Konzepte auf einer hohen Synthese-Ebene wie „Identität“ und „Kultur“ haben ein enormes Potential zur Verdinglichung und Substantialisierung (Mummendey 2002, S. 1). Durch die routinierte Verwendung solcher statischen und entmenschlichten Konzepte werden Prozesse und Wandlungen zustandsreduziert (Elias 2004, S. 15). Solche Zustandsreduktionen sind heutzutage nicht nur gängig im alltäglichen Sachhandeln vieler Menschen, sondern auch oft in den vermeintlich wissenschaftlichen Diskursen. Die Macht der Sprache gilt es dabei zu betonen. Denn die Begriffe haben nicht nur eine Kommunikations-, sondern auch eine Orientierungs- und Steuerungsfunktion (Elias 2001, S. 33–34).Footnote 1 Von daher hat die weiterhin vorherrschende Art der selektierten Gerichtetheit der Wahrnehmung durch verdinglichte und statische Kategorien enorme theoretische und praktische Konsequenzen. Dies wird beispielsweise deutlich in Problemwahrnehmungen und dazugehörigen Fragestellungen, wie „Gehört der Islam zu Deutschland?“ oder „Sind Islam und Demokratie vereinbar?“. Solche und ähnliche Weisen der Problem- bzw. Fragestellungen gehören längst zum dominanten „Überfremdungs“-Diskurs in DeutschlandFootnote 2 und den USA. Aufgrund der Neigung, soziale Prozesse in statischen und entmenschlichten Begrifflichkeiten wiederzugeben, werden beispielsweise dann „der Islam“ und „die Demokratie“ als scheinbar unwandelbare „Ordnungsformen“ begriffen, deren Vereinbarkeit „durch die Analyse ihrer jeweiligen normativen und ordnungspolitischen Grundlagen (negativ) beantwortet wird“ (Gholamasad 2007, S. 56–57). Hierbei wird die Kontinuität der Wandlungen von Menschen aufgrund von geänderten sozialen Positionen und Erfahrungen auf einen unveränderbaren Wesenskern reduziert. Da spricht man nicht von islamisch geprägten Menschen, die sich in einer demokratischen Gesellschaftsordnung integrieren können, sondern von der Beziehung zwischen zwei Dingen „dem Islam“ und „der Demokratie“. Diese Art von Problemstellungen hat daher weniger mit der komplexen Realität des menschlichen Lebens zu tun als mit den ideologisch-strategischen Grenzziehungen gegnerischer, oder sich als gegnerisch wahrnehmender Gruppen, die sich in einem Kampf um die Vorherrschaft und Definitionsmacht befinden. Das Konzept einer „Etablierten-Außenseiter-Figuration“ (Elias und Scotson 1993) bietet hingegen ein geeigneteres theoretisches Instrument um die komplexe Realität von Gruppenkonflikten zu betrachten und vor allem um diese in ihrer Dynamik im Zeitverlauf differenzierter zu analysieren. Dieser theoretische Zugang wird unten genauer erläutert.

In diesem Aufsatz wird gezeigt, dass die durch Huntington in den USA etablierten Vorstellungen von abgegrenzten, sich einander bekämpfenden „Kulturkreisen“ zu unhinterfragten Paradigmen wissenschaftlicher wie politischer Debatten geworden sind, wie es sich auch in der Diskussion um die Thesen und Analysen von Thilo Sarrazin in Deutschland zeigen lässt. Gleiches gilt für die interdependenten, strukturell ähnlichen Debatten vieler Islamisten. Die Vertreter beider Gruppen pochen auf klare Grenzziehungen zwischen ihren Mitgliedern und die Verteidigung der Grenzen bedingenden Unterschiede, die sie als wesenhaft, wertvoll und kaum bzw. nicht überwindbar wahrnehmen. Somit wird die Differenz innerhalb der eigenen sowie der gegnerischen Gruppe durch die Vereinheitlichung der beiden Gruppen stark unterdrückt (Hall 1994, S. 163).

Im Folgenden wird nur auf die Untersuchung der einen Seite dieses gefährlichen „Doppelbinderprozesses“Footnote 3 eingegangen. Es werden die Implikationen der Kulturbegriffe von Kulturalisten in den USA und Deutschland am Beispiel der Huntington- und Sarrazin-Debatten beleuchtet. Trotz ihren unterschiedlichen biografischen Werdegängen, fungierten beide Persönlichkeiten als Debattenführer um „Kultur“ und „Identität“ in ihren jeweiligen Ländern. Diese Ähnlichkeit wurde bei einigen rechtsorientierten Medien in Deutschland in einem positiven Sinne aufgegriffen:

Abgrenzung bis hin zur Ghettobildung, wie sie Huntington beschreibt, ist auch das Thema von Thilo Sarrazin. Man muss nur das Wort ‚spanisch‘ durch ‚türkisch‘ ersetzen, um die Austauschbarkeit der Situation in Teilen der USA und der Bundesrepublik zu erkennen. (Schwilk 2010).

Diese Konzepte sollen hier im Anschluss mit anderen dynamischeren, weniger dichotomen und mehr prozesshaften Begriffen gegenübergestellt werden.

1 Die Implikationen des Kulturbegriffs von Samuel Huntington

Im Jahr 1996 publizierte Huntington die Monographie „The Clash of Civilisations“ und fand weltweit große Beachtung. Er teilt die Welt in fünf verschiedene „Kulturkreise“ ein und weist zwar daraufhin, dass Kulturen sich im Laufe der Zeit verändern und vermischen, auf- und absteigen können (Huntington 1997, S. 63), diese Einsichten scheinen jedoch kaum Einfluss auf seine weitere Argumentation zu haben. Stattdessen werden mit grober Vereinfachung und Vereinheitlichung verschiedene „Kulturkreisen“ konstruiert, so wird beispielsweise Indien trotz seiner etwa 140 Mio. Muslimen als hinduistisch bezeichnet. Diese ungenaue Darstellung liefert Hinweise auf seine homogenisierende Arbeitsweise, die Antagonismen schafft und eine differenzierte Perspektive verhindert. Die „Kulturkreise“ als auch Begriffe wie „Westen“ werden dabei als Essentialismen behandelt.

Hauptmerkmale „westlicher Kultur“ seien demnach ein großer Einfluss der Klassischen Kultur, das Christentum, die Trennung von geistiger und weltlicher Macht, gesellschaftlicher Pluralismus und die Pluralität der Repräsentationsorgane „westlicher“ Gesellschaften.

2 Antagonismen zwischen islamischem und westlichem Kulturkreis

Im Rahmen einer weltumfassenden „Indigenisierung“Footnote 4 finde zugleich eine „Resurgenz des Islam“, statt. Diese habe im Gegensatz zur Protestantischen Reformation „fast jede muslimische Gesellschaft erfasst“ und berge dabei ein hohes Bedrohungspotenzial, denn die „Natur der islamischen Kultur“ weise ein „Unvermögen“ auf, welches den Weg zu Reformen und Veränderungen komplett versperre (Huntington 1997, S. 177).

Das hohe Bevölkerungswachstum gebe des Weiteren Grund zu der Annahme, dass diese rasch wachsenden Bevölkerungen dazu tendieren sich auszubreiten, ihr Territorium zu vergrößern und somit Druck auf andere Gesellschaften auszuüben, in denen das Bevölkerungswachstum stagniert oder sogar rückläufig ist. Das hohe muslimische Bevölkerungswachstum sei daher für mehr Konflikte in der Welt verantwortlich (Huntington 1997, S. 187). Dies stelle eine deutliche Bedrohung der „westlichen Zivilisation“ dar, der vereint entgegengetreten werden soll:

Im Kampf der Kulturen werden Europa und Amerika vereint marschieren müssen oder sie werden getrennt geschlagen. (Huntington 1997, S. 531).

Huntington spricht einerseits „dem Islam“, der von ihm als Essentialismus behandelt wird, jegliches Entwicklungspotential ab, betont zugleich den gefährdeten Status des „Westens“ und stilisiert das Verhältnis des westlichen und islamischen Kulturkreises zu einer seit 1400 Jahre weilenden Erbfeindschaft hoch. Zukünftige Konflikte zwischen „westlichen“ und „islamischen“ Kulturkreisen würden sich weniger um Gebietsfragen als um weitere interkulturelle Streitfragen der Waffenweiterverbreitung, Menschenrechte und Demokratie, Kontrolle der Ölquellen, Migration, des islamistischen Terrors und westlicher Intervention drehen (Huntington 1997, S. 339–340). Diese Aufzählung klingt allerdings eher nach Macht- und geopolitischen Interessenskonflikten als nach einem Antagonismus, der sich aus verschiedener „kultureller Verortung“ ergibt.

Das tiefere Problem für den Westen ist nicht der islamische Fundamentalismus. Das tiefere Problem ist der Islam, eine andere Kultur, deren Menschen von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt und von der Unterlegenheit ihrer Macht besessen sind. Das Problem für den Islam sind nicht die CIA oder das us-amerikanische Verteidigungsministerium. Das Problem ist der Westen, ein anderer Kulturkreis, dessen Menschen von der Universalität ihrer Kultur überzeugt sind und glauben, daß ihre überlegene, wenngleich schwindende Macht ihnen die Verpflichtung auferlegt, diese Kultur über die ganze Erde zu verbreiten. (Huntington 1997, S. 349–350).

Schwindende Hegemonie des „Westens“ auf der einen, ein neues Selbstbewusstsein und ein wachsender Universalitätsanspruch der „Muslime“ auf der anderen Seite, führen aus dieser Perspektive zwangsläufig zum Zusammenstoß dieser „Kulturkreise“.

3 Kritische Einwände gegen Huntingtons Kulturverständnis

Huntingtons Thesen und Argumentationswege wurden in der Folge von einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern entlang verschiedener Gesichtspunkte kritisch kommentiert. Stuart Hall übt Kritik an seinen „großen Metaerzählungen über Einheit und Identität“ (Hall 1999, S. 105). Den Vorstellungen kultureller Einheit setzen Hall und andere Autoren der „Postcolonial Studies“ das Konzept der „Hybridität“ entgegen. Hybridität bezieht sich auf die Tatsache, dass keine klaren Trennlinien zwischen vermeintlichen „Kulturen“ existieren und dass sie daher nicht als getrennte Essentialismen betrachtet werden können, wie dies bei Huntington der Fall ist, sondern notwendig „unrein“, vermischt – „hybride“ sind. Mit dem Kolonialismus und der daraus resultierenden gesteigerten Mobilität sei Hybridität zum allgemeinen Charakteristikum von allen menschlichen Gesellschaften geworden. Aus „logischen Gesichtspunkten“ stellt sich die Frage, ob die Rede von Hybridität im Sinne von Unreinheit nicht eine ursprüngliche Reinheit impliziert. Hall erkennt dieses theoretische Problem an und verweist darauf, dass er Hybridität nicht als dialektisches Werkzeug begreift, sondern als eine „polemische Metapher“, als „störende Kraft alter Essentialismen“ (Hall 1999, S. 107). Überfremdungsängste, Rassismus und Fundamentalismus speisen sich demnach aus der Illusion, Kulturen hätten eine ursprüngliche, natürliche Einheit (Hall 1994, S. 217).

Huntingtons Kulturbegriff basiert nach Thomas Meyer auf zwei Voraussetzungen, die im höchsten Maße rechtfertigungsbedürftig sind. Zum einen die „Herdersche Kugeltheorie der Kultur“, diese geht von der vollkommenen Geschlossenheit „kultureller“ Einheiten aus, wobei kulturübergreifende Begegnungen konzeptionell unter dem Aspekt der Fremdheit und des Zusammenstoßes gefasst werden. Zum anderen die „Parsonschen Wertetheorie der Kultur“, welche „Kultur“ als Ausdruck grundlegender Werte versteht, diese bildeten das „Sinnzentrum von Kulturen“, die daher auch die Ursache für die Unterschiede derselben bilden würden (Meyer 1998, S. 66). Laut Meyer nimmt Huntington an:

(…) dass jede der von ihm herausgestellten großen Kulturen durch eine allein ihr eigentümliche Ausprägung der Grundwerte ihr Profil erhält und dadurch in Gegensatz zu den anderen Kulturen gerät. (Meyer 1998, S. 67).

Der Religions‑, Geschichts-, und Politikwissenschaftler Gazi Çağlar bezeichnet das Zivilisationsparadigma Huntingtons als „phantastisch-heroisches Geschichtskonstrukt“, dessen Hauptfunktion die Schaffung von Feindbildern sei. Nach Ende des Kalten Krieges bräuchte der Westen ein solches Feindbild, um sich seiner selbst zu vergewissern. Huntingtons Zivilisationsverständnis basiert unter anderem auf dem Paradigma vom Gegensatz zwischen Religion und Moderne (Çağlar 2002, S. 146), der auch in aktuellen Diskursen gerne bemüht wird. Çağlar weist unter anderem darauf hin, dass „christliches“, vor allem protestantisches Missionartum und moderner Kapitalismus während der imperialistischen Besetzung osmanischer Länder Hand in Hand gingen. Anstatt Säkularisierung im Osmanischen Reich zu begrüßen und zu unterstützen, wie es dem modernen Ideal entsprochen hätte, sei jeder Staat bemüht gewesen, die eigene Konfession zu stärken und ihren Einfluss auf die osmanische Regierung zu steigern (Çağlar 2002, S. 36). Damit relativiert Çağlar die verallgemeinernde Behauptung Huntingtons, „westliche Kultur“ sei „immer säkular“ gewesen (Huntington 1997, S. 100).

In letzter Konsequenz bewertete Çağlar das Zivilisationsparadigma Huntingtons als wissenschaftlich untragbar und sieht in ihm das Erbe des cartesianischen Weltbildes, da letztlich ein abstrakter Universalismus konstruiert wird, um einen Herrschaftsanspruch zu dem wiederum konstruierten Gegensatz zu erheben (Çağlar 2002, S. 147). Die Grundbegriffe des Paradigmas vom „Kampf der Kulturen“ sind keine wissenschaftlichen, sondern mythische Begriffe (Çağlar 2002, S. 146). Im Banne zyklischer Geschichtsphilosophien würden dabei Begriffe wie „Zivilisationen“ oder „Kultur“ verdinglicht „naturalisiert“ und fast biologischen Lebewesen gleichgestellt (Çağlar 2002, S. 122).

In Bezug auf das Verhältnis von „Kultur“ und „Identität“ wurde kritisiert, dass Huntington „Identität“ mit kultureller/religiöser Identität gleichsetzt. Man könnte annehmen, es erwächst aber gerade aus der sogenannten Moderne eine unendliche Fülle an möglichen Identitäten und eine relative Autonomie des Menschen bestehe gerade darin, diese mehr oder weniger frei zu wählen (Sen 2007, S. 26). In Huntingtons Sichtweise treten hingegen alle anderen möglichen Klassifikationen, wie Bildungsgrad, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, politische Einstellung, Beruf etc., die ihrerseits identitätsstiftend seien können und auf unterschiedlichen Machtchancen (Elias und Scotson 1993) basieren, notwendig in den Hintergrund. Ein weiterer negativer Aspekt der Gleichsetzung ist laut Sen, dass dadurch Moralvorstellungen religiöser Autoritäten generell in ihrer gesellschaftlichen Geltung überhöht würden:

(…) obwohl sehr viele Menschen, die zufällig muslimischer Religion sind, mit dem was der eine oder andere Mullah verkündet, überhaupt nicht einverstanden sind. (Sen 2007, S. 28).

Die Gefahr der Thesen Huntingtons zur „self-fulfilling-prophecy“ zu werden, sehen die Autoren Thomas Mohrs und Sri Kuhnt-Saptodewo, die Huntington nicht nur als Wissenschaftler begreifen, sondern auch als Mitglied einer weltweiten „policy making elite“. Sie befürchteten, dass Menschen, vor allem solche, die ebenfalls zu der besagten „policy making elite“ gehören, seine Prophezeiung für die Realität halten und demzufolge von der Unausweichlichkeit einer Konfrontation von Kulturen (Mohrs und Kuhnt-Saptodewo 2000, S. 17) ausgehen. Dann bestünde die Möglichkeit, dass diese Akteure sich darauf im entsprechenden Maße vorbereiten, und sich in Folge dessen in homogenere „Wir“-Gemeinschaften zurückziehen, die sich immer schärfer gegen andere „Wir“-Gemeinschaften abgrenzen. Dies führt nach ihrer Einschätzung genau zu dem, was auch nach Huntington unbedingt verhindert werden soll, und zwar, die Wahrscheinlichkeit eines globalen „clash of zivilisations“ (Mohrs und Kuhnt-Saptodewo 2000, S. 17).

Die amerikanische Außenpolitik, insbesondere in der Bush-Ära war zum Teil durchdrungen und gesteuert von solchen phantasiegesättigten Selbst- und Feindbildern. Die damals gängigen pauschalen Bezeichnungen, wie „die Achse des Bösen“, „die Schurkenstaaten“ und viele andere verwandte Begriffe identifizierten dabei die „Sie-Gruppe“ der Muslime als aggressive Bedrohung. Auf der Seite islamischer Fundamentalisten, welche die Attentate des 11. September 2001 als Schlag gegen „den Westen“ postulierten, wurde die Vorstellung vom „Kampf der Kulturen“ ebenso aufgenommen. Auf westlicher Seite folgte die aus „Angst vor islamischen Terrorismus“ bis heute andauernde Verschärfung der Sicherheitspolitik und vor allem die kriegerischen Interventionen im Irak und Afghanistan. Diese können als Teile einer solchen „Herbeiführung“ des Konflikts betrachtet werden. Das aktuell geplante „Einreiseverbot“ in die USA von zuerst 7 und später 6 mehrheitlich muslimischen Ländern ist unter anderem vor dem Hintergrund dieses Diskurses zu interpretieren.

Die hier eingenommene Perspektive verweist auf die Möglichkeit der Politisierung und damit Instrumentalisierung „kultureller Identität“. Aus heutiger Sicht, rund 20 Jahre nachdem Huntingtons Thesen Verbreitung fanden, lässt sich konstatieren, dass „Kulturkonflikte“ bzw. Konflikte, die als kulturell interpretiert werden, weltweit eine große Rolle spielen. Huntingtons Werk kann als Element einer Politisierung aufgefasst werden und spiegelt geopolitische Interessen wider, die sich aus den politischen Umwälzungen der 1990er-Jahre ergeben. Wie auch der Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge konstatiert:

Daß sich (Sub)kulturen in vielfältiger Art überlappen, räumt Huntington zwar ein, aber daß sie sich regelrecht durchdringen und wechselseitig befruchten, unterschlägt er. Hier zeigen sich die Nachteile eines statischen Kulturbegriffs, wonach Zivilisationen einen Prozeß der mentalen und materiellen Ab- bzw. Ausgrenzung konstituieren. (Butterwegge 1999, S. 36).

Huntington vertauscht damit Ursache und Wirkung von Konflikten und erhebt kulturelle Unterschiede zu Konfliktauslösern, obwohl diese vor allem im Nachhinein zur Legitimation ökonomischer, politischer und sozialer Konflikte konstruiert würden. „Kultur“ sei daher nicht die „Quelle“, sondern der „Austragungsort“ von Konflikten (Butterwegge 1999, S. 38). Da kulturelle Verständigung laut Huntington unmöglich ist, bleibt als unausgesprochene Option die gewalttätige Auseinandersetzung, um die westliche Macht zu erhalten.

Insgesamt lassen sich in der Kritik an Huntingtons Kulturkampfparadigma zusammenfassend folgende Punkte festmachen: 1 – Die Homogenisierung von Kulturen sowie die Behauptung fundamentaler Differenzen zwischen diesen „Kulturen“. 2 – Eine Essentialisierung, Verdinglichung und Entmenschlichung von Realitäten in Gestalt von Begriffen wie „der Westen“, „der Islam“ etc. Dabei behindert die dichotome Sprache die Möglichkeit Wandlung nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb dieser vermeintlichen Antipoden zu erkennen. Die Reduktion der Realität auf das, was wir symbolisch „Identität“ nennen, das Reduzieren dieser „Identität“ auf religiöse Komponenten sowie die normative Bewertung von „Kulturen“ können als weitere Kritikpunkte an Huntingtons Thesen festgehalten werden.Footnote 5

4 Kulturalisierung von sozialen Konflikten in Deutschland

Institutionen wie die deutsche Islamkonferenz und viele Debatten um „den Islam“ zeigen, dass dieses Paradigma auch von europäischen Ländern gesetzlich/institutionell aufgegriffen wurde und wird. Das „Türkenproblem“ (Treibel 2011, S. 217) in Deutschland wird im Laufe der 1990er-Jahre zum „Problem Islam“. Mit der Bezeichnung „der Islam“ reduziert man die komplexe und teilweise widersprüchliche Welt der in Deutschland lebenden Muslime auf eine monolithische Sache. Die Tatsache, dass es um Menschen geht, die verschiedene Lesarten und Interpretationen von ihren Traditionen haben, wird dabei komplett ausgeblendet. Mittlerweile ist das Sprechen über „den Islam“ als die Hauptursache vieler Integrationsprobleme nicht nur in den bekannten Talk-Shows gang und gäbe, sondern auch in den pseudowissenschaftlichen Diskursen (Abdel-Samad 2010; Kelek 2012; Ateş 2007; Broder 2007).

5 Sarrazin-Debatte, die Etablierung des Huntingtonschen Kulturbegriffs

Thilo Sarrazin hat mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ im Jahr 2010 mit rund 1,5 Mio. verkauften Exemplaren nicht nur einen der größten kommerziellen Bucherfolge in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gefeiert (Handelsblatt 21.05.2012), sondern hat in der deutschen Politik und Öffentlichkeit für viel Wirbel und Kontroversen gesorgt. Am meisten stießen sich die Kritiker Sarrazins an seinen Ausführungen zur Genetik verschiedener „Volksgruppen“ und den möglichen Auswirkungen auf ihre Intelligenz und Verhalten. Aus historischen Gründen wird das Heranziehen von biologischen Erklärungen grade in Deutschland als verwerflich angesehen und der Tabubruch von Seiten Sarrazins schlechthin zum Grund für die generelle Ablehnung seiner Thesen erklärt. Problematisch ist, dass neben der Genetik sich ein anderes Erklärungsmuster, wie selbstverständlich und häufig unhinterfragt, in die Unterfütterung seiner Thesen und vor allem auch in ihre Rezeptionen eingeschlichen hat. Das Paradigma einer Antinomie von „deutscher“ und „muslimischer“ „Kultur“ wie Huntington es vorzeichnete. Sarrazin sieht zusammenfassend „die deutsche Kultur“ durch die Immigration von Muslimen als gefährdet an:

Wenn wir den Zuzug nicht steuern, lassen wir letztlich eine Veränderung unser Kultur, unserer Zivilisation und unseres Volkscharakters in eine Richtung zu, die wir gar nicht wünschen.“ (Sarrazin 2010, S. 330)

Zwar verweist Sarrazin bei seiner Argumentation nicht auf die Thesen Huntingtons, trotzdem ist das Kulturkampfparadigma allgegenwärtig in seinen Darstellungen und Schlussfolgerungen. Das Erklärungsmuster „Kultur“ bzw. „kulturelle Differenzen“ scheint rund 15 Jahre nach dem Erscheinen von „Kampf der Kulturen“ und vor allem nach dem 11. September 2001 so sehr zum Mainstream geworden sind, dass Verweise auf seinen bedeutendsten Repräsentanten als gar nicht mehr notwendig angesehen werden. Aufgrund seiner Prominenz wird die Evidenz dieses Argumentationsmusters kaum in Frage gestellt. Laut Paul Spickard in seinem neuen Buch „Race in Mind“, haben sowohl Sarrazin als auch Huntington ähnlich zu weiteren Autoren wie Dinesh D’Souza und Thomas Sowell für dasselbe Ziel, den durch den Nationalsozialismus negativ konnotierten Begriff „Rasse“ einfach durch den positiv konnotierten Begriff „Kultur“ ersetzt (Spickard 2015, S. 108).

Sarrazin geht analog zu Huntington von einer höheren Fertilität von Muslimen aus. Entgegen anderer sozialwissenschaftlicher Befunde behauptet er, diese bliebe „dauerhaft höher als die der autochthonen Bevölkerung“ (Sarrazin 2010, S. 259). Er sieht dadurch die Gefahr, dass der deutsche Staat und die deutsche Gesellschaft im Laufe weniger Generationen von den Migranten übernommen würde (Sarrazin 2010, S. 259). Er behauptet weiter, Zuwanderungs- und Integrationsproblematik gäbe es in Deutschland nur mit denjenigen Migranten, die den muslimischen Glauben teilen (Sarrazin 2010, S. 260). Weit ausgeprägter als andere Zuwanderungsgruppen (Muslime als Gruppe werden bei Sarrazin anders als die anderen Minderheiten in Deutschland nicht nach Nationalitäten differenziert) hätten „Muslime“ sowohl eine unterdurchschnittliche Beteiligung am Arbeitsmarkt als auch unterdurchschnittliche Erfolge im Bildungswesen und eine überdurchschnittliche Quote von Transferleistungsempfängern sowie eine überdurchschnittliche Beteiligung an der Gewaltkriminalität. Als Gründe nennt er unter anderem eine „starke Fixierung auf die heimatliche Kultur“ (Sarrazin 2010, S. 262). Als weitere Merkmale muslimischer Einwanderer und ihrer Nachkommen nennt Sarrazin: „räumliche Segregation mit der Tendenz zur Bildung von Parallelgesellschaften“, „überdurchschnittliche Religiosität mit wachsender Tendenz zu traditionalen beziehungsweise fundamentalistischen Strömungen des Islam“, „überdurchschnittliche Kriminalität, von der einfachen Gewaltkriminalität auf der Straße, bis hin zur Teilnahme an terroristischen Aktivitäten“ (Sarrazin 2010, S. 264–265). Die Reflexion über reale Macht- und Positionierungschancen muslimischer Einwanderer spart sich Sarrazin in seiner Analyse. Tatsachen, wie der Ausschluss eines großen Teils der eingewanderten Muslime von Privilegien wie der deutschen Staatsbürgerschaft, der aufgrund von Gastarbeiter- und Flüchtlingsstatus zustande kam, werden nicht thematisiert. Diese hatten allerdings negative Auswirkungen auf politische Partizipationsmöglichkeiten, Zugang zum Arbeitsmarkt und die räumliche Segregation von der Mehrheitsgesellschaft und damit letztendlich auch auf die Identifikation der Muslime mit dieser (Bade 1994, 2013; Treibel 2011).

Die kulturelle, räumliche und optische Abgrenzung der Muslime von der Mehrheitsgesellschaft wird von Sarrazin als bewusste Strategie der muslimischen Einwanderer und ihrer Nachkommen interpretiert und bedingt seiner Meinung nach eine ablehnende Haltung der Mehrheitsgesellschaft:

Das hatte zur Folge, dass in allen betroffenen europäischen Ländern die Aggressionen der autochthonen Mehrheitsbevölkerung gegen diese fremde Bevölkerungsgruppe wuchsen, die in überdurchschnittlichem Maße von öffentlicher Unterstützung abhängig ist. (Sarrazin 2010, S. 265).

Dies kann als typische Etablierten-Rhetorik gelten: die Minderheit wird als alleiniger Aggressor der Mehrheit, als Auslöser für Konflikte hingestellt. Erst die von der Minderheit angeblich aus freien Stücken und im vollen Bewusstsein gebildeten Parallelgesellschaften führten laut Sarrazin dazu, dass die Mehrheit eine ablehnende Haltung entwickelte. Analog zu Huntingtons Ausführungen wird der gesamten Gruppe der Muslimen eine urtümlich aggressive, provozierende Haltung unterstellt, welche ein Abwehrverhalten der Mehrheitsgesellschaft herausfordert. Solche Abwehrversuche der Etablierten werden in dieser Argumentationsform als „Selbstverteidigung“ dargestellt.Footnote 6 Dieselben wenig reflektierten Vorannahmen in Bezug auf kulturelle Differenzen, die durch Huntington weltweit Verbreitung gefunden haben, sind auch in den Ausführungen von Sarrazin allgegenwärtig. Diese kulturellen Differenzen haben für ihn auch klare geografische Grenzen. Geographisch wie kulturell endet Europa für Sarrazin klar am Bosporus (Spiegel 2010). Wie Huntington erkennt er nicht die Dynamik vieler historischen Verflechtungen und Durchmischungen zwischen und innerhalb der „Kulturen“ (Hall 1994, 1999; Sen 2007; Çağlar 2002). Es wird zudem suggeriert, antidemokratische Tendenzen seien Ländern des „westlichen Abendlandes“ völlig fremd und lägen Wesenshaft allein im „islamischen Kulturkreis“. Wie unhinterfragt das Kulturkampf-Paradigma in weiten Teilen der Debatte um Sarrazin blieb, illustrieren folgende Äußerungen zu Sarrazins Buch.

Der Schriftsteller Raphael Seligmann ist beispielsweise davon überzeugt, dass ein großer Teil von Zuwanderern aus der Türkei und anderen islamischen Ländern unwillig oder unfähig ist, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren (Deutschlandstiftung Integration 2010, S. 111). Um seine Thesen hervorzuheben begebe sich Sarrazin, laut Seligmann „ohne Not auf das Glatteis einer ungesicherten Intelligenzforschung“ und argumentiere teilweise „sozialdarwinistisch“, so büße er Glaubwürdigkeit ein (Deutschlandstiftung Integration 2010, S. 111). Dieser Beitrag Seligmanns kann als paradigmatisch für einen Argumentationstyp betrachtet werden, der die kulturelle Verortung von „Muslimen“ als Integrationshemmnis interpretiert. Er begreift Sarrazins Befunde in Bezug auf Muslime als realitätsgetreu, erst durch sozialdarwinistische Argumente, so seine These, verliere Sarrazins Buch an Glaubwürdigkeit. Ein weiterer Anhänger von Sarrazin, der Publizist Matthias Matussek äußert sich wie folgt über ihn:

Er rutscht aus auf den bekannten Bananenschalen der politischen Korrektheit, mit angreifbaren biologischen Verknappungen. Aber seine Befunde zur missglückten Integration der türkischen und arabischen Immigranten sind über jeden Zweifel erhaben. (Deutschlandstiftung Integration 2010, S. 124)

Matussek ist durch eine Art von „pars-pro-toto-Verzerrung“ überzeugt, Debatten über „Identität“ und „Leitkultur“ stünden dem Prinzip der Offenheit nicht entgegen (Deutschlandstiftung Integration 2010, S. 127). Während dabei das Selbstbild der mächtigeren Gruppe der „Westler“ auf Basis der „besten Eigenschaften der besten Mitglieder“ erzeugt und aufrechterhalten wird, wird das Fremdbild der machtloseren Gruppe auf Basis der „schlechtesten Eigenschaften der schlechtesten Mitglieder“ erzeugt und aufrechterhalten (Elias und Scotson 1993, S. 13). In so einer Etablierten-Außenseiter-Figuration verstehen die Angehörigen der mächtigeren Gruppe sich selbst als die „besseren“ Menschen, ausgestattet mit einem „Gruppencharisma“, einem spezifischen Wert, an dem ihre sämtlichen Mitglieder teilhaben und der den Mitgliedern der schwächeren Gruppe unerreichbar bleibt. Dieses „Gruppencharisma“ geht mit einer „Gruppenschande“ Hand in Hand, die gegenwärtig in Deutschland den Mitgliedern der muslimischen Außenseitergruppe zugeschrieben wird (Elias 2014, S. 7). Die Mitglieder der etablierten Gruppen setzen dabei direkt und weniger direkt ihre höheren Macht- und Statuschancen mit ihrer höheren menschlichen Qualität und Wertigkeit gleich (Elias und Scotson 1993, S. 241). Dieses von Norbert Elias als „die Logik der Emotionen“ gefasste Prinzip ist ihm zufolge ebenfalls in den meisten anderen ähnlich strukturierten Gruppenbeziehungen zu erkennen (Elias und Scotson 1993, S. 18). Dabei versuchen die Mitglieder der Etabliertengruppe die Quelle ihrer Macht und gleichzeitig ihres Selbstwertes auf Kosten der Außenseitergruppe zu erhöhen. Stereotypisierung, Generalisierung und Vereinfachung sind die häufigsten Strategien im Umgang mit den Mitgliedern der muslimischen Außenseitergruppe in Deutschland. Durch solche Mechanismen werden die Mitglieder dieser Außenseitergruppe pauschal als gefährlich und gewalttätig gebrandmarkt. Durch solche einfachen aber sehr wirksamen Mechanismen werden die Eigenschaften einer kleinen Minderheit innerhalb der Gruppe auf die gesamte Gruppe übertragen. Dabei korrespondieren solche stereotypen Wahrnehmungen von Islam und Muslimen nicht mit den empirischen Erhebungen (Foroutan 2012, S. 22) Interessanterweise scheinen solche Wahrnehmungen dort besonders stark zu sein, wo es am wenigsten Kontakt zu Muslimen gibt (Pollack 2010, S. 4–5). In solchen Fällen wird das Bild über die Muslime hauptsächlich von den Massenmedien geprägt. Die Medien tendieren jedoch aus verschiedenen Gründen dazu Themen aufzugreifen, die ein negatives Bild über die Muslime produzieren. Dort wird „der Islam“ eher im Zusammenhang mit Gewalt- und Konfliktthemen vorkommen. Eine Studie zur Stereotypenanalyse, die sich im Jahr 2007 mit 133 Sendungen in einem Zeitraum von 18 Monaten bei ARD und ZDF befasst hat, zeigt beispielsweise diesen von Elias bezeichneten „Schimpfklatsch“ in einer Etablierten-Außenseiter-Figuration (Elias 2014, S. 28). Die Untersuchung aller solchen „Islam-“Thematisierungen bei ARD und ZDF zeigt, dass 81 % aller Thematisierungen negativ konnotierten Themen zugerechnet werden können (Hafez und Richter 2007, S. 40). Solche meist unbeabsichtigt realitätsunangemessene Problem- und Fragestellungen können bei diesen sensiblen Themen den sozialen Frieden in einem Land nachhaltig gefährden. Neben den steigenden sozialen Ungleichheiten, hat beispielsweise diese Art der Identitätspolitik in den letzten Jahren zum Aufstieg rechtsradikaler und rechtspopulistischer Tendenzen beigetragen.

Ein anderer prominenter Anhänger von Thilo Sarrazin war der vor kurzem verstorbene Ralf Giordano. Seiner Meinung nach stelle Thilo Sarrazin nicht nur die richtigen Fragen, er biete auch die richtigen Antworten (Deutschlandstiftung Integration 2010, S. 93). Die Lektüre des Buches weise Sarrazin als „Kenner der Migrations- und Integrationsszene aus“:

(…) anlässlich Thilo Sarrazins Kurztrip in die Welt der Gene von Juden und Basken, der mir einst, unter die NS-Rassengesetze gefallen, keinen Adrenalinstoß versetzte, den Kuschelpädagogen allerdings den willkommenen Vorwand liefert, die haarsträubenden Zustände in den muslimischen Parallelgesellschaften wie bisher unkommentiert zu lassen. (Deutschlandstiftung Integration 2010, S. 94).

Aus eigener biographischer Erfahrung lehnt Giordano die Genargumentationen ab. Sarrazins „Zustandsbeschreibungen“ über „muslimische Parallelgesellschaften“ hält er hingegen wie viele andere Sarrazin-Anhänger für zutreffend. Er ist wie Sarrazin der Überzeugung, dass muslimische und deutsche Lebensweisen nicht vereinbar seien. Dadurch wird implizit die von Huntington und Sarrazin angenommene Nichtübereinstimmung von „westlicher“, bzw. „deutscher“ und „muslimischer“ „Kultur“ übernommen:

Sarrazins Buch richtet das Auge auch auf den historischen Hintergrund: darauf, dass hier zwei Kulturkreise von höchst unterschiedlichem Entwicklungsstand zusammenstoßen: der judäo-christliche, der in den vergangenen 500 Jahren mit Renaissance, Aufklärung, bürgerlichen Revolutionen und ihrer Fortschreibung einen gewaltigen Sprung nach vorn getan hat, während der andere, der muslimische Orbit nach kulturellen Höchstleistungen, die Europa nur beschämen konnten, seither auf verstörende Weise stagniert. (Deutschlandstiftung Integration 2010, S. 95–96).

Das „Gruppencharisma“ des aufgeklärten judäo-christlichen Kulturkreises im Gegensatz zu einem rückständigen „muslimischen“ Kulturkreis (Gruppenschande) offenbart wie sich die Argumentationsmuster Huntingtons und Sarrazins in der deutschen Migrations-Debatte verankert haben. In diesen Äußerungen, wie auch in jüngeren Aussagen von AfD Mitgliedern wie: „der Islam gehöre nicht zu Deutschland“ (Grundsatzprogramm AfD 2016, S. 34.) oder generalisierende Äußerungen über „den muslimischen Mann“ (Zeit online 30.06.2016) in Anschluss an die Ereignisse der Silvesternacht in Köln, zeigen wie sehr sich die Vorstellung von „Kultur“ oder „Religion“ als persönlichkeitsdeterminierendem Faktor etabliert haben. Sie verweisen gleichzeitig darauf, dass im Grunde nur das Ausgrenzen anhand angeblich genetischer Unterschiede als klar rassistisch erkannt wird, während wesenhafte kulturelle Zuschreibungen gang und gäbe sind. Dabei wird die Prozesshaftigkeit von „Kulturen“ und „Identitäten“, die ja selbst Huntington am Rande seiner Ausführungen eingeräumt hat (Huntington 1997, S. 63–64), völlig ignoriert. Stuart Hall folgend kann aufgrund der Präsenz kultureller Kategorisierungen von Menschen im Sinne der Konstruktion von „Wir-“ und „Sie-“Gruppierungen konstatiert werden, dass der undifferenzierte Begriff „Kultur“ letztlich, dieselben wesenhafte Merkmale des Begriffs „Rasse“ beinhaltet, auf eine Art „kultureller Rassismus“ verweist:

In den letzten Jahren sind biologische Vorstellungen der ‚Rasse‘ als einer bestimmten Spezies, die die extremen Formen nationalistischer Ideologien und Diskurse in früheren Perioden untermauerten, wie in der viktorianischen Eugenik, der europäischen Rassentheorie und dem Faschismus, durch eine kulturelle Definition der ‚Rasse‘ ersetzt worden, die ihr erlauben, weiterhin eine bedeutende Rolle in den Diskursen über die Nation und die nationale Identität zu spielen. (Hall 1994, S. 208).

Außerdem bleibt der essentialisierende Umgang mit Begriffen wie „der Westen“ oder „der Islam“ auch bei Kritikern der vorgestellten Argumentationsmuster häufig unhinterfragt. Huntington entwirft ein Bedrohungsszenario für den „Westen“ und appelliert an „westliche Gesellschaften“ sich ihrer Identität bewusst zu werden, um diese vor der Bedrohung durch andere zu schützen. Sarrazin versucht eine deutsche, bürgerliche Identität gegen Zuwanderer auszuspielen, sie als Bedrohung dieser Identität darzustellen. Es wird also jeweils an die Loyalität einer Gruppe um den Preis der Ausschließung anderer Gruppen appelliert. Eine wohlbekannte politische Strategie, die aber mit dem universalen Gleichheitsanspruch, wie er in den Menschenrechten formuliert ist, nicht vereinbar ist und kaum Unterschiede zum „klassischen Rassismus“ darstellt.

6 Ausblick

Trotz ihren unterschiedlichen biografischen Werdegängen weisen Huntington und Sarrazin eine gemeinsame Struktur auf: die Angst vor der Bedrohung durch Angehöriger anderer „Kulturen“, derzeit vor allem vor Menschen aus dem „islamischen Kulturkreis“. Dieser Diskurs konnte in den USA zum Aufstieg von Donald Trump beitragen und in Deutschland die Etablierung einer neuen rechtspopulistischen Partei wie die AfD ermöglichen. Dabei wird durch ein statisches Verständnis von „Kultur“ und „Identität“ in einer dichotomen Art und Weise stark generalisiert, stereotypisiert und zustandsreduziert, was beabsichtigt oder unbeabsichtigt die Polarisierung der Gesellschaft und die Schaffung und Aufrechterhaltung von neuen Konflikten und Kampffronten verstärkt. Angesicht gelungener terroristischer Anschläge und fundamentalistischer Propaganda, die offen für weltweiten Terror wirbt, reproduzieren sich aktuell gegenseitig Islamisten und Islamophobe auf Kosten des mittel- und langfristigen sozialen Friedens und des Zusammenhaltes in der gesamten Gesellschaft. Die Folge der Etablierung solcher wenig realitätsangemessenen und gefährlichen Diskurse und Narrative kann unter anderen die Entfremdung vieler gut integrierter islamisch geprägter Bürger sein, was letztlich den Islamisten in die Hände spielen würde (Gholamasad 2017, S. 167–168). Es kann auch dazu führen, dass verängstigte und verunsicherte Bürger aus der sogenannten „Mehrheitsgesellschaft“ zur Mobilisierungsbasis von rechtpopulistischen Bewegungen werden.Footnote 7 Die Möglichkeit des Durchbrechens dieses gefährlichen Doppelbinderprozess, der die gesamte Gesellschaft erfassen kann, ist die Schaffung von neuen mehr realitätsangemessenen Konzepten, Diskursen und Narrativen, die differenzierter, prozesshafter, emotional weniger selbstbezogen und dadurch distanzierter sind. Wenn wir akzeptieren, dass sich Menschen im Laufe ihrer Beziehungsverflechtungen ändern können, dann benötigen wir Konzepte, die dieser Veränderung gerecht werden. Begriffe wie „Kultur“ und „Identität“ haben hingegen ein hohes Potential zur Zustandsreduktion und Vereinheitlichung. Statt Definitionen und Konnotationen zu verändern, plädieren wir eher für die Einführung von differenzierteren Begriffen.

Der von Norbert Elias eingeführte Begriff „sozialer Habitus“ kann, unserer Meinung nach, das, worauf sich Begriffe wie „Kultur“ und „Identität“ beziehen, symbolisch präziser und differenzierter repräsentieren (Elias 2003, S. 280). Dieser dynamische und prozesshafte Begriff bezieht sich auf ein spezifisches und mehr oder weniger individualisiertes Gepräge, das jeder einzelne Mensch – trotz seiner Verschiedenartigkeit – mit anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt. Dieses gemeinsam geteilte Gepräge der interdependenten Einzelnen bildet gewissermaßen den Mutterboden, aus dem erst diejenigen Merkmale entstehen, durch die sich ein einzelner Mensch von anderen Menschen unterscheidet, mit denen er eine Gesellschaft bildet (Gholamasad 2001, S. 617). Im Gegensatz zu Begriffen wie „Kultur“ und „Identität“ lässt der Begriff „sozialer Habitus“ jedoch im Verhältnis als „erinnertes Wandlungskontinuum“ (Elias 1988, S. 191) oder „bewegliches Fest“ (Hall 1994, S. 183) trotz Kontinuität je nach dem Individualisierungsgrad einer Gesellschaft sowie ihre Integrationsfähigkeit Wandlungen zu. Ändern sich die Beziehungen zwischen Menschen, vor allem ihre Machtbeziehungen, ändert sich auch früher oder später ihr sozialer Habitus, also ihre gesamte Persönlichkeitsstruktur inklusive ihre Selbst- und Welt- und Gottesbilder. So gesehen, haben wir es zu tun mit verschiedenen Lesarten und Interpretation derselben kollektiven Geschichte der Menschen in einer Gesellschaft. So sind die Gottesbilder der Muslime recht unterschiedlich und haben sich über Generationen in verschiedene Richtungen verändert. In diesem Sinne gibt es überhaupt keinen „Islam“ als Wesenskern. Auch bedeutet der Bevölkerungszuwachs der Muslime in Europa keineswegs, dass die nachfolgenden Generationen der Muslime zwangsläufig eine ähnliche Lesart ihrer Religion und Tradition beibehalten wie ihre Vorfahren. Je nachdem, wie diese Generationen in der Zukunft integriert und an den Macht- und Statuspositionen in der jeweiligen Gesellschaft beteiligt werden, können sich unterschiedliche Welt‑, Menschen- und auch Gottesbilder entwickeln. Was für den zukünftigen sozialen Frieden vor allem in den Einwanderungsgesellschaften gefährlich sein könnte, ist der Ausschluss und die Marginalisierung dieser Generationen, was unter anderem aus Verzweiflung zum Festhalten an ihren kollektiven Welt‑, Menschen- und Gottesbildern führen könnte und damit zu einer Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft anhand ethnisch/religiöser Muster beitragen würde.

Im Vergleich zu dem „Kultur- und Identitätsbegriff“, lässt der dynamischere Begriff des „sozialen Habitus“ ebenfalls eindeutig mehr Raum zur empirischen Erfassung von Vielschichtigkeiten, Prozessen und Ungleichzeitigkeiten von Lebenserfahrungen von Menschen (Alikhani 2012, S. 73–75). Diese Differenzierungen werden in aktuellen Debatten schon durch die verdinglichte Sichtweise auf „Kultur“ und „Identität“ häufig nicht wahrgenommen. Mit diesem kurzen Aufsatz weisen wir unter anderem auf die praktische Gefahr von solchen verhängnisvollen Verdinglichungen hin, die unsere Wahrnehmung eher unbewusst in einer wenig realistischen Richtung steuern. Was wir dringend benötigen, ist eine Abkehr von einem solchen „essentialistischen allgemeinen Sprachgebrauch“ (Kaufmann 2005, S. 50), nicht nur, weil er der Realität nicht entspricht, sondern auch, weil er extrem gefährlich ist.