In der Folge des „school shooting“ von Erfurt im Jahr 2002, bei dem 17 Todesopfer zu beklagen waren, begann in Deutschland eine intensive Erforschung des Phänomens schwerer, zielgerichteter Schulgewalt, wovon School Shootings die extremste Erscheinungsform darstellen [40]. Gleichzeitig wurden vielfältige politische Maßnahmen ergriffen, solche Vorfälle in Zukunft zu verhindern und die betroffenen Institutionen besser zu schützen. Sowohl die Forschungsanstrengungen in Deutschland als auch die Bemühungen auf dem Feld der Prävention konnten dabei auf die Ergebnisse und Erfahrungen in den USA zurückgreifen, die spätestens seit dem Attentat auf die Columbine High School in Littleton 1999 eine intensive Erforschung begonnen und bereits verschiedene Präventionsmaßnahmen getestet hatten [2,12,26,32,35,36,43,44]. Der vorliegende Beitrag soll zunächst einen Überblick über diese Erkenntnisse und Erfahrungen geben, um danach das NETWASS-Krisenpräventionsverfahren vorzustellen – einen „Threat Assessment“ Ansatz, bei dem diese Erkenntnisse und Erfahrungen erstmals in Deutschland in ein strukturiertes Präventionsverfahren überführt wurden, welches derzeit – ebenfalls erstmals – an mehr als 100 Schulen umgesetzt und evaluiert wird.

Wissenschaftliche Erkenntnisse zu schwerer zielgerichteter Schulgewalt

Aus den bisherigen wissenschaftlichen Analysen und Untersuchungen zum Phänomen schwerer zielgerichteter Schulgewalt im Allgemeinen und School Shootings im Speziellen lassen sich einige zentrale, generalisierbare Aussagen ableiten, welche die Basis für die weitere Forschung und die Entwicklung von Präventionsansätzen darstellen.

Die erste wichtige Erkenntnis ist, dass sich School Shootings nicht auf einzelne Ursachen zurückführen lassen, sondern multikausal bedingt sind, wobei soziokulturelle, strukturelle, interaktionale und psychische Risikofaktoren zusammenwirken [9,35] Insbesondere die zunehmende globale Verbreitung von School Shootings hat zu der Einsicht geführt, dass neben gesamtgesellschaftlichen Faktoren auch einzelfallspezifisch wirksame, intrapsychische und psychosoziale Faktoren stärker in Erklärungsmodelle für School Shootings einbezogen werden müssen. Typische Risikofaktoren sind etwa „bullying“, exzessive Gewaltfantasien, psychische Auffälligkeiten, intensive Nutzung gewalthaltiger Computerspiele und der Zugang zu Waffen [9,16,45]. Auch wenn im Endeffekt das gleiche Ergebnis, ein Fall schwerer, zielgerichteter Schulgewalt, beobachtet werden kann, gestaltet sich das Zusammenspiel einzelner Risikofaktoren immer wieder sehr unterschiedlich [4]. Ein grundlegendes Fazit der Forschung ist daher, dass „school shooter“ kein einheitliches Täterprofil aufweisen [44].

Im Zusammenhang mit dem Befund der Multikausalität lässt sich eine zweite Erkenntnis formulieren: School Shootings sind nicht spontane, affektgesteuerte Taten, die sich allein aus der jeweiligen Situationslogik ergeben, sondern vielmehr Endpunkte eines krisenhaften Entwicklungsprozesses, in dessen Verlauf sich eine allmähliche Annäherung an eine Tatidee vollzieht und die Tat selbst im Vorfeld detailliert geplant wurde [36,43,44]. Verschiedene Untersuchungen konnten längerfristige gedankliche Beschäftigungen und Tatplanungen bis zu 2 Jahre vor Umsetzung der Tat rekonstruieren [26,32,44]. Hinsichtlich der genaueren Beschreibung eines solchen krisenhaften Entwicklungsprozesses wurden in den letzten Jahren mehrere Entwicklungsmodelle [3,4,24,31] und Tätertypologien [13,28] erarbeitet, die versuchen, das Zusammenspiel von psychischer Vulnerabilität (z. B. depressive Symptome oder narzisstische Persönlichkeitszüge), krisenhaften Lebensereignissen (z. B. Erfahrungen von Marginalisierung, sozialer Zurückweisung oder Isolation sowie Bullying), dem Einfluss soziokultureller Vorbilder und Identifikationsfolien (z. B. Orientierung an früheren School Shootings bzw. medialer Gewalt) sowie struktureller Faktoren (z. B. Waffenzugang) im Zeitverlauf zu erfassen und verschiedene Entwicklungswege aufzuzeigen. Unstrittig erscheint dabei, dass die Entwicklung von individuellen Krisen begleitet wurde, die entweder nicht ausreichend erkannt wurden oder aber in denen keine adäquate Hilfestellung erfolgte.

Die dritte und wichtigste Erkenntnis ist, dass trotz unterschiedlicher Entwicklungswege ein gemeinsames Merkmal aller Täter darin bestand, dass sie ihre Tatideen, Tatfantasien oder Tatplanungen im Vorfeld auf verschiedene Art und Weise nach außen kommunizierten, wofür sich in der Fachöffentlichkeit der Begriff des „leaking“ (engl.: „to leak“: leckschlagen, durchsickern) etabliert hat. Dabei handelt es sich um verschiedenartige Ankündigungen einer möglichen Tat durch die späteren Täter, die im Zusammenhang mit School Shootings bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Entwicklungsverlauf, oftmals wiederholt, beschrieben worden sind [2,36]. Leaking äußert sich einerseits direkt durch verbale, schriftliche oder zeichnerische Statements (z. B. Aussagen dazu, eine Person in der Schule töten zu wollen, oder Comiczeichnungen eines Amoklaufs) sowie Fotos oder Filmaufnahmen (teilweise auch im Internet). Leaking kann aber auch indirekt durch auffällige Verhaltensweisen vermittelt werden: etwa durch eine intensive Beschäftigung mit gewalthaltigen Themen (insbesondere mit engerem, inhaltlichen Bezug zu einer möglichen Tat, also z. B. School Shootings oder Amokläufen), suizidalen Tendenzen, einem martialischen Auftreten im Stile medialer Rächerfiguren oder anderen sehr auffälligen Verhaltensänderungen [4,23]. Da Leaking somit öffentlich beobachtbares Verhalten impliziert, handelt es sich um ein entscheidendes Phänomen, das die Entwicklung in Richtung einer Tat nach außen hin signalisieren kann [4]. Dieser Befund wird noch dadurch verstärkt, dass Leaking vor jedem bisherigen School Shooting, das näher analysiert wurde, retrospektiv mehrfach identifiziert werden konnte [2,32,35,36,39,43].

Zusammenfassend sind somit die Feststellung der Multikausalität von School Shootings, der Befund einer längerfristigen Entwicklungsdynamik im Vorfeld der Taten sowie das Wissen um das Phänomen des Leaking als beobachtbares Warnsignal als die wichtigsten Erkenntnisse der bisherigen Forschung zu nennen. Für eine Nutzung dieser Erkenntnisse zur Entwicklung präventiver Ansätze sind allerdings die wissenschaftlich-methodischen Limitierungen aufgrund verschiedener Forschungsprobleme zu berücksichtigen [21,27]: Die skizzierten Erkenntnisse basieren in der Regel auf einer geringen Anzahl analysierter Fälle von School Shootings, wobei Verzerrungen aufgrund der Mehrfachanalyse einzelner spektakulärer Fälle, der Nutzung unsicherer Datenquellen (Medienberichte statt Ermittlungsakten) und des Problems unterschiedlicher kultureller Hintergründe der Fälle nicht auszuschließen sind. Grundsätzlich erscheint eine zuverlässige Prädiktion von Taten allein aufgrund der geringen Basisrate von School Shootings praktisch unmöglich. Erschwerend kommt hinzu, dass eine kausale (ursächliche) Wirkung identifizierter Risikofaktoren auf die Tatgenese nicht belegt ist, sondern nur vermutet werden kann, da es sich um retrospektiv ermittelte Häufungen von Merkmalen und Verhaltensweisen der späteren Täter handelt, deren Spezifität gegenüber Merkmalen der jugendlichen Normalpopulation oder Personen mit ähnlichen auffälligen Verhaltensweisen bislang nicht nachgewiesen ist [27,40].

Ansätze der Prävention schwerer Schulgewalt

Die zentralen Erkenntnisse der bisherigen Forschung, aber auch die forschungsmethodisch begründeten Limitierungen, haben sich auch auf die Bemühungen um die Entwicklung von Ansätzen der Prävention schwerer Schulgewalt ausgewirkt. Aufgrund der Multikausalität von School Shootings sind universalpräventive Ansätze der Primärprävention, welche nur einzelne Risikofaktoren fokussieren (Bullying-Prävention, Verschärfung von Waffengesetzen), auch wenn sie gesamtgesellschaftlich wünschenswert sind, hinsichtlich einer Früherkennung als nur bedingt zielführend anzusehen. Universalpräventive Ansätze der Hilfe im Notfall (Krisenpläne, technische Präventionsmaßnahmen) wiederum können immer nur das Ausmaß einer Tat begrenzen und greifen nicht im Vorfeld der Tat. Zudem müssen sie ausreichend flexibel gestaltet sein, um verschiedenen Varianten der Tatausübung gerecht zu werden. Da sich die primäre Prävention von School Shootings somit generell als schwierig erweist [8], konzentrieren sich alle neueren Ansätze auf Maßnahmen der sekundären Prävention, also der Früherkennung gefährdeter Subgruppen (selektive Prävention) oder bereits auffälliger Personen (indizierte Prävention).

Doch auch im Feld der sekundären Prävention lassen sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Wirksamkeit (und Sinnhaftigkeit) der Maßnahmen beobachten. Die im amerikanischen Kontext anfänglich aufgestellten Checklisten mit Risikofaktoren für School Shootings und Gewalt an Schulen im Allgemeinen [1,17,34] und daraus abgeleitete Varianten des „profiling“ gerieten als einfaches Mittel der Problemlösung schnell in Kritik, da sie sich als zu unflexibel, wenig fundiert und zu undifferenziert erwiesen. Die mangelnde Spezifität und daher häufig recht große Verbreitung der bislang bekannten Risikofaktoren für School Shootings beinhalten ein hohes Risiko von Falsch-positiv-Klassifizierungen [38]. Damit besteht die Gefahr, Kinder und Jugendliche die keinerlei tatsächliche Tatpläne verfolgen zu stigmatisieren [33]. Die aufgrund der Kritik an diesen Maßnahmen selektiver Prävention entwickelten neueren Ansätze des Threat Assessment (Bedrohungseinschätzung) verschreiben sich daher einem flexiblen Vorgehen, um eine systematische Recherche nach weiteren Risikofaktoren sowie eine gemeinsame, aber individuelle Bewertung zu ermöglichen [13,19,38]. Das Threat Assessment wurde vom Secret Service entwickelt und diente ursprünglich der Einschätzung der Ernsthaftigkeit von Drohungen gegen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Auffällige Individuen und/oder Gruppen sollten frühzeitig identifiziert und die Ernsthaftigkeit der von ihnen ausgehenden Bedrohung eingeschätzt werden, um rechtzeitig eine mögliche Gewalttat gegen die zu schützende Person zu verhindern [18]. Auf Grundlage der Untersuchung von 37 School Shootings in den USA zwischen 1974 und 2000 [44] wurden die Methoden des Threat Assessment auch auf schwere, zielgerichtete Gewalttaten im Schulkontext übertragen [19]. Als elaboriertester Ansatz ist das von Cornell et al. [13] entwickelte Virginia Model for Student Threat Assessment zu nennen. In einem mehrstufigen schulinternen Verfahren werden dabei Drohungen und bedrohliche Verhaltensweisen von Schülern hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit bewertet und Interventionen eingeleitet, um die Gefahren einer Gewalteskalation zu verringern und dem Schüler adäquate Hilfe zukommen zu lassen. Erste Evaluationsergebnisse weisen auf positive Ergebnisse dieses Verfahren hin [14,15].

Ergebnisse des Berliner Leaking-Projekts

Da es sich sowohl bei den wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Fallanalyse als auch den erprobten Maßnahmen der indizierten Prävention bis 2006 fast ausnahmslos um US-amerikanische Erkenntnisse und Erfahrungen handelt, deren Übertragung auf Deutschland unklar war, wurde das Berliner Leaking-Projekt an der Freien Universität Berlin umgesetzt. Eine erste Pilotstudie im Rahmen der Aktenanalysen zu vier School Shootings in Deutschland konnte dabei an die amerikanischen Erkenntnisse anknüpfen und nachweisen, dass bei allen Taten im Vorfeld Leaking aufgetreten war [5]. In der Folge ließ sich der Befund auf drei weitere Taten in Deutschland bis 2006 ausweiten [4]. Zudem zeigten sich in den Tat- und Täteranalysen erhebliche Unterschiede zwischen den amerikanischen und deutschen Taten, auf die an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden kann, die jedoch die Notwendigkeit der Berücksichtigung kultureller Besonderheiten verdeutlichen [10]. Detaillierte Analysen der Leaking-Phänomene belegten darüber hinaus, dass alle Täter dieses nicht nur bei einer Gelegenheit, sondern wiederholt gezeigt hatten, und zwar auf verschiedene Art und Weise, gegenüber einer Vielzahl von Personen sowie in verschiedenen Kontexten. Zudem wurde im Rahmen des Projektes eine erste Vergleichsanalyse zwischen Tätern und einer Vergleichsgruppe von Jugendlichen durchgeführt, die zwar Leaking-Verhaltensweisen gezeigt, aber keine Tat vollzogen hatten. Dabei wurde ersichtlich, dass die Vergleichsgruppe deutlich weniger Wiederholungen von Leaking aufwies als die späteren Täter. Häufig erfolgte Leaking gegenüber Gleichaltrigen; Erwachsene erfuhren davon zumindest in diesen Fällen auch durch die Zeugen meist nichts [4,6]. Über eine systematische Untersuchung von Gewaltmeldebogen im Land Berlin, die verpflichtend von Schulen bei Gewaltvorfällen auszufüllen sind, über einen Zeitraum von annähernd 10 Jahren, wurde im Rahmen des Projektes außerdem deutlich, dass Leaking auch an deutschen Schulen ein relevantes Phänomen darstellt und trotzdem selten genug vorkommt, sodass es prinzipiell möglich erscheint, auf jeden Einzelfall individuell zu reagieren und somit auch ein zeit- und ressourcenintensives Vorgehen wie das Threat Assessment in erforderlichen Einzelfällen anzuwenden [7]. Im Rahmen eines Pilotversuches an acht Schulen wurden zusätzlich Schulungen der Schulmitarbeiter zum Thema Leaking durchgeführt, entsprechend den Ansätzen des Threat Assessment die zentrale Anlaufstelle eines „Leaking-Beauftragten“ eingerichtet und über einen Zeitraum von 6 bis 9 Monaten praktisch erprobt. Die Rückmeldung der beteiligten Schulmitarbeiter verdeutlichte, dass diese für derartige Interventionen durchaus zugänglich sind und davon profitieren können [30]. So äußerten die Lehrer signifikant weniger Gefühle der Überforderung, wenn sie mit Leaking konfrontiert werden, sowie ein größeres Repertoire an Reaktionsmöglichkeiten auf Ankündigungen von Gewalttaten. Diese Ergebnisse des Berliner Leaking-Projektes wiesen schließlich den Weg für ein größeres Anschlussprojekt zur Umsetzung eines Threat-assessment-Ansatzes an Schulen in Deutschland, das ProjektNETWorksAgainstSchoolShootings (NETWASS).

Das NETWASS-Krisenpräventionsverfahren

Das im Projekt NETWASS entwickelte Präventionsverfahren [30] basiert auf den dargestellten Befunden der internationalen Forschung sowie den Erfahrungen mit Threat Assessment-Verfahren, insbesondere dem Virginia Model for Student Threat Assessment, und knüpft unmittelbar an die Ergebnisse des Berliner Leaking-Projektes an. Im Sinne eines „scientist practitioner model“ [11,22] sollen dabei wissenschaftliche Erkenntnisse zur Begründung der Erarbeitung praktischer Handlungsprogramme herangezogen werden, deren Anwendungserfahrungen wiederum in die wissenschaftliche Diskussion zurückfließen. Im Fall des NETWASS-Projektes soll durch die Entwicklung eines wissenschaftlich begründeten Präventionsverfahrens eine frühe Identifizierung und sichere Bewertung krisenhafter Entwicklungsverläufe von Jugendlichen ermöglicht werden, um auf diese Weise eine Verbesserung des Umgangs mit Androhungen und Bedrohungen an Schulen und eine Verbesserung der Sicherheitslage an deutschen Schulen zu bewirken und Schüler sowie Schulpersonal vor schwerer zielgerichteter Schulgewalt zu schützen [30].

Der zentrale Ausgangspunkt des Krisenpräventionsverfahren (Abb. 1) sind Verhaltensweisen, die als Leaking klassifiziert wurden und von Dritten beobachtet werden können, also direkte Ankündigungen einer Gewaltanwendung gegenüber anderen oder sich selbst in verschiedenen Formen (mündlich, schriftlich, zeichnerisch usw.) sowie indirekte Hinweise aufgrund von besorgniserregenden Verhaltensänderungen, die eine besondere Faszination für Gewalt erkennen lassen. Damit werden entsprechend der Empfehlung von Fein et al. [19] nicht nur direkte Drohungen einbezogen, sondern auch Verhaltensweisen und individuelle Entwicklungen, die auf andere bedrohlich wirken können. Im Folgenden wird das Verfahren in seinen einzelnen Schritten erläutert.

Abb. 1
figure 1

Das NETWASS-Krisenpräventionsverfahren. (In Anlehnung an Panno et al. [37])

In einem ersten Schritt ist es notwendig, das beobachtete Verhalten bzw. die Entwicklung danach zu untersuchen, ob es/sie situativ erklärbar erscheinen. Diese Einschätzung entspricht im Wesentlichen der im Virginia Model for Student Threat Assessment zu treffenden Unterscheidung von „transitive“ vs. „non-transitive threats“ [13]. Als situativ erklärbar ist ein Verhalten oder eine Entwicklung dann anzusehen, wenn ein Auslöser erkennbar und nachvollziehbar und der Ausgang der Situation kalkulierbar ist, etwa eine im Rahmen einer Schulhofprügelei aufgrund eines Handydiebstahls ausgestoßene Drohung „Ich bring’ dich um“, die sich durch eine pädagogische Intervention als nicht ernst gemeinter Ausdruck der im Streit erlebten Wut erklären lässt, oder etwa Gewaltandrohungen, die zweifelsfrei als Scherz identifiziert werden können. Anders verhält es sich bei Verhaltensweisen oder Hinweisen, die von einzelnen Begutachtern in ihrer gesamten Tragweite weder überblickt noch überprüft werden können, also nicht situativ erklärbar und auch nicht kalkulierbar sind oder bereits Hinweise auf eine krisenhafte Entwicklung in Richtung einer Gewalteskalation geben, wie etwa zielgerichtete Gewaltfantasien oder ein übermäßiges Interesse an schulischen Attentätern. In diesem Fall ist eine umfassende Analyse der Gesamtsituation des Jugendlichen dringend geboten.

Eine umfassende Analyse der Gesamtsituation eines Jugendlichen sollte unter Heranziehung aller verfügbaren Informationsquellen und – wenn möglich – in interdisziplinär besetzten Teams stattfinden, um einerseits Ganzheitlichkeit und andererseits Multiperspektivität zu ermöglichen. Ist die Entscheidung für eine umfassende Analyse der Gesamtsituation des Jugendlichen getroffen worden, folgt diese einem Dreischrittverfahren:

  1. 1.

    Im ersten Schritt geht es darum, zunächst die Gefahr einer Gewalteskalation abzuschätzen und, wenn notwendig, den Schutz bedrohter Personen zu gewährleisten. Die Gefährlichkeitsanalyse orientiert sich dabei an 12 Fragen, die hierfür vom U.S. Secret Service [19] entwickelt und durch die Entwickler im NETWASS-Projekt geringfügig angepasst wurden (Tab. 1).

  2. 2.

    Der darauf folgende zweite Schritt umfasst eine gründliche Analyse der Gesamtsituation des Jugendlichen hinsichtlich weiterer Risikofaktoren, die auf eine mögliche krisenhafte Entwicklung hindeuten. Die leitende Frage ist dabei: Befindet sich der Jugendliche in einer krisenhaften Entwicklung oder gar einer akuten Krisensituation? Dabei sollten die aus der Forschung bekannten Risikofaktoren Berücksichtigung finden, gleichwohl diese nicht in Form einer Checkliste abgefragt, sondern eher im Sinne einer orientierenden Heuristik verwendet werden. Im Ergebnis steht die Frage nach der Hilfebedürftigkeit des Jugendlichen im Zentrum.

  3. 3.

    Der dritte Schritt des Verfahrens zielt auf die Identifizierung von Schutzfaktoren in der Gesamtsituation des Jugendlichen. Da über die Wirkung von Schutzfaktoren in der Entwicklung hin zu zielgerichteten Gewalttaten bislang wenig bekannt ist, sollten daher allgemeine Schutzfaktoren aus der Forschung zu Gewaltverhalten im Jugendalter [42] Berücksichtigung finden. Auf diese Weise wird die alleinige Fokussierung auf risikobehaftete Aspekte des Jugendlichen durchbrochen, und den professionellen Fachkräften werden gleichzeitig Möglichkeiten bestärkender Maßnahmen an die Hand gegeben.

Tab. 1 Bewertungskriterien des NETWASS-Krisenpräventionsverfahrens

Wie sich im Überblick über das geschilderte Krisenpräventionsverfahren erkennen lässt, wird der Aspekt der Gefährlichkeitseinschätzung beobachtbarer Verhaltensweisen mit einer Gesamtanalyse vorliegender Risiko- und Schutzfaktoren kombiniert, was als eine besonders effektive Strategie der indizierten Gewaltprävention angesehen werden kann [41]. Entgegen verschiedenen anderen Modellen des Threat Assessment [13,25], die aus der Analyse eine Gesamteinschätzung, häufig in Form einer abgestuften Gefährlichkeitseinschätzung (Ampelmodell), ableiten, folgt der Dreischrittprozess des NETWASS-Krisenpräventionsverfahrens einer vorrangig am Krisenmanagement orientierten Perspektive, bei der jedem identifizierten Einzelfaktor eine entsprechende risikomindernde bzw. schutzsteigernde Maßnahme zuzuordnen ist. Damit wird auch der Gesamtfokus des Verfahrens gegenüber anderen Ansätzen ein wenig verschoben, steht doch stärker der Aspekt der Intervention und Hilfe in der krisenhaften Situation eines Jugendlichen im Mittelpunkt und nicht allein die Einschätzung der Gefährlichkeit der Situation.

Anwendungen des Krisenpräventionsverfahrens

Im Rahmen des NETWASS-Projektes wird das Krisenpräventionsverfahren derzeit in 2 Anwendungsformen eingesetzt. Die zentrale Anwendung besteht in einem schulbezogenen Präventionskonzept [30], bei dem das dargestellte Verfahren in ein 4-stufiges Organisationskonzept zur Nutzung für schulische Krisenteams überführt wurde [37]. Um den in der Forschung identifizierten Problemen [20,29] hinsichtlich der schulischen Intervention im Vorfeld früherer School Shootings, wie Aufgabensegregation und fehlende Informationsbündelung, zu begegnen, wurden in diesem Organisationskonzept durch die Einrichtung eines zentralen „Ansprechpartners Krisenprävention“ und die Einführung von Prinzipien der strukturierten Beratung im Krisenteam Regelungen getroffen, diesen Problemen adäquat zu begegnen. Zudem wurde der Einbezug regionaler Netzwerkpartner (Schulpsychologie, Polizei, Jugendamt, Jugendhilfe) soweit möglich strukturell verankert, um die Güte und Passgenauigkeit schulischer Maßnahmen zu gewährleisten. In dieser Form wird das Verfahren von 2010 bis 2012 an mehr als 100 deutschen Schulen in 3 Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Baden-Württemberg) umgesetzt und umfangreich evaluiert [s. Kasten Evaluationsdesign]. Die Implementierung des Verfahrens erfolgte dabei in vier verschiedenen Bedingungen 1. direktes Training in den Schulen durch Projektmitarbeiter, 2. Implementierung über einen Multiplikatorenansatz durch Schulpsychologen und Polizeibeamte, 3. durch einen „Blended-learning“-Ansatz (Onlineschulung und Präsenzveranstaltung) sowie 4. über die Einführung einer Informationsbroschüre. Mit Ausnahme der vierten Implementierungsbedingung, in der die Inhalte des Projektes dem Kollegium in einer einmaligen Veranstaltung vorgestellt wurden, fanden in allen Bedingungen eine zweitägige intensive Fortbildung des schulischen Krisenteams und eine Schulung des Kollegiums statt. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass alle Schulmitarbeiter hinsichtlich des Phänomens Leaking sensibilisiert sind und die schulinternen Abläufe des Krisenpräventionsverfahrens kennen. Im Rahmen des Blended-learning-Ansatzes erfolgte die Schulung des Kollegiums durch eine onlinebasierte Fortbildung, während das Training des Krisenteams vor Ort stattfand. Besonders die onlinebasierte Fortbildung verdient besondere Beachtung, da sie die Möglichkeit schafft, auch eine größere Anzahl von Schulen mit den Schulungsinhalten zu versorgen und gleichzeitig eine ressourcenschonende und dennoch individualisierte Lernmethode bietet.

Evaluationsdesign des Projektes NETWASS

Zur Evaluation der Schulungseffekte und der Anwendung des Krisenpräventionsverfahrens wird ein quasiexperimentelles Vergleichsgruppendesign genutzt. Die Auswahl der Schulen berücksichtigte sowohl hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Struktur unterschiedliche Schulamtsbezirke innerhalb von drei Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Baden-Württemberg) als auch verschiedene Schulformen [Berufsschulen, Gymnasien, Sekundarschulen (Haupt-, Realschulen) sowie Grundschulen]. Die am Programm interessierten Schulen wurden den jeweiligen Implementierungsbedingungen randomisiert zugeordnet und dann zu 3 Messzeitpunkten befragt (Prä-, Post- und „Follow-up“-Erhebung nach ca. 7 Monaten). Die Stichprobe wird damit ca. 4000 Mitarbeiter an Schulen beinhalten. Neben den Befragungen aller Schulmitarbeiter werden in regelmäßigen Abständen Interviews mit den Mitgliedern der Krisenteams durchgeführt, um Auskunft über die Implementierung und Nutzung der erweiterten NETWASS-Strukturen an der Schule zu erhalten. Durch standardisierte Dokumentationsbogen werden außerdem alle beobachteten Leaking-Vorfälle an das NETWASS-Projekt gemeldet. Somit können später auch Aussagen zum Zusammenhang des objektiven Risikos (prozentualer Anteil von Leaking und Drohungen an Schulen) und des subjektiven Sicherheitsgefühls der Mitarbeiter an der Schule gemacht werden.

Eine zweite Anwendungsform des Krisenpräventionsverfahrens stellt das Pilotprojekt Telefonische Beratung bei krisenhaftem Schülerverhalten im Schulkontext (TEBESKO) dar, welches in Kooperation mit dem Berliner Notdienst Kinderschutz, der Unfallkasse Berlin und dem Institut für Arbeit und Gesundheit (IAG) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung im Land Berlin umgesetzt wird. Das Projekt umfasst eine niedrigschwellige, anonyme telefonische Beratung für Schulmitarbeiter, die hinsichtlich der krisenhaften Entwicklung eines Schülers besorgt sind und hierzu eine erste professionelle Einschätzung haben möchten, bevor der Weg der schulinternen und schulexternen Weiterleitung beschritten wird, oder die gar erst einmal Informationen über schulinterne und -externe Hilfemöglichkeiten benötigen. Diese Beratung wird durch Telefonberater des Jugendnotdienstes Berlin angeboten, die hierzu in der Anwendung des Krisenpräventionsverfahrens speziell geschult wurden. Auch dieses Teilprojekt wird hinsichtlich der Anfragearten und Konstellationen gemeldeter Fälle evaluiert. Im Fall einer positiven Evaluation werden eine Ausdehnung auf weitere Zielgruppen (z. B. Eltern, Schüler) und eine Dissemination in weiteren Bundesländern erwogen.

Ausblick

Im Sinne des Scientist practitioner model wird es in der Zukunft darauf ankommen, die Ergebnisse der Evaluationen, aber auch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse in der Weiterentwicklung des Krisenpräventionsverfahrens einzuarbeiten und es auf diese Weise zu verbessern. Besonders hinsichtlich der wissenschaftlichen Erforschung von School Shootings bestehen hierbei noch vielfältige Erkenntnisinteressen, die wissenschaftliche Anschlussarbeiten notwendig erscheinen lassen, wie etwa international ausgerichtete, kulturvergleichende Analysen oder Vergleichsanalysen zwischen School Shootings und anderen Phänomenen, wie Tatandrohungen, jugendlichen Mordfällen, Suiziden oder terroristischen Anschlägen. Auf diese könnten die Spezifität bisheriger Risikofaktoren konkretisiert, bisherige Entwicklungsmodelle überprüft und die Untersuchung des Leaking-Phänomens weitervertieft werden. Ebenso notwendig erscheinen Arbeiten, die sich gezielt mit der therapeutischen Behandlung von Jugendlichen beschäftigen, für die sich Hinweise auf eine krisenhafte Entwicklung in Richtung einer schweren zielgerichteten Gewalttat ergeben, da sich in der Praxis neben dem Problem der Identifizierung immer auch das Problem der adäquaten Behandlung ergibt.

Interessenkonflikt

Hiermit erklären wir, dass hinsichtlich einer Veröffentlichung des vorliegenden Beitrags keinerlei Interessenkonflikte bestehen.