1 Einleitung: Mehrdimensionalität föderaler Regime

In weiten Kreisen der Föderalismusforschung wird Föderalismus mit Demokratie in Verbindung gebracht, dagegen als mit autokratischen Regime unvereinbar erklärt. Entweder gilt er als förderlich für ein demokratisches Regierungssystem, oder Demokratie wird als Voraussetzung für einen stabilen Föderalismus betrachtet (Überblick in Benz 2009). Jedenfalls scheint Föderalismus nur in funktionierenden Demokratien zu überleben, was Diskussionen darüber ausgelöst hat, ob sich Föderalismus in Autokratien überhaupt realisieren lässt. Für junge Demokratien wurde darauf hingewiesen, dass Föderalismus destabilisierende Wirkungen entfalten kann. Lassen föderale Transformationsregime im Zuge der Demokratisierung politischen Wettbewerb zu, riskieren sie, dass die Konkurrenz regionaler Interessen die territoriale Integrität des Landes gefährdet. Deshalb tendieren junge föderale Demokratien dazu, den politischen Wettbewerb und damit die Demokratiequalität einzuschränken (Filippov und Shvetsova 2013).

Beide Zusammenhänge sind allerdings nicht zwingend. Anders als es normative Theorien des Föderalismus nahe legen, steigert Föderalismus die Demokratiequalität eines politischen Systems nicht unbedingt (Benz 2009). Die Kombination beider Strukturprinzipien kann, je nach ihrer institutionellen Ausgestaltung und je nach Kombination und Art der Einbettung des institutionellen Gefüges in eine gegebene Sozialstruktur, sogar dazu beitragen, dass sich spezifische Defekte in Demokratien ausbilden und verstetigen. In etablierten Demokratien führt der Föderalismus häufig zu Verflechtungen zwischen Ebenen, von denen Regierungen und Verwaltungen auf Kosten der Parlamente profitieren. Für den zumeist unterstellten Vorteil von Dezentralisierung und Subsidiarität für Bürgerbeteiligung gibt es keine Belege, die eine Generalisierung der Annahme rechtfertigen (Treisman 2007). Auch demokratische Bundesstaaten können instabil werden und unterliegen entweder Zentralisierungstendenzen oder zentrifugalen Entwicklungen (Riker 1964). Die Regierbarkeit föderaler Systeme wird angesichts dieser Einwände heute intensiv diskutiert. Kurz: Es ist nicht auszuschließen, dass Föderalismus Demokratie gefährdet und sogar autokratische Tendenzen fördert.

Ebenso wenig sollte die föderale Autokratie nicht ignoriert werden, schon, weil diese Form eines Regierungssystems in der Realität vorkommt. Man mag den Föderalismus in Autokratien als Schein betrachten, der zentralistische Strukturen verschleiert. Gleichwohl liegt die Frage nahe, ob bundesstaatliche Institutionen in autokratischen Systemen den nicht-demokratischen Charakter des Regimes zusätzlich festigen, oder ob sie nicht aufgrund der föderalen Systemen innewohnenden Spannungsfelder Dynamiken freisetzen, die eine Demokratisierung begünstigen oder jedenfalls autokratische Herrschaft konterkarieren (Lane und Ersson 2005).

Vieles spricht dafür, dass Föderalismus und Demokratie bzw. Autokratie Organisationsprinzipien in „mehrdimensionalen“ politischen Systemen darstellen, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Wenn dies zutrifft, dann stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die Spannung aufgelöst oder verringert werden kann bzw., sofern dies nicht gelingt, wie mit ihr umgegangen werden kann oder wird. In realen politischen Systemen ist davon auszugehen, dass Spannungen immer Dynamiken auslösen, die eines der Strukturprinzipien abschwächen, sei es für einzelne Entscheidungen, für bestimmte Situationen oder auf Dauer. Im Extremfall können sie die Funktionsfähigkeit des politischen Systems gefährden, jedoch auch zu einer relativ stabilen Machtbalance auf den beiden Dimensionen führen. In welche Richtung solche Dynamiken weisen, ob sie den autokratischen oder demokratischen Charakter von Regimen stabilisieren oder das Gegenteil bewirken, ob sie ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen zentralen und dezentralen Ebenen erhalten oder stören, dies sind Fragen, die in der vergleichenden Föderalismusforschung bislang unbeantwortet geblieben sind.

Nimmt man die genannte Frage auf, muss der von der normativen Föderalismustheorie ursprünglich betonte enge Zusammenhang zwischen Demokratie und Föderalismus in einem ersten Schritt analytisch entkoppelt werden. Forschungsstrategisch spricht einiges dafür, Demokratie, Autokratie und Föderalismus zunächst als zu unterscheidende Strukturprinzipien zu behandeln, um anschließend herauszuarbeiten, wie verschiedene Verbindungen zwischen ihnen funktionieren. Dabei ist der Einwand nicht von der Hand zu weisen, dass Föderalismus als Konzept überdehnt werde, wenn dieses nur die formale bundesstaatliche Verfassung zum Maßstab nimmt. Autokratien setzen das Prinzip der (vertikalen) Gewaltenteilung bzw. –hemmung mehr oder weniger außer Kraft, weshalb föderale Institutionen es schwer haben zu funktionieren. Jedoch ist der Zusammenhang zwischen Regimetypus und Bundesstaatlichkeit weniger eindeutig als gemeinhin angenommen, was für vergleichende Untersuchungen über die Grenzen unterschiedlicher Regimetypen hinweg spricht (Obydenkova und Swenden 2013).

Um diese Forschungsstrategie zu erläutern, werden wir zunächst aufgrund konzeptioneller Überlegungen die Spannungslagen zwischen Föderalismus und Demokratie bzw. Autokratie darstellen. Im Weiteren illustrieren wir die besonderen Ausprägungen dieser Spannungen für etablierte Demokratien und Autokratien anhand zweier Fallstudien. Neben westlichen, etablierten Demokratien sind für unsere nachfolgende Argumentation defekte, instabile Demokratien sowie autoritäre Autokratien von Bedeutung, die gewisse Grade der gesellschaftlichen Öffnung zulassen und daher Dynamiken freisetzen, die aus den hier untersuchten Spannungsverhältnissen resultieren.Footnote 1 Sowohl defekte Demokratien als auch autoritäre Regime lassen einen begrenzten gesellschaftlichen – und im Bundesstaat auch regionalen – Pluralismus zu, der jedoch mehr oder weniger konsistenten Lenkungsversuchen der Zentralregierung unterliegt (hierzu z. B. Way 2005, 2010; Levitsky und Way 2002, 2010; Ottaway 2003). Öffnungs- und Schließungstendenzen wirken sich voraussichtlich auf die Art der föderalen Repräsentation territorialer Interessen im Bund und auf die bundesstaatliche Machtverteilung aus oder haben ihren Grund in föderalen Konflikten. Die demokratische Regimekonstellation erläutern wir am Beispiel des kanadischen Bundesstaats, das Wechselverhältnis zwischen defekter Demokratie, autoritärer Schließung eines Regimes und Bundesstaatlichkeit erörtern wir anhand des russischen Fallbeispiels. Abschließend werden Forschungsperspektiven skizziert, die an unsere konzeptionellen Überlegungen anschließen.

2 Spannungsfelder zwischen Föderalismus, Demokratie und Autokratie

Föderalismus bezeichnet ein Strukturprinzip für die territoriale Dimension eines politischen Systems, in dem Macht auf mehrere (in der Regeln zwei) Ebenen mit Staatscharakter aufgeteilt wird, Kompetenzen entweder getrennt oder gemeinsam ausgeübt werden und die Interessen der Gliedstaaten im Gesamtstaat repräsentiert sind. Dazu bedarf es der verfassungsrechtlichen Normierung der Kompetenzverteilung, die die notwendige Einheit mit einer möglichst großen Vielfalt der Aufgabenerfüllung verbindet, sowie Verfahren, in denen interdependente Entscheidungen zwischen zentralen und dezentralen Regierungen koordiniert werden. Mit Demokratie meinen wir eine weitere institutionelle Form, die 1) die individuelle Freiheit durch Bindung der Staatsgewalt an Recht und Gesetze gewährleistet, 2) die Chancen auf gleiche Beteiligung der Bürger eröffnet, 3) einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen verwirklicht (Gemeinwohl) und 4) Machtinhaber der Rechenschaftspflicht und Kontrolle unterwirft und somit 5) Regieren von der Anerkennung der Bürgerschaft abhängig macht. In dem Maße, wie Rechtmäßigkeit, Partizipationschancen, Gemeinwohlverwirklichung, Kontrolle und Widerspruchsmöglichkeiten durch institutionelle Strukturen oder faktische Machtverhältnisse beschränkt sind, tendiert ein politisches System zur Autokratie.

In der Verbindung dieser zwei Dimensionen eines politischen Systems, der territorialen Staatsorganisation und der Regierungsform, treten Konflikte auf, die sich sowohl unter den Bedingungen einer Demokratie wie einer Autokratie als typische Spannungslagen äußern. Die nachfolgend erörterten scheinen besonders relevant zu sein, da sie aus institutionellen Dilemmata resultieren, deren Bearbeitung üblicherweise mit Lösungen einhergeht, die für eine oder sogar beide Strukturprinzipien suboptimal sind. Sie bedingen Handlungsunsicherheiten, lassen Anpassungen des Systems notwendig werden und können weitreichende Entwicklungsdynamiken auslösen.

Eine erstes Spannungsfeld, das wir als „Rechtsstaatsdilemma“ bezeichnen, resultiert aus der engen Verbindung zwischen Rechtsbindung von Herrschaft und Demokratie. Zwar können das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip durchaus getrennt voneinander entstehen, was in vielen westlichen Staaten der Fall war. Jedoch sind beide Prinzipien insofern aufeinander bezogen, als die Rechtsstaatlichkeit die Entstehung von Demokratien fördert und Demokratien nur dann dauerhaft Bestand haben, wenn sie rechtsstaatliche Sicherungen und Prinzipien der Gewaltenteilung und Gewaltenhemmung beachten (Zakaria 1997). Föderationen sind in besonderer Weise auf rechtliche Grundlagen angewiesen, weil die Machtteilung zwischen Ebenen in einer Verfassung gesichert werden muss. Sie benötigen eine unabhängige Gerichtsbarkeit, die Kompetenzkonflikte regeln kann sowie Bund und Gliedstaaten dazu anhält, ihre Kompetenzen „autonomieschonend“ und „gemeinschaftsverträglich“ auszuüben und verfassungswidrige Eingriffe in die Zuständigkeiten der jeweils anderen Seite zu unterlassen.

Die scheinbare Kongruenz von Föderalismus und Rechtsstaat erweist sich in der Praxis aber als prekär. Gesellschaftliche Probleme oder Erwartungen der Bürgerschaft verändern sich, und zwar besonders in freiheitlichen Demokratien, was entsprechende Anpassungen von Kompetenzen, intergouvernementalen Beziehungen und Finanzverteilungen erfordert. In multinationalen Bundesstaaten können sich zudem individuelle Rechte und Gruppenrechte überlagern. Verfassungsregeln müssen also flexibel sein, was man durch Verfassungsänderungen, Reinterpretationen der Verfassung oder Umgehungen von Regeln erreichen kann. Ersteres führt zur Politisierung des Verfassungsrechts, was die rechtliche Sicherung des Föderalismus gefährdet. Die zweite Alternative bewirkt eine Justizialisierung, die demokratische Verfahren entwertet. Die dritte Option unterminiert die Verfassung auf Kosten des Föderalismus, was genauso problematisch ist wie eine rigide Durchsetzung statischer Verfassungsnormen, die Demokratie beschränken.

Resultiert in Demokratien das Rechtsstaatsdilemma aus der Dynamik des Föderalismus, so entsteht es in Autokratien wegen der Schwäche des Rechtsstaats. Die politischen Eliten haben rechtsstaatliche Prinzipien in der Regel nicht verinnerlicht, weshalb auch formal demokratische Regeln, welche die Übertragung von Macht sowie die Kontrolle durch die Herrschaftsunterworfenen bestimmen (Hart 1994), verletzt oder nach Opportunitätsgesichtspunkten verändert werden. Damit sind aber auch die rechtsstaatlichen Sicherungen in Frage gestellt, die den Föderalismus als gelebtes Verfassungsprinzip schützen. Der Föderalismus, der in rechtsstaatlichen Demokratien erstarren kann, bleibt in Autokratien ohne funktionierenden Rechtsstaat letztlich labil.

Ein zweites Spannungsfeld soll hier als „Pluralitätsdilemma“ bezeichnet werden. Demokratie verwirklicht gleiche Beteiligungschancen durch Wahlen. Diese richten sich auf konkurrierende Parteien, die alternative Kandidaten und Programme anbieten. Ein funktionierender und stabiler Föderalismus erfordert ein Parteiensystem, das möglichst vertikal integriert ist und die Vielfalt an konkurrierenden Angeboten reduziert (Riker 1964). In vertikal integrierten Parteiensystemen besteht jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass mit der Repräsentation der Gliedstaaten im Bund Oppositionsparteien Vetomacht gewinnen oder die Situation eines ineffektiven „divided government“ entsteht. Fallen pluralistische Parteiensysteme in Bund und Gliedstaaten dagegen zu sehr auseinander und bilden sich spezifische regionale Parteiensysteme aus, fördert dies zentrifugale Tendenzen, die den Föderalismus gefährden können.

In autokratischen Bundesstaaten zeigt sich das Pluralitätsdilemma in anderer Weise. Um ein Auseinanderbrechen der Föderation oder eine Verselbständigung dezentraler Regierungen zu verhindern, sind politische Führungen versucht, den Parteienwettbewerb einzuschränken. Hegemoniale politische Praktiken dienen dazu, den Parteienwettbewerb zu kontrollieren und subnationale Gebietskörperschaften in den Machtbereich des Zentrums zu integrieren. Der fehlende oder schwache Pluralismus stärkt eine Machtzentralisierung und gefährdet einen wirklichen Föderalismus. Ebenso können sich jedoch unter der Oberfläche einer hegemonialen, national organisierten Partei regionale „Stratarchien“ oder Enklaven ausbilden, die den Föderalismus durch Konfrontation belasten. Im günstigen Fall fördern sie Dezentralisierung.

Ein drittes Spannungsfeld, das die vertikale Dimension des Interessenausgleichs in Bundesstaaten betrifft, bezeichnen wir als „Koordinationsdilemma“. Es ergibt sich aus dem Umstand, dass Dezentralisierung externe Effekte oder unerwünschte Ungleichheiten erzeugt, die gesamtstaatliche Steuerung oder Koordination erfordern, um das Gemeinwohl zu verwirklichen.

In Demokratien erscheint das Dilemma in Gestalt einer Politisierung der Bund-Regionen-Beziehungen, sei es durch entgegengesetzte parteipolitische Ausrichtung der Regierungen oder durch starke Regionalparteien. Dadurch kann die Koordination behindert und die Handlungsfähigkeit des Staates beschränken werden, weil ein Interessenausgleich durch das Beharren der Gliedstaaten auf ihrer Autonomie blockiert wird. Effektive Koordination wiederum kann die Autonomie der Gliedstaaten eingeschränken und mithin auch die Gestaltungsfähigkeit des dezentralen „Demos“ oder der Parlamente reduzieren. In Autokratien ergibt sich dieses Dilemma aus einer „Übersteuerung“, wenn die Zentralregierung ihren Herrschaftsanspruch in den Regionen durchzusetzen sucht und deren Autonomie unterminiert. Föderale Strukturen, in denen die Gebietskörperschaften über autonome Entscheidungsrechte verfügen, widersprechen dem umfassenden Herrschaftsanspruch autokratischer Regime. Sie böten regionalen Eliten die Möglichkeit, sich der Kontrolle des Zentrums teilweise zu entziehen. Die politische Führung ist daher bestrebt, rivalisierende Gruppen und von ihrem Willen abweichende regionale Interessen unter Kontrolle zu bringen, und hegt selbst gegenüber nicht-oppositionellen, regimetreuen Gruppen ein latentes Misstrauen. Eine zentralistische Steuerung widerspricht aber der Vielfalt, die das Föderalismusprinzip verlangt, und erschwert einen Interessenausgleich im Sinne des Gemeinwohls. Hieraus resultiert eine latente Instabilität in den intergouvernementalen Beziehungen eines autoritär regierten Bundesstaates.

Viertens tritt in föderal organisierten Systemen ein „Heterogenitäts-/Homogenitätsdilemma“ auf, das in Demokratien und Autokratien wiederum unterschiedliche Folgen nach sich zieht. Dieses Dilemma entsteht durch die Notwendigkeit, einerseits regionale Vielfalt zu organisieren, andererseits aber einen „horizontalen“ Interessenausgleich zwischen Regionen zu erreichen. Vielfalt bezieht sich dabei sowohl auf ökonomische wie auf sozio-kulturelle Aspekte der Gesellschaft. Der interregionale Ausgleich und ein Mindestmaß an Homogenität sind, neben der Macht begrenzenden Funktion der Gewaltenteilung, wesentliche Ziele von Föderalismus und Bestandteil des bündischen Prinzips. Da der Interessenausgleich nicht durch institutionelle Vereinheitlichung oder Zentralisierung ersetzt werden kann, ist er ständig neu auszuhandeln, wobei Vereinbarungen immer Anreize für ein opportunistisches Verhalten setzen (z. B. Bednar 2008).

In demokratischen Staaten ergibt sich daraus das Problem, dass Vielfalt in demokratischen Verfahren erst explizit zum Ausdruck gebracht werden kann. Eine Differenzierung in verschiedene regional konzentrierte Nationalitäten kann die Funktionsfähigkeit der gesamtstaatlichen Demokratie bedrohen, weil sie dem Gleichheitsprinzip widerspricht und das horizontale Vertrauen in der Bürgerschaft unterminiert. Der Ausgleich ökonomischer Disparitäten durch Leistungen an dezentrale Gebietskörperschaften wiederum wird von den dezentralen Einheiten regelmäßig als Eingriff in die Kompetenzen demokratischer Institutionen kritisiert. Zuweisungen oder Finanzausgleichssysteme durchbrechen die Konnexität von Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben mit der Folge, dass in demokratischen Verfahren falsche Anreize gesetzt werden und Kosten und Nutzen öffentlicher Aufgaben nicht mehr korrekt abgewogen werden.

In autoritären Systemen erzeugt die Heterogenität weniger ein Problem des regionalen Interessenausgleichs, sondern verursacht Unsicherheit für die Zentralregierung (Wintrobe 1998, 2007). Autoritäre Herrschaft verursacht gravierende Informationsasymmetrien, da Bürger und rivalisierende Gruppen ihre wahren Ansichten und Meinungen verbergen und das Regime keine authentischen Rückmeldungen über die Akzeptanz des eigenen Handelns erhält. Um sich der Unterstützung und Loyalität politischer Gruppen und der Bürger zu versichern und Vertrauen zu generieren, setzt die Führung deshalb auch auf Anreize und Instrumente der Vorteilsgewährung (Geddes 1994), die aber wegen der Informationsasymmetrien mit einer ständigen Überbezahlung einhergehen (Wintrobe 1998). Aus diesen Gründen festigen autoritäre Bundesstaaten tendenziell den Klientelismus. Sind autokratische Systeme föderal gegliedert, verstärkt die Existenz heterogener regionaler Interessen und Identitäten die Unsicherheiten des Regimes, insbesondere wenn religiöse, ethnische oder linguistische Trennlinien territorial repräsentiert sind und sich zum regionalen Widerstand gegen das autoritäre Regime formieren können (Erk und Anderson 2009). Über die föderale Organisation institutionalisieren autoritäre Systeme somit eine Spannungslage zwischen Homogenität und Heterogenität und verstärken die Unsicherheit über die „richtige“ Balance aus Zwang und Leistungstausch.

Ein fünftes Spannungsfeld beschreibt das Verhältnis zwischen effektiver Erfüllung öffentlicher Aufgaben („Output“), die Interessen der Bürgerschaft befriedigen, und der Sicherung von Zustimmung in demokratischen Verfahren („Input“). Beides ist erforderlich, um Loyalität gegenüber den Regierenden und dem politischen System zu sichern. In Mehrebenensystemen stehen Input- und Output-Legitimität bekanntlich in einem noch stärker ausgeprägten Spannungsverhältnis als dies in unitarisch organisierten Demokratien und Autokratien ohnehin der Fall ist. Wir sprechen daher von einem spezifischen „Loyalitätsdilemma“ im Bundesstaat. Es entsteht, weil effektive öffentliche Leistungen auf den einzelnen Ebenen meistens nur partiell erbracht werden bzw. wegen negativer oder positiver externer Effekte koordiniert werden müssen, die Zustimmung oder der Widerspruch zu Leistungen aber nur gegenüber den Machtinhabern bzw. den verantwortliche Exekutiven auf einer jeweils einzelnen subnationalen oder nationalen Ebene ausgedrückt werden kann. Daraus ergibt sich ein für ein föderale Regime typisches Spannungsfeld, dem besonders subnationale Regierungen bzw. Machteliten ausgesetzt sind: Einerseits müssen sie gegenüber dem Bund kooperativ bleiben und dessen Politik (partiell) unterstützen, um die Funktionsfähigkeit des Bundesstaates nicht zu gefährden. Andererseits sind sie auf ein gewisses, nach Politikfeld und Problemdimension variierendes Maß an dezentraler Responsivität und Loyalität angewiesen, um politische und ökonomische Probleme effektiv bearbeiten zu können.

In Demokratien sind gewählte regionale Regierungen Agent mindestens zweier Prinzipale (Sharafutdinova 2009; Reuter 2010): Sie sollen den Willen ihrer Wählerschaft umsetzen, gleichzeitig jedoch auch die Interessen des Bundes berücksichtigen. Bei Entscheidungen mit regional redistributiven Wirkungen geraten sie damit in einen Konflikt zwischen den Interessen der Föderation und regionalen Interessen. In autoritären Regimen wiederum werden regionale Machtinhaber nicht in freien Wahlen „von unten“, sondern typischerweise in einem eingeschränkt pluralistischen Wettbewerb gewählt oder sogar „von oben“ ernannt – was einer föderalen Staatsorganisation letztlich zuwiderläuft. Regionale Regierungen handeln dann vor allem als Agent des föderalen Machtzentrums, dessen Durchsetzungsfähigkeit in den Regionen wiederum variieren kann. Widersprechen sich die Interessen regionaler und zentraler Einheiten, können subnationale Eliten entweder Zwangsinstrumente einsetzen, um die Fügsamkeit der Bevölkerung herbeizuführen, was den autoritären Charakter des Regimes „von unten her“ verstärkt, aber auch neue Unsicherheiten produziert. Oder aber sie versuchen, Interessen der Bevölkerung aufzugreifen und zu integrieren, was wiederum zu einer Öffnung des Regimes „von unten“ beitragen könnte. Dann jedoch geraten sie in Konflikt mit der Zentralregierung, welcher die Instabilität des Systems verstärkt.

Diese Überlegungen zeigen, dass dem Föderalismus keine eindeutige, die Autokratie bzw. Demokratie stärkende oder schwächende Wirkung zugeschrieben werden kann. Daraus muss man nicht auf eine generelle Instabilität föderaler Systeme schließen. Spannungen sind Ursachen von Dynamiken, die Stabilität wie Instabilität erzeugen können. Ob das eine oder das andere eintritt, hängt von den gegebenen Kontextbedingungen ab. Eine Auflösung der unvermeidbaren Spannungen gelingt jedenfalls nur in Prozessen, in denen Machtverhältnisse immer wieder austariert werden, sei es durch institutionelle Reform oder durch informelle Anpassung. Wir vermuten, dass die Politik in demokratischen Föderationen deswegen immer mit Verfassungsfragen befasst ist, während autoritäre Föderationen angesichts der für sie typischen, schwach ausgeprägten Rechtsstaatlichkeit ihr Gleichgewicht stärker durch informale Prozesse herzustellen versuchen.

Ausgehend von den in der folgenden Übersicht zusammengefassten Spannungslagen im Föderalismus wollen wir im Folgenden anhand zweier Fallstudien illustrieren, wie diese Dynamiken im demokratischen und autoritären Föderalismus entstehen. Mit Kanada und Russland wählen wir Länder, die die beiden Regimetypen gut repräsentieren. Das kanadische Regierungssystem verbindet eine parlamentarischen Mehrheitsdemokratie mit einem „starken“ Föderalismus, in Russland entwickelte sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ein zunächst defekt-demokratisches Regime, das mit einem stark dezentralisierten Föderalismus einherging, sich nach 2000 aber zu einem autoritären Regime mit einer schwachen Bundesstaatlichkeit gewandelt hat. Die Fallstudie zu Russland lässt sich somit in zwei Unterfälle zerlegen, die jeweils einen anderen Regimetypus aufweisen. In Kanada wie in Russland können wir trotz der Unterschiede der Regime ähnliche föderale Spannungslagen beobachten und die erwarteten Dynamiken erkennen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Spannungslagen im Föderalismus

3 Kanada: Zentrifugale Prozesse und Stabilisierung durch Verfassungswandel

Der kanadische Bundesstaat (Broschek 2009) entstand im 19. Jahrhundert, als er durch zwei politische Systeme beeinflusst wurde. Als britische Kolonie übernahm Kanada das „Westminster-System“ der parlamentarischen Demokratie mit Mehrheitswahlrecht, Zweiparteiensystem, der Regierungsbildung durch den Führer der Mehrheitspartei sowie einem Zwei-Kammern-System der Legislative, in der der „Senat“ keine Vertretung regionaler Interessen darstellt, sondern dem britischen Oberhaus nachgebildet ist und faktisch eine beratende Funktion erfüllt. Der Zusammenschluss des englisch geprägten „Lower Canada“ (Ontario) mit dem französischsprachigen „Upper Canada“, der heutigen Provinz Quebec, erforderte eine föderative Ordnung. In dieser Hinsicht orientierten sich die kanadischen Politiker am amerikanischen Modell des dualen Föderalismus. Nach der Erfahrung des amerikanischen Bürgerkriegs und angesichts der wahrgenommenen Bedrohung durch die USA entschieden sie sich jedoch für einen starken Bund, der wesentliche Zuständigkeiten der Infrastrukturversorgung und der Regulierung erhielt, während Aufgaben im Sozial- und Bildungsbereich dezentralisiert wurden.

Nach der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre begannen die Kanadier mit dem Aufbau eines Wohlfahrtsstaats, bedingt durch die Kompetenzverteilung zunächst in den Provinzen. Nach und nach bemühte sich die Regierung in Ottawa um eine gesamtstaatliche Sozial- und Gesundheitspolitik. Der Bund gewann die dafür erforderlichen Zuständigkeiten. Zum Teil geschah dies durch Verfassungsänderungen, zum Teil nutzte die Bundesregierung ihre „spending power“, also ihre Macht, Aufgaben der Provinzen zu finanzieren und damit zu kontrollieren. Ein integriertes Parteiensystem erleichterte die Durchsetzung dieser spezifischen Verflechtung zwischen den Ebenen und reduzierte die damit verbundenen Demokratieprobleme in einem politischen System, in dem die Parlamente als souverän gelten. Die anerkannte Parlamentssouveränität verhinderte eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Bund und Provinzen, weil selbst intergouvernementale Verträge jederzeit durch ein Parlament aufgekündigt werden konnten. Kurz: Kanada passte seine Strukturen an die Erfordernisse eines modernen Wohlfahrtsstaats an, erreichte dies jedoch nur in einer prekären Machtbalance, in der zunehmend Spannungen zwischen intergouvernementaler Politik im Föderalismus und parlamentarischer Demokratie bemerkbar wurden.

Diese Spannungen verstärkten sich mit dem Aufkommen der Nationalitätenfrage. Der Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte die ökonomische Struktur Quebecs, das einen Modernisierungsschub erlebte. Dieser schwächte die politisch einflussreiche katholische Kirche und weckte das Selbstbewusstsein einer wirtschaftlich erfolgreichen französischsprachigen Elite. Dadurch kam es zum Aufschwung des Nationalismus in Quebec, der sich in der Entwicklung spezifischer regionaler Parteien, der Parti Québécois in der Provinz und des Bloc Québécois auf Bundesebene, zeigte. Seit den 1970er Jahren wurden zudem die Rechte der Ureinwohner zu einem politischen Thema, und mit der Verfassungsreform von 1982 wurden die Aborigines Peoples als „First Nations“ anerkannt. Seither stellt Kanada eine multinationale Föderation dar. Sie ist durch die typischen Spannungen einer demokratischen Föderation geprägt.

In der multinationalen Föderation wurde das Homogenitäts-/Heterogenitätsdilemma zur wichtigsten Problematik. Versuche, dessen Folgen einzudämmen, führten die kanadische Politik in weitere Dilemmasituationen, die sich insbesondern in den Bemühungen um eine Verfassungsreform äußerten. Verfassungspolitik, wenn auch nicht Reformen, trugen schließlich dazu bei, den Föderalismus zu stabilisieren.

3.1 Spannungsfelder im kanadischen Föderalismus

In den 1970er Jahren wurden Forderungen nach einer Eigenständigkeit der Provinz Quebec stärker. Sie äußerten sich zunächst im Konflikt um die Sozialversicherung, der sich als unlösbar erwies. Während der Bund für die englischsprachigen Provinzen die Sozialversicherung vereinheitlichte, baute Quebec sein eigenes Versicherungssystem auf. Den Spaltungstendenzen wollte die Bundesregierung unter Premier Trudeau begegnen, indem sie einerseits das seit den 1930er Jahren bestehende Angebot der britischen Regierung, Kanada die Verfassungshoheit zu übertragen, aufgriff und andererseits Bürger- und Freiheitsrechte gegen den Staat verfassungsrechtlich garantierten wollte. Beides geschah durch die „Patriation“ der Verfassung, die Verabschiedung des Constitution Act im Jahre 1982. Diese Entscheidung verschärfte allerdings zum einen das Homogenitäts-/Heterogenitätsdilemma und machte zum anderen ein besonders ausgeprägtes Rechtsstaatsdilemma offenkundig.

Dieses Rechtsstaatsdilemma zeigte sich in Kanada in dreifacher Weise. Zum einen gerieten die Ansprüche Quebecs auf Wahrung seiner Kultur durch Sprachpolitik in Konflikt mit den Individualrechten, die die neue kanadische Verfassung festlegte. Um den Konflikt zu entschärfen, erlaubte eine Klausel der Verfassung, dass die Provinz in Angelegenheiten von Sprache und Erziehung für eine befristete Zeit Gesetze erlassen kann, die die entsprechenden Bürgerrechte einschränken. Damit wurde die Geltung der Verfassung durch einen Vorrang eines Provinzgesetzes flexibilisiert. Zum zweiten wurden die Stämme der Ureinwohner (Aborigines) als Nationen anerkannt, und sie erhielten Selbstverwaltungsrechte. Die daraus resultierenden Ansprüche auf Land konnten aber erst durch eine Vielzahl von ausgehandelten Verträgen befriedigt werden. Die Bestimmung der Selbstverwaltung und konkurrierende Landrechte bewirkten eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Das gravierendste Verfassungs- und Rechtsstaatsproblem ergab sich alledings daraus, dass sich die kanadische Verfassungswirklichkeit zunehmend vom Verfassungstext entfernte. Neben der Stärkung des Bundes durch Nutzung seiner „spending power“ geschah dies durch eine flexible Interpretation der Kompetenzordnung zugunsten der Provinzen bzw. des Bundes und durch eine steigende Zahl von intergouvernementalen Vereinbarungen, während grundlegende Revisionen der Verfassung blockiert wurden.

Der Konflikt zwischen Rigidität und Flexibilität des veränderten Verfassungsrechts trat zutage, als eine Reform der umstrittenen Verfassung von 1982 eingeleitet wurde, nachdem die Provinz Quebec einen Forderungskatalog an die Bundesregierung übermittelt hatte. Der konservative Premierminister Brian Mulroney nahm dies zum Anlass, einen weiteren Anlauf zur Lösung der Verfassungsproblematik zu starten, da diese nicht nur den Bestand des Bundesstaats gefährdete, sondern wegen ungeeigneter Kompetenzzuweisungen und dauerhafter Konflikte um die „spending power“ auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung zunehmend behinderten. Auf der Agenda der Verfassungsreform, die die Bundesregierung initiierte, standen alle Kernprobleme der Verfassungspolitik im kanadischen Föderalismus: die Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Provinzen, insbesondere hinsichtlich der Wirtschaft- und Sozialpolitik sowie der Zuwanderungsregulierung, die Finanzhilfen des Bundes, die Ausgestaltung des Senats bzw. die Repräsentation der Provinzen in der Legislative in Ottawa, die Besetzung des Supreme Court, die besondere Stellung von Quebec als eigenständiger Nation („distinct society clause“), die Rechte der Aborigines sowie die Regeln der Verfassungsänderung.

Mit der Verabschiedung des Constitution Act von 1982 waren die Regeln der Verfassungsänderung, die bis dahin nur als Verfassungskonvention galten, revidiert worden. Eine Reform des Senates und des Supreme Court bedarf seither der Zustimmung der Parlamente des Bundes und aller Provinzen, die übrigen Reformen müssen, soweit sie die Provinzen betreffen, in sieben Provinzen, die mindestens 50 % der Bevölkerung Kanadas repräsentieren, ratifiziert werden. Vor dem Hintergrund dieser hohen Zustimmungshürde erwies sich das von Premier Mulroney und den Premiers der Provinzen gewählte Verfahren, die Verfassungsänderungen in intergouvernementalen Verhandlungen auszuarbeiten, als problematisch.

In diesen Prozess kam zugleich das Pluralitätsdilemma zum Vorschein. Die Kanadier hatten im 19. Jahrhundert mit dem Westminster Modell der parlamentarischen Demokratie auch das dem entsprechende Zweiparteiensystem übernommen. Unter diesen Bedingungen konnte die Mehrheitspartei im Bundesparlament unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in den Provinzen ihr Gesetzgebungsprogramm verwirklichen, zudem konnte sich die Regierung auf die Zustimmung der eigenen Partei in den Provinzen verlassen, wenn sie ihre spending power nutzte. Damit verstärkten sich allerdings auch die Zentralisierungstendenzen, die von den Provinzen zunehmend kritisch betrachtet wurden. Das Streben von Provinzen nach mehr Autonomie bewirkte schließlich, dass das ursprünglich integrierte Zweiparteiensystem zerfiel und an seine Stelle ein vertikal differenziertes, regional asymmetrisches Mehrparteiensystem trat. In Quebec entstanden regionalistische Parteien, und in den westlichen Provinzen bildeten sich mit der NDP und den New Conservativs eigenständige Parteien. Das Dilemma zwischen Vereinheitlichung und Pluralisierung äußerte sich also in der Desintegration des Parteiensystems, die eine Lösung erschwerte (Wolnietz und Carty 2006).

Das Koordinationsdilemma entstand im kanadischen Föderalismus mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats, als der Bund zunehmend in die Zuständigkeiten der Provinzen eingreifen musste, um die soziale Gleichheit in allen Landesteilen zu gewährleisten. Dies geschah in der typischen Form des „executive federalism“. Auch Verfahren der Verfassungsreform folgten zunächst diesem Muster. In einer für den kanadischen Exekutivföderalismus typischen „federal-provincial diplomacy“ (Simeon 1972), die sich in multilateralen Verhandlungen zwischen allen Regierungschefs und in bilateralen Verhandlungen zwischen Regierungen des Bundes und einzelner Provinzen vollzog, konnte in wesentlichen Fragen eine Einigung erzielt werden. Das Gesamtpaket brachte, der Natur eines Tauschhandels entsprechend, für alle Seiten Gewinne und Verluste. Das Verfahren war geeignet, um in Regierungsverhandlungen eine Vereinbarung zu erreichen, den sogenannten „Meech Lake Accord“. Es war aber nicht geeignet, um sicherzustellen, dass in der vereinbarten Frist alle Parlamente zustimmen, was aber erforderlich war, weil mit der Senatsreform und der Reform des Supreme Court zwei Materien Gegenstand des Pakets waren, die der Einstimmigkeitsregel unterlagen. Zwar können Premierminister in der Westminster-Demokratie normalerweise die Mehrheit im Parlament disziplinieren. Das gilt aber nicht, wenn, wie es nach der Vereinbarung von Meech Lake der Fall war, das intergouvernementale Verfahren Proteste gesellschaftlicher Gruppen provoziert, das einzelne regionale Parlamente in ein Loyalitätsdilemma brachten. Die exekutive Verfassungspolitik scheiterte also letztlich an einem Legitimitätsdefizit und brachte die Spannung zwischen Föderalismus und Demokratie offen zum Ausdruck.

Das Homogenitäts-/Heterogenitätsdilemma zeigte sich in erster Linie darin, dass Quebec die Verfassung nicht akzeptierte. Zwar waren Vertreter der Provinz an Beratungen beteiligt, und bei der Verabschiedung folgte die Bundesregierung einer durch das Verfassungsgericht definierten Konvention, wonach die Provinzparlamente mitwirken mussten. Allerdings leitete das Gericht aus der Konvention nicht die Notwendigkeit einer Zustimmung aller Parlamente ab. Obgleich das Parlament von Quebec sie explizit ablehnte, trat die Verfassung in Kraft. Hieraus folgte der bereits angesprochene andauernde Verfassungskonflikt. Durch faktische Anerkennung von Quebec als „distinct society“ konnte er nur in den Hintergrund gedrängt werden, was erleichtert wurde, als Zuwanderungen die Gesellschaft in Quebec selbst heterogener machten.

Der kanadische Föderalismus muss darüber hinaus ein zweites Homogenitäts/Heterogeninätsdilemma bewältigen. Dessen Ursache liegt in der Anerkennung der Ureinwohner als eigene Nationen („first nations“). Verfassungsrechtlich wurde diese Anerkennung im Constitution Act 1982 verankert. In der praktischen Politik erwies es sich als schwierig, sie zu verwirklichen, weil die Aborigines Peoples soziale Verbände bilden und nicht wie der Bundesstaat territorial organisiert sind. Die formale Gleichberechtigung konnte somit weder politisch noch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht verwirklicht werden.

Das Loyalitätsdilemma schließlich zeigte sich in Kanada wiederum in den Versuchen, diese Konflikte durch Verfassungsreform zu lösen. Der erste Versuch scheiterte, wie erwähnt, daran, dass zwei Provinzparlamente die von den Exekutiven zugesagte Ratifikation der Verfassungsänderung verweigerten. Dieses Scheitern löste einen weiteren Versuch aus, den dieses Mal die Bundesregierung initiierte. Sie reagierte damit auf die Zuspitzung der Konflikte mit den Aborigines Peoples, auf den anhaltenden Konflikt mit der Provinz Quebec, die mit Sezession drohte, auf Anzeichen einer zunehmenden Verselbständigung der reichen Provinz Alberta und auf massive Kritik am Demokratiedefizit im kanadischen Föderalismus. Nach dem Misserfolg der intergouvernementalen Verhandlungen entstand das sogenannte „Charlottetown-Abkommen“ in einem völlig anderen Prozess. Die Bundesregierung organisierte zum einen ein „Citizens’ Forum on Canada’s Future“, das die Interessen und Vorschläge der Bürger zur Verfassungsänderung ermitteln sollte. Zum anderen richtete das kanadische Parlament einen Ausschuss ein, der sich mit dem Verfahren der Verfassungsänderung befassen sollte, der letztlich aber weitergehende Fragen behandelte. Mit einem 28-Punkte-Programm der Regierung starteten die eigentlichen Verfassungsberatungen. Es folgten Beratungsprozesse im gesamten Land, in die die Öffentlichkeit in verschiedensten Formen einbezogen war, etwa in öffentlichen Beratungen von Parlamenten und Anhörungen von Parlamentsausschüssen im Bund und in den Provinzen, oder in mehreren Konferenzen, in denen Interessenvertreter und Bürger über Verfassungsthemen diskutieren konnten (Russell 2004, S. 163–189; Stein 1997; Verrelli 2012).

Die gesellschaftliche Interessenvermittlung hatte erkennbare Auswirkungen auf die Inhalte der Verfassungsänderungen. Als Folge der Beratungen mit diversen Gruppen und Vertretern der Bürgerschaft wurden signifikante Korrekturen an allen Teilen des ursprünglichen Entwurfs der Bundesregierung vorgeschlagen. Demnach sollten etwa die Rechte der Minderheiten in Provinzen gestärkt, die Selbstverwaltungsrechte der Aborigines klarer formuliert und ein Verfahren zur Umsetzung dieser Rechte vorgesehen werden. Ferner sollten die Kompetenzen des Bundes zur Marktregulierung durch eine Sozialcharta ergänzt werden. Den Text für eine Verfassungsreform handelten schließlich die Premierminister in intergouvernementalen Verhandlungen aus. In dieser letzten Verfahrensstufe sagte der Bund der Provinz Quebec eine feste Zahl von Sitzen im Bundesparlament zu, die unabhängig von der Bevölkerungsentwicklung bestehen bleiben sollte.

Diese föderale Abschwächung des Prinzips der politischen Gleichheit traf auf massive Kritik in der Öffentlichkeit. Damit zeigte sich das ungelöste Loyalitätsdilemma in voller Schärfe: Einerseits befürwortete die überwiegende Mehrheit der Bürgerschaft einen multinationalen Bundesstaat, andererseits wollte sie dafür weder Sonderstellungen einzelner Provinzen noch eine zu starke Schwächung des Bundes in Kauf nehmen. Die sich hierauf zuspitzende öffentliche Debatte bewirkte, dass der Charlottetown Accord in einem konsultativen Referendum in den meisten Provinzen abgelehnt wurde. In Quebec votierte eine Mehrheit gegen die Vereinbarung, weil sie die besonderen Interessen ihrer Nation zu wenig berücksichtigt sah. Die Mehrheit im übrigen Kanada befürchtete, dass die Verfassungsreform die Integration des Bundesstaats gefährden würde (Monahan 1993, S. 222–248). In der Folge unternahm die Regierung in Quebec einen weiteren Versuch, die Unabhängigkeit zu erreichen. Das Referendum über eine Sezession scheiterte 1995 allerdings, wenn auch sehr knapp.

3.2 Der kanadische Ausweg: Verfassungsanpassung ohne Verfassungsreform

Die Phase der großen Verfassungsreformen, in denen der kanadische Bundesstaat auf Spannungslagen zwischen Rechtsstaat und Föderalismus, zwischen politischem Pluralismus und territorialem Föderalismus, zwischen exekutiver Koordinierung und demokratischer Legitimierung, zwischen Homogenität und Heterogenität und zwischen unterschiedlichen Loyalitäten reagierte, endeten mit einer von allen Beteiligten als unbefriedigend empfundenen Verfassungsblockade. Die politische Dynamik schien damit abrupt beendet zu sein, was in Kanada im Schlagwort der „constitutional fatigue“ zum Ausdruck gebracht wurde. Tatsächlich jedoch verschob sich die Dynamik lediglich von der Arena der formalen Verfassungsreform in die Arena der Alltagspolitik. Die Politik der „mega-constitutional reform“ (zwischen 1970 und 1995, dazu Russell 2004) wurde durch eine Politik des „microconstitutional change“ (Ostrom 1989) ersetzt.

Nachdem 1995 sowohl weitreichende Verfassungsreformen als auch Sezessionsbestrebungen von Quebec gescheitert waren, bemühten sich Bund und Provinzen, Ergebnisse der Verfassungsberatungen schrittweise, in intergouvernementalen Vereinbarungen, einfachen Gesetzen, in der Rechtsprechung oder in Deklarationen umzusetzen (Lazar 1997). Der in wichtigen Fragen erreichte gesellschaftliche Konsens sowie die Möglichkeit der Revision von Vereinbarungen durch jedes einzelne Parlament lieferten dabei die Legitimitätsgrundlage für Verfassungswandel ohne Verfassungsreform.1994 trat mit dem „Internal Trade Agreement“ eine intergouvernementale Vereinbarung über den Abbau von Handelshemmnissen zwischen Provinzen in Kraft; 1999 wurde das „Social Union Framework Agreement“ beschlossen, das gemeinsame Standards für Leistungen festlegte und dem Bund das Recht zur Finanzierung sozialpolitischer Programme einräumte, den Provinzen jedoch ein Opting-out-Recht verlieh. In dieser Vereinbarung wurden auch Regeln für die „spending power“ definiert. Weitere Verfassungsänderungen wurden durch Bundesgesetze implementiert. So wurde 1996 das Verfahren der Verfassungsänderung modifiziert und New Brunswick offiziell zur zweisprachigen Provinz erklärt. Der „Clarity Act“ von 1996 regelte die Bedingungen für eine verfassungsmäßige Sezession einer Provinz. Durch Vereinbarung zwischen Provinzen wurde 2003 der „Council of Federation“ etabliert, ein Organ, in dem die Regierungen der Provinzen ihre Politik abstimmen und mit dem eine neue Qualität des kooperativen Föderalismus erreicht wurde. 2004 verkündete Premierminister Stephen Harper einen „open federalism“, der die Beachtung der eigenständigen verfassungsrechtlichen Verantwortlichkeiten von Bund und Provinzen, aber auch die notwendige Zusammenarbeit in gemeinsamen Aufgabenfeldern betont (Banting et al. 2004). Möglich wurde diese verfassungspolitische Praxis neben der Unterstützung durch die Bevölkerung auch durch eine zurückhaltende, in der Sache den Bundesstaat stabilisierende Rechtsprechung des Supreme Court (Baier 2008). Die einzige signifikante föderale Verfassungsreform führte 1999 zur Gründung der provinzähnlichen Gebietskörperschaft (territory) „Nunavut“.

Die inkrementelle Verfassungspolitik trug dazu bei, Konflikte zwischen individuellen Rechten und Gruppenrechten (Rechtsstaatsdilemma), zwischen gesamtstaatlichen und regionalen Interessen (Koordinationsdilemma) und zwischen unterschiedlichen Nationalitäten (Homogenitäts-/Heterogenitätsdilemma) abzuschwächen. Das bedeutet nicht, dass die den Konflikten zugrunde liegenden Spannungen gelöst sind. Man hat etwa Divergenzen über Identitätsfragen ausgeklammert (Thomas 2003) und lebt mit einer Verfassungswirklichkeit, die von der geschriebenen Verfassung nur teilweise gestützt wird. Der kanadische Staat ist inzwischen in einem Maße dezentralisiert, das gesamtstaatliche Ziele, etwa in der Umwelt- oder Energiepolitik, schwer verwirklichen lässt. Das pluralistische, dezentralisierte Parteiensystem steht einer verlässlichen vertikalen intergouvernementalen Koordination entgegen. Die Bundesregierung unter Premierminister Harper verzichtet angesichts zu erwartender Widerstände weitgehend auf eine Kooperation mit den Provinzen (Jeffrey 2006), die sich untereinander jedoch stärker horizontal koordinieren.

Gleichwohl konnte die föderative Ordnung stabilisiert werden. Dies gelang weniger durch Festlegung von Verfassungsrecht, sondern durch einen flexiblen Ausgleich zwischen Recht und Politik, zwischen Exekutive und Legislative, zwischen Bund und Provinzen, zwischen divergenten nationalen und regionalen Interessen und zwischen den multiplen Loyalitäten. Der kanadische Bundesstaat „has succeeded in striking the requisite balance between unity and diversity. It has also proven as an arrangement that has proven to be both flexible and resilient allowing Canada to adjust its public policies to changing circumstances over time“ (Bakvis und Skogstadt 2008, S. 3). Spannungslagen wurden also durch eine besonders ausgeprägte Dynamik überwunden (so auch Broschek 2010).

4 Russland: Von der defekten föderalen Demokratie zum autoritären Bundesstaat

Auch im Föderalismus Russlands lassen sich die oben beschriebenen Dilemmata und die daraus resultierenden Dynamiken erkennen. Seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums wurden bundesstaatliche Institutionen fortlaufend reformiert, um das fragile Gleichgewicht zwischen dem Bund und den Föderationssubjekten zu stabilisieren (im Überblick Stoliarov 2003). Russland erbte als ehemalige Sowjetrepublik nach 1990 in verkleinertem Maßstab die Besonderheiten des Sowjetföderalismus. Als Hinterlassenschaft der zentralistischen Planwirtschaft waren Monopolunternehmen unter strategischen Gesichtspunkten in bestimmten Regionen angesiedelt worden. Die dadurch entstandenen territorial-ökonomischen und individuellen Disparitäten wurden durch das Ende der Planwirtschaft und die wirtschaftlichen Reformen der 1990er Jahre, später erneut durch die Bevorzugung „strategischer“, v. a. rohstoffreicher Regionen seitens des Zentrums weiter vertieft (Filippov und Shvetsova 1999; Remington 2011). Als prägendes Erbe übernahm Russland zudem die Überlagerung von ethnisch-nationaler und territorialer Gliederung von der sowjetischen Staatsorganisation. Im Zuge der Systemtransformation, die sich als Zerfall des Sowjetstaates und weitgehend „von oben“ vollzog, wurde die bereits bestehende asymmetrische Gliederung des multiethnischen russischen Staatsgebildes beibehalten.Footnote 2 Beide Merkmale erzeugen und verstärken bis heute die oben beschriebenen Spannungsfelder.

Die ehedem „defekte“, instabile Demokratie der 1990er Jahre wandelte sich nach 2000 innerhalb weniger Jahre in ein autoritäres System und einen „dualen Staat“ (Sakwa 2010), der von einer im Großen und Ganzen formal-demokratischen Verfassung, aber gleichzeitig von autoritären Praktiken geprägt ist. Die Umgestaltung der föderalen Institutionen hat an dieser Entwicklung einen wesentlichen Anteil. Bei einer diachronen Betrachtung der vergangenen 20 Jahre lassen sich zwei Entwicklungsphasen unterscheiden, in denen verschiedene Regimetypen mit einem jeweils anderen Föderalismustypus verbunden wurden: die Regierungszeit von Präsident Boris Jelzin, in der die Beziehungen zwischen Bund und Föderationssubjekten bis etwa zur Jahrtausendwende von einem Prozess der „spontanen Dezentralisierung“ gekennzeichnet waren, sowie die Phase einer starken Rezentralisierung unter Präsident Vladimir Putin, die nach 2000 eingeleitet wurde. Während der Regimetypus in den 1990er Jahren noch als „defekte Demokratie“ bezeichnet werden konnte, wird Russland heute als mehr oder weniger autoritäres System typisiert, das – je nach Erkenntnisinteresse – mit unterschiedlichen Adjektiven versehen wird (z. B. „elektoraler Autoritarismus“, Schedler 2006; Kailitz und Köllner 2013, S. 10). Anhand der fünf oben beschriebenen Spannungsfelder werden im Folgenden die Grundrisse der föderalen Dynamiken in Russland nachgezeichnet.

4.1 Illiberale Demokratie, spontane Dezentralisierung und Vertragsföderalismus der 1990er Jahre

Der Zerfall der Sowjetunion hinterließ in Russland eine verfassungsrechtlich ungeklärte Situation, die mit erheblichen föderalen Fliehkräften einherging. Die territoriale Desintegration des Landes wurde verstärkt durch den Niedergang der KPdSU, die die staatlichen Organe der Gebietskörperschaften mithilfe einer „doppelten Unterstellung“ – unter die übergeordnete staatliche Einheit sowie unter die jeweilige, ihrerseits zentralistisch organisierte Parteieinheit auf der gleichen territorialen Ebene – verklammert hatte. Zunächst blieben die bestehenden nicht-demokratischen verfassungsrechtlichen Grundlagen in Kraft; gleichzeitig jedoch versuchten die politischen Führungen in den Föderationssubjekten bereits, sich politische und ökonomische Vorteile zu sichern. In dieser frühen Transformationsphase wurden in Russland insbesondere das Rechtsstaats-, das Heterogenitäts-/Homogenitäts- und das Loyalitätsdilemma wirksam.

Rechtsstaatliche Prinzipien, die für einen sich demokratisierenden Bundesstaat überdies erst noch entwickelt werden mussten, ließen sich angesichts des brüchigen Fundaments, auf dem der Föderalismus ruhte, kaum durchsetzen. Das Rechstaatsdilemma drückte sich in dieser Phase in den zahlreichen Versuchen aus, auf informellem Wege oder über bilaterale Verträge zu einer Übereinkunft zwischen Bund und Föderationssubjekten zu kommen. Unter dem Druck der politischen und wirtschaftlichen Krise und um weiteren zentrifugalen Entwicklungen entgegenzuwirken, schloss Präsident Jelzin zwischen Februar 1994 und 1998 46 bilaterale Verträge mit den Exekutiven der Föderationssubjekte sowie mehr als hundert Zusatzabkommen ab, die Kompetenzübertragungen an die Regionen regelten. Die subnationalen Parlamente waren an diesen intergouvernementalen Verhandlungen nicht beteiligt. Den 21 ethnischen Republiken gelang es umfassender als den meisten russischen „Föderationssubjekten“, mithilfe der Verträge ihre Privilegien zu bewahren. Nutznießer der Verhandlungen waren insbesondere die Republiken, die rohstoffreich sind und eine starke nicht-russische Minderheit oder sogar Bevölkerungsmehrheit aufweisen (vgl. Dowley 1998; Kahn et al. 2009, S. 314). Mit den Verträgen wurden souveräne Rechte, Steuerhebungsrechte, die Staatsangehörigkeit, das Recht der Regionen auf Unterhaltung von Außenhandelsbeziehungen, die Nutzung der Bodenschätze usw. geregelt. Die ethnischen Republiken konnten durchschnittlich deutlich größere Anteile der eingenommenen Steuern behalten als die russischen Gebiete (Solnick 1996, S. 17). Im Zeitraum von 1996 bis 2003 erhielten die Föderationssubjekte, die bereits von überdurchschnittlichen Steuereinnahmen profitierten, im Rahmen des Finanzausgleichs zudem noch zusätzliche Mittel (Thiessen 2006, S. 211). Bezeichnenderweise befürworteten insbesondere die russischen Gebiete, die finanziell vom Zentrum abhängig waren, eine Unitarisierung und Zentralisierung, weniger jedoch die Republiken mit nicht-russischer Titularnation (Dowley 1998; Kahn et al. 2009, S. 315).

Beide Seiten, Zentrum und insbesondere die Republiken, profitierten von diesem Elitenpakt, handelten sich jedoch gravierende Nachteile ein, die den ohnedies schwachen Rechtsstaat beschädigten. Privilegien wurden nicht anhand objektivierbarer Normen und Verfahren, sondern auf der Grundlage von konsekutiven Verhandlungen vergeben, um ein kollektives Handeln der Föderationssubjekte durch selektive Anreize zu unterbinden (Solnick 1995, 1996). Informale Regeln wurden in beträchtlichem Umfang in das nach der Systemtransformation noch ungefestigte und wenig effektive Institutionengefüge eingepasst. Auch wenn die Verfassung den Abschluss von föderalen Verträgen erlaubte, so widersprachen sie doch teilweise den geltenden Gesetzen und Verfassungsnormen. Einer Auswertung regionaler Rechtsakte zufolge standen beinahe 50 % im Widerspruch zur Bundesverfassung oder zu Bundesgesetzen (Stepan 1999, S. 144; Kahn et al. 2009); einige Republikverfassungen legten gar ihren Vorrang vor der Bundesverfassung fest. Rechtslücken und widersprüchliche Regelungen sowie Ungenauigkeiten in der Kompetenzabgrenzung eröffnen bis heute die Möglichkeit, die bundesstaatlichen Beziehungen nach dem gerade gegebenen politischen Kräfteverhältnis auszugestalten. Dass autokratische, den Wettbewerb schließende Regime in den Föderationssubjekten vom Kreml im Rahmen des beschriebenen Elitenpakts toleriert wurden, trug dazu bei, dass sich die Defekte der jungen russischen Demokratie verstärkten (mit anderen Begründungen Filippov und Shvetsova 2013) und sich das autoritäre Regime bereits vor den Putin’schen Reformen „von unten“ her stabilisierte. Die den demokratischen Föderalismus kennzeichnenden „checks and balances“ waren im Wesentlichen außer Kraft gesetzt.

Ebenso wie im kanadischen Föderalismus umreißt das „Heterogenitäts-/Homogenitätsdilemma“ auch in der multiethnischen Föderation Russlands ein wesentliches Spannungsfeld. Die russische Bundesregierung vermochte diesem Problem jedoch nicht mit einem Ausgleich regionaler Interessen zu begegnen. Sie reagierte statt dessen einerseits mit militärischer Gewalt (Tschetschenien), andererseits räumte sie den Republiken und Gebieten, die über ein erhebliches Erpressungspotenzial verfügten, weitreichende faktische Autonomierechte und Begünstigungen ein. Diese Entwicklung firmierte unter dem Etikett der „spontanen Dezentralisierung“. Ein starker Grad an Dezentralisierung ist für ethno-föderale Systeme zwar durchaus typisch (vgl. Erk und Swenden 2008), da er einem Auseinanderbrechen der Föderation vorbeugen kann. Als Kehrseite des russländischen Vertragsföderalismus wurden jedoch klientelistische Beziehungen in das Verhältnis zwischen Zentrum und Regionen eingebaut, die das „Heterogenitäts-/Homogenitätsdilemma“ erheblich verschärften.

Bereits frühzeitig versuchte Präsident Jelzin, dem Loyalitätsdilemma zu begegnen und sich der Unterstützung der regionalen Eliten zu versichern. Föderale Vertragsbeziehungen hatten sich bereits vor 1991 ausgebildet (Solnick 1995, 1996), als Jelzin mit den auf dem Territorium der RSFSR liegenden autonomen Republiken Verträge auszuhandeln begann, um Sezessionsbestrebungen einzudämmen. Dabei wurden die ethnischen Republiken bereits in vertragsföderale Beziehungen eingebunden, während die russischen Gebiete (oblasti) noch Objekt einer zentralistischen Regierungspraxis blieben. Im März 1992 unterschrieben bis auf Tschetschenien alle regionalen Gebietskörperschaften sowie der Bund den Föderationsvertrag, der den zuvor verabschiedeten Souveränitätserklärungen der ethnischen Republiken einen rechtlichen Rahmen gab. Für die Zentralmacht blieb aber die Loyalität insbesondere in den Föderationssubjekten prekär, die von einem ausgeprägten ethnischen Selbstbewusstsein geprägt sind und gleichzeitig bedeutsame ökonomische Ressourcen aufweisen. Wie labil der russländische Bundesstaat war, zeigte sich nur ein Jahr später in der Verfassungsdebatte, als der Verfassungsentwurf von den ethnischen Republiken zurückgewiesen wurde, die darauf beharrten, dass die ihnen bereits gewährten politischen und ökonomischen Privilegien erhalten blieben. Die Verfassung von 1993 erhielt bezeichnender Weise in 13 der ethnischen Republiken und in zehn russischen Gebieten keine Mehrheit. Präsident Jelzin löste daraufhin die reformfeindlichen regionalen Sowjets auf und setzte die Gouverneure in den russischen Regionen bis zur Präsidentenwahl 1996 selbst in ihr Amt ein. Nachdem die Zentralmacht 1996 ihre Truppen schließlich aus dem verlustreichen Krieg mit Tschetschenien zurückziehen musste, war sie in den zwischen 1994 und 1998 laufenden Verhandlungen mit den Föderationssubjekten, die Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Gliedstaaten durch bilaterale Verträge regeln sollten, geschwächt.

Das Loyalitätsdilemma bewirkte in dieser Phase, dass die föderale Regierung nur eingeschränkt als Prinzipal gegenüber den regionalen Machthabern – vor allem nicht gegenüber den ethnischen Republiken – aufzutreten vermochte. Damit sich die regionalen Eliten gegenüber dem Zentrum weitgehend loyal verhielten, wurden sie demokratischen Standards nicht unterworfen, sondern erhielten weitgehend freie Hand (Blakkisrud 2003, S. 82 ff.). Die Prinzipal-Agenten-Beziehung war in solchen Fällen faktisch aufgehoben, da autoritär regierende subnationale Eliten weder wirksam „von oben“ noch „von unten“ kontrolliert werden konnten. Die Gouverneure und Republikspräsidenten waren zudem seit 1995 qua Amt im Föderationsrat, dem Oberhaus der Föderation, vertreten und mit Immunität ausgestattet. Damit übten sie nicht nur einen beträchtlichen Einfluss auf die Bundespolitik aus, sondern blieben bei Rechtsverstößen weitgehend unantastbar.

4.2 Rezentralisierung und autoritärer Föderalismus

Die zweite Phase ab der Jahrtausendwende war von einer starken Rezentralisierung des föderalen Systems und einer zunehmend autoritären Herrschaftspraxis geprägt (Stoliarov 2003; Petrov und Rybakov 2004). Präsident Jelzin war es zwar gelungen, ein Auseinanderbrechen der Föderation zu verhindern. Die Stabilität der föderalen Ordnung war dennoch fragil geblieben. Präsident Putin war seit seinem Amtsantritt daher bestrebt, seine politische Agenda auch gegen den Widerstand der subnationalen Eliten durchzusetzen und diese effektiver durch das Zentrum zu kontrollieren (vgl. McFaul und Stoner-Weiss 2008). Diesem Ziel diente eine Kaskade von Reformen, die aber nur greifen konnten, weil die Gouverneure und die Republikpräsidenten dazu gebracht wurden, ihre Machtposition aufzugeben. Die institutionelle Umgestaltung föderaler Machtbeziehungen wurde, wie schon in den Jahren davor, wesentlich mit dem Instrument des politischen Tauschs vorangetrieben. Sie zielte insbesondere darauf, die Spannungen, die sich aufgrund des Loyalitäts- und des Pluralitätsdilemmas sowie des Heterogenitäts-/Homogenitätsdilemmas ergeben hatten, im Sinne der Zentralegierung in den Griff zu bekommen. Dies gelang allenfalls in Ansätzen. Durch die von Putin eingeleiteten Maßnahmen wurde indessen das Rechtsstaatsdilemma weiter verschärft; zudem trat das Koordinationsdilemma offen zu Tage.

Die institutionellen Reformen, die zwischen 2000 und 2010 verabschiedet wurden und sich zu der oft beschriebenen „Machtvertikale“ verdichteten, zielten zunächst wesentlich darauf, das ungelöste Koordinationsdilemma in den Griff zu bekommen. Sie weisen die für autoritäre Regime typische Mischung aus Zwang und Anreizen auf. Die bilateralen Verträge wurden durch Präsident Putin gekündigt. Eine vom Präsidenten eingesetzte Kommission („Kozak-Kommission“) bereitete die Harmonisierung der Gesetzgebung vor und übernahm die Aufgabe, den bis dahin von Ad-hoc-Entscheidungen gekennzeichneten Finanzausgleich neu auszugestalten. Die ergiebigsten Steuern, und damit die wichtigsten Finanzquellen, stehen inzwischen dem Zentrum zu. Dieses kann Vergünstigungen vergeben und Massenpatronage betreiben, mit deren Hilfe oppositionellen Organisati‑onen die Unterstützung der Wähler entzogen werden soll. Der Kreml gründete ferner zahlreiche föderale Agenturen und regionale Ableger von Ministerien (z. B. Innen, Justiz, Steuerpolizei; vgl. Taylor 2007; Petrov 2011), die das Gewaltmonopol des Zentralstaats vor Ort ebenso wie eine „von oben“ angeleitete Justiz (Kahn u. a. 2009) durchsetzen helfen. Flankiert wurden die Maßnahmen von verschiedenen Sanktionsmöglichkeiten des Präsidenten gegenüber den regionalen Machthabern. Die föderalen Großbezirke mit den Bevollmächtigten des Präsidenten (polpredy) an der Spitze waren ferner ebenfalls dazu gedacht, die Umsetzung föderalen Rechts in den Regionen effektiver kontrollieren zu können.

Der Kreml reagierte zudem mit dem Aufbau einer föderal organisierten Hegemonialpartei, „Einiges Russland“ (Edinaja Rossija), der die regionalen Eliten rasch beitraten (Reuter 2010; Reuter und Remington 2009), und der Gründung von kreml-treuen „Oppositionsparteien“ auf das Loyalitätsdilemma. Mit der Neukonfiguration des Parteiensystems versuchte der Präsident, das für diese Spannungslage typische Prinzipal-Agenten-Problem in den Griff zu bekommen: Die „Partei der Macht“ minimierte für die subnationalen Eliten die Wahlrisiken als Gegenleistung für den Parteibeitritt, konnte bei Fehlverhalten aber gleichzeitig Sanktionen verhängen (Smyth und Wilkening 2007).

Die Gouverneure und Republikpräsidenten, die sich der Kontrolle des Zentrums teilweise entzogen hatten, wurden nach der Tragödie von Beslan von 2004 außerdem zwischen 2005 bis 2012 wieder vom Präsidenten ernannt. Die regionalen Parlamente, welche die Kandidaten bestätigen mussten und alsbald von der Hegemonialpartei „Edinaja Rossija“ dominiert wurden, unterstützten die Vorschläge des Präsidenten nach 2005 mit durchschnittlich 97 % der Stimmen oder sogar mit einstimmigen Voten (Wegren und Konitzer 2007, S. 1034). Die Gouverneure, die zuvor zusammen mit den regionalen Parlamentspräsidenten ex officio das jeweilige Föderationssubjekt im Föderationsrat vertraten, wurden zudem durch Vertreter aus der Legislative und der Exekutive ersetzt. Die Präsidialadministration schlug dabei überwiegend Kandidaten aus den Regionen vor (Remington 2003, S. 674). Dass die einst mächtigen Gouverneure und Republikpräsidenten in ihre eigene Entmachtung und in die faktische Unterstellung unter das Zentrum einwilligten, lässt sich damit erklären, dass sie als „office seeker“ individuelle Vorteile letztlich höher gewichteten als die Integrität föderaler Institutionen. Putin bot ihnen 2003 eine zusätzliche dritte Amtszeit an, von der ein Großteil der Amtsinhaber Gebrauch machte (Chebankova 2007; Blakkisrud 2011). Die Gouverneure waren ihrerseits außerstande, Strategien kollektiven Handelns gegen das Zentrum zu entwickeln. Etliche von ihnen hatten zuvor offen den Gouverneursblock „Vaterland“ (Otečestvo-Vsja Rossija) des ehemaligen Premiers Jevgenij Primakov unterstützt, der im Präsidentschaftswahlkampf gegen die Putin unterstützende Partei „Einheit“ (Edinstvo) angetreten, aber letztlich ohne Erfolg geblieben war. Die Gouverneure waren als Gruppe nach dem Wahlsieg Putins durch diese Fehleinschätzung geschwächt und befanden sich in einer unterlegenen Position.

Im Gegenzug für den Erhalt ihrer Position sorgten regionale Amtsinhaber dafür, dass Wahlergebnisse im Sinne der föderalen Regierung ausfielen. Betrachtet man das regionale Wahlverhalten nach 2003, erkennt man, dass der Wahlerfolg Putins (und später Dmitrij Medvedevs) in den Präsidentschaftswahlen sowie der Hegemonialpartei „Edinaja Rossija“ in den Dumawahlen positiv mit einem überdurchschnittlichen Stimmenanteil in den Regionen, die autokratisch regiert werden, korreliert (Mikhailov 2004, S. 201 ff.; Gilka-Bötzow und Kropp 2006, S. 784 ff.). Dieses Tauschgeschäft lässt sich insbesondere für das Verhältnis zwischen den Eliten „ethnischer“ Föderationssubjekte (besonders augenfällig im Nordkaukasus) und dem Kreml feststellen (Chebankova 2007, S. 292). Die teilweise anormal hohe Wahlbeteiligung zeugt von der Neigung regionaler Machthaber, die Wahlbevölkerung unter Druck zu setzen und die Ergebnisse zu manipulieren.

Nach den Protesten gegen die Wahlfälschungen bei den letzten Präsidentschafts- und Dumawahlen wurde die Direktwahl der Gouverneure im Juni 2012 erneut eingeführt. Sie enthält jedoch Vorkehrungen, die die Loyalität der regionalen Eliten gegenüber dem Präsidenten sichern sollen. Zugelassen sind Kandidaten, die vom Präsidenten oder von politischen Parteien vorgeschlagen werden. Die regionalen Parlamente können dabei ein eingeschränktes Vetorecht geltend machen; weisen sie den Vorschlag des Präsidenten wiederholt zurück, kann dieser das regionale Parlament auflösen. Dass somit die Wählersouveränität als ultima ratio vom Präsidenten unterlaufen werden kann, zeigt, dass das Loyalitätsdilemma auf eine Weise „bearbeitet“ wird, dass der Präsident letztlich als Prinzipal der regionalen Regierungszweige fungiert. Letztere sollen in diesem Szenario gleichzeitig die Interessen der regionalen Bevölkerung anwaltschaftlich vertreten.

Die beschriebene Umformung des Parteiensystems und die Neuordnung der Gouverneurswahlen von 2005 zielten ebenfalls darauf, das Pluralitätsdilemma im Sinne der sog. „gelenkten Demokratie“ aufzulösen und den Föderalismus stärker vertikal zu integrieren. Die Wahlergebnisse zu den regionalen Parlamenten 1995–1997 verdeutlichten bereits zentrifugale Tendenzen. Der Russländische Föderalismus war kaum durch intermediäre Organisationen untersetzt: Nur 11,6 % der regionalen Kandidaten gehörten einer national organisierten Partei an (Ross 2000, S. 413; 1998 18 %, Moses 2003). Bei den Gouverneurswahlen, die zwischen 1992 und 2002 stattfanden, waren nur sieben Prozent der letztlich erfolgreichen Gouverneure parteigebunden (Golosov 2003). Das noch entstehende Parteiensystem vermochte die bundesstaatlichen Ebenen somit nicht zu integrieren. Mithilfe der Gründung von „Edinaja Rossija“ gelang es, die Wählerbasis der regionalen Parteien und von Einzelkandidaten zu beschneiden. Auch das Wahlrecht wurde durch den Übergang des Grabenwahlsystems zum Verhältniswahlsystem (mit einer Sieben-Prozent-Hürde) sowie durch Auflagen, welche eine Mindestrepräsentation der Parteien in den Föderationssubjekten vorschrieben, entregionalisiert. Demselben Ziel dienten die oben beschriebenen mehrfachen Reformen der Gouverneurswahlen.

Die Bewältigung des Pluralitäts- wie des Loyalitätsdilemmas gelang dennoch nur graduell und an der Oberfläche, da die subnationalen Eliten der Partei nicht aus programmatischen Gründen, sondern aus strategischem Kalkül beitraten, so dass die regionale Ebene bis heute weniger durch eine echte Parteienkonkurrenz, sondern eher durch unterschiedliche Elitengruppen innerhalb der Hegemonialpartei und durch klientelistische Beziehungen geprägt ist (Ross 2011). Im Ergebnis entstand so eine starke vertikale Abhängigkeit der Regionen vom Bund, die gleichzeitig mit einer unterentwickelten horizontalen Koordination zwischen den Regionen einhergeht. In dem Maße, in dem der Kreml die Loyalität der Föderationssubjekte sicherzustellen versuchte, verschärfte er zudem die Probleme, die sich aus einer zentralen Übersteuerung (Petrov 2011) der Regionen ergeben und die in einem autokratischen Bundesstaat mit dem Koordinationsdilemma verbunden sind.

Die Reformen, die auf das Pluralitätsdilemma zielten, setzten zudem demokratische Kontrollen außer Kraft und schwächten den Rechtsstaat. Sie stärkten informale Institutionen und gaben dem Klientelismus neue Nahrung. Das „Rechtsstaatsdilemma“ ist deshalb bis heute ungelöst. Dem Heterogenitäts-/Homogenitätsdilemma begegnete die föderale Regierung in den vergangenen Jahren, indem sie mit ökonomischen Entwicklungsstrategien verschiedene Regionen (z. B. Krasnodar als Austragungsort der Olympischen Spiele) zu fördern versuchte. Jedoch wurden dadurch die ohnedies beträchtlichen interregionalen und individuellen Ungleichheiten eher noch weiter vertieft (Remington 2011). Autoritär regierende Machthaber in den Regionen erhielten zudem „nach innen“ freie Hand, wie das Beispiel Tschetschenien zeigt. Eine gewisse Machtteilung zwischen Zentrum und Regionen ist somit am ehesten bei den „Föderationssubjekten“ gegeben, die autoritär regiert werden, während die stärker demokratisch regierten Regionen dem Zugriff des Zentrums stärker ausgesetzt sind. Es wird daher vermutet, dass der Russländische Föderalismus Autokratie eher erhalte als eindämmen helfe („autocracy-sustaining“) (Obydenkova und Swenden 2013).

5 Kanada und Russland: gleiche Spannungsfelder, unterschiedliche Dynamiken

Der kanadische wie der russländische Föderalismus waren, wie gezeigt, trotz völlig unterschiedlicher Entwicklungspfade von ähnlichen Spannungslagen geprägt, die sich mit den eingangs dargelegten institutionellen Dilemmata erfassen lassen. Wir gehen davon aus, dass diese Spannungslagen die Entwicklungen auch anderer Bundesstaaten wesentlich prägen. Während die beschriebenen Dynamiken in Kanada zwar durchaus Abstriche an der Demokratiequalität erzeugten, letztlich aber den Föderalismus stabilisierten, trugen sie in Russland sowohl zu einer weiteren Entdemokratisierung als auch zu einer Entföderalisierung der ehedem defekten Demokratie bei.

In beiden Bundesstaaten löste das besonders ausgeprägte Heterogenitäts-/Homogenitätsdilemma erhebliche Handlungsunsicherheiten aus, es veranlasste die Akteure aber dazu, unterschiedliche Strategien einzuschlagen. Während die russische Regierung auf militärischen Zwang und Kontrolle, auf nicht-transparente Verträge und Klientelismus setzte, strebte Kanada nach den gescheiterten Verfassungsreformen Verhandlungslösungen an. Diese mögen angesichts ihres intergouvernementalen Charakters unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten nicht unproblematisch sein, jedoch besitzen sie eine andere Qualität als die für Russland typische Aushebelung demokratischer Kontrollen. Auch sonst reagierten die beiden Länder auf die drängenden bundesstaatlichen Herausforderungen der vergangenen Dekaden unterschiedlich. Während in Russland z. B. das Koordinationsdilemma mit einer starken Rezentralisierung und einer weiteren Schwächung des Parlamentarismus beantwortet und letztlich verschärft wurde, wird es in Kanada durch flexible Verhandlungen bearbeitet, in denen immerhin die Parlamente das letzte Wort behalten. Wirklich gelöst ist dieses Dilemma bis heute dennoch nicht, ebenso wenig wie die anderen beschriebenen Spannungsfelder.

Wie unterschiedlich beide Bundesstaaten mit ähnlichen Spannungslagen umgehen, lässt sich besonders gut am Beispiel des Pluralitätsdilemmas verdeutlichen. Die russische Führung reagierte auf das desintegrierte Parteiensystem der 1990er Jahre mit einer Schließung und mit der vertikalen Integration des Parteienwettbewerbs, die den autoritären Charakter des Regimes wesentlich verstärkte. Die kanadische Regierung hingegen begegnet dem regionalisierten Parteiensystem, indem sie einen föderalen Ausgleich über Zugeständnisse an einzelne Provinzen anstrebt und eine weitreichende Dezentralisierung akzeptiert, die allerdings das Koordinationsdilemma verschärft.

Vergleichbare, aber doch unterschiedliche Reaktionen finden wir im Umgang mit dem Loyalitätsdilemma. Während die kanadische Regierung nach den gescheiterten Verfassungsreformen eine Lösung in intergouvernementalen Verhandlungen suchte, die aber im Schatten der Parlamentssouveränität verlaufen und im Konfliktfall einzelner Provinzen die Opt-out-Möglichkeit einräumen müssen, wird die Loyalität der regionalen Machthaber in Russland mit der für autoritäre Regime typischen Mischung von Zwang und klientelistischem Tausch abgesichert. Dies unterminiert den Rechtsstaat, schwächt Wahlen als zentralen Legitimationsmechanismus, hebelt vertikale und horizontale Kontrollen aus und geht mit einer Duldung autokratischer Herrschaftspraktiken in etlichen Föderationssubjekten einher.

Während Spannungslagen in Kanada in verfassungspolitischen Verfahren bewältigt werden, die ständig ein neues Austarieren der Ziele und Machtverhältnisse ermöglichen, reagierte die russländische Regierung mit Machtpolitik, weshalb sich die ohnedies defekte Demokratie Russlands in Richtung eines autoritären Staates entwickelte. Die Reaktion der Bundesregierung auf föderale Spannungslagen hatte daran einen wesentlichen Anteil. Wie in anderen autoritären Systemen, kombiniert die russische Herrschaftspraxis (in Anteilen und Form variierend) Instrumente von Zwang und Tausch. Deshalb hat der russländische Föderalismus klientelistischen Beziehungen, die demokratischen Grundprinzipien widersprechen, eine zusätzliche Schubkraft verliehen, wodurch soziale Konflikte verstärkt werden. Gerade der Vergleich Kanadas und Russlands verdeutlicht somit die große Bedeutung, die einem funktionierenden Rechtsstaat in föderalen Systemen zukommt. Zwar schwächten föderale Spannungslagen den Verfassungsstaat auch in Kanada. Er wird aber dadurch stabilisiert, dass die Verfassung zu einer dauerhaften Angelegenheit der Politik geworden ist, selbst wenn dabei nicht immer formale Verfassungsregeln geändert werden. Die Spannung zwischen individuellen und Gruppenrechten wird jedenfalls nicht zu Lasten einer Seite aufgelöst, sondern immer wieder neu abgewogen. Das Rechtsstaatsdilemma lässt sich somit als eine für Bundesstaaten besonders prekäre Spannungslage identifizieren, der in der vergleichenden Föderalismusforschung besonderes Augenmerk gewidmet werden sollte.

6 Schlussfolgerungen und Forschungsperspektiven

Föderalismus und Demokratie stehen in einem Spannungsverhältnis, das die Dimensionen der Rechtsstaatlichkeit, des Parteienpluralismus, der Machtbalance und des Interessenausgleichs zwischen Bund und Gliedstaaten sowie der Loyalitätsbeziehungen der Bürgerschaft betrifft. Dezentralisierung oder Föderalismus fördern daher nicht notwendigerweise Demokratie, wie immer sie ausgestaltet sein mögen. Aber Spannungen müssen nicht negativ wirken. Sie führen nicht zwingend dazu, dass entweder demokratische Herrschaft und Legitimität blockiert oder der Föderalismus durch Zentralisierung oder Sezession aufgelöst wird.

Die Spannungen scheinen in freiheitlichen Demokratien Dynamiken zu fördern, die einerseits das politische System anpassungsfähig machen und andererseits föderale Demokratie reflexiv werden lassen, indem sie Gegenstand demokratischer Verfassungspolitik wird. Das Beispiel Kanadas ist besonders instruktiv, weil in der multinationalen Konstellation Spannungslagen stark ausgeprägt sind. Zudem erweist sich die spezifische lose Kopplung von parlamentarischer Mehrheitsdemokratie und intergouvernementalem Föderalismus als ausgesprochen flexibel (Broschek 2009). Dies kann erklären, warum der kanadische Bundesstaat trotz massiver Konflikte sich inzwischen in einem dynamischen Gleichgewicht befindet. Andere demokratische Bundesstaaten erreichten diese dynamische „Multistabilität“ wohl auf anderen Wegen und aufgrund anderer Spannungslagen. Dabei kann entweder der Föderalismus oder die Demokratie gestärkt bzw. geschwächt werden. Ob das eine oder das andere zutrifft, lässt sich nur als Richtung einer dynamischen Entwicklung beschreiben, die durchaus umkehrbar ist.

Das Verhältnis von Föderalismus und Autokratie kann in gleicher Weise analysiert werden. Beide Strukturprinzipien sind nicht unvereinbar, sondern bilden ein multidimensionales Regime, dessen Entwicklung durch Spannungen vorangetrieben wird. Defekte Demokratien und autoritäre Systeme sind, anders als etablierte Demokratien, von erheblichen Handlungsunsicherheiten geprägt. Sind sie föderal organisiert, nehmen Unsicherheiten weiter zu. Da die politischen Eliten darauf mit institutionellen und informalen Anpassungsstrategien reagieren, werden Entwicklungsdynamiken freigesetzt. Im Falle Russlands führte dies dazu, dass der Föderalismus auch nach zwanzig Jahren über keine gefestigten Institutionen verfügt und sich der autoritäre Charakter des politischen Systems verstärkt hat (Obydenkova und Swenden 2013). Gleichzeitig jedoch ist es nicht ausgeschlossen, dass sich „von unten“ her auch Potenziale der Redemokratisierung erschließen lassen.

In beiden Konstellationen müssen wir also Föderalismus in seiner Dynamik in einem multidimensionalen Regime verstehen (Benz und Broschek 2013). Im Prozess der Stabilisierung und Veränderung werden, wie unsere beiden Fallstudien andeuten, einzelne Dilemmata abgeschwächt und andere verstärkt. Föderalismus und Demokratie oder Autokratie kommen niemals in ein Gleichgewicht, sondern werden bestenfalls durch Pendelbewegungen um einen theoretisch denkbaren Gleichgewichtspunkt austariert. Ob sich die Bewegung verstärkt und in eine bestimmte Richtung tendiert, hängt von Bedingungen ab, die durch weitere empirisch-vergleichende Forschung erst noch ermittelt werden müssen.

Unsere analytischen Überlegungen und illustrierenden Fallstudien sollten deshalb zeigen, dass der Vergleich demokratischer und autokratischer Föderationen erhebliche Potenziale für neue Erkenntnisse eröffnet. Ein künftiges Forschungsprogramm könnte folgenden Weg beschreiten: Erstens sollte es in größerem Umfang autoritär regierte Föderationen und defekte Demokratien in die Fallauswahl einbeziehen. Zweitens liegt es nahe, zwischen Kombinationen aus unterschiedlichen Typen von Demokratie bzw. Autokratie und Föderalismus zu differenzieren. Drittens sind Dynamiken nur auf einer Zeitachse, d. h. diachron, zu begreifen. Unsere hier vorgestellte explorative Studie verweist daher auf eine Forschungsperspektive, die nach einer typologischen Theorie und empirischen Prozessanalysen („process tracing“) verlangt (für viele: George und Bennet 2005, S. 233–262).