungen im Unterrichtsprozess engschrittig „durchzunehmen“ (Klieme et al. 2001), so kann die Schlussfolgerung nur lauten: Nicht nur die Auswahl der Aufgaben, sondern auch die Art und Weise ihrer Implementation im Unterricht muss zukünftig in den Blick gerückt werden. Der Unterricht selbst muss in actu auf seine konkreten Verläufe und Bedingungen hin untersucht werden. Die Ergänzungsbedürftigkeit des COACTIV-Ansatzes zeigt sich v. a. in Hinsicht auf die Aufdeckung von feinkörnigen Strukturen des Unterrichtsprozesses, wie sich noch zeigen wird, für die aber der Verstehensansatz von COACTIV eine entsprechende Plattform geschaffen hat.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich für uns folgende Fragen an die COACTIV-Studie:

  1. 1.

    Wie wäre es, wenn die bei COACTIV vertretenen Ansätze, insbesondere die Idee der kognitiven Aktivierung, in die Praxis eingingen? Wir nehmen an, dass mit dieser Frage die Konsequenzen für die Handlungskompetenzen der Lehrkräfte im Unterrichtsprozess selbst deutlicher hervortreten.

  2. 2.

    Inwiefern sind qualitative Ansätze in der Lage, die Erkenntnisse der standardisierten Forschung zu erweitern oder zu vertiefen? Diese Frage nach den Schnittstellen zwischen quantitativen und qualitativen Ansätzen sollen skizziert werden.

  3. 3.

    Die weitere in diesem Aufsatz zu beantwortende Frage versucht ebenfalls einen Brückenschlag zwischen dem Wissenskonzept von COACTIV und dem Könnensaufbau von Lehrpersonen. Die Frage ist: Welche Handlungsebenen werden von COACTIV eigentlich in den Blick genommen?

2.1 Implikationen kognitiver Aktivierung

COACTIV setzt mit dem Konzept der kognitiven Aktivierung u. E. durchgängig hermeneutische Konstruktionsfähigkeit qua Imagination voraus. Der Unterricht wird gegenüber einer „transmissiven“ Vorstellung, also der unterrichtlichen Weitergabe von Informationen über eine kanonisierte Welt (COACTIV, S. 238), als stärker hermeneutisch durchzogene Koproduktion aller beteiligten Personen verstanden, die von der Gruppe der Lernenden als Ko-Konstrukteure maßgeblich mitgetragen wird (Klieme 2006, S. 765).

Die hermeneutisch-konstruktive Orientierung, die mit dem Zentralkonzept der kognitiven Aktivierung verbunden ist, gibt dem Handeln der Lehrerinnen und Lehrer eine passive und zugleich aktive Struktur. Die Lehrperson muss aufnahmebereit sein, muss sich anders als in Formen der schnellen Vereindeutigung gegenüber interpretativen Kontingenzen, der Zeichenhaftigkeit und Mehrdeutigkeit der Sache öffnen, ja, es gilt, diese interpretative Kontingenz und die Mehrdeutigkeit einer Gegenstandsbestimmung geradezu hervorzulocken. „Lehrkräfte sollten Aufgaben, die sie im Unterricht einsetzen, nicht nur selber lösen können, sondern auch verschiedene Lösungsmöglichkeiten kennen, unter anderem um Schülerinnen und Schüler bei auftretenden Problemen besser zu verstehen und adäquat individuell unterstützen zu können“ (COACTIV, S. 329). Angestrebt werden muss geradezu eine Vielfalt von Lösungswegen, „weil jeder neue Weg die Einsicht in die Struktur des behandelnden Gegenstandes vertieft“ (vgl. Neubrand 2006, S. 162).

Soll dieser „hermeneutische Konstruktivismus“ im Unterricht Platz greifen, so dürfte auch eine dezidierte aktive Haltung der Lehrpersonen notwendig sein. Damit rückt der Wert der Irritation für einen kognitiv aktivierenden Unterricht ins Blickfeld. Die COACTIV-Studie setzt hier offensichtlich auf Lehrer und Lehrerinnen, die sich auch als „Kriseninduzierer“ begreifen, indem sie die eingeschliffenen Interpretationen der Schülerinnen und Schüler unter Veränderungsdruck setzen. Ein Beispiel aus dem Mathematikunterricht: Vom Format her eignen sich zur Irritation eingefahrener Wissens-, Erfahrungs- und Denkstrukturen etwa sogenannte Umkehraufgaben, wobei, gegen die Gewohnheit, kein Ergebnis auszurechnen ist, sondern zu einem vorgegebenen Ergebnis die zugehörige Aufgabe zu finden ist, was u. U. ein Probieren, aber auch selbst entwickelte Strategien fordern kann, die schließlich vergleichend reflektiert werden können (vgl. Neubrand 2006, S. 162 ff.). Das Beispiel will sagen: Zur Auslösung von Krisen oder Irritationen sind keine spektakulären und dramatischen Ereignisse von katastrophischem Ausmaß erforderlich (vgl. Combe und Gebhard 2009, 2012).

Das Stichwort „kognitive Aktivierung“ könnte auch Assoziationen bzgl. der Lebendigkeit des Unterrichts hervorrufen, die viel zu allgemein auf Verhaltensaktivitäten ausgerichtet sind (COACTIV, S. 88). Mit kognitiver Aktivierung ist also kein Unterricht mit permanenten Schülerhandlungen gemeint, bei der die Aktivität an sich zählt. Man kann nämlich den Pythagoras auch so unterrichten, wie Horst Rumpf bspw. bemerkt, dass die für das Verstehen zentralen Kernelemente im „Sozialstrudel“ und Geschäftigkeit untergehen (Rumpf 2004, S. 27). Und in der Tat: In einer auf das konzeptuelle Verstehen des Satzes des Pythagoras bezogenen Untersuchung von videographierten Unterrichtseinheiten wurde festgestellt, dass ein „lebhaftes“ Klassengespräch nicht schon als solches verstehensintensiv ist (Lipowsky et al. 2009). Vielmehr dürfen bestimmte inhaltliche „Verstehenselemente“ in der Dynamik des Klassengesprächs nicht aus dem Auge verloren werden, weil man über diese verfügen muss, wenn man ein Konzept wie den Satz des Pythagoras als Ganzes verstehen soll (Drollinger-Vetter 2011, S. 215). Ohne jene „fachdidaktische Strukturiertheit“ (ebd.), auf die Lehrpersonen zu achten haben, kann das Potential auch noch so klug ausgewählter Aufgaben nicht realisiert werden. Die videobasierten Wirkungsstudien zeigen also, wie eng die Ermöglichung des Verstehens an die jeweiligen zu verstehenden Inhalte gebunden ist. Die Inhalte müssen die Führgröße des Unterrichts sein und bleiben (vgl. Gruschka 2009). Das ist eine Herausforderung nicht nur für die Professionalisierung der Lehrpersonen und der Lehrerbildung, sondern auch eine Rückfrage an die Unterrichtsforschung und die thematische Spezifität ihrer Ansätze, sollen diese nicht fachdidaktisch naiv bleiben.

So verbergen sich auch hinter dem Hinweis, kognitive Aktivierung könne auch im Unterrichtsdiskurs erzeugt werden (COACTIV, S. 13), gerade auch in Bezug auf die Formen des Klassengesprächs konkretisierungsbedürftige Anforderungen. Für Anforderungen, die sich im Rahmen einer diskursiven Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand abzeichnen (vgl. hierzu etwa Schneeberger 2009; Kolenda 2010), hat Renshaw (2004) etwa die so einprägsame wie anspruchsvolle Formel vorgeschlagen: „dialogue as inquiry“. Dies macht darauf aufmerksam, dass Verstehen immer auch ein Sprachsuchen, ein allmähliches Entstehen-lassen von Gedanken, Einsichten und Bildern im Gespräch ist. In dieser Argumentationslinie benötigen wir mit dem Blick auf Lehrerkompetenzen weitere Untersuchungen über die vielfältigen Konstellationen von Arbeitsbündnissen im Kontext der je spezifischen Sinnordnungen von Einzelschulen, um den Blick dafür zu schärfen, was es heißt, Interaktionen im Unterricht auf das Verstehen hin auszurichten und den Unterricht für thematische Vertiefungen, den Austausch von Erfahrungen, Argumenten und Hypothesen zu öffnen (Helsper und Hummrich 2008).

2.2 Schnittstellen zwischen quantitativen und qualitativen Ansätzen

Im mathematik-didaktischen Umfeld der COACTIV-Studie wird v. a. auf die Konfrontation der Schüler/innen mit anderen Standpunkten und heterogenen Sichtweisen verwiesen, also auf die Möglichkeit, die eigene wie fremde Problem- und Lösungsperspektive explizit zu machen. Angestrebt werden muss in diesem Zusammenhang sogar eine Vielfalt von Lösungswegen, nicht nur, „weil jeder neue Weg die Einsicht in die Struktur des behandelnden Gegenstandes vertieft“ (Neubrand 2006, S. 162). Gerade der Vergleich qualitativ unterschiedlicher Lösungen von Aufgaben im Mathematikunterricht könnte „in besonderer Weise kognitive Aktivierung und mathematisches Verständnis entfalten“ (COACTIV, S. 139). Aber wie ist diese Gegeneinanderführung von Zugängen vorzustellen? Combe und Gebhard (2012) haben die Chancen einer „relationalen Gegenstandsbestimmung“ in einer qualitativ interpretierten Fallreihe herauszuarbeiten versucht. Insgesamt ging es in dieser Untersuchung darum, die Grenzen und Möglichkeiten der im Unterricht praktizierten Hermeneutik und das konkrete Prozessieren des Vorgangs des sog. „conceptual-change“ (Pintrich 1999) verhaltensnah zu beschreiben.

Die bei Combe und Gebhard (2012, S. 82 ff.) interpretierten Unterrichtsszenen deuten an, dass die Schülerinnen und Schüler unter bestimmten Voraussetzungen mit Möglichkeiten von sogenannten Perspektivwechseln rechnen: Diese Perspektivenübernahme beginnt mit der Identifizierung von Ähnlichkeiten und Unterschieden, bedeutet aber auch, dass Beiträge des einen Schülers von einem anderen Schüler inhaltlich weitergeführt werden. Die Abarbeitung von Perspektiven heißt nicht, dass die Perspektive des anderen gewissermaßen „nachgeahmt“ wird. Vielmehr gilt es darüber hinaus eine eigensinnige, aber zugleich zur Perspektive des anderen passende Antwort zu finden. Dabei operieren die Schülerinnen und Schüler durchaus auf der Ebene des gedanklichen Ausprobierens von Möglichkeiten und betreten dabei hypothetische Räume auf dem Boden ihrer Phantasie und Erfahrung. Schließlich kann es bei diesem Austauschprozess zu einer auf der Metaebene liegenden Integration von Perspektiven in Form der Artikulation eines durchgängigen und dahinterliegenden Prinzips sowie zu Zusammenfassungen kommen. Diese Perspektivenintegration muss allerdings keineswegs in großer Harmonie und Übereinstimmung enden, so, als könnte die Pluralität der Zugänge schließlich in harmonischer Weise übereinkommen. Die hermeneutische Arbeit mit perspektivischen Brechungen und Praktiken kann geradezu in die gegenseitige Anerkennung einer vielleicht sogar unüberbrückbaren Differenz münden. Auch dies ist ein Zeichen des vertieften Verstehens eines Sachverhalts, das die Konfrontation mit der fremden Perspektivität die Relativität der eigenen Weltsicht bewusst machen kann.

Was bedeutet ein so verstandener Unterricht für die Handlungskompetenz der Lehrperson? Es ist in den Fallbeispielen ersichtlich geworden, dass es neben der Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler, ihre Meinungen und ihre Verstehensrückstände zur Disposition zu stellen, auch die Interventionen der Lehrkräfte waren, die zu vermeiden halfen, dass der Unterrichtsverlauf in ein Kreisgespräch mit wenig inhaltlicher Substanz führte. Die Lehrerinnen und Lehrer erwiesen sich dabei als wandlungsfähige Mit- und Gegenspieler. Sie trugen ihre Position nicht als eine vor, die sich in der für Schüler/innen nicht überblickbaren Fachkultur als „fertige“ darstellt. Sie waren Moderatoren wie Mitlernende dann, wenn sie mit den Schülern und Schülerinnen in den Sog der forschenden Befragung eines Sachverhalts kamen.

Bei der geschilderten qualitativen Fallstudie ging es – wie gesagt – darum, hinter den Oberflächenmerkmalen von Unterricht die in seiner Tiefenstruktur ablaufenden Prozesse des „conceptual-change“ erst einmal sichtbar zu machen. Ein wichtiger Stellenwert kommt dem fallrekonstruktiven Zugang darüber hinaus etwa in der sog. „Transferforschung“ (Oelkers und Reusser 2008; Terhart 2011, Fn. 14) zu, wo es um die Integration von Reformkonzepten und Lernsettings in den Unterricht geht, und das Zusammenspiel von qualitativen und quantitativen Ansätzen geradezu sachlich geboten ist. Wie fruchtbar dies sein kann, zeigt das folgende Beispiel. Im Zuge der wissenschaftlichen Begleitung des Schulversuchs „2 Tage Betrieb – 3 Tage Schule“ in der Sekundarstufe I (Bastian et al. 2007) ging es um etwas sehr Grundsätzliches: Im Zusammentreffen der Lernorte waren Irritationen und Konflikte, denen Schülerinnen und Schüler ausgesetzt waren, nicht nur unvermeidlich, sondern häufig die wirksamsten Lern- und Verstehensanlässe. Es gab dabei, wie die Fallrekonstruktionen zeigen, sehr unterschiedliche Praktiken der Nutzung der von den Schülerinnen und Schülern präsentierten Eigenerfahrungen. Dennoch: An die Stelle der berechenbaren Gleichförmigkeit des Ablaufs trat im Unterricht die soziale Erwartung von Überraschungen, in der sich Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler wie in einem lustvoll wiederholten Ritual, zumindest am Anfang solcher Stunden, von einer aufmerksamkeitsheischenden Erfahrung zur nächsten treiben ließen. Der Fallvergleich zeigt hier den Umgang mit einer zunächst ergebnisoffenen, von weiter Aufmerksamkeit bestimmten Assoziation. Es erwies sich methodologisch einerseits als zwingend, die Entwicklungsimpulse dieses komplexen Lernsettings auf der Ebene personenbezogener Fallstudien und aus der Binnenperspektive der Handelnden zu beschreiben, um das Mit- und Gegeneinander der schulischen und nichtschulischen Lernwelten besser zu verstehen. Andererseits war aufgrund des riskanten Lernsettings und durch die Verknappung der schulischen Lernzeit die Frage zentral, in welchem Verhältnis sich die Fachleistungen zu den Leistungen einer vergleichbaren Schülerpopulation entwickelten. Als Referenzdaten wurden dazu die quantitativen Ergebnisse der sog. Hamburger Untersuchung zu Lernausgangslagen (LAU) herangezogen.

2.3 Aggregatszustände des Wissens und ihre Reichweite

Qualitätsvoller Unterricht muss zwei Aspekte in den Blick nehmen: eine vorbereitete kognitive Aktivierung, die sich – zumindest im Mathematikunterricht – in einer anregenden Aufgabenstellung manifestiert, gleichzeitig verlangt der Unterricht situativ-spontanes Handeln, das sich im Fluss des Geschehens ergibt. Eine vorbereitete und sorgfältig geplante Vorgehensweise allein reicht nicht mehr aus in Hinblick auf einen erhofften Lernerfolg. Kognitiv herausfordernde Aufgaben führen immer wieder erneut in Situationen der interpretativen Offenheit. Solche Irritationen sind nicht – oder zumindest kaum – planbar, vielmehr muss die Gunst der Sekunde genutzt werden. Professionelles Handeln zeigt sich nun daran, dass das auch gemacht wird, und insofern wird jene oben eingeführte charakteristische Eigenschaft der kognitiv-imaginativen Reflexivität nicht nur auf einer theoretisierenden Ebene, sondern auch für den praktischen Unterrichtsprozess selbst verlangt. Wie weit reicht hier die Kategorie des „Wissens“? Ist Wissen so umstandslos gleichzusetzen mit Könnerschaft (Neuweg 2011)? Fehlt hier nicht eine (Kompetenz-) Dimension, die viel mit Intuition und geronnener Erfahrung zu tun hat, und – als Pendant zur kognitiv herausfordernden Konzeption – einen kreativen Umgang mit einer Praxis gewährleistet, die je situativ und lokal spezifisch ist?

In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, welche Wissensebenen COACTIV identifiziert. Gleich zu Beginn stellen die Autorinnen und Autoren klar, dass sie – zumindest nach derzeitigem Stand – mit ihrem Forschungszugang in erster Linie das sog. propositionale Wissen erfassen (COACTIV, S. 35). Im traditionellen philosophischen Sprachgebrauch ist das ein Wissen, das in Form von Sätzen und Aussagen repräsentiert ist. In dieser Form des Wissens wird angenommen, dass etwas Bestimmtes der Fall ist oder nicht der Fall ist.

COACTIV gibt gleichzeitig zu bedenken, dass es ein praktisches Wissen gibt, das in dieser theoretisch-begrifflichen Modellierung nicht aufgeht. Um sich unter den Bedingungen praktischer Handlungs- und Entscheidungszwänge rasch orientieren zu können, ist ein anderes, erfahrungsgesättigtes Wissen notwendig. Dieses zeigt sich in zwei Varianten: 1) als praktisches Wissen, wie etwa die kategoriale Wahrnehmung von Handlungssituationen, das sprachlich expliziert werden kann und damit rechtfertigungs- und diskussionsfähig ist; 2) als praktisches Wissen qua Intuition. Dabei wird auf Schön (1983) und sein „knowledge in action“ verwiesen (COACTIV, S. 35). Diese zweite Variante kann man sich in Form von skriptförmigen Prozeduren vorstellen, die in einem performativen Gedächtnis gespeichert und über „skillfull performances“ angeeignet werden, wobei COACTIV die Beziehung zu jenen für das intuitive Urteil wichtigen leibnahen Quellen der emotional-motivationalen Bewertung und Aufladung von Situationen ausspart (vgl. Paseka 2011; Combe und Gebhard 2012).

Man sollte allerdings hervorheben, dass COACTIV diesem praktischen Wissen einen wichtigen Stellenwert einräumt. Gesprochen wird von einer „intuitiven Interpretation“ (COACTIV, S. 35), die sich flexibel an die jeweilige Situation und ihre Anforderungen anschmiegt. Dieser Vorgang erlaube es dann, „das sachlich Gebotene zum rechten Zeitpunkt und in einer sozial und moralisch vertretbaren Form zu tun“ (ebd.).

Wir halten diese Argumentation für unterkomplex. Wie bei der Übertragung eines Gedichts von einer in die andere Sprache fußt ein solcher Vorgang der Adaption auf einer hermeneutischen Qualität, bei der „Erfindungen“ und Kreativität erforderlich sind, denn der Sinn muss immer wieder neu gedeutet und in sprachlichen Neuschöpfungen sichtbar werden. Übertragen auf unseren Fall des Verhältnisses eines Theoriemodells zur Praxis dürfte also gelten, dass es eine Spannweite von „Mikroübersetzungen“ gibt, d. h. bei der Applikation von Wissen in einer konkreten Situation gibt es nicht nur eine, sondern viele Varianten der Deutung dieser Situation. Auch intuitive Urteile müssen damit nuancenreicher gesehen werden, als dies in der Fassung von COACTIV geschieht. Dabei ist klar, dass diese situative und selbstreferentielle Verarbeitung von Wissen keinesfalls unweigerlich zur Veränderung von Strukturen führen muss. Gerade in unterrichtlichen Kontexten dürfte sich ein solches Übersetzungsverhältnis geradezu im Sinne einer „inneren Traditionalisierung“ beschreiben lassen. In einem unterschwelligen Prozess – und hier kommt die von COACTIV hervorgehobene Adaptivität in problematischer Weise zum Tragen – wird die neue Idee dem Bestand des obwaltenden, organisatorischen Prozesswissens angepasst. Die Akteure greifen im Handlungsprozess rekursiv auf vorhandene Strukturen zurück und geben ihnen Faktizität (vgl. Paseka et al. 2011 unter Rückgriff auf Giddens 1997/1984).

Für die Rekonstruktion solcher Prozesse sehen wir uns im Folgenden zwei Unterrichtssequenzen an, die wir den Ausführungen von Copei (1966/1930) bzw. Schütte et al. (2005) entnommen haben. Im Zentrum der Analyse steht das Handeln der Lehrperson. Konkret blicken wir zum einen auf die oben beschriebenen Schritte im Prozess der professionellen Gestaltung von Lernprozessen im Unterricht, zum anderen auf das Wechselspiel zwischen Struktur(en) und Subjekten mit ihrer Fähigkeit zu reflexivem Monitoring nach dem Motto: „Do we like what we get?“

Wir wollen damit zweierlei zeigen: Zum einen, dass eine konzeptuelle Grundidee zur Gestaltung von Praxis, die COACTIV von ihrem Ansatz her verkörpert, nur trägt, wenn sie gleichsam ein zweites Mal, nämlich im Zuge experimentellen praktischen Handelns und unter dem Aspekt einer gleichsam situierten Kreativität, „erfunden“ wird (Fallbeispiel 1). Zum zweiten, dass die Spannweite der „Mikroübersetzungen“ auch durch „innere Traditionalisierungen“ bestimmt werden kann, weil auf bekannte und eingeschliffene Muster zurückgegriffen wird (Fallbeispiel 2).

Fallbeispiel 1 (Copei 1966/1930, S. 107 ff.).

Grundschule, dritte Schulstufe, Sachkunde-Unterricht: Die Schüler/innen haben mit ihrem Lehrer die Umgebung des Schulortes ergangen, erforscht und in einem Sandkasten dargestellt. Auf der Wandtafel werden die Ergebnisse dargestellt. Die Kinder sollen nun auf einer Landkarte die wichtigsten Berge, Hügel und Orte wiedererkennen. Der Lehrer erarbeitet mit ihnen u. a., was die Zahlen neben den Namensangaben der Berge bedeuten. Im Rahmen des Unterrichtsgesprächs fragt ein Schüler: Wie kann man Berge messen? Der Lehrer beantwortet diese Frage nicht, sondern lässt die Kinder Hypothesen entwickeln und überprüft diese mit ihnen im Sandkasten.

Wie deuten wir die Situation angesichts der oben formulierten theoretischen Zugänge und unter dem Fokus der kognitiven Aktivierung? Der eigentliche Unterrichtsgegenstand ist in dieser Szene die Landkarte, wie man sie liest und die Zeichen darauf deutet. Der Lehrer hat den Weg von der Wirklichkeit zur Landkarte mit Hilfe einer vorbereiteten Umgebung in methodisch-didaktischen Schritten aufgebaut. Mitten in der von ihm eingeplanten Erarbeitungsphase wird von einem Kind eine Frage gestellt, die eigentlich „nicht passt“, und damit ein Themenbereich eröffnet, der nicht vorgesehen war. Wie geht nun der Lehrer mit dieser „Krise“, mit dieser Irritation, um? Er schmettert die Frage nicht ab, sondern erkennt sie als „fruchtbaren Moment“ (Copei 1966/1930) für die Lernprozesse der Kinder. Der Lehrer muss die Situation neu deuten. Voraussetzung dafür ist, dass er Fachwissen sowie fachdidaktisches Wissen hat, ebenso allgemeines pädagogisches Wissen darüber, wie Kinder in diesem Alter denken und was sie in der Lage zu erfassen sind. Der Lehrer verlässt – durch die Situation hervorgerufen – die bekannten Routinen seiner Vorbereitung und muss eine neue Rahmung finden. Eine Möglichkeit wäre, die Frage selbst zu beantworten und Erläuterungen zu geben. Das ginge sehr schnell und unterbräche den geplanten Unterrichtsverlauf nur für wenige Minuten. Eine der vielen anderen wäre es, die Frage an die Kinder weiter zu geben und sie als partizipationsfähige Ko-Konstrukteure von Unterricht und „gewiefte“ Hermeneuten ernst zu nehmen. Er entscheidet sich für Variante 2 und probiert diese aus. Es klappt und die Kinder entwickeln rege Phantasien, wie man Berge messen könnte. Die Situation verlangt, dass der Lehrer mit den Schüler/innen wieder „zurück geht“ zum Sandkasten. Er übersetzt die Zugänge der Kinder in sinnliche Greifbarkeit und evoziert dadurch weitere Überlegungen.

Fallbeispiel 2 (Schütte et al. 2005, S. 186–191).

Grundschule, vierte Schulstufe, Mathematik-Unterricht: Die Lehrerin fordert die Kinder zu einem „Kopfrechnen-Wettbewerb“ auf und schreibt dann QS als stummen Impuls an die Tafel. Einzelne Schüler/innen melden sich und flüstern der Lehrperson ihre vermutete Antwort ins Ohr. Drei Kinder dürfen dann ihre Antwort laut sagen: Quersumme. Drei weitere von der Lehrerin ausgewählte Kinder müssen das Wort laut wiederholen. Es herrscht Unklarheit, was weiter passiert, es wird unruhig, die Lehrerin wird ungehalten. Dennoch formuliert ein Kind dann seine Befindlichkeit: „Ich weiß aber nicht, was das ist.“ Andere Kinder stoßen nach: „Was ist überhaupt Quersumme?“ Die Lehrerin ruft einige Kinder auf, die Antworten versuchen, ist aber mit keiner zufrieden. Mit der Aussage „So und jetzt spann ich euch nicht länger auf die Folter“ beginnt sie eine Additionsaufgabe an die Tafel zu schreiben. Die Kinder sollen nun vom Ergebnis die Quersumme berechnen. Ein Schüler muss das vorzeigen, was ihm mit Hilfe der Lehrerin und durch Raten seiner Mitschüler/innen gelingt. Die Lehrerin schreibt Pluszeichen zwischen die einzelnen Ziffern und fordert zur Berechnung der Quersumme auf.

Wie lässt sich nun diese Szene auf Basis unserer theoretischen Überlegungen rekonstruieren? Die Lehrerin beginnt die Mathematikstunde mit einer Ankündigung (Kopfrechnen-Wettbewerb) und einem stummen Impuls (QS an der Tafel), wobei sich der Zusammenhang für die Schüler/innen nicht (sofort) erschließt. Der Ausdruck QS wird dann zunächst als „Quersumme“ identifiziert, doch die Bedeutung ist unklar. Einige Kinder haben den Mut nachzufragen. Von der Lehrerin wird dies als „Krise“, als Unterbrechung einer Routine, identifiziert, da sie – so ist dem genauen Transkript zu entnehmen – erwartet hätte, dass der Begriff bekannt ist. Sie muss daher von ihrem geplanten Vorgehen abweichen. Auch ihr stünden – wie dem Lehrer im Fallbeispiel 1– mehrere Optionen zur Verfügung, u. a. könnte sie den Begriff selbst erklären oder die Frage an die Kinder zurückgeben. Sie entschließt sich (zunächst) dazu, die Kinder um Deutungen des Begriffs zu fragen. Die Kinder beginnen nachzudenken. Vier dürfen ihre Vermutung sagen, die die Lehrerin sofort bewertet. Die Lehrerin ist offensichtlich unzufrieden, mit dem, was sie da hört, denn keine Antwort ist sachlich ganz richtig, und ändert daraufhin ihre Strategie mit dem Satz: „So und jetzt spann ich euch nicht länger auf die Folter.“ Sie entschließt sich für eine dritte Option und zeigt vor, was zu machen ist.

Was haben diese beiden Szenen gemeinsam, was trennt sie? Die Rekonstruktion des Ablaufs zeigt, dass in beiden Unterrichtssequenzen eine Irritation eingetreten ist. Das, was geplant war, wurde in der Interaktion mit den Kindern zu Fall gebracht: im Fallbeispiel 1 durch eine nicht-vorhersehbare Frage der Kinder, im Fallbeispiel 2 durch nicht-erwartetes Nicht-Wissen der Kinder. Die Situation ist überraschend, verlangt, dass rasch nach einer Lösung gesucht wird, um den Handlungsfluss aufrecht zu erhalten. Zunächst scheint es, dass beide Lehrpersonen das Potential dieser Krise erkennen. Sie lassen die Kinder Hypothesen formulieren und selbst Antworten auf die gestellten Fragen formulieren. Der weitere Verlauf unterscheidet sich grundlegend. Der Lehrer in Fallbeispiel 1 akzeptiert die „falschen“ Antworten und testet sie zusammen mit den Kindern auf ihre Tauglichkeit ab. Er gibt sein Fachwissen nicht preis, sondern nutzt es als „stille Basis“, auf der er mit den Kindern arbeitet und sie zu immer neuen Überlegungen anstiftet. Er nimmt sie mit ihren Fragen und Überlegungen ernst, akzeptiert dabei die Ungewissheit des Ausgangs des Unterrichts. Die Lehrerin hingegen vermittelt den Kindern ihre Unzufriedenheit mit den Antworten, indem sie diese gleich – auf der Basis ihres Fachwissens – bewertet. Nicht die Kinder überprüfen, ob ihre Antworten Sinn machen, sondern die Lehrerin tut das. Sie wird ungeduldig, möchte schnell zu einer Lösung kommen, der geplante Unterrichtsverlauf ist in Gefahr nicht umgesetzt werden zu können. Sie hält diese Unsicherheit nicht aus, bricht daher ab und zeigt den Kindern, was sie zu tun haben. Der Begriff wird letztlich nicht erklärt, sondern in einer Rechenoperation aufgelöst.

In beiden Fallbeispielen geht es um den Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit, die sich aus der Dynamik der Arbeitsbündnisse mit den Kindern ergibt (vgl. Oevermann 1996, Helsper und Hummrich 2008). Der Lehrer im Fallbeispiel 1 hält diese Ungewissheit aus, er überlässt den Kindern den weiteren Fortgang des Unterrichts und übergibt ihnen – zumindest für eine gewisse Zeit – die Autonomie für den Lernprozess. Die Lehrerin in Fallbeispiel 2 tut dies nicht, sie bricht ab und nennt die Lösung. Sie hat Angst, die Kontrolle über den Unterricht zu verlieren, entscheidet sich in dieser Unterrichtssequenz gegen die Autonomie der Kinder und für eine Präsentation einer fertigen Lösung, die von den Schülerinnen und Schülern auch ohne Wissen über den Begriff reproduziert werden kann (vgl. Schütte et al. 2005, S. 191).

In einem gegebenen schulischen Kontext werden die vorhandenen Strukturen von den beiden Lehrpersonen unterschiedlich wahrgenommen, aufgegriffen und genutzt. Die Taktung in 45 min.-Einheiten und die Vorgaben durch den Lehrplan sind strukturierende Vorgaben, die offensichtlich unterschiedlich gewertet und in der konkreten Handlung faktisch werden. Es ist uns klar, dass die beiden Sequenzen aus unterschiedlichen Zeiten stammen, in denen Schule und Unterricht jeweils anderen externen Steuerungsmechanismen und Druck ausgesetzt waren bzw. sind. So gab es 1930 weder Bildungsstandards noch Lernstanderhebungen, der Leistungsdruck für die Kinder war vermutlich deutlich geringer. Auch ist uns bewusst, dass in den originalen Texten die geschilderten Unterrichtsszenen einen je anderen Zweck erfüllen und von den jeweiligen Autoren und Autorinnen dementsprechend interpretiert werden. Dennoch zeigt sich in beiden Fallbeispielen eine bestimmende Professionslogik, die sich im Umgang mit strukturellen Antinomien manifestiert: dem Umgang mit Sicherheit und Unsicherheit, mit Routine und Kreativität, mit Autonomie und Heteronomie. Und dieser Umgang in einer ganz konkreten Situation ist nicht allein durch fachliches und fachdidaktisches Wissen zu erklären, sondern durch den situativen Kontext und die jeweilige Fähigkeit der Lehrperson, Routinen und Wissen kreativ zu wenden und für den Lernprozess der Kinder zu nutzen. Dazu bedarf es in der Situation schöpferischer Kreativität und Intuition, die wir als „situierte Kreativität“ begrifflich fassen. Diese ist an den Augenblick gebunden und stellt einen Entwurf ins Offene dar, allerdings nicht ex nihilo, sondern auf dem Hintergrund von verarbeiteten Erfahrungen, die mit und in ihrer (Miss)Erfolgsträchtigkeit gefühlsmäßig präsent sind. Intuition entsteht nicht automatisch, stellt auch keinen Automatismus dar, sondern ist eine (aus)bildbare Disposition auf Basis von durchgearbeiteten Erfahrungen, die situativ auf- und hervorgerufen und damit zum Einsatz gelangt. Bezogen auf das Beispiel heißt das: Der Lehrer setzt hier im Handlungsfluss ein erworbenes System qualitativer Unterscheidungskriterien zur Situationsdiagnose ein, das erlaubt Prozessmuster im Unterricht hinsichtlich ihrer potentiellen Verstehensintensität zu beurteilen und in ihrem Verlaufsprozess zu realisieren. Situationen, die sich als verstehensträchtig einschätzen ließen, sind solche, in denen die Schülerinnen und Schüler beginnen, in tastender sprachlicher Annäherung gemeinsam Wissen zu konstruieren.

Wir halten solche in unmittelbaren, diskreten Handlungsakten zum Ausdruck kommenden kognitiven Unterscheidungssysteme für empirisch untersuchungsbedürftig. Sie stellen eine Wissens- und Kompetenzform dar, die mit körperlich-evaluativen Resonanzen und Positionierungen verbunden ist, für einen wichtigen Konkretisierungsschritt einer auf verstehendes Lernen bezogenen Konzeption situierter Kreativität. Für den praktischen Handlungsprozess stellt diese eine Kompetenz und Wissensebene eigener Dignität dar, die auch theoretisch fundiert werden müsste.

3 Conclusion

Kehren wir zum Anfang unserer Ausführungen zurück und zu unserem Ansinnen, Brückenschläge zwischen den skizzierten Theoriefamilien herzustellen. Auf Basis unserer Überlegungen zeigen sich mehrere Verweisungen.

  1. 1.

    Die COACTIV-Studie entwirft eine durch Bildungsforschung gestützte Funktionsbestimmung des unterrichtlichen Kerns der Lehrertätigkeit, deren Überzeugungskraft sich in der Theorie und Forschung zur Lehrerprofessionalität wohl kaum jemand auf Dauer wird entziehen können. Ziel ist ein qualitätsvoller, verständnisintensiver Unterricht, der die Beschäftigung mit inhaltsspezifischen Lern- und Verstehensprozessen der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellt. Die Breite der dafür notwendigen Fähigkeiten und Voraussetzungen hinsichtlich der Facetten des Wissens, der Überzeugungen und der Selbstregulation wird eindrucksvoll repräsentiert. Und selbst wenn noch relativ offen ist, in welcher Legierung und unter welchen situationsspezifischen Bedingungen diese Wissenstypen jeweils optimal zur Geltung kommen, der Hauptfokus gilt auch im Weiteren konsequent dem Lernen der Schülerinnen und Schüler.

    1. 2.

      Angesichts der Analyse der COACTIV-Studie wird deutlich, dass die Diskussion um die Wege und Instrumente der Umsetzung von grundlegenden Erkenntnissen der Bildungs- und Unterrichtsforschung erst begonnen hat. Was unter Titeln wie „Transferforschung“, „Schulbegleitforschung“, „Implementationsforschung“ oder „didaktische Entwicklungsforschung“ firmiert, verweist auf das Problem, vom theoretisch-begrifflich gebündelten Wissen her eine Brücke zur Situationsspezifität des Lehrerhandelns zu schlagen. Die Unterschiede im theoretischen und praktischen Weltverhältnis müssen dabei ernst genommen werden.

    2. 3.

      Wir gehen hier in Anlehnung an die Theorie von Giddens und dem dort beschriebenen Verhältnis von „structure“ und „agency“ (Paseka et al. 2011) davon aus, dass die Fähigkeit zur situierten Kreativität und schöpferischen Intuition, die ja bei der Begleitung geistig-anregender Lernprozesse allemal gefordert ist, keine Kompetenz ist, die gleichsam als Qualität der Innenwelt bereitliegt. Situierte Kreativität wird vielmehr als Bestandteil von Handeln und geradezu als routinemäßig aus- und fortzubildende Fähigkeit verstanden (Joas 1996/1992). Sie wird „wirklich“ und „wirksam“ im Handlungsfluss, verweist dabei auf vergangene Erfahrungen und ist auf die Zukunft hin orientiert (vgl. Combe und Gebhard 2012, S. 51.).

    3. 4.

      Nicht zuletzt gilt es wie dargestellt, im Zwischenfeld von Grundlagenforschung und Praxis eine forschungsmethodisch variable Transferforschung zu intensivieren, deren Möglichkeiten des Zusammenspiels der je eigenen Kapazitäten von qualitativen und quantitativen Ansätzen angedeutet wurden. Hier können innovative fachlich gehaltvolle Lernsettings wie etwa der kognitiv-aktivierende Unterricht mit dem Studium von prozessualen Verlaufsformen und Praktiken sowie der Frage verbunden werden, ob und unter welchen typisierbaren Bedingungen und Konstellationen die Schülerinnen und Schüler persönlichkeitswirksam erreicht werden. Sich mit der Prozess- und Ergebnisqualität dieser Lernsettings auseinanderzusetzen, bedeutet professionstheoretisch, in der Bewältigung situativer Unsicherheit eine Gemeinsamkeit von Struktur- und Kompetenztheorie hervorzuheben, in der Lehrerinnen und Lehrer meist simultan mit in sich spannungsreichen und in ihrer Dynamik nicht durchzuplanenden Situationen umgehen müssen.