1 Selbstständigkeitsorientiertes Modellieren

Seit Jahrzehnten werden seitens der Fachdidaktik eine Vielzahl an formalen, pragmatischen, kulturbezogenen, motivationalen, pädagogischen und lernpsychologischen Gründen für die Behandlung von Modellierungsaufgaben im Mathematikunterricht genannt (vgl. u.a. Pollak 1979; de Lange 1989; Blum 1995). Allerdings scheint diese jahrelang vergeblich intendierte Bedeutsamkeit der unterrichtlichen Vermittlung von Modellierungskompetenz erst seit wenigen Jahren im deutschen Mathematikcurriculum realisiert zu werden. So erfreut sich kaum ein Thema des deutschen Mathematikunterrichts gegenwärtig sowohl in der fachdidaktischen Community als auch in der Bildungspolitik so großem Interesse wie das der Kompetenzorientierung (vgl. u.a. Niss 2003). Die Kompetenz realitätsbezogene Problemstellungen mathematisch zu bearbeiten – kurz als Modellierungskompetenz bezeichnet – wird dabei als zentral angesehen und soll von den Lernenden nun verstärkt erworben, in entsprechenden zentralen Prüfungen angewandt und damit einhergehend von den Lehrpersonen kompetent vermittelt werden.

1.1 Modellierungskompetenz

Werden unter dem Begriff Modellierungskompetenz zum Teil sehr unterschiedlich akzentuierte Konstrukte verstanden (vgl. u.a. Kaiser und Sriraman 2006), so kann im Sinne der drei Winterschen Grunderfahrungen (Winter 1995) insofern von einem gemeinsamen Kern gesprochen werden, weil all diesen Definitionen gemein ist, dass durch eine Auseinandersetzung mit mathematischem Modellieren allgemein ein Beitrag zum Verstehen und Erklären spezifischer „Teile der Welt“ erbracht wird. Der Prozess des Erklärens umfasst dabei sowohl eine deskriptive als auch eine normative Komponente, da die Mathematik zum einen über ein reichhaltiges Repertoire an Modellen verfügt, mit denen gewisse Phänomene (z.B. das Wachstum von Algen) beschrieben werden, zum anderen gewisse Intentionen bezüglich realer Sachverhalte (z.B. Wertungsverfahren bei Produkttests) definiert werden können (vgl. u.a. Blum 1996; Marxer und Wittmann 2009). Modelle bezeichnen dabei vereinfachte Darstellungsformen von Realsituationen, die in der Regel nur gewisse Teilaspekte dieser Situationen berücksichtigen (Henn 2002, S. 4f.), so dass die auf diese Weise beschriebenen realen Sachverhalte einer Bearbeitung zugänglich gemacht werden. Gemäß dieser Beschreibung von Modellen soll im Folgenden unter Modellieren die Fähigkeit zur erfolgreichen Bearbeitung solcher realitätsbezogener Aufgaben verstanden werden, bei denen die Verbindung außermathematischer und innermathematischer Inhalte im Vordergrund des Lösungsprozesses steht. Ein Beispiel für eine solche Aufgabe ist die in der vorliegenden Untersuchung verwendete Aufgabe Tanken (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Die Aufgabe Tanken

Der Bearbeitungsprozess solcher Modellierungsaufgaben wird häufig durch Kreislaufmodelle (vgl. Abb. 2) beschrieben, in denen der Lösungsprozess idealtypisch durch verschiedene Schritte bzw. Teilkompetenzen des Modellierens beschrieben wird.

  1. 1.

    Verstehen des Aufgabentextes und Konstruieren des Situationsmodells.

  2. 2.

    Bilden eines Realmodells durch Vereinfachen und Strukturieren der Situation.

  3. 3.

    Bilden eines mathematischen Modells durch Mathematisieren des Realmodells.

  4. 4.

    Die dem mathematischen Modell zugrunde liegende Aufgabenstellung lösen.

  5. 5.

    Interpretieren des mathematischen Resultats.

  6. 6.

    Validieren der realen Lösung.

  7. 7.

    Das Ergebnis – nach einem evtl. mehrfachen Durchlauf durch den Modellierungskreislauf – darlegen bzw. erklären.

Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei diesen Darstellungen um idealisierte Veranschaulichungen handelt und nur selten reale Lösungsprozesse tatsächlich exakt entlang eines linearen Verlaufs stattfinden. Der Wert solcher Prozessmodelle liegt für Lehrpersonen und Forscher vielmehr in dem diagnostisch relevanten Wissen, dass die darin beschriebenen Stationen in der Regel beim Modellieren irgendwann durchlaufen werden müssen. Insofern kann man bei Modellierungskompetenz von einer über die Summe der Einzelteile hinausgehenden komplexen Verbindung der im Kreislauf sichtbar werdenden Teilkompetenzen sprechen. Entsprechend ist die von Treilibs et al. (1980) hervorgehobene Bedeutung der einzelnen Teilkompetenz nur ein notwendiges, keinesfalls hinreichendes Kriterium für die erfolgreiche Lösung von Modellierungsaufgaben:

„The full range of these high level skills is needed if children are later to be able to use mathematics in tackling problems of concern to them. The weakest link in their modelling chain will set the limits on what they can do.“ (Treilibs et al. 1980, S. 4)

Abb. 2
figure 2

Modellierungskreislauf nach Blum und Leiss (2005)

1.2 Unterrichtliche Behandlung von Modellierungsaufgaben

Bei der angesichts der aktuellen bildungspolitischen Entwicklung nun dringend notwendigen Beantwortung der Frage, wie diese Teilkompetenzen denn zu erwerben bzw. zu vermitteln sind, werden sowohl in der Unterrichtspraxis als auch in der fachdidaktischen Forschung zahlreiche Desiderate deutlich. So ist die eingangs beschriebene zentrale Bedeutung von Modellierungskompetenz, trotz der Fülle an unterschiedlichen Argumenten für deren unterrichtliche Behandlung, in der Vergangenheit von einem Großteil der Lehrerschaft nicht immer gesehen worden (de Lange 1989, S. 198). Und auch heutzutage steht dieser verstärkten Anwendungsorientierung noch immer eine schulische Praxis gegenüber, in welcher Modellierungsaufgaben teilweise relativ einseitig als „Hilfsmittel“ für die Vermittlung innermathematischer Inhalte eingesetzt werden.Footnote 1

Zudem blieb diese langjährige Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis sowohl für die Entwicklung theoretischer Konzepte als auch für die Durchführung empirischer Untersuchungen, die auf eine adäquate unterrichtliche Behandlung von realitätsbezogenen Aufgaben abzielen, nicht ohne Folgen. Lediglich vereinzelt existieren Studien, die unterschiedliche Unterrichtsmethoden zur Behandlung von Modellierungsaufgaben analysieren (vgl. z.B. Tanner und Jones 1995) oder solche zu methodischen Spezifika wie etwa der Auswirkung des Einsatzes neuer Technologien, welche insbesondere bei komplexen Anwendungsaufgaben sinnvolle Handlungsmöglichkeiten zu bieten scheinen (vgl. z.B. Kadijevich 2004). Die von Blum und Niss (1991, S. 60ff.) aufgelisteten Ansätze curricularer Vermittlungsmöglichkeiten – von der gesonderten Thematisierung in einem extra Kurs bis hin zu einer fächerübergreifenden Behandlung – zeigen jedoch, wie groß der in weiten Teilen noch unerforschte schulische Handlungsspielraum zur Vermittlung von Modellierungskompetenz ist.Footnote 2

Folgerichtig bezeichnet Niss (2001) die Phase der verstärkten Auseinandersetzung in der Fachdidaktik mit dem Thema Modellieren seit Beginn der 1990er lediglich als proto-research-Phase. Publikationen wie etwa der Tagungsband der ICMI Study 14 (vgl. Blum et al. 2007), das ZDM-Themenheft zum Modellieren (vgl. Kaiser et al. 2006) oder das JMD-Sonderheft „empirical research on mathematical modelling“ (Biehler und Leiss 2010) zeigen, dass (inter)national der Übergang zu einer broad-research-Phase zumindest eingeleitet wurde. Der Tagungsband der ICMI Study 14 macht allerdings auch deutlich, dass bezüglich zahlreicher elementarer Fragen noch immer Forschungs- bzw. Erkenntnisdesiderate existieren. Insofern können die folgenden drei von Blum und Niss (1991, S. 62) vor fast 20 Jahren skizzierten zentralen Problembereiche beim Lehren und Lernen von Modellierungskompetenz weitestgehend immer noch als aktuelle Forschungsfragen angesehen werden:

  1. (1)

    Welche Arbeitsweisen bzw. Lernumgebungen sind für den Prozess des Modellierens förderlich?

  2. (2)

    Wie sollte das Verhältnis zwischen stärker selbstständigkeitsorientierten Schülerarbeitsphasen und eher von der Lehrperson kontrollierten Aktivitäten aussehen?

  3. (3)

    Welche Rollen sollte die Lehrperson in der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit Modellierungsaufgaben einnehmen?

Relativierend kann gesagt werden, dass sich – angeregt durch aktuelle pädagogisch-psychologisch orientierte Forschungsansätze speziell zu Lern-, Kognitions-, Handlungs-, Emotions-, Motivations- und Informationsverarbeitungstheorien (Zimmermann et al. 1996; vgl. u.a. Deci und Ryan 1985) – auf einem allgemeinen Niveau erste Antworten abzeichnen. De Corte (2007, S. 27) fasst diese wie folgt zusammen:

„The available research provides already fairly good support for the view that effective and worthwhile mathematics learning from instruction that aims at fostering adaptive competence in students is a constructive, self-regulated, situated, and collaborative process of knowledge building and skill acquisition.“

Steht in weiten Teilen noch der empirische Beleg für den Erfolg solcher selbstständigkeitsorientierten (kooperativen) Lernumgebungen aus,Footnote 3 so zeigt das folgende Kapitel, dass bezüglich der genauen Rolle, die eine Lehrperson in diesen Lehr-Lern-Arrangements einnehmen soll, noch viele Unklarheiten bestehen.

2 Adaptive Lehrerinterventionen in Phasen ko-konstruktiver Lernumgebungen

2.1 Selbstständigkeit vs. Instruktion

Sowohl innerhalb der Erziehungswissenschaft als auch innerhalb der Fachdidaktik wurde und wird kontrovers darüber diskutiert, welches Lehrverhalten adäquat für eine möglichst zielführende Vermittlung anvisierter Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern ist. Hoops (1998, S. 247) spricht in diesem Zusammenhang von einer teilweise rigiden Polarisierung in ein „objektivistisches“ und ein „konstruktivistisches“ Lager, die mit einer Dichotomisierung aller didaktischen Problembereiche einhergeht. So treten besonders in der selbstständigkeitsorientierten kooperativen Lösungsphase abhängig von der zugrunde liegenden Auffassung über Wesen und Wechselbeziehung von Lernen und Lehren diese scheinbaren Gegensätze eines instruktionellen und eines eher konstruktivistischen Vorgehens zu Tage. Abb. 3 aus einem der Standardwerke der Unterrichtsmethodik von Meyer (1993) verdeutlicht exemplarisch diesen Gegensatz.

Abb. 3
figure 3

Lehrerrolle in der ko-konstruktiven Lernsituation (Hilbert Meyer: Unterrichtsmethoden II: Praxisband, Cornelsen Verlag Scriptor, Berlin, 2010, 13. Auflage)

Die darin sichtbar werdende Auffassung über wünschenswertes Lehrerhandeln im Unterricht wird theoretisch u.a. durch das Konzept der Schlüsselqualifikationen (vgl. u.a. Klippert 1999) gestützt. Demnach werden Lernende bereits durch Aneignung gewisser überfachlicher Kompetenzen in die Lage versetzt, ihren fachspezifischen Lernprozess möglichst autonom gestalten zu können. Des Weiteren scheinen die Ergebnisse eines von Dann et al. (1999) geleiteten Forschungsprojekts zur Wirkung von Lehrerverhalten im Gruppenunterricht die Position einer extremen Zurückhaltung der Lehrperson empirisch zu stützen. Dabei zeigte sich, dass Lehrpersonen in Phasen der Gruppenarbeit nahezu ohne Situationsbezug „ständig partizipieren, kontrollieren und lenken“ und dies zu „einem negativen Zusammenhang zwischen Lehrerintervention und Arbeitsergebnissen“ (Fürst 1999, S. 144f.) führt. Hieraus folgern Diegritz et al. (1999, S. 346), dass „Lehrkräfte während der Gruppenarbeit möglichst wenig (d.h. selten, kurz, am besten gar nicht) intervenieren“ sollten. Sowohl das Konzept der Schlüsselqualifikationen als auch die empirisch basierten Schlussfolgerungen sind jedoch kritisch zu beurteilen.

Einerseits erscheint es problematisch, davon auszugehen, dass es sich bei Schlüsselqualifikationen „um beliebig mit Inhalten verknüpfbare Kompetenzen, um Fähigkeiten ‚an sich‘ [handelt], die sich demzufolge direkt erwerben bzw. an beliebigen Inhalten vermitteln lassen“ (Reusser 2001, S. 108). In einem ‚Novizenstadium‘ ist Lernen vielmehr durch domänspezifische Prozesse gekennzeichnet. Erst durch umfassende Anwendungen wird Wissen zu transferierbaren Erscheinungen. Weinert (1996a, S. 7f.) betont, dass bei einem solchen Vorgehen, welches Lernende zum Großteil alleine lässt, nicht nur Nichtkönnen droht, sondern auch, „dass es vor allem bei schwierigen Lernaufgaben ohne kompetente Steuerung und Unterstützung des Lernenden durch ‚Lehrende‘ zu Defiziten im systematischen Aufbau des Wissens, im Abstraktionsniveau der gelernten Informationen, in der Korrektheit der erworbenen Kenntnisse und im Erwerb effektiver Lernstrategien“ kommen kann.

Andererseits hat die Studie von Dann et al. (1999) anhand von Zustandsbeschreibungen gezeigt, was scheinbar inadäquate Lehrerinterventionen sind. Hieraus kann jedoch keineswegs geschlossen werden, dass Lehrerinterventionen in selbstständigkeitsorientierten Gruppenarbeitsphasen per se abzulehnen sind. Im Gegenteil kommen doch Meloth und Deering (1999) aufgrund qualitativer Analysen von Lehrer-Schüler-Gesprächen in Gruppenarbeitsphasen sogar zu dem Ergebnis, dass erfolgversprechende organisatorische, soziale oder inhaltliche Lehrerinstruktionen sogar den Charakter von „mini-lessons“ haben können. Dass Lehrpersonen in Phasen selbstständigkeitsorientierter Schülerarbeit keineswegs überflüssig, sondern sogar extrem gefordert sind, zeigen zudem die Ergebnisse aus dem Projekt „Eigenständiger Lerner“. So wird in diesem deutlich, dass die Lehrpersonen im Rahmen eines lernerzentrierten Unterrichts insbesondere die Möglichkeit haben, die Lernprozesse von Lernenden durch adaptive Lernhilfen individuell zu fördern und zu unterstützen (Zutavern 1995, S. 220).

2.2 Adaptive Lehrerinterventionen im Mathematikunterricht

Inwieweit eine Lehrperson es schafft, im Rahmen von selbstständigkeitsorientierten Arbeitsphasen ihren Schülerinnen und Schülern angemessene Hilfestellungen zu geben, hängt demzufolge weniger von der Länge und Anzahl der Lehrerimpulse ab, als vielmehr davon, inwiefern diese Impulse adaptiv sind. Dabei soll im Sinne Vygotsky (1978) unter Adaptivität die optimale Passung der Lehrerhandlungen in Bezug auf die individuellen, sozialen und kognitiven Voraussetzungen der Lernenden verstanden werden, um den Lernenden so das Erreichen der so genannten „zone of proximal development“ zu ermöglichen. Dies entspricht einer Sichtweise, die in der Tradition von Maria Montessoris Erziehungskonzeption „Hilf mir es selbst zu tun“ Anfang des 20. Jahrhunderts steht oder sich etwa auch in der von Aebli (1994) geäußerten Idee des „Prinzip[s] der minimalen Hilfe“ widerspiegelt – eine Idee, die in Teilen der Erziehungswissenschaft schon lange eingefordert wird und durch neuere empirische Erkenntnisse, z.B. die Scholastik-Studie (Weinert und Helmke 1996) sowie Untersuchungen von Hogan et al. (2000) und Beck et al. (2008), gestützt wird.

Mittels dieses theoretischen Konstrukts der adaptiven Lernhilfen als einem Typus spezieller Schülerunterstützung im Methodenrepertoire der Lehrperson wird somit angestrebt, den scheinbaren – allerdings für die unterrichtende Lehrperson durchaus konfliktauslösenden – Gegensatz zwischen direkter Instruktion und selbstständigem Arbeiten der Lernenden zu überbrücken. Dass diesem Konzept schon lange auch in der deutschsprachigen Mathematikdidaktik Beachtung geschenkt wird, zeigt der Blick in eine exemplarische Auswahl älterer und neuerer mathematikdidaktischer Werke.

  • Hole (1973, S. 122) empfiehlt Hilfestellungen, die auf einer „Stufenfolge von Impulsen [… basieren und …] immer direkter auf den Kern der Sache“ hinführen.

  • Walter (1985, S. 122) fordert Hilfen, die Kooperations- und Kommunikationsmöglichkeiten im Rahmen der individuellen Lerntätigkeiten fördern sollen.

  • Führer (1997, S. 31) unterscheidet „wenig und verstärkte Lehrerhilfe“.

  • Wittmann (2005, S. 7) spricht von einer Unterstützung der Lösungswege durch „individuelle Hinweise zur Ergänzung und Überarbeitung“ der Ansätze.

Nähere Erläuterungen dieses prinzipiell zurückhaltenden Lehrerverhaltens bleiben aus, so dass eher an der Oberflächenstruktur ansetzende, methodische Merkmale die Beschreibung der Aufgabenbearbeitungsphasen dominieren. Betrachtet man die wenigen nationalen und internationalen Arbeiten, die sich detaillierter mit der Thematik eines lernunterstützenden adaptiven Lehrerhandelns auseinandersetzen, so lassen sich drei Ansätze ausmachen, wie sich dem Konstrukt der Interventionskompetenz genähert wird:Footnote 4

  • Ein reformpädagogisch-ideologisch orientierter Ansatz, der postuliert, dass Lernende bei einer entsprechend gestalteten Lernumgebung ihre Lösungsprozesse weitestgehend selbst erfolgreich steuern können (Haag 2005; vgl. u.a. Loska 1995).

  • Ein empirisch-vergleichender Ansatz, bei dem in der Regel zwei Kategorien prozessbegleitender Lehrerinterventionen hinsichtlich ihrer durch Leistungstests gemessenen Lernfortschritte miteinander verglichen werden (vgl. u.a. Kramarski et al. 2002; Dekker und Elshout-Mohr 2004).

  • Ein empirisch-deskriptiver Ansatz, der versucht, aufgrund eines empirischen Zugangs lösungsprozessbegleitende Lehrerhandlungen möglichst detailliert zu beschreiben (vgl. u.a. Serrano 1996; Krammer 2009).

Ohne an dieser Stelle auf Details dieser Studien einzugehen, kann hierauf aufbauend ein zunächst fachunspezifisches Modell adaptiver Interventionsprozesse gewonnen werden (vgl. Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Allgemeiner Ablauf einer Lehrerintervention

Ausgehend von der zentralen Rolle von Modellierungsaufgaben in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion und aufbauend auf der sich über viele Jahre erstreckenden, kontrovers geführten theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit dem Einfluss „richtiger adaptiver Lehrerinterventionen“ in schulischen Lehr-Lern-Situationen, soll im Folgenden die daran anknüpfende, im Mittelpunkt des vorliegenden Artikels stehende Studie beschrieben werden.

3 Design der Studie

Ein wesentliches Ziel der vorliegenden Studie ist es, eine konzeptionelle Grundlage zur Beschreibung spezifischer Interventionen zu mathematischen Modellierungstätigkeiten sowie zum Einfluss von Lehrerinterventionen auf den Lösungsprozess bereichs- und problembezogen im Rahmen empirischer Analysen zu schaffen. Dementsprechend wurden Lehrerinterventionen in einer spezifischen Situation des Mathematikunterrichts detailliert untersucht. Die beiden zentralen, deskriptiv orientierten Fragestellungen hierbei waren:

  1. (1)

    Wie intervenieren mit Modellierungsaufgaben erfahrene (SINUS-)Lehrpersonen bei selbstständigkeitsorientierten Schülerlösungsprozessen im Unterricht?

  2. (2)

    Welchen Einfluss haben die unterrichtlichen Rahmenbedingungen wie z.B. der Zeitdruck und die simultane Betreuung mehrerer Lösungsprozesse auf das Interventionsverhalten von Lehrpersonen?

Aufgrund der noch relativ geringen Erkenntnisse bezüglich unterrichtlicher Lehrerinterventionen erschien eine qualitativ orientierte Fallstudie mit einem zunächst weniger verallgemeinerbaren, dafür aber stärker hypothesengenerierenden Ansatz als geeignete Forschungsmethode zur Untersuchung der aufgezeigten Fragestellungen. Abb. 5 beschreibt dabei den chronologischen Ablauf der gesamten Studie, welche, um die geplanten Mikroanalysen der Unterrichtsprozesse zu gewährleisten, vollständig videographiert wurde (vgl. u.a. Helmke 2009, S. 299ff & S. 340ff; Aufschnaiter und Welzel 2001).

Abb. 5
figure 5

Chronologischer Ablauf der Studie

Diese Zweiteilung in eine Labor- und eine Unterrichtsstudie ist damit begründet, dass zwar selbstständigkeitsorientierte Lehrerinterventionen im komplexen unterrichtlichen Kontext untersucht werden sollen, dass aber die zunächst in den (partiell artifiziellen, dafür aber bezüglich gewisser Störvariablen idealisierten) Lehr-Lern-Bedingungen der Laborsituation gewonnenen Erkenntnisse zur Beschreibung des Einflusses unterrichtlicher Rahmenbedingungen beitragen können (siehe Abschn. 4.2).

3.1 Die LaborstudieFootnote 5

Als Probanden für die vier Laborsitzungen wurden vier erfahrene SINUS-Lehrpersonen ausgewählt. Diese haben laut eigenen Aussagen regelmäßig Modellierungsaufgaben im Unterricht eingesetzt und verfügen somit über eine mindestens fünfjährige Erfahrung im unterrichtlichen Umgang mit Modellierungsaufgaben. Mit jeder der vier Lehrpersonen ist im Vorfeld ein Treffen durchgeführt worden, bei dem sowohl über die eigenen Lösungen der Lehrpersonen als auch über den so genannten task space (Newell und Simon 1972) der Aufgabe Tanken detailliert gesprochen wurde. Die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler waren zum Zeitpunkt der Untersuchung im zweiten Halbjahr der 9. Jahrgangsstufe und stammen ebenfalls ausschließlich aus modellierungserfahrenen SINUS-Klassen. Die innermathematischen Inhalte der Tanken-Aufgabe sollten laut Auskunft ihrer Lehrpersonen allen Schülerinnen und Schülern bekannt sein, eine genauere Erhebung des Schülervorwissens ist jedoch nicht durchgeführt worden. Der Arbeitsauftrag der nicht zeitbegrenzten Laborsituation bestand in der ersten Phase für die Lernenden in der Bearbeitung der Aufgabe Tanken und für die jeweils anwesende Lehrperson in der Unterstützung der Lernenden entsprechend dem bereits erwähnten Motto Maria Montessoris „Hilf mir es selbst zu tun“. Detailliertere Handlungsanweisungen an die Lehrpersonen wurden bewusst nicht gegeben, um die Ausgestaltung dieser normativen Vorgabe der jeweiligen Expertise der Lehrpersonen zu überlassen. In der zweiten Phase im Anschluss an die Aufgabenbearbeitung wurden alle Probanden getrennt voneinander im Rahmen eines videogestützten stimulated recall (vgl. Kagan et al. 1963) zu ihrem lösungsprozessbezogenen Verhalten befragt.

3.2 Die Unterrichtsstudie

In der ein Jahr darauf folgenden Unterrichtsstudie wurden dieselben vier Lehrpersonen (im Folgenden mit LP 1–4 abgekürzt) der Laborstudie gebeten – diesmal mit den von ihnen selbst unterrichteten Klassen – die Aufgabe Tanken im Mathematikunterricht zu behandeln. So ergab es sich, dass eine Hauptschulklasse (LP 1) und drei Gymnasialklassen (LP 2–4) an der Studie teilnahmen. Als Vorgaben für die Betreuung der Lernenden während der Bearbeitung dieser Aufgabe erhielten auch hier die Lehrpersonen wieder die Aufforderung, möglichst selbstständigkeitsorientiert zu helfen. Sowohl aus inhaltlichen als auch aus untersuchungstechnischen Gründen wurden Gruppentische als Sitzordnung vorgegeben, da neben der Lehrperson selbst auch ein Gruppentisch mit vier Lernenden videographiert werden sollte, um im anschließend stattfindenden stimulated recall außer der Lehrperson auch zwei Lernende dieses videographierten Gruppentischs zu befragen.

3.3 Die Modellierungsaufgabe Tanken

Im Mittelpunkt der Labor- und Unterrichtsstudie stand die in Abschn. 1.1 vorgestellte Aufgabe Tanken. Diese Aufgabe wurde neben ihren inhaltlichen Qualitäten auch deswegen ausgewählt, da sie aufgrund ihres im hessischen SINUS-Abschlusstest bestätigten Schwierigkeitsgrades (durchschnittliche Lösungsquote 4,2 %) mit hoher Wahrscheinlichkeit Lehrerinterventionen im Lösungsprozess initiiert. Dementsprechend ist das Ziel des folgenden hinsichtlich der Aufgabe Tanken interpretierten Modellierungskreislauf (vgl. Abb. 6), sowohl potentielle Hürden im Lösungsprozess der Lernenden als auch die dadurch teilweise determinierten Inhaltsbereiche der Lehrerinterventionen überblicksartig aufzuzeigen.

Abb. 6
figure 6

Möglicher Modellierungskreislauf der Aufgabe Tanken

Anhand dieser Beschreibung wird deutlich, dass sich die zur Lösung der Aufgabe notwendigen so genannten Learning Sets (Weinert 1996b, S. 12) sowohl aus mathematischen Fähigkeiten (Modellieren, Termumformung, …) als auch aus inhaltlichem Weltwissen zusammensetzen. Da die Aufgabenstellung eine authentische als Tanktourismus bekannte Problemstellung thematisiert und nur unzureichend Informationen darüber vorhanden sind, werden im Rahmen des Lösungsprozesses elementare, für Neuntklässler allerdings nur bedingt vorhandene Kenntnisse über den Kontext „Tanken eines Autos“ benötigt (z.B. Verbrauch eines Autos). Dementsprechend sind sowohl aufgrund der Komplexität der Realsituation als auch aufgrund mangelnden Weltwissens insbesondere bei der Bildung des Realmodells Schwierigkeiten auf Seiten der Lernenden zu erwarten.

3.4 Die Auswertungsmethode

Als Auswertungsmethode für die erhobenen Daten wurde die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2003) verwendet, da diese zunächst weniger stark auf Theorieüberprüfung abzielt, als vielmehr „für solche Fragestellungen besonders geeignet erscheint, bei denen das Vorwissen gering ist und die Exploration im Vordergrund steht“ (Kuckartz 2005, S. 97f.). Das hierbei zugrundeliegende Vorgehen orientiert sich an dem inhaltsanalytischen Ablaufplan nach Mayring (2003, S. 54), wurde aber im Prozess immer wieder modifiziert und wie folgt an die Bedürfnisse der vorliegenden Studie angepasst:

  1. (1)

    Klärung des theoretischen Hintergrunds und der Fragestellung:

    siehe Abschn. 1 & 2 sowie Beginn des Abschn. 3 dieses Artikels.

  2. (2)

    Bestimmung des Ausgangsmaterials:

    Hier ist festzulegen, welche Daten die Grundlage einer späteren Auswertung bilden sollen. Für die vorliegende Studie bedeutet dies, dass lediglich die videographierten Aufgabenbearbeitungsphasen sowie die diesbezüglichen Interviewausschnitte systematisch ausgewertet werden, da ausschließlich hier lösungsprozessbezogene Lehrerinterventionen zu erwarten sind. Folglich wurden die entsprechenden Videopassagen transkribiert und für die Auswertung mit dem Computerprogramm Atlas.ti (vgl. Muhr 1998) aufbereitet.

  3. (3)

    Codierung der Daten:

    Im Zentrum einer qualitativen Inhaltsanalyse steht die Entwicklung und Anwendung eines auf die Fragestellung abgestimmten Kategoriensystems, mit welchem die verschriftlichten Daten codiert werden können. Die Konstruktion dieses Kategoriensystems geschah anhand eines Wechselspiels aus bestehenden Theorien (Subsumtion) und einer Analyse des der Studie zugrunde liegenden Datenmaterials (Rekonstruktion). Demgemäß wurden zunächst aufgrund des in Abschn. 2.2 beschriebenen, theoretischen Modells eines Interventionsprozesses die drei folgenden Hauptkategorien mit einem relativ hohen Abstraktionsgrad festgelegt:

    1. (1)

      Auslöser

    2. (2)

      Ebene

    3. (3)

      Absicht

    Die erste Hauptkategorie Auslöser lässt sich aus der Erkenntnis ableiten, dass jede Intervention eine (diagnostische) Grundlage haben muss, welche die Lehrperson veranlasst, in den Lösungsprozess einzugreifen. Die zweite Hauptkategorie Ebene orientiert sich an den drei Dimensionen des selbstständigen Lernens (kognitive, metakognitive und affektive Dimension (vgl. u.a. Brunstein und Spörer 2006) sowie an den organisatorischen Notwendigkeiten bei der Gestaltung von kooperativen Lernumgebungen. Im Zentrum der kognitiven Dimension steht dabei der Modellierungskreislauf (siehe Abschn. 1.1), innerhalb dessen sich ein Großteil der Lehrer- und Schülerhandlungen inhaltlich verorten lässt. Als dritte Hauptkategorie wurde die von der Lehrperson intendierte Absicht codiert, wobei diese im Kodierungsprozess nur schwer von der prozessbezogenen Wirkung der Intervention getrennt werden kann. Im Anschluss hieran wurden die teilweise theoretisch abgeleiteten Subkategorien im Verlauf der Datenanalyse konkretisiert bzw. weiter ausdifferenziert, so dass folgendes Kategorienschema entstanden ist (vgl. Abb. 7).

    Abb. 7
    figure 7

    Kategorien zur Beschreibung lösungsprozessbezogener Lehrerinterventionen

    Mithilfe dieses Kategoriensystems wurde jede Lehrerintervention bezüglich der Hauptkategorien dreifach codiert. D.h. dass z.B. eine Erklärung der Lehrperson zum Tankverbrauch, welche durch eine Schülerfrage ausgelöst wurde, den Code R1-In2-Dir1 (Responsiv_Schülerfrage – Inhaltlich_Strukturieren/Vereinfachen – DirekterHinweis_ ErklärungNennen) erhielt.

  4. (4)

    Qualitätsprüfung:

    Als zentrale Qualitätskriterien der Codierung bzw. des Codiermanuals wurden die semantische Qualität (qualitative Homogenität aller codierten Passagen eines Codes), die theoretische Konstruktvalidität (Passung des konstruierten Codierschemas zu bestehenden Instrumentarien), die Stabilität (Retest-Analyse bei nochmaliger Anwendung des Analyseinstruments durch denselben Codierer) sowie die Reproduzierbarkeit (Übereinstimmung zwischen zwei Codierern) überprüft. Dabei wurden so lange Modifikationen vorgenommen, bis eine ausreichende qualitative bzw. quantitative Erfüllung der Kriterien erreicht war (z.B. Übereinstimmungsmaß der Codierungen Cohens Kappa>0,8 (vgl. Cohen 1960)).

  5. (5)

    Interpretation der Daten:

    Bei der Interpretation der codierten Daten wurde die einzelne Lehrperson weniger als „typischer Stellvertreter einer Art, Gruppe oder Gattung“ (Kuckartz 2005, S. 224) angesehen, sondern vielmehr sollte die Analyse auf die Identifikation verallgemeinerbarer Handlungsstrukturen im Interventionsverhalten beim unterrichtlichen Modellieren abzielen. Gemäß dieser Zielvorgabe wurde eine Methode zur Auswertung und Interpretation verwendet, die vom Einzelfall abstrahiert und Gemeinsamkeiten herauszulösen versucht.

4 Deskriptive Befunde

In der folgenden Darstellung der Untersuchungsergebnisse steht entsprechend der oben beschriebenen Ziele weniger das unterrichtliche Interventionsverhalten der Einzellehrer im Mittelpunkt als vielmehr Gemeinsamkeiten, von denen man auf einem mittleren Allgemeinheitsniveau Aussagen zu unterrichtlichem Lehrerhandeln erhoffen kann.

4.1 Interventionsverhalten von Lehrpersonen im Unterricht

4.1.1 Formale Charakteristika

Zunächst sollen stichwortartig ausgewählte formale Charakteristika im Interventionsverhalten der untersuchten Lehrpersonen betrachtet werden, da diese bereits einen maßgeblich gestaltenden Einfluss auf das unterrichtliche Unterstützungsverhalten haben können:

  • In den Gruppenarbeitsphasen nehmen die Lehrpersonen relativ einheitlich durchschnittlich etwa alle 10 Sekunden eine Intervention vor (9,4 s–12,7 s).

  • Die Lehrpersonen beobachten im Durchschnitt 6 Sekunden das Geschehen, bevor sie intervenieren, wobei der Median bei allen vier Lehrpersonen bei 0 Sekunden liegt.

  • Die (durchschnittliche) Dauer einer Interventionsphase, also derjenigen Zeit, die eine Lehrperson intervenierend bei einer Schülergruppe verbringt, unterscheidet sich weniger stark zwischen den Lehrpersonen selbst (vgl. Abb. 8), als vielmehr innerhalb einer Stunde, so dass die Angabe eines Mittelwertes hier nicht sinnvoll erscheint.

    Abb. 8
    figure 8

    Dauer der Interventionsphasen pro Lehrperson (in Sekunden)

  • Betrachtet man die durchschnittliche Mathematiknote einer Gruppe als Indikator für deren Leistungsstärke, so scheint diese weder einen Einfluss auf die Anzahl der Interventionsphasen noch auf deren Länge zu haben. Diese Gleichbehandlung unterschiedlich leistungsstarker Tischgruppen begründen die Lehrpersonen im Interview folgendermaßen:

    1. Interview LP 4:

      „Also eigentlich von Tisch zu Tisch oder ich geh dann dahin wo die Schüler Probleme haben.“

  • Die Lehrpersonen versuchen somit, nach einem bestimmten Muster die einzelnen Tische abzulaufen, wobei dies zumeist auch mit einer Interventionsphase an jedem der Tische verbunden ist. Abgesehen davon, dass diese Muster durch Schülerfragen unterbrochen werden, ist auffallend, dass Lehrkräfte an denjenigen Tischen mit einer räumlich betrachteten mittleren Position im Klassenraum in allen vier Fällen die meisten Interventionsphasen (nicht die meisten Interventionen) aufweisen. Abb. 9 verdeutlicht dies aufgrund der Darstellbarkeit lediglich anhand der ersten zehn Interventionsphasen aus dem Unterricht der LP 4.

    Abb. 9
    figure 9

    Laufwege von LP 4 bei den ersten zehn Interventionsphasen

4.1.2 Auslöser von Interventionen

Analysiert man die Ursachen, die bei den vier Lehrpersonen für einen Eingriff in den unterrichtlichen Lösungsprozess der Lernenden verantwortlich sind, so fällt auf, dass ein Fehler im Lösungsprozess oder ein Stocken desselben überraschend selten als eigentlicher Auslöser einer Intervention anzusehen sind. Erstaunlich häufig sind dagegen als Auslöser von Interventionen die Rahmenbedingungen innerhalb der verschiedenen Arbeitsphasen, der Anspruch der Lehrpersonen an den Lösungsprozess der Lernenden sowie die auf diese invasiven Eingriffe der Lehrpersonen zurückgehenden Gesprächsketten (vgl. Abb. 10) anzusehen.

Abb. 10
figure 10

Auslöser von unterrichtlichen Lehrerinterventionen (in Prozent – LP 1–4)

Bei den Rahmenbedingungen als Auslöser von Interventionen handelt es sich ausschließlich um solche Situationen, in denen die Lernenden entweder den Aufschrieb der Lösung oder das Zeitmanagement innerhalb der Gruppe vernachlässigen.

  1. LP 2:

    (Legt Folien & Stifte hin) „Für euch auch möglichst übersichtlich aufschreiben!“

  2. LP 3:

    (Beobachtet die Gruppe) „Zeit behaltet ihr schon bisschen im Auge, ne!“

Dabei sind die Interventionen zum Aufschrieb der Schülerlösungen über die gesamte Zeit der Aufgabenbearbeitung verteilt, Interventionen zum Zeitmanagement setzen hingegen etwa erst im zweiten Teil des Lösungsprozesses ein. In der Regel handelt es sich jedoch in beiden Fällen lediglich um kurze Unterstützungsmaßnahmen durch die Lehrpersonen, die keine längeren Lehrer-Schüler-Gespräche zur Folge haben.

Im Gegensatz dazu verursachen – unabhängig von der Leistungsstärke der Schüler – Eingriffe, die auf den Anspruch der Lehrpersonen zurückgehen, zumeist längere Gespräche zwischen Lehrenden und Lernenden. Dies liegt darin begründet, dass die Ansprüche der Lehrkräfte komplexere Reaktionen der Lernenden hervorrufen, die zumeist wieder durch die Lehrperson kommentiert werden und die somit zu der Mehrzahl der in Abb. 10 dargestellten „Lehrer-Kette“-Interventionen führen. Inhaltlich können insbesondere drei verschiedene Ansprüche bei den Lehrpersonen rekonstruiert werden:

  1. 1.

    Forcierende Ansprüche

    Hierbei versuchen die Lehrpersonen, den Lösungsprozess voranzutreiben, obwohl es weder einen unmittelbar zeitlichen noch inhaltlichen Handlungsbedarf gibt. Vielmehr erscheint es, als ob die Lehrpersonen den Lösungsprozess beschleunigen bzw. ihn in eine ihnen zielführend erscheinende Richtung lenken wollen.

    1. z.B.

      LP 1: „Nun? Jetzt weiß ich, es gehen vierzig Liter in den Tank, jetzt kann es doch losgehen oder?“

  2. 2.

    Kontrollierende/informierende Ansprüche:

    Hinter diesen Interventionen steckt weniger die Absicht, eine aktuelle Schwierigkeit im Lösungsprozess der Lernenden zu diagnostizieren, als vielmehr das Ziel, sich zunächst mehr oder weniger spezifisch über deren Lösungsprozess zu informieren.

    1. z.B.

      LP 4: „Gut. Woher habt ihr die Angaben da mit den sieben Litern?“

  3. 3.

    Inhaltliche Ansprüche:

    Selbst, wenn der Lösungsprozess problemlos abläuft, kommt es vor, dass die Lehrpersonen noch weitere inhaltliche Impulse – zumeist zum realen Kontext der Aufgabe – geben. Diese Impulse werden jedoch nicht nur am Ende des Modellierungsprozesses zur Stimulierung weiterführender Überlegungen, sondern bereits im Verlauf eines Lösungsprozesses als Anregung gegeben. Dabei spielen die eigenen Ansichten der Lehrpersonen zur Bearbeitung der Aufgabe bzw. zum Kontext eher eine entscheidende Rolle als bewertende Kategorien wie „mathematisch richtig“ oder „mathematisch falsch“.

    1. z.B.

      LP 2: „Und dann wäre das nächste, was Ihr noch überlegen könntet: Kostet denn Autofahren nur den Sprit? Oder kostet das vielleicht noch mehr?“

      LP 2 im Interview: „Dass Autofahren mehr kostet als nur dies, was man an der Tankstelle bezahlt, das ist mir schon wichtig, weil das faktisch so ist und weil das bei allen Rechnungen immer, finde ich, schnell unter Tisch fällt.“

Neben diesen auf den Anspruch der Lehrpersonen zurückgehenden Interventionen gehen etwa genauso viele Hilfestellungen auf direkte Fragen seitens der Lernenden zurück. Dabei handelt es sich zwar auch um solche Schülerfragen, die eine allgemeine Bestätigung der bisherigen Vorgehensweise intendieren, die Mehrzahl dieser bezieht sich jedoch auf konkrete inhaltliche Schwierigkeiten der Lernenden im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Aufgabe Tanken, welche im folgenden Abschnitt inhaltlich näher beschrieben werden.

4.1.3 Ebenen von Interventionen

Bezüglich der Ebenen, auf die sich die Lehrerinterventionen beziehen, zeigt Abb. 11 deutlich, dass Hilfestellungen auf der konkreten Inhaltsebene dominieren, gefolgt von solchen zur Organisation des kooperativen Lösungsprozesses. Unterstützungsmaßnahmen auf der strategischen bzw. affektiven Ebene spielen hingegen bei allen vier Lehrpersonen eine deutlich untergeordnete Rolle.

Abb. 11
figure 11

Ebenen unterrichtlicher Lehrerinterventionen (in Prozent pro Lehrperson – die Beschriftung der x-Achse entspricht von links nach rechts den Codes In1-7, St1, Af1-4, Or1-3)

Die Interventionen zur Organisation thematisieren – evtl. bedingt durch die besondere Situation im videographierten Klassenraum – weniger Disziplinschwierigkeiten der Lernenden als vielmehr, wie die Bearbeitungsprozesse (z.B. LP 2: „Ich hatte aber gesagt, jeder soll erst mal für sich überlegen, ne?“) bzw. die Dokumentation/Präsentation der unterschiedlichen Gruppenlösungen zu gestallten sind (z.B. LP 1: „Hier drauf könnt ihr nachher eure Lösung irgendwie zu Papier bringen (zeigt auf das DINA3-Blatt)“). Verglichen mit den zahlreichen inhaltlichen Interventionen nehmen jedoch diese nur wenig Raum im Unterrichtsgeschehen ein.

Bei allen Lehrpersonen konzentriert sich ein Großteil der inhaltlichen Interventionen auf das Bilden des Realmodells. Dies ist jedoch nicht allein auf die Ansprüche der Lehrpersonen an ein adäquates Realmodell, sondern auch auf die auffällige Häufung von Schülerfragen zu diesem (60 % aller Fragen beziehen sich hierauf) zurückzuführen. Neben zahlreichen Fragen rund um den Aufgabenkontext „Tanktourismus“ (z.B. „Kann man Umweltaspekte berücksichtigen?“, „Hängt das von der Geschwindigkeit ab, mit der Herr Stein fährt?“) bereitet für viele Schülerinnen und Schüler vor allem das Treffen von Annahmen große Schwierigkeiten und dies nicht nur, weil die Lernenden teilweise nicht wissen, wie viel Liter Benzin ein Golf auf 100 km verbraucht. Es ist – trotz langjähriger SINUS-Erfahrungen der Lernenden – vor allem der Umstand, dass einige zur erfolgreichen Bearbeitung der Aufgabe notwendigen Angaben nicht direkt der Aufgabenstellung entnommen werden können, und dass dies oft ganze Schülergruppen in ihrem Lösungsprozess erheblich verunsichert. Folglich bedarf es, auch wenn das benötigte Kontextwissen durchaus vorhanden ist, zunächst des Eingriffs der Lehrperson, bevor die Lernenden ihr zum Realkontext vorhandenes Wissen für die vorliegenden Problemstellung zielführend aktivieren.

  1. Basti:

    „Ja das kommt ja drauf an wie viel er auf hundert verbraucht.“

  2. LP 2:

    „Gut. Schätzungen?“

  3. Basti:

    „Sieben.“

  4. LP 2:

    „Gut. Ist ne gute Schätzung.“

Diese Fokussierung auf inhaltliche Unterstützungsmaßnahmen wird durch zwei weitere prozessbezogene Aspekte verstärkt. So zeigt sich durch die Anhäufung von In-Validieren-Interventionen bei LP 2 und 3, dass insbesondere auch die Validierung des Lösungsprozesses und damit auch die Möglichkeit eines weiteren Durchlaufens des Modellierungskreislaufs als wesentliche Bestandteile des Modellierungsprozesses angesehen werden. LP 4 hat – für die Forscher in der Untersuchungssituation überraschend – sogar die Aufgabenstellung dahingehend verändert, dass berücksichtigt werden soll, ob Herr Stein Schüler, Rentner oder Chefarzt ist, um zu erreichen, dass die Lernenden nicht alleine eine einzige Lösung entwickeln. Diese vorgezogene Intervention führt im weiteren Lösungsprozess dazu, dass bei allen Schülerlösungen die Herrn Stein zur Verfügung stehende Zeit neben den Kosten als relevante Größe berücksichtigt wird. Auf Seiten der Lehrperson beziehen sich dementsprechend die relativ wenigen Interventionen zum Validieren auf diesen Aspekt; weitere werden von LP 4 nicht thematisiert.

Bemerkenswert ist, dass damit lediglich bei der LP 1, also derjenigen Lehrperson mit der Hauptschulklasse, keinerlei Interventionen zum Validieren festzustellen sind. Dies geht damit einher, dass in dieser Klasse nicht nur verhältnismäßig viele Hilfestellungen zum Bilden des Realmodells, sondern auch zum Bilden des mathematischen Modells gegeben werden. Es liegt die Interpretation nahe, dass die LP 1 bereits damit zufrieden ist, wenn von den Lernenden überhaupt eine Lösung gefunden wird. Weitere für die reale Problemstellung evtl. noch zu berücksichtigende Aspekte werden dann in einer sich an die Gruppenarbeitsphase anschließenden längeren Plenumsphase von der Lehrkraft selbst thematisiert.

  1. Interview LP 1:

    „ … und dann war es mir ein Anliegen, deshalb hab ich da diesen Anhang noch gemacht mit den Gesamtkosten für Autos, äh ja im Prinzip deutlich zu machen, dass es eigentlich ne Milchmädchenrechnung ist da hin und her zu fahren. Ja ganz abgesehen von irgendwelchen ökologischen Gedanken.“

4.1.4 Absicht bzw. Wirkung von Interventionen

Betrachtet man zunächst die vier Hauptkategorien der Absichten von Lehrerinterventionen – Diagnose, Bewertung, indirekte und direkte Hinweise (vgl. Abb. 12) –, so fällt auf, dass das zumeist positive Rückmelden, ob die Lernenden eine im Sinne der Lehrperson korrekte Handlung durchgeführt haben, über ein Drittel aller Interventionen bestimmt, dass mit je 23 % etwa genauso viele direkte wie indirekte Hinweise gegeben werden und dass ein Sechstel der Lehrerinterventionen darauf abzielen, den Lösungsprozess zu diagnostizieren.

Abb. 12
figure 12

Absichten unterrichtlicher Lehrerinterventionen (in Prozent – pro Lehrperson)

Inhaltlich können die unterrichtlichen Interventionen der vier Lehrpersonen bezüglich dieser Hauptkategorien folgendermaßen beschrieben werden:

  1. 1.

    Diagnostische Interventionen

    Interventionen dieser Kategorie werden ausnahmslos als Fragen an die Lernenden herangetragen. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl der Fälle um solche Interventionen, die primär die Lehrperson über den Arbeitsstand bzw. das Verständnis der Lernenden informieren sollen (LP 2: „Wie weit seid ihr denn?“). Das folgende Beispiel verdeutlicht aber auch, dass besonders beim Abschätzen nicht vorgegebener Größen die zunächst als diagnostisch zu bezeichnende Rückfrage zu einem Fortschritt im Lösungsprozess führen kann, da die Lernenden sich aufgrund dieser zu eigenen Schätzungen ermutigt sehen.

    1. Franz:

      „Wie viel der also verbraucht, wenn er wieder zurück fährt?“

    2. LP 1:

      „Genau wie viel er verbraucht. Und weißt Du was son Golf braucht an Benzin?“

    3. Franz:

      „Sechs oder sieben. …“

    Es erscheint bei diesem konkreten Beispiel naheliegend, dass diese Schülerreaktion von der Lehrperson tatsächlich intendiert ist. Insbesondere, da sich bei allen analysierten Stunden zeigt, dass die Lernenden – gleichsam einer unausgesprochenen sozialen Spielregel – häufig eine hinter der eigentlich diagnostischen Frage einer Lehrperson („Wieso hast du das so gerechnet?“) stehende Botschaft suchen („Da ist ein Fehler in deinem Rechenweg.“). Dass diese „Suche“ der Lernenden nicht selten erfolgreich ist, hängt wohl damit zusammen, dass Lehrpersonen dies als eine spezielle Form der minimalen Unterstützung einsetzen. Hierin zeigt sich besonders stark, wie die oberflächlich erscheinende Absicht und die tatsächliche Wirkung einer Intervention (bewusst) voneinander abweichen können und wie dieser Sachverhalt eine trennscharfe Codierung insbesondere zu den indirekten Interventionen (siehe Punkt 3) erschwert.

  2. 2.

    Bewertende Interventionen

    Bei allen vier Lehrpersonen stellen über ein Drittel der Lehrerinterventionen solche Aussagen dar, die den Bearbeitungsprozess der Lernenden bewerten. Besteht dabei prinzipiell die Möglichkeit, eine positive, negative oder bewusst neutrale Bewertung vorzunehmen, so zeigt sich eine klare Dominanz an positivem Feedback. Konkret reicht dies von nonverbalen Handlungen wie Nicken über kurze Äußerungen wie „Gut“ bis hin zu fast schon überschwänglichen Bewertungen wie „Ja das ist doch wunderbar“. Neutrales oder negatives Feedback tritt hingegen nur in weniger als 10 % aller bewertenden Lehreräußerungen auf. Dieser „Mangel“an neutraler bzw. negativer Rückmeldung durch die Lehrpersonen kann u.a. dadurch erklärt werden, dass die Lehrpersonen die Lernenden nur selten direkt auf ihre Fehler hinweisen, sondern dies z.B. durch diagnostische oder sokratische Fragen zu erreichen versuchen.

  3. 3.

    Indirekte Hinweise

    Mit je 41 % sind die indirekten Hinweise mit einschrittigem (Ind1) bzw. mehrschrittigem Problemschluss (Ind2) die beiden zentralen Interventionsformen, mit denen die Lehrpersonen versuchen die Lernenden indirekt zu unterstützen. Gemäß dem Codiermanual sollen mit diesen beiden Codes solche Lehreraussagen codiert werden, die den Lernenden nicht direkt die Lösung eines Problems im Lösungsprozess mitteilen, sondern von diesen noch einen (Ind1) bzw. mehrere (Ind2) selbstständige Gedankenschritte abverlangen. Das folgende Beispiel zeigt allerdings, welche Probleme sich insbesondere beim Einsatz von indirekten Hinweisen mit mehrschrittigem Problemschluss (Ind2) für die Lehrpersonen ergeben. So sind die Lernenden nur bedingt gewillt, die gegebenen minimalen Ind2-Impulse selbst weiterzuführen, und versuchen dementsprechend, die Lehrperson unmittelbar zu einem deutlicheren Ind1-Hinweis zu ermutigen:

    1. Caroline:

      „Wenn er zum Beispiel am einen Ende von Trier wohnt und die Tankstelle ist am andern Ende, dann ist ja auch noch mal ein, also ein Stück Weg ist net viel aber es ist auf jeden Fall schon mal was zu fahren.“

    2. LP 3:

      „Kann man berücksichtigen. Dann müsst Ihr das in Euern Rechnungen entsprechend einfließen lassen, in Euern Überlegungen, ne?“

    3. Vanessa:

      „Ja und wie machen wir das dann?“

    An dieser Stelle steht die Lehrperson vor der Wahl, die Lernenden bewusst zunächst selbstständig weiterarbeiten zu lassen oder aber direkt einen weiteren Hinweis zu geben. Ersteres wird relativ selten beobachtet, vielmehr versuchen die Lehrpersonen in der Regel, unmittelbar auf die Rückfragen der Schülerinnen und Schüler einzugehen. Häufig resultieren aus solchen oder ähnlichen Situationen Ind1-Hinweise der Lehrkräfte, die von den Lernenden weniger eigenständige Schritte erfordern, häufig eine Kette an Ind1-Hinweisen auslösen und schließlich zur Überwindung des Problems führen.

  4. 4.

    Direkte Hinweise

    Obwohl fehlende Sachinformationen ein zentrales Problem im Modellierungsprozess der Lernenden darstellen, geben die Lehrpersonen dieses nur äußerst selten als direkte Information an die Schülerinnen und Schüler weiter. Als Argument hierfür führen die Lehrpersonen in den anschließenden Interviews das Streben nach größtmöglicher Selbstständigkeit bei den Lernenden an. Entsprechend handelt es sich bei den Direktiven Interventionen zum einen um Begründungen der Lehrpersonen für primär inhaltliche Entscheidungen, an deren Entstehung die Lehrpersonen teilweise selbst beteiligt sind:

    1. LP 1:

      „Und dann denkt möglichst dran, dann steht Ihr in Trier, ne? Äh dann steht Ihr in Luxemburg, dann ist er noch nicht wieder zu Hause.“

    2. Nina:

      „Das Doppelte.“

    3. LP 1:

      „Na ist ja klar, der fährt, der fährt nach Luxemburg zum Tanken. Dann muss ich auch wieder Heim.“

    Zum anderen handelt es sich um direkte Arbeitsanweisungen, die sich auf das organisatorische Vorgehen bzw. das Aufschreiben der Lösung konzentrieren. Dass eine Lehrperson – gleichsam einem zusätzlichen Gruppenmitglied – auf direkte Art und Weise im Lösungsprozess aktiv wird, kommt so gut wie nie vor.

Führt man sich die Intention der Studie, nämlich die Analyse möglichst selbstständigkeitsorientierter Lehrerinterventionen, vor Augen, dann zeigen die im Vorangegangenen dargelegten Ergebnisse, dass ganz in diesem Sinne Problemen im Lösungsprozess fast nie direkt, sondern primär durch indirekte Hilfen (Ind1 bzw. Ind2) begegnet wird. Die folgende Grafik verdeutlicht allerdings, dass zumindest bezüglich der Anzahl zwischen diesen beiden Kategorien eine geringfügig unterschiedliche Schwerpunktsetzung von den vier Lehrpersonen vorgenommen wird (vgl. Abb. 13).

Abb. 13
figure 13

Indirekte Hilfestellungen der verschiedenen Lehrpersonen (in Prozent)

So gehen LP 1 und LP 2 relativ rasch zu Ind1-Hinweisen über bzw. starten häufig damit sogar den Interventionsprozess, wohingegen LP 3 und LP 4 durchaus auch während des Interventionsprozesses solche Hilfen geben oder sogar mit einem solch offenen Ind2-Impuls die Interventionsphase beenden. Letztlich zeigt sich allerdings, wie oben beschrieben, dass primär Ind1-Hinweise der Lehrpersonen zur Problemüberwindung bei den Lernenden beitragen. Im letzten Viertel der Gruppenarbeitsphase sind sogar fast kaum noch Ind2-Hinweise zu finden, was wohl insbesondere mit dem unterrichtlichen Zeitdruck zu tun hat, wie LP3 im Interview bestätigt:

  1. LP3:

    „Ich hätte sie vorher vielleicht mehr antreiben können, aber das ist nicht so meine Sache. Weil ich denke gerade bei so offenen Aufgaben brauchen die Schüler Zeit, um sich mit auseinander zu setzen. Sonst ist das so eine vordergründige Schülerorientierung auch. Entweder ich lasse ihnen die Zeit und dann hab ich halt hinten nicht mehr so viel Zeit…“

4.2 Interventionsverhalten unter Laborbedingungen

Es stellt sich die Frage, inwieweit das im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Interventionsverhalten durch evtl. problemgenerierende Rahmenbedingungen, wie sie im unterrichtlichen Kontext vorliegen (z.B. Zeitbeschränkung, Klassengröße etc.) beeinflusst wird. Beantwortet werden soll dies, indem die unterrichtlichen Ergebnisse mit den detailliert bei Leiss (2007) beschriebenen Charakteristika des Interventionsverhaltens derselben Lehrpersonen im Labor gegenübergestellt werden.

4.2.1 Einfluss auf die formalen Interventionscharakteristika

Auffallend bei der Gegenüberstellung der Labor- und der Unterrichtssituationen ist, dass die physische Präsenz im Lösungsprozess für jede einzelne Lehrperson in den beiden zu vergleichenden Lehr-Lern-Umgebungen sehr ähnlich war. Die Abb. 14 und 15 verdeutlichen, dass z.B. LP 1 sowohl im Labor als auch im Unterricht dazu neigt, sich physisch stark in die Gruppenarbeit einzubringen, wohingegen LP 2 versucht, eher physisch distanziert aufzutreten.

Abb. 14
figure 14

Physische Präsenz LP 1 – Unterricht & Labor

Abb. 15
figure 15

Physische Distanz LP 2 – Unterricht & Labor

Auch bezüglich der Frequenz der Interventionen (Labor: alle 9 Sekunden eine Intervention/ Unterricht: alle 10 Sekunden eine Intervention) und deren vermutlicher Unabhängigkeit von der Leistungsstärke der Lernenden besteht eine bemerkenswerte Ähnlichkeit im Unterstützungsverhalten der Lehrpersonen sowohl zwischen Labor und Unterricht als auch unter den verschiedenen Lehrpersonen.

4.2.2 Einfluss auf die inhaltlichen Interventionscharakteristika

Ähnlichkeiten im Interventionsverhalten der Lehrkräfte finden sich auch auf der qualitativ-inhaltlichen Ebene. So lassen sich die folgenden inhaltlichen Parallelen im Interventionsverhalten der Lehrpersonen zwischen Labor- und Unterrichtsstudie finden:

  • Weniger Schülerfehler oder akute Probleme im Lösungsprozess sind Auslöser von Interventionen, sondern vielmehr der eigene Anspruch der Lehrpersonen.

  • Der primäre Fokus der Interventionen wird auf den konkreten inhaltlichen Bereich gelegt – genauer auf das Bilden eines adäquaten Realmodells.

  • Die Validierung der Modellierungsergebnisse spielt bei allen Lehrpersonen eine große Rolle, wobei im Unterricht unterschiedliche Methoden gewählt werden, um dies zu thematisieren.

  • Strategische, affektive und organisatorische Interventionen werden in beiden Teilstudien kaum verwendet, wobei organisatorische Interventionen primär als direkte Anweisungen gegeben werden.

  • Indirekte Interventionen, die von den Lernenden noch mehrere eigene Schritte bis zur Überwindung einer Hürde verlangen (Ind2), werden so gut wie nie isoliert eingesetzt, sondern werden meistens zusätzlich flankiert von stärker stützenden Impulsen durch die Lehrpersonen.

  • Selbstständigkeitsorientierte Hilfen, die zur Überwindung von (potentiellen) Problemen beitragen, sind im wesentlichen Ind1-Hinweise, also solche, bei denen die Lernenden nur noch den unmittelbar nächsten Schritt bewältigen müssen.

Unterschiede im Interventionsverhalten innerhalb der Labor- und Unterrichtsstudie traten in den folgenden Bereichen auf:

  • Im Unterricht sind pro Zeiteinheit deutlich mehr Interventionen auszumachen, die diagnostische Absichten verfolgen, als im Labor, in welchem die Lehrpersonen den gesamten Lösungsprozess begleiten und somit durch teilnehmende Beobachtung dessen Fortgang diagnostizieren können.

  • Im Unterricht treten im Gegensatz zum Labor Ansprüche an die Darlegung der Lösung vermehrt erst in der 2. Hälfte des Lösungsprozesses auf. In der Phase davor wird der inhaltliche Anspruch vor den formalen gestellt.

    1. LP 4:

      „Also brauchste erst mal keine vollständigen Sätze zu schreiben, einfach son paar Argumente.“

  • Während im Labor generelle Fortschritte im Lösungsprozess der Schülerinnen und Schüler kommentiert werden, finden sich im Unterricht eher positive Rückmeldungen zu den unmittelbaren Folgehandlungen auf eine Lehrerintervention.

Stellt man angesichts dieser knappen Gegenüberstellung nun die Frage, inwieweit die Lehrpersonen ihr Interventionsverhalten an die Bedingungen im Labor anpassen bzw. inwieweit der Unterricht mit seinen Rahmenbedingungen evtl. ein gewisses Interventionsverhalten determiniert, so zeigt sich, dass die betrachteten Lehrpersonen ihr über Jahre hinweg erworbenes Repertoire nahezu unabhängig von Faktoren wie Klassengröße oder zeitliche Beschränkungen einzusetzen scheinen. Eine noch offene Frage hierbei ist allerdings, ob die vier Lehrpersonen aus der Überzeugung heraus, dass es sich unabhängig von der Situation um das in ihrem Sinne bestmögliche Interventionsverhalten handelt, agiert haben oder ob die Lehrpersonen nur eingeschränkt über ein situativ-flexibel einsetzbares Interventionsrepertoire, wie es für adaptive Hilfestellungen nötig ist, verfügen.

5 Fazit

Plakative Ergebnisse wie z.B., dass ein wie auch immer zu charakterisierender Interventionstyp III mit signifikant besseren Testleistungen der Lernenden verbunden ist, lassen sich aus dieser Studie nicht ableiten, waren aber auch so nie intendiert. Vielmehr ging es darum zu zeigen, wie eine Auswahl von solchen Mathematiklehrkräften ihre Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht selbstständigkeitsorientiert unterstützen, die der neuen Aufgabenkultur bzw. Kompetenzorientierung im Mathematikunterricht positiv gegenüber eingestellt sind und die über jahrelange Erfahrung mit dem Lehren und Lernen von Modellierungskompetenz oder, vorsichtiger formuliert, über Erfahrungen mit dem unterrichtlichen Umgang mit offeneren Aufgaben, wie sie im SINUS-Kontext verwendet wurden, verfügen.

Diese Positivselektion an untersuchten Lehrkräften mag zwar die Verallgemeinerbarkeit der Untersuchungsergebnisse einschränken, die gewonnen Erkenntnisse zeigen aber dadurch umso deutlicher, dass der Einsatz von adaptiven Hilfestellungen, wie sie prinzipiell von Maria Montessori bereits vor über 100 Jahren gefordert wurden, eine hochanspruchsvolle Aufgabe für die Lehrkräfte darstellt. Dabei zeigt der Vergleich zwischen Labor- und Unterrichtsstudie, dass das Geben von adaptiven Hilfestellungen nur in geringem Ausmaß durch unterrichtliche Rahmenbedingungen beeinflusst wird, da die beobachteten Unterschiede sich primär auf das der unterrichtlichen Oberflächenstruktur zuzuschreibende Vorgehen als auf die inhaltliche Ausgestaltung der minimalen Hilfestellungen beziehen. Gerade in der für diese Ausgestaltung der Lehrerinterventionen nötigen Unterscheidung zwischen Adaptivität und Minimalität der Lehrerunterstützung scheinen auf der konkreten unterrichtlichen Handlungsebene noch Schwierigkeiten zu liegen. Eine mögliche Ursache dafür mag in einem noch zu wenig differenziertem Repertoire an adäquaten Interventionen bestehen.

Entsprechend der nur teilweise mit dem fachdidaktischen Anspruch eines konstruktivistisch-selbstständigkeitsorientierten Mathematikunterrichts einhergehenden deskriptiven Befunde – wie etwa dem Anspruch der Lehrpersonen als dominanten Auslöser von Interventionen sowie dem zumeist kleinschrittigen inhaltlichen Vorgehen der Lehrpersonen zur Weiterführung der Schülerlösungsprozesse – können nur bedingt empirisch begründete Antworten auf die von Blum und Niss skizzierten Problemfelder bei der unterrichtlichen Vermittlung von Modellierungskompetenz (siehe Abschn. 1.2) abgeleitet werden. Insbesondere, da vielmehr die ursprünglich in der Studie intendierten adaptiven Hilfestellungen nicht nur den Lehrpersonen, sondern auch den Lernenden Probleme bereitet haben und da somit bei dem gezeigten, eher traditionellen Unterstützungsverhalten die Lösungsprozesse scheinbar reibungslos verliefen, stellt sich stärker denn je die Frage nach dem leistungsbezogenen Einfluss verschiedener Interventionsarten auf die Modellierungskompetenz der Lernenden. So zeigten zwar in der vorliegenden Untersuchung die Lernenden im Fragebogen bzw. in der FollowUp-Erhebung (siehe Abb. 5), dass sie auch drei Monate später noch hochmotiviert und in der Lage waren, weit über der im SINUS-Test (0 % Mittelwert Hauptschule – 7,5 % Mittelwert Gymnasium) festgestellten durchschnittlichen Lösungswahrscheinlichkeit eine Parallelaufgabe zur Tanken-Aufgabe zu lösen (70 % Mittelwert der vier Klassen). Um allerdings herauszufinden, inwieweit diese Leistungsfortschritte durch ein bestimmtes Interventionsverhalten der Lehrpersonen erklärt wird oder inwieweit insbesondere zur erfolgreichen Vermittlung mathematischer (Modellierungs-) Kompetenzen vielleicht noch eine Fülle anderer Faktoren herangezogen werden müssen, bedarf es weiterer Studien, die neben den qualitativen nun auch gewisse quantitative Aspekte untersuchen.

Der Wert der vorliegenden Studie besteht insofern – neben einer Vielzahl interessanter Detailergebnisse – vor allem auch darin, dass nicht nur ein für unterrichtliche Lehr-Lernprozesse geeignetes Instrumentarium zur Beschreibung von Lehrerinterventionen gewonnen werden konnte, sondern dass sich aus den Ergebnissen – in Verbindung mit erfolgversprechenden Ansätzen aus anderen Disziplinen wie etwa der pädagogischen Psychologie – Forschungsansätze für weitere Untersuchungen ableiten lassen. So stellt sich z.B. die Frage, inwiefern durch einen – bisher weitestgehend vernachlässigten – Einsatz modellierungsspezifischer lernstrategischer Interventionen die Modellierungskompetenz von Lernenden nachhaltig verbessert werden kann. Darüber hinaus gilt es aber auch die viel grundsätzlichere Frage zu beantworten, inwieweit das bei Modellierungsaufgaben gezeigte Lehrerverhalten und diesbezügliche lösungsprozessbezogene Auswirkungen auf andere Kompetenz- bzw. Inhaltsbereiche übertragbar sind.