1 Einordnung des Themas in den wissenschaftlichen Diskurs

Heranwachsende müssen bei der Gestaltung ihrer Bildungsbiographien neben der gezielten leistungsbezogenen Aneignung standardisierter schulischer Bildungsinhalte und Bildungsformen auch qualitativ ganz andere (vor allem informelle) Bildungsleistungen erbringen, von denen letztlich ihr lebensverlaufsbezogener Bildungserfolg in seiner Gesamtheit abhängt. Solche vor allem außerschulisch zu erbringenden Bildungsleistungen werden in ihrem Stellenwert vielfach unterschätzt, zumal deren Bildungsbedeutsamkeit häufig erst in Verbindung mit schulischen Bildungsanteilen erkennbar wird. Besonders in Familie und Gleichaltrigengruppe herrschen „erfahrungsbezogene Bildungsinhalte und Strategien vor, die mit den in der Schule dominierenden Leistungs- und Qualifikationsanforderungen auf sehr unterschiedliche Weise zusammentreffen“ (Grundmann et al. 2003, S. 25). Gerade in der letzten Dekade ist eine zunehmende Aufmerksamkeit für die nachhaltige Bedeutung der angesprochenen „erfahrungsbezogenen“, lebensweltlich geprägten Bildungsanteile erkennbar, wobei sich die Bildungsforschung zum einen für den grundlegenden Beitrag der Familie zu den Bildungsprozessen von Heranwachsenden interessiert (vgl. dazu Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2002). Zum anderen wird zunehmend der Frage nach der bildungsstiftenden Wirkung von „Freizeit“ und „Kultur“ im Kontext von alltagsbezogenen Peerorientierungen und Gleichaltrigenbeziehungen im Kindes- und Jugendalter nachgegangen (Thole und Höblich 2008; Harring et al. 2010).

Vor diesem Hintergrund lassen sich – blickt man auf die empirische Bildungsforschung des vergangenen Jahrzehnts zurück – vor allem zwei Entwicklungslinien ausmachen, welche das Feld der empirischen Bildungsforschung bis heute nachhaltig dominieren. Zum einen sind es die groß angelegten nationalen und internationalen Schulvergleichsstudien wie PISA, IGLU oder DESI, deren Akronyme heute zum selbstverständlichen Vokabular eines jeden Sozialwissenschaftlers zählen. Hier ist das Forschungsziel darauf ausgerichtet, die schulischen Bildungserträge anhand von standardisierten Erhebungsverfahren und entsprechend geeigneten Kompetenzmaßen objektiv, zuverlässig und gültig zu vermessen. Auf der Basis so gewonnener Befunde sollen dann geeignete Maßnahmen zur Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf der Grundlage weiter zu entwickelnder Standards identifiziert werden. Im Fokus dieses Zweigs der empirischen Bildungsforschung steht also der messbare Erwerb von definierten Kompetenzen in formalen (institutionalisierten) Bildungskontexten (Brake 2003, S. 32 f.).

Demgegenüber richtet sich die zweite klar auszumachende Forschungsrichtung auf ein Terrain, das sich der empirischen Bildungsforschung vergleichsweise viel schwieriger als Gegenstand einer direkten Vermessung öffnet. Hier geht es um die Orte und Anlässe der informellen BildungFootnote 1, die in den letzten Jahren eine erhöhte Beachtung im Kontext der Erforschung bildungsbiographischer Verläufe im Kindes- und Jugendalter erfahren haben. Allein schon der Befund, dass die Kompetenzverteilungen bei Schülerinnen und Schülern weit weniger stark mit deren Allokation auf die verschiedenen Schulformen des gegliederten Schulsystems zusammenhängen, als dies unter der Perspektive einer gerechten Verteilung von Bildungschancen zu fordern wäre, zeigt, dass es dringend notwendig ist, die bisherige Engführung der empirischen Bildungsforschung auf formale, institutionell organisierte Bildungs- bzw. Kompetenzerwerbsprozesse von Schülerinnen und Schülern zu überwinden. Nur so lässt sich der Blick öffnen für die vielfältigen Bildungspotenziale in außerschulischen Kontexten und damit für die vielfältigen Einflussfaktoren, die in ihrem Zusammenwirken den Verlauf schulischer Bildungskarrieren ermöglichen oder verhindern.

In der einschlägigen Forschung wird zwar schon seit einiger Zeit auf diesen Wechselwirkungszusammenhang von schulischen und außerschulischen Bildungsprozessen hingewiesen (Fölling-Albers 1995; Büchner 1996). Aber in Anbetracht der eingespielten Arbeitsteilung zwischen Schulbildungsforschung auf der einen und Kindheits-, Familien- und Jugendforschung auf der anderen Seite gibt es bisher nur wenige Forschungsansätze und Forschungsergebnisse, die das angesprochene Wechselspiel zwischen schulischer und außerschulischer Bildung in Verbindung mit den dazugehörigen weitgehend unabhängig voneinander geführten Diskursen untersucht haben. Das ist insofern erstaunlich, als außerschulische Bildungsprozesse auch dann stattfinden, wenn schulische Bildungsverläufe fehlschlagen, mit der Folge, dass die angesprochenen erfahrungsbezogenen Bildungsinhalte und Bildungsstrategien eine besondere Wertigkeit beim Erwerb von Kompetenzen und Handlungsbefähigungen jenseits des in der Schule institutionalisierten Bildungskanons bekommen (Grundmann et al. 2003). Nicht zuletzt deswegen erweisen sich die vielfach eigenständigen außerschulischen Bildungsanteile als ein besonders brisantes Thema mit erheblichem Forschungsbedarf, dem sich die in letzter Zeit stark expandierende empirische Bildungsforschung erst allmählich zuzuwenden scheint. Gleichwohl ist dabei immer auch die genauere Erforschung des „langen Arms“ der Schule im Feld der außerschulischen Bildung zu beachten, der seine Wirkung oft in Form einer versteckten Orientierung des Lebensalltags von Heranwachsenden an der Autorität schulischer Bildungsnormen zu entfalten scheint (vgl. dazu Büchner 1996; Krüger et al. 2010, 2012).

Besonderes Interesse haben in diesem Zusammenhang vor allem außerschulische Bildungskontexte bzw. bildungsstiftende Gelegenheitsstrukturen gefunden, die eher beiläufig und ungeplant ihre Bildungswirksamkeit entfalten (können). Hier geht es vor allem um die alltäglich gelebte Seite von Bildung, die in der Forschungsliteratur häufig als informelle Bildung bezeichnet wird. Dabei ist keineswegs immer klar, was unter informeller Bildung genauer gefasst werden soll. Sind es bestimmte räumliche Kontexte, wie es der Begriff „informelle Bildungsorte“ nahelegen könnte? Wäre dann nicht auch der Bildungsort Schule als Ort der informellen Bildung in die Überlegungen einzubeziehen, sodass die Gegenüberstellung von formaler (schulischer) und informeller (außerschulischer) Bildung problematisch werden könnte? Ist es die Nicht-Intentionalität bzw. der beiläufige Charakter, der die informellen Bildungsanteile kennzeichnet? Wären dann die von Eltern unterstützte oder gar forcierte Schaffung bildungsstiftender Gelegenheitsstrukturen (z. B. dem Kind die Betreuung eines Haustiers zu übertragen) auch Teil der informellen Bildung? Spätestens hier zeigt sich, dass eine räumliche Verortung oder der Bezug auf pädagogisch intendierte/nicht intendierte Handlungszusammenhänge nicht immer hinreichend dazu beiträgt, informelle Bildung trennscharf zu bestimmen.

Zielführender scheint demgegenüber der Versuch, die informellen Bildungsanteile als Bildungsleistungen im ganz „normalen“ Lebensalltag der Bildungsakteure zu kennzeichnen, die sich durchaus auch auf die Alltagswelt Schule (Brake und Bremer 2010) beziehen können. Auch Rauschenbach et al. (2004, S. 29) gehen davon aus, dass informelle Bildungsprozesse als „(freiwilliges) Selbstlernen in unmittelbaren Zusammenhängen des Lebens und des Handelns“ stattfinden (siehe dazu die Diskussion bei Rohlfs 2011, S. 39 f.). Betont wird hier also die Eingebundenheit von Bildungsprozessen in eine ganz konkrete soziale Beziehungspraxis, in der sich z. B. im Arbeits-, Familien- oder Freizeitalltag bildungsbezogene Gelegenheitsstrukturen finden, in deren Rahmen mehr oder wenig ungeplant und beiläufig informelle Bildung stattfinden kann. Beachtenswert ist dabei auch, dass solche informellen Bildungsprozesse nur eingeschränkt von Erwachsenen kontrolliert werden können. Sie finden z. B. im Freizeitbereich der Kinder und Jugendlichen statt, wo eigene Regeln gelten, die unter Gleichen ausgehandelt werden und vielfach in Distanz zu jedweder pädagogischen Einflussnahme durch Erwachsene entstanden sind.Footnote 2

Neben dem Bildungsort Familie (Büchner und Brake 2006) sind es vor allem die lebensweltlichen Bildungskontexte im Rahmen von Gleichaltrigenbeziehungen, der Freizeitgestaltung (einschließlich Hobbys), der Mediengewohnheiten oder sogenannten non-formale Bildungskontexte (Vereine, Verbände, Nachhilfeinstitutionen, Musik-, Malschulen), deren Bildungspotenziale (als „Nebenschulen“) beim Bildungsgeschehen eher unterschätzt zu werden scheinen, sodass die Gefahr besteht, dass solche informellen Bildungsanlässe in nicht institutionalisierten Bildungsräumen zunehmend in eine Randexistenz als Sub- oder Nischenkultur abgedrängt werden und nur noch als nicht intendierte Nebenwirkungen anderer Bildungszusammenhänge in Erscheinung treten (Rauschenbach et al. 2006, S. 9). Gerade in solchen Handlungskontexten können sich aber Möglichkeiten der Steigerung von persönlichen Entwicklungspotenzialen sowie Zuwächse an Problemlösungskompetenzen für eine gleichberechtigte kulturelle und soziale Teilhabe ergeben, wenn man davon ausgeht, dass Bildung in einem sozialen Anerkennungsraum stattfindet, der hierarchisch strukturiert ist.

Gerade neuere Forschungsergebnisse deuten zunehmend darauf hin, dass z. B. den Beziehungen zu Gleichaltrigen im Kindes- und Jugendalter (von oberflächlichen Peerkontakten bis hin zu dauerhaften Freundschaftsbeziehungen) ein erheblicher Stellenwert beim Bildungserwerb zuzumessen ist, weil diese in erheblichem Umfang zur alltäglichen Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen gehören und (mit zunehmendem Alter) wesentliche Anteile eines kindlichen Tagesablaufs ausmachen (Krüger et al. 2010, 2012). So bedeutet Bildung in der Freizeit, aber auch Bildungserwerb in unbetreuten Phasen des Kinderalltags in Krippen, Kindergärten oder Schulen vielfach das Lernen von und mit Gleichaltrigen; dies umso mehr als die Orientierung an Gleichaltrigen heute bereits deutlich früher einsetzt als noch in der Großelterngeneration, weil Kinder vielfach bereits im Vorschulalter das Haus (die Familie) verlassen und nicht unerhebliche Zeitanteile in entsprechenden Betreuungseinrichtungen verbringen (Grunert 2006, S. 26 ff.).

2 Die Familie als Bildungsort

Grundsätzlich ist zunächst davon auszugehen, dass Eltern am Bildungsort Familie vor allem im frühen Kindesalter besonders wichtige Impulsgeber für die Eröffnung von kindlichen Bildungschancen sind. Ihr Beitrag zu den kindlichen Bildungsbiographieverläufen ist – anders als von den Modellen rationaler Bildungswahl vorgeschlagen (Brake und Büchner 2012, S. 97 ff.) – weit mehr als nur die Vorbereitung und Unterstützung von kindlichen Bildungswegentscheidungen beim Übergang in institutionalisierte Bildungszusammenhänge. Vielmehr ist die Familie als biographisches Zentrum und wichtiger bildungsbiographischer Möglichkeitsraum zu begreifen, in dem grundlegendes kulturelles und soziales Kapital erworben wird, um eine anschlussfähige soziale und kulturelle Teilhabe in Familie und Gesellschaft zu ermöglichen. In diesem Sinne findet Bildung als Erwerb einer allgemeinen Lebensführungs- und Lebensbewältigungskompetenz statt, wie sie Thomas Rauschenbach (2009, S. 86 ff.) mit seinem Konzept der Alltagsbildung beschrieben hat.

Eine so verstandene Alltagsbildung verdient vor allem deshalb stärkere Beachtung, weil damit jene Kompetenzbereiche angesprochen sind, die bei der nachwachsenden Generation entwickelt werden müssen, um im gesamten Lebensverlauf z. B. mit den vielen praktischen Dingen des Alltagslebens zurecht zu kommen. Dazu gehören z. B. Sprach- bzw. verbale Verständigungskompetenz, die Beherrschung elementarer sozialer Regeln, kulturelle Literalität und Daseinsqualifikationen (wie sie im Fünften Familienbericht (BMFSFJ 1995) beschrieben werden). Dazu gehören aber auch ganz einfache Dinge wie kochen, sich selbst versorgen, den eigenen Haushalt bewältigen, mit Geld, Recht oder Gesundheit umgehen oder mit der Erziehung von Kindern zurechtkommen, den Urlaub und die Freizeit selbständig planen oder einfach nur mit anderen Menschen friedlich zusammenleben.

Im informellen Bildungsbereich kommt es besonders auf die Auslotung der Bedeutung von bildungsstiftenden Interaktionskontexten an, denen von Edelstein (2006) wegen ihrer habitusbildenden Funktion ein hoher Stellenwert im Rahmen der Alltagsbildung zugemessen wird; dies umso mehr, als gerade die Alltagsbildung als besonders bedeutsame Quelle der sozialen Spaltung bzw. der Reproduktion sozialer Ungleichheit anzusehen ist (Rauschenbach 2009). Die Familie wird somit als eine besonders wichtige Beziehungskonstellation angesehen, in der es Menschen heute in der Regel gelingt und auch auf absehbare Zeit einigermaßen erfolgreich gelingen wird, die komplizierten Prozesse des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu bewältigen und dabei wichtige lebensweltgebundene Bildungsleistungen zu ermöglichen (Rauschenbach 2009, S. 114). Gleichzeitig gilt es jedoch zu beachten, dass wir derzeit einen deutlichen strukturellen Wandel der Familie erleben, der sich nicht zuletzt im Brüchigwerden vieler traditioneller Gewissheiten im Hinblick auf die im Familienrahmen erbrachten lebensweltgebundenen Bildungsleistungen niederschlägt (Brake 2008). Im Spannungsfeld von Ermöglichung und Beschränkung von Bildung in familialen Beziehungskonstellationen scheinen Familien aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr allen bildungsbezogenen Erwartungen der modernen Gegenwartsgesellschaft gerecht werden zu können (Lange 2011).

Die Familie als Bildungswelt bietet vor allem aus der Akteursperspektive ein Feld für wichtige Forschungsfragen (Lange und Xyländer 2011). Da ist zum einen der Blick auf das familiale Bildungsgeschehen in Familien unterschiedlicher sozialer Milieus (Büchner und Brake 2006; Lareau 2003), wo sich zeigt, dass die Mechanismen und Inhalte der Transmission von Bildung und Kultur in der (Mehr-)Generationenfolge recht unterschiedlich gestaltet werden, wenn man sie (aus der Sicht der zumeist qualitativen Familien- und Generationenforschung) milieubezogen im Netzwerk von gelebten Generationenbeziehungen betrachtet. In Anbetracht dieser milieugebundenen Ausgestaltung familialer Bildungswelten zeigt sich vor allem, dass der Struktur des kulturellen Kapitals, das eine Familie mobilisieren kann, und den unterschiedlichen Zeitkontingenten, die für den kulturellen Kapitalerwerb aufgebracht werden, eine tragende Rolle zukommen (Bourdieu 1982; Barlösius 2006, S. 185). So tragen z. B. die kulturellen Praxen in Familien und der Besitz von Kulturgütern zur Erklärung von Unterschieden bei der Leseleistung von Jugendlichen bei (Baumert et al. 2003). Hierbei wird von Watermann und Baumert (2006, S. 76) zwischen Struktur- und Prozessvariablen unterschieden: Neben den familialen Lebensverhältnissen werden vor allem die differentiellen kommunikativen und kulturellen Praxen sowie die sozialen Beziehungsformen von Familien als bedeutsame Einflussgrößen für den Bildungserwerb bzw. den Bildungserfolg angesehen (vgl. dazu auch de Graaf und de Graaf 2006). Dabei ist davon auszugehen, dass die sozialen und kulturellen Austauschprozesse in Familien in schulformspezifischen Settings in unterschiedlicher Weise wirksam werden können. So liegen z. B. empirische Hinweise vor, wonach sich bei Hauptschülerinnen und Hauptschülern – im Gegensatz zu Gymnasiastinnen und Gymnasiasten – kein Effekt der familialen kulturellen Praxis auf die Leseleistung ergibt. In dieser Schülergruppe scheint die kommunikative Praxis in Familien bedeutsamer für den Kompetenzerwerb zu sein (Szczesny und Watermann 2011).

Wichtig für die hier behandelte Fragestellung ist vor allem die Beachtung des Bildungsorts Familie „als Bildungswelt eigener Art“ (Lange und Xyländer 2011, S. 62 ff.). Erbringen doch Familien ihre Bildungsleistungen keineswegs immer in Kontinuität zu den normativen Erwartungen des Bildungssystems, sondern häufig auch in mehr oder weniger spannungsreichem Abstand hierzu (Müller 2007, S. 148). Was aus der Sicht der formalen Bildungserwartungen dann „als irrelevant oder defizitär“ erscheint, kann aus anderer Sicht „von besonderer Relevanz und Produktivität für individuelle oder kollektive Lebensführung sein“ (ebd.). Insofern ist die Logik des (informellen) Bildungserwerbs am Bildungsort Familie keineswegs immer kompatibel mit der Logik des Bildungserwerbs in formalen Bildungsinstitutionen. Allerdings ist dieser „Eigensinn“ des informellen Bildungserwerbs am Bildungsort Familie als Ort der „Alltags- und Daseinskompetenz“ inhaltlich erst in ersten Ansätzen erforscht (vgl. dazu z. B. Büchner und Brake 2006; Smolka und Rupp 2007). Ein weiterführender Modellierungsversuch stellt z. B. das Münchner Projekt „Bildungsepisoden in der alltäglichen Lebensführung“ dar, das alltägliche Bildungsleistungen von Familienmitgliedern als Trägermedium bei der Erforschung milieuspezifischer familialer Bildungswelten und deren Stellenwert im Gesamt von Bildungsbiographieverläufen im Kindes- und Jugendalter abbilden will (Lange und Xyländer 2011, S. 66 ff.).

Während also die Erforschung informeller familialer Bildungswelten noch relativ am Anfang steht, richtet sich seit Längerem ein anderer (familienstruktureller) Zugang auf die Frage, ob und inwieweit die familiale Lebensform, in der Kinder und Jugendliche heranwachsen, eine Bedeutung für ihren schulischen Bildungserfolg hat. Zwar lebt die ganz überwiegende Mehrheit der 15-Jährigen (82 %), die 2009 in der PISA-Untersuchung einbezogen waren, in einer sog. Kernfamilie mit zwei Elternteilen, allerdings wachsen auch rund 17 % von ihnen in einer Ein-Eltern-Familie auf (Ehmke und Jude 2010, S. 242). Unterscheiden sich Jugendliche, die seit Geburt in einer Kernfamilie mit ihren Eltern aufwachsen, Jugendliche, die in Ein-Eltern-Familien groß werden und Jugendliche, die mit einem Elternteil und einer weiteren Person (häufig sog. „Stiefmütter“ oder „Stiefväter“) zusammenleben, hinsichtlich ihrer schulischen Bildungsbeteiligung? Tillmann und Meier (2003, S. 379) zeigen, dass die Familienform für sich genommen keinen Einfluss auf die Zugangschancen zum Gymnasium hat (ebd., S. 379). Analysen des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) weisen in die gleiche Richtung: Für die in Deutschland zwischen 1966 und 1986 geborenen Kinder lässt sich diesen Auswertungen zufolge kein statistisch eindeutig nachweisbarer Einfluss der Familienform auf die Wahrscheinlichkeit nachweisen, das Abitur oder einen höheren Bildungsabschluss zu erlangen. Ebenso wenig lassen sich hier Zusammenhänge zum Risiko aufzeigen, als Jugendlicher von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein (Francesconi et al. 2006, S. 165). Auch für die Chancen auf Kompetenzerwerb ergibt sich kein Zusammenhang mit der familialen Konstellation der Schülerinnen und Schüler, wenn der Einfluss von Sozialschicht und Schulform statistisch kontrolliert wird (Tillmann und Meier 2003, S. 374).

Insgesamt scheint es also – wenn der Einfluss von Indikatoren des sozioökonomischen Status berücksichtigt wird – wenig empirische Bestätigung für die Annahme einer (familien-)strukturellen Defizithypothese hinsichtlich der kindlichen Entwicklung zu geben, wie bereits auch Bohrhardt (2000) in einer früheren Untersuchung auf der Basis einer Sekundäranalyse der Daten des Familiensurveys des Deutschen Jugendinstituts feststellte. Dies scheint auch für wichtige schulerfolgsrelevante Fähigkeiten zu gelten, wie motorische Koordination, visuelle Wahrnehmung/Visiomotorik und Sprach- und Sprechfähigkeit. Die entsprechenden Auswertungen der Berliner Einschulungsdaten aus den Jahren 2007/2008 ergaben lediglich einen mäßigen Einfluss der Familienform auf die kindliche Entwicklung und Gesundheit, wenn die Merkmale der sozialen Lage kontrolliert werden (Bettge et al. 2011). Demgegenüber spricht vieles dafür, dass das wahrgenommene Familienklima entscheidender als die Zuordnung zu einer sozialstrukturellen Familienkategorie für die psychische wie körperliche Gesundheit zu sein scheint (Rattay et al. 2012). Bei den hier berichteten Befunden muss insgesamt jedoch in Rechnung gestellt werden, dass die Ergebnisse zum Zusammenhang von Familienform und Bildungserfolg/psychosozialer Entwicklung durchgehend auf der Basis von Querschnittsuntersuchungen gewonnen wurden (vgl. aber Schlemmer 2004). Dringend gebraucht werden daher Längsschnittstudien, die in der Lage sind, den Prozess familialer Diskontinuitäten in seinen phasenspezifischen (bildungsbezogenen) Auswirkungen genauer nachzuzeichnen.

3 Zur Bedeutung der Gleichaltrigenbeziehungen für den informellen Bildungserwerb

Neben der Bildungsbedeutsamkeit familialer Zusammenhänge (Lange und Soremski 2012; Krinninger und Müller 2012; Lange und Xyländer 2011; Smolka und Rupp 2007; Büchner und Brake 2006) hat sich vor allem in der qualitativen Bildungsforschung der letzten Jahre eine andere wichtige soziale Bezugsgruppe als Forschungsgegenstand etabliert: die Gleichaltrigen. Auch in der deutschsprachigen Fachliteratur hat sich dabei eingebürgert, von „Peers“ oder „Peer-Beziehungen“ zu sprechen, wenn von Gleichaltrigen die Rede ist. In analytischer Hinsicht ist dieser Begriff jedoch insofern problematisch, als mit ihm ganz unterschiedliche soziale Beziehungsformen unter Kindern und Jugendlichen angesprochen sein können. Diese variieren zum einen hinsichtlich der Zahl der Beteiligten (hetero- oder auch homosexuelle Zweierbeziehungen, „beste“ Freundin oder Freund oder (aus mehreren Kindern und Jugendlichen bestehende) Freundeskreise bis hin zu Cliquen oder eher zufälligen Kinder- und Jugendgruppen). Auch hinsichtlich der Nähe und Verbindlichkeit der Peer-Beziehungen, zu denen enge Freundschaften ebenso gezählt werden wie die Kontakte zu anderen Kindern und Jugendlichen, z. B. im Fußballverein, ergeben sich beträchtliche Qualitätsunterschiede im Rahmen von Gleichaltrigenbeziehungen. Das steht nicht zuletzt auch mit der Frage in Zusammenhang, inwieweit es sich um von außen vorstrukturierte Gesellungsformen handelt, wie etwa im Fall von (in der Regel nicht frei gewählten) Schulklassen. Ebenso wäre zu klären, inwieweit die Kinder und Jugendlichen selbst informell Gleichaltrigenbeziehungen herstellen, z. B. durch spezifische jugendkulturelle Stilisierungen ihres äußeren Erscheinungsbilds oder auch durch einen gemeinsam getragenen Bestand von häufig vorbewusst bleibenden habituellen Grundorientierungen. Bei aller in Rechnung zu stellender Heterogenität schulischer und außerschulischer Gleichaltrigenbeziehungen kann man allerdings im Sinne einer Minimalanforderung davon ausgehen, dass diese sich über einen längeren Zeitraum in direkter Interaktion konstituieren und an Vergemeinschaftungsprozesse in unterschiedlicher Intensität geknüpft sind. So verstehen auch Breidenstein und Kelle (2002, S. 319) unter Peers diejenigen Gleichaltrigen, „an denen man sich in alltäglicher Interaktion orientiert“ und mit denen man mehr oder weniger (zeit-)intensiv ein soziales Beziehungsverhältnis eingeht.

Peers bzw. peer-group wird häufig mit Gleichaltrigengruppe über- bzw. gleichgesetzt. Schaut man indes auf die sprachliche Herkunft des Begriffs „peer“ (er hat seinen Ursprung im lateinischen „par“, was so viel heißt wie „gleich“, „ebenbürtig“), dann ist neben dem zentralen Aspekt der Altershomogenität eine weitere Dimension von Gleichheit in dem Begriff aufgehoben: Peerbeziehungen sind durch das Prinzip der Gleichrangigkeit gekennzeichnet, d. h. Austauschprozesse unter Peers sind zunächst Interaktionen von Gleichen unter Gleichen, die sich nicht prinzipiell und dauerhaft stabil in z. B. Wissen, Können, Verfügungs- und Definitionsmacht unterscheiden. Diese grundsätzliche Machtsymmetrie ist dabei nicht in dem Sinn misszuverstehen, dass es in konkreten Gleichaltrigengruppen nicht Unterschiede in z. B. der Beliebtheit und Akzeptanz von Kindern und Jugendlichen gäbe (Oswald und Krappmann 2004), doch sind diese in deutlich geringerem Maße an einen vorab definierten formellen Rollenstatus gebunden. Auch von ihrer zeitlichen Strukturierung ergeben sich Unterschiede: Während Peers Anfang und Ende ihrer sozialen Beziehungen selbst initiieren und sozialer Ausschluss eine wesentliche Sanktionsmöglichkeit darstellt, sind z. B. Eltern-Kind-Beziehungen auf Dauer angelegt und prinzipiell nicht auflösbar. Selbst bei einem vollständigen Kontaktabbruch zwischen Kindern/Jugendlichen und Eltern bleibt die Familie als Verantwortungsgemeinschaft bestehen (Fend 2003, S. 306). Diese strukturelle Differenz der sozialen Beziehungsgefüge führt zu prinzipiell unterschiedlichen Erfahrungsräumen und Interaktionslogiken in der Eltern-Kind-Interaktion einerseits und den Beziehungserfahrungen unter Gleichaltrigen andererseits, die sich unter anderem auch darin äußert, dass Jugendliche sich ihre soziale Position in der Gleichaltrigengruppe als eigenes Verdienst zuschreiben (können) und auch aus diesem Grund die Anerkennung bzw. deren Entzug in der Gleichaltrigen-gruppe einen so hohen Stellenwert hat (Oswald 2008, S. 325).

Über eine lange Zeit war die einschlägige Forschung zur Bedeutung von Gleichaltrigenbeziehungen im Rahmen von eigenständigen jugendkulturellen Lebenszusammenhängen in einen Risikodiskurs eingebunden. Im deutschen Sprachraum war es vor allem Tenbruck (1962), der früh die Herausbildung einer eigenständigen Jugendkultur mit der Vorstellung einer strukturellen Entmachtung der Familie (bzw. der Erwachsenenwelt) in Zusammenhang brachte. Dieser Diagnose zufolge führte die Ablösung vom Elternhaus zu einer Verselbständigung der Jugend als gesellschaftlicher Teilkultur, die weitgehend zu ihrer eigenen Bezugsgröße werde und ihre Sozialisation in Eigenregie betreibe. Durch eine solche Isolierung von Jugendlichen in altershomogenen peer groups drohe – so die Annahme – der Verlust der für den Erwerb der Erwachsenenrolle unverzichtbaren generationenübergreifenden sozialen Erfahrungsräume. Diese Sichtweise widerspricht der in der neueren wissenschaftlichen Diskussion vertretenen Annahme, dass Gleichaltrigenbeziehungen ein eigenständiger Bildungswert zukomme, wobei besonders die Anregungspotenziale hervorgehoben werden, die sich in Gleichaltrigenbeziehungen finden lassen, weil Erwachsene dabei gerade nicht pädagogisierend die Richtung der Schaffung und Aneignung von damit verbundenen kulturellen und sozialen Standards jenseits von Familie und Schule vorgeben. Zwar gestalten Kinder und Jugendliche ihre Beziehungen unter Gleichaltrigen nicht völlig unabhängig von den Einflüssen ihrer Eltern oder der Schule, aber es sind nach dieser Denkrichtung eben weniger die Gefährdungspotenziale als vielmehr die immensen (freizeitbezogenen) Anregungs- und (informellen) Bildungspotenziale, die es zu erforschen gilt (Harring 2010).

Wenn Gleichaltrigenbeziehungen also insgesamt als ein zentraler Erfahrungszusammenhang identifiziert worden sind, in dem informelle Bildungsprozesse stattfinden, dann geschieht dies häufig in Verbindung mit der Annahme, dass mit zunehmendem Alter der Heranwachsenden der Einfluss der Familie merklich sinke und jener von peer groups steige (Brake 2010). Schaut man jedoch genauer hin, dann werfen solche Pauschalaussagen mehr Fragen auf als sie tatsächlich Antworten zu geben vermögen. Von welchen Einflüssen ist hier die Rede? Geht es um Fragen der alltagskulturellen Praxis (wie z. B. Kleidung oder Musikgeschmack) oder geht es um Entscheidungen, welche die Bildungsbiographie der Heranwachsenden betreffen? Es liegt auf der Hand, dass die Antworten sehr unterschiedlich ausfallen können, je nachdem, welche lebensweltlichen Erfahrungsräume von Kindern und Jugendlichen zur Debatte stehen. Daraus folgt, dass die Frage nach den sich verschiebenden Einflüssen unterschiedlicher Erfahrungswelten nur dann angemessen rekonstruiert werden kann, wenn hier jeweils bereichsspezifisch differenziert wird, wo es zu einer steigenden Bedeutung von Peers kommt und inwieweit diese tatsächlich mit einer „Abdankung der Eltern“ (Oswald 1980) korrespondiert. Welche Art von Einfluss(nahme) ist gemeint – der von den Eltern bzw. den Peers geltend gemachte oder der tatsächlich von den Heranwachsenden jeweils ausgehende, situationsbezogene Einfluss? Ist es überhaupt sinnvoll, von Grenzziehungen des Einflussvermögens/der Einflussnahme (sei sie direkt oder indirekt) in den familialen und peerbezogenen Bezugsnetzen auszugehen oder unterliegen die in den jeweiligen Beziehungskontexten jeweils zur Anwendung kommenden kulturellen und sozialen Standards nicht einer ständigen Aushandlung? Insofern empfiehlt es sich, unterschiedliche Beziehungskontexte als sozialen Herstellungsprozess zu untersuchen und diese nicht von ihren als statisch gedachten Ergebnissen her zu analysieren.

Zudem stellt sich die Frage, für welche Gruppen von Kindern und Jugendlichen sich in welchem Alter welche Verschiebungen im Hinblick auf den bildungsstiftenden Stellenwert von unterschiedlichen Gelegenheitsstrukturen bei der Aneignung von kulturellem und sozialem Kapital beobachten lassen. Angesichts der enormen Heterogenität, mit der Kinder und Jugendliche in familiale und peerbezogene Alltagswelten und ihren sehr unterschiedlichen sozialen und kulturellen Voraussetzungen eingebunden sind, verstellen allgemeine, d. h. von jeder Form der Binnendifferenzierung absehende Aussagen den Blick auf die großen Unterschiede, die es bei Kindern und Jugendlichen im Rahmen ihrer aktiven Aneignung von kulturellem und sozialem Kapital im Spannungsfeld zwischen familien- und peerkulturellen Gegebenheiten gibt. Insofern kommt es vor allem auf die genauere Erforschung der unterschiedlich ausgeprägten (informellen) Bildungsgehalte an, die mit unterschiedlichen Handlungskontexten im Rahmen von Gleichaltrigenbeziehungen verbunden sind.

Bei aller strukturellen Differenz lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten der familien- und peerbezogenen Beziehungsstrukturen benennen. In beiden Fällen handelt es sich um diffuse situationsabhängige Sozialbeziehungen, die sich nicht nur ausschnitthaft auf bestimmte Fähigkeiten oder Eigenschaften einer Person, sondern auf deren Ganzheitlichkeit richten und so ihre Nicht-Austauschbarkeit begründen (Schröder 2006, S. 189). Dennoch bleibt der höhere Grad an Informalität in der sozialen Beziehungspraxis ein zentrales Merkmal von peer-groups: Es sind weniger vorab festgelegte Rollenerwartungen und Verhaltensstandards als vielmehr von den Kindern und Jugendlichen entwickelte Verhaltensstandards, die eigenständig innerhalb symmetrisch-reziproker Peer-Beziehungen in Ko-Konstruktion (Youniss 1994, S. 47) ausgehandelt werden. Erst dabei entscheidet sich situationsbezogen, welche Verhaltensweisen „gar nicht gehen“ oder aber „voll abgefahren“ sind. Dies trifft nicht zuletzt auch für bildungsrelevante Anteile des jugendlichen Denkens und Handelns zu und berührt Fragen wie z. B. nach dem Coolness-Faktor verschiedener Freizeitbeschäftigungen oder wie angesagt bestimmte (oppositionelle) Verhaltensweisen in schulischen Kontexten sind. Peer-Kulturen sind somit keineswegs als etwas zu begreifen, das sich ausschließlich außerhalb von Schulmauern konstituiert. Vielmehr müssen entsprechende Gleichaltrigenbeziehungen auch in ihrer Relevanz für die Alltagspraxis in schulischen Settings untersucht und dabei für unterschiedliche schulkulturelle Kontexte und soziale Milieus einer Binnendifferenzierung unterzogen werden (Breidenstein 2008, S. 961).

Fragt man nach der Bildungsbedeutsamkeit von Gleichaltrigenbeziehungen, d. h. nach deren Anteil am Zustandekommen spezifischer (nicht nur formaler) Bildungsbiographieverläufe, dann liegt auf der Hand, dass hier, je nachdem, welche Peer-Konstellationen wie in den Blick genommen werden, sehr unterschiedliche Aspekte adressiert werden können: Dass etwa Schulformen als „differentielle Lern- und Entwicklungsmilieus“ wirksam werden, in denen Kinder und Jugendliche „unabhängig von und zusätzlich zu ihren unterschiedlichen persönlichen, intellektuellen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Ressourcen“ (Baumert et al. 2003) unterschiedliche Entwicklungsbedingungen vorfinden, kann zumindest in Teilen auch über Peer-Einflüsse erklärt werden, wenn hier das Fähigkeitsniveau der Mitschülerinnen und Mitschüler ebenso wie die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft in einer Klasse bzw. einer Schulform als relevante Strukturvariablen in den PISA-Datensätzen identifiziert werden. Ebenso kann aber auch – wie dies Willis (1977) in seiner mittlerweile zu den Klassikern zählenden, aber immer noch sehr lesenswerten Studie „Learning to Labour“ getan hat – in einer ethnographisch ausgerichteten Peerkulturforschungstradition nach den Widerstandsstrategien gefragt werden, mit denen (hier: männliche) Jugendliche aus Arbeiterfamilien in Opposition zu den Verhaltenserwartungen der Mittelschichtsinstitution Schule treten und so sozial koproduzieren, dass „working class kids get working class jobs“ (so der Untertitel der Arbeit). Was hier nur angedeutet werden kann, ist die Breite unterschiedlichster inhaltlicher und methodischer Zugänge, mit der differente Peerkonstellationen in ihrer Bedeutung für den Bildungsbiographieverlauf über sich eröffnende bildungsbezogene Gelegenheitsstrukturen untersucht werden können. Gleichwohl gilt, dass die Relevanz von Gleichaltrigen in bildungsbezogener Hinsicht ein relativ junger Forschungsgegenstand ist.

Die 1980er und 1990er Jahre haben sich der Erforschung jugendkultureller Szenen gewidmet und dabei die Vielfalt der (zeitgenössischen) Jugendkultur herausgestellt (Baacke 1993; Zinnecker 1993; Ferchhoff 1999). Im Zentrum dieser Forschungsrichtung stand das Bemühen, Szenevergemeinschaftungen Jugendlicher als kulturelle und soziale Selbstvergewisserungen „on their own terms“ auszuleuchten, seien dies Musikszenen (z. B. Hiphop, Techno, Raver), Sportszenen mit z. T. riskantem Körpereinsatz (z. B. Skateboard, Sportklettern), Computer bzw. Medienszenen (z. B. LAN Gaming) oder seien dies Vergemeinschaftungen auf der Basis weltanschaulicher Perspektiven (z. B. Gothics, Veganer). Dass hier in differenter Weise und unterschiedlichem Ausmaß auch Bildungsprozesse stattfinden, hat sich als eigene Forschungsperspektive erst später herauskristallisiert. Während Grunert (2005, S. 78) noch konstatiert, dass die Frage des Kompetenzerwerbs in außerschulischen (Freizeit-)Zusammenhängen empirisch noch weitgehend ungeklärt sei, liegen zwischenzeitlich vereinzelt Studien vor. So war es Du Bois-Reymond (2000, 2005), die die Figur des „jugendkulturellen Trendsetter Lerners“ entwickelte und damit den Blick darauf lenkte, dass sich Jugendliche jenseits oder gar gegen formalisierte Curricula autonome Lernkontexte schaffen, in denen über intrinsisch motiviertes informelles Lernen „jugendkulturelles Kapital“ angeeignet werden kann.

Während Du Bois-Reymond die informationstechnologischen/medial-kulturellen Eliten in den Blick nimmt, untersuchen Bohnsack und Nohl (2003) anhand der Breakdance und Hiphop-Szene, wie bei Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund über die szenekulturell vermittelten Kollektiverfahrungen Bildungsprozesse im Sinne einer Transformation von Lebensorientierungen angestoßen werden. Hitzler und Pfadenhauer (2004) schließlich fragen in ihrer Expertise zum 8. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung NRW nach den „unsichtbaren Bildungsprogrammen“ von Jugendszenen, womit die Gesamtheit der in einer Szene vermittelten, angeeigneten und entwickelten Kompetenzen gefasst werden. Diese werden entlang eines Leitfadens zur differenzierten Erfassung verschiedener Kompetenztypen systematisiertFootnote 3 und anhand von drei ausgewählten Szenen (die musikzentrierte Hardcore-Szene, die sportzentrierte Skater-Szene und die technikspielzentrierte LAN-Szene) genauer in ihrer szenespezifischen Gestalt ausgeleuchtet (siehe dazu auch Pfadenhauer 2010).

Während in diesen Untersuchungen szene-spezifische Vergemeinschaftungen (meist männlicher) Jugendlicher in den Blick genommen werden, fragt Harring (2010) allgemeiner nach der Bedeutung von szeneunabhängiger Cliquenzugehörigkeit und analysiert vor allem die gemeinsamen Freizeitaktivitäten im Hinblick auf ihr Potenzial zum Erwerb von sozialen Kompetenzen sowie Sach- und Fachkompetenzen (Medienkompetenz, Sprachkompetenz, Kompetenzen im Sportbereich). Im Gegensatz zu den vorher genannten Studien wird hier nach den Einflüssen der Gleichaltrigen im Zusammenspiel mit den familialen Beziehungen gefragt und vor allem dann ein riskanter Einfluss der Gleichaltrigen gesehen, wenn die Beziehung der Jugendlichen zu ihren Eltern als problematisch wahrgenommen wird. Insgesamt kommt diesen Untersuchungen das Verdienst zu, das informelle Lernen im Jugendalter als „vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte“ (Rauschenbach et al. 2006) adressiert zu haben. Wie jedoch die im Kontext von Gleichaltrigenbeziehungen erworbenen Kompetenzen und angestoßenen Bildungsprozesse für schulische Verlaufsbiographien relevant werden, stellt ein bislang weitgehend unbearbeitetes Feld dar. Die Forschungsarbeiten zur Jugendkultur liefen lange Zeit fast vollständig losgelöst von Fragen der Schulforschung (Helsper und Böhme 2002, S. 567) und erst langsam gerät in das Blickfeld einschlägiger Forschungsarbeiten, dass Gleichaltrige auch jenseits informell angeeigneter sozialer oder szenespezifischer Kompetenzen eine wichtige Rolle beim Zustandekommen von Schullaufbahnen spielen (vgl. dazu Krüger et al. 2010, 2012).

Ein als Schulethnographie zu kennzeichnender Forschungsstrang, der sich ab den 1990er Jahren entwickelte, setzte an der Frage an, wie Schule als „pädagogische, organisatorische Lebenswelt aus der Perspektive der dort Tätigen zur rekonstruieren“ ist (Zinnecker 2000, S. 394). Eingebettet in eine zunehmende allgemeine Konsolidierung qualitativer Schulforschung (Böhme 2004) wird hier in Rechnung gestellt, dass im Kontext des (Unterrichts-)Geschehens im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof vielfältige Interaktionsprozesse ablaufen, die nicht in erster Linie (direkt) auf schulische Vermittlung ausgerichtet sind und insofern häufig der Aufmerksamkeit der Lehrkräfte wie auch der Schulforschung entgehen. Grundlegend für diese Forschungsarbeiten ist also die Einsicht, dass Schulalltag sehr viel mehr umfasst als die zwischen Schülern und Lehrern ablaufende Unterrichtspraxis und Wissensvermittlung. Es war Zinnecker (1975), der bereits in den 1970er Jahren unter der Überschrift: „Unterricht – ein wenig bekanntes Alltagsgeschehen?“ darauf hingewiesen hatte, dass Unterricht „ein in vieler Hinsicht unbekannter Ort“ sei.

In den zwischenzeitlich vergangenen annähernd vier Jahrzehnten konnte dieser unbekannte Ort hinsichtlich vieler Aspekte erhellt werden. Dabei richtete sich eine Forschungslinie in diesem Feld auf die Frage, wie Alltagskulturen Jugendlicher die institutionelle Kultur prägen und wie umgekehrt die Wahrnehmung und Verarbeitung von Schule in die außerschulische Peer-Kultur hineinwirkt. Insgesamt kommt diesen Studien das Verdienst zu, die Verkürzungen früherer Untersuchungen überwunden zu haben, die ganz weitgehend an der Frage ausgerichtet waren, wie Gleichaltrigenbeziehungen zum Risikofaktor im Kontext einer gelingenden Bildungsbiographie werden. Verschiedene Formen der Schulverdrossenheit, der Schulverweigerung oder des Schulabsentismus, aber auch der Gewalt und des Rechtsextremismus wurden hier (auch) als in bestimmte schuloppositionelle Peer-Kulturen eingebettete Phänomene rekonstruiert. Demgegenüber verdeutlichen neuere Studien, wie fruchtbar eine Verknüpfung von außerschulischer Kindheits- und Jugendforschung mit Fragen der Schul(kultur)forschung sein kann, um genauer zu erhellen, wie die Komplexität schulischer Alltagswelten gemeinschaftlich hergestellt wird und dabei vermeintlich außerschulische (familien- wie jugendkulturelle) Einflüsse in diese Prozesse hineinwirken.

So ging es Beck und Scholz (1995) mit ihrer auf Beobachtungsverfahren basierenden Untersuchung von Grundschulklassen darum, die auf Verhaltensmodalitäten und Orientierungsmuster beruhende „Kultur einer Schulklasse“ genauer zu bestimmen, indem sie den Prozess der sozialen Herstellung von Standards rekonstruierten, die festlegen, „was erlaubt ist, was legitimerweise gedacht werden kann, wie jemand etwas bewertet, wie er sich fühlt und wie er mit den Gefühlen und Handlungen anderer umzugehen hat“ (Beck und Scholz 1995, S. 193). Ebenfalls aus der Perspektive von Schulkulturen eröffnen Studien wie die von Helsper (2006), der Schulen als „Institutionen-Milieu-Komplexe“ begreift, oder von Kramer (2002, S. 12), der Schülerbiographien auf die Schulkultur und „eine spezifische institutionelle Ordnung“ bezieht, hier wichtige Einsichten, da sie schulische und außerschulische Handlungslogiken zusammenbringen. Da untersucht wird, wie die spezifischen jugendkulturellen Orientierungen in die Unterrichtssituation hineinwirken, handelt es sich bei diesen Studien weniger um Schüler-Ethnographie im engeren Sinn, sondern um Peer-Ethnographie, die in der Schule angesiedelt ist (Zinnecker 2000, S. 668). So untersuchen etwa Krappmann und Oswald (1995) die sozialen Interaktionen und die sich entwickelnden Beziehungsnetze von Grundschülern und -schülerinnen im Kontext der Kooperations- und Aushandlungsprozesse und -strategien unter Gleichaltrigen. Breidenstein und Kelle (1998) gehen – ebenfalls auf der Basis teilnehmender Beobachtung – der Frage nach, wie bei neun- bis zwölfjährigen Kindern Geschlecht bzw. Geschlechterunterschiede in sozialen Situationen (Verliebtheit, Paarbildung, Ärgern, Lästern usw.) wirksam werden. Die Studie zielt damit auf die Herstellung einer sozialen Ordnung innerhalb der Schulklasse durch Freundschaftsinszenierungen, Gruppenbildung beim Spielen oder Sitzordnungen im Klassenraum ab. Während sich in diesen Studien der Schulbezug wesentlich daraus ergibt, dass die Bedeutung von Peer-Kultur in schulischen Umgebungen untersucht wird, weisen neuere, zum Teil noch laufende Untersuchungen einen deutlicheren unterrichtsbezogenen Zuschnitt auf.

In Arbeiten des Zentrums für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wird auf der Basis von Längsschnittdesigns gezielt nach dem Stellenwert außerschulischer und schulischer Peereinbindungen für schulische Bildungsbiographien von Jugendlichen gefragt und so eine Integration von peerbezogener und schullaufbahnbezogener Forschung erreicht. So geht es in einem Teilprojekt (Zaborowski et al. 2011; Breidenstein 2012) darum, auf der Basis ethnographischer Beobachtungen die Peereinflüsse innerhalb der Schulklasse und ihre Bedeutung für schulische Leistungsbeurteilungen zu erhellen und die damit verbundenen sozialen Prozesse in ihrer schulformbezogenen Spezifik und in ihrer Bedeutung für die weitere schulische Laufbahn herauszuarbeiten. Die Arbeitsgruppe um Krüger et al. (2008, 2010, 2012) zielt darauf, in einer sich auf sechs Jahre (2005–2011) erstreckenden qualitativen Längsschnittstudie die Bedeutung schulischer und außerschulischer Peerbezüge für schulisch mehr oder weniger erfolgreiche Bildungsbiographien im Verlauf der Sekundarstufe I zu untersuchen (siehe auch Krüger und Deppe 2010). Eine weitere Arbeitsgruppe am ZSB um Helsper und Kramer (Helsper et al. 2008; Kramer et al. 2009; Bademann und Helsper 2010; Kramer et al. 2013) schließlich richtet ihren Fokus – ebenfalls auf der Basis einer Längsschnittstudie – auf den Übergang von der Grundschule in verschiedene Schulen und Schulformen der Sekundarstufe I und den weiteren Verlauf der Schülerbiographien bis zur siebten Klasse vor dem Hintergrund der Verarbeitung der schulischen Selektionsereignisse. Besonderes Augenmerk der Analyse liegt dabei auf dem Einfluss von Peers für die Genese und Veränderung von schul- und bildungsbezogenen Orientierungen, die von den Forschern als „Transformation des Bildungshabitus“ rekonstruiert werden (Kramer et al. 2013, S. 23 ff.).

Vor allem in den beiden letztgenannten Teilprojekten werden entlang grundlegender in Teilen auch peer-vermittelter kindlicher Haltungen gegenüber Schule, entlang der Übergangserfahrungen und der Antizipation der neuen Schule die individuellen schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen der Kinder zu „kindlichen (Bildungs-)Habitustypen“ verdichtet, die in soziale Milieus und Lebenslagen eingebettet sind. Allerdings leisten diese Studien – wie die AutorInnen selbst einräumen – keine eigenständige Rekonstruktion der familialen Lebenslagen und Milieus (Kramer et al. 2009, S. 210).

4 Forschungsdesiderate

Wenn man der Bildungsbedeutsamkeit von vor allem außerschulischen Bildungsorten für den Bildungsbiographieverlauf im Kindes- und Jugendalter auf die Spur kommen will, kommt es – so stellen wir resümierend fest – besonders darauf an, die bisher zumeist getrennt laufenden Forschungsdiskurse und Forschungsansätze der Schulbildungsforschung einerseits und der Kindheits- und Jugendforschung andererseits miteinander in Verbindung zu bringen und Forschungsfragen möglichst interdisziplinär zu bearbeiten. Fehlte bei letzterer in der großen Mehrzahl der Fälle weitgehend ein expliziter Bildungsbezug, so blendete die traditionelle Schulbildungsforschung in der Vergangenheit weitgehend aus, dass Kinder und Jugendliche nicht nur Schülerinnen und Schüler sind, sondern sich in ihrem Alltagsleben auch in außerschulischen Bildungszusammenhängen bewegen und von ihnen dort auch wichtige Bildungsleistungen erwartet und tatsächlich auch erbracht werden. Das setzt allerdings voraus, von einem sehr weit gefassten Bildungsverständnis auszugehen und das Wechselwirkungsverhältnis von schulischem (formalem) und außerschulischem (non-formalem und informellem) Bildungsgeschehen stärker als bisher in den Blick zu nehmen. Erst dann lässt sich genauer (insbesondere aus der Akteurs-perspektive) untersuchen, welche bildungsstiftende Bedeutung z. B. die Familie oder das breite Spektrum von Peerkonstellationen und Peerbeziehungen haben. Vor allem dann, wenn dies unter Bezugnahme auf milieuspezifische Erfahrungs- und Bildungsräumen zum Teil der Agenda von Bildungsforschung im weit gefassten Sinne wird, lassen sich wichtige, bislang vernachlässigte Einblicke in das komplexe Bildungsgeschehen in seiner Gesamtheit gewinnen.

Eine Längsschnittperspektive ist für das hier beschriebene Forschungsfeld vor allem deshalb naheliegend, weil es sich beim Bildungsgeschehen im Kindes- und Jugendalter um langfristig angelegte Prozesse handelt. Zudem kommt es darauf an, auch die nicht bewussten Anteile des Bildungsgeschehens stärker zu berücksichtigen, wobei an die wichtigen Überlegungen von Bourdieu angeknüpft werden kann. Thematisch bietet sich in dieser Hinsicht an, gerade auch das Zusammenwirken von familien- und peerbezogenen Einflussfaktoren genauer zu untersuchen. Aber auch insgesamt erscheint es wichtig, sich um eine verbesserte Systematisierung und Theoretisierung des komplexen multilokalen Bildungsgeschehens zu bemühen.

Auch wenn in den letzten zehn Jahren verstärkt Forschungsanstrengungen unternommen wurden, die rhetorisch bereits seit längerer Zeit betonte Bildungsrelevanz von Familie und Peers empirisch einzuholen, so bleiben dennoch einige Desiderate der bestehenden Forschungslandschaft zu konstatieren. Bezogen auf die Peers muss etwa festgestellt werden, dass der Heterogenität von Peer-Kontexten bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Berücksichtigt man, dass hierunter über einen längeren Zeitraum bestehende enge dyadische Freundschaftspaare genauso zu zählen sind wie Peer-Netzwerke, die sich z. B. im Zusammenhang von Vereinsmitgliedschaften ergeben, dann ist davon auszugehen, dass hier unterschiedliche bildungsbezogene Einflusssphären auf unterschiedliche Art und Weise wirksam werden. Zukünftige Forschungsarbeiten werden also gut daran tun, in diesem Zusammenhang genauer nach einer binnendifferenzierenden Bedeutung spezifischer Peer-Konstellationen zu fragen. Diese Notwendigkeit ergibt sich u. a. auch daraus, dass Peer-Vergemeinschaftungen in Kindheit und Jugend eine deutliche Geschlechterspezifik aufweisen und insofern auch davon auszugehen ist, dass weibliche und männliche Kinder bzw. Jugendliche in ihren Bildungsbiographien durchaus in unterschiedlicher Weise von Peers bzw. Freundschaften profitieren, möglicherweise aber auch beeinträchtigt werden (können).

Eine spezifische Gruppe von Peers hat im Kontext der Betonung informeller Bildungsprozesse bisher nur sehr wenig Aufmerksamkeit erfahren: Gemeint sind die Geschwisterbeziehungen. Trotz aller familienbezogenen Krisenrhetorik wachsen auch heute noch knapp drei Viertel aller Kinder in Deutschland mit Geschwistern auf, bei einem höheren Anteil von geschwisterlosen Kindern in den neuen Bundesländern (Statistisches Bundesamt Deutschland 2011). Obwohl also Geschwisterkinder eine bildungsrelevante Größe im Alltag von Kindern und Jugendlichen darstellen, gibt es bisher keine systematischen (empirischen) Untersuchungen, die zeigen können, wie Geschwisterkinder im Alltag von Familien sowohl im Zusammenhang informeller Bildungsprozesse als auch bezogen auf die Realisierungschancen eines erfolgreichen schulischen Bildungsverlaufs wirksam werden.

Im Kontext von Ansätzen, die das Zustandekommen von Bildungsbiographien als Folge rationaler Bildungswahl erklären, wird davon ausgegangen, dass ggf. knappe familiale Ressourcen (wie elterliche Zeit, Zuwendung, finanzielle Unterstützung durch Nachhilfe usw.) auf viele Geschwisterköpfe aufgeteilt werden müssen und insofern eine hohe Anzahl vorhandener Geschwister die schulischen Erfolgschancen senken kann (Diefenbach 2008, S. 101). Ebenso kommen Geschwister ins Spiel, wenn bei Fragen der Schulwahl die Erfahrungen mit einer bestimmten Schule zugrunde gelegt werden, die bereits ein älteres Geschwisterkind dort gemacht hat (Clausen 2006, S. 73). Geschwister werden aber nicht nur in der beschriebenen Weise für schulische Laufbahnen relevant. Es liegen Befunde vor, denen zufolge Kinder in ihrer sozio-moralischen Entwicklung besonders von einer älteren Schwester profitieren (Schmid 1997). Zudem kann Teubner (2005) zeigen, dass Kinder mit einem Geschwister, das vier Jahre älter oder jünger ist, sich als unbeliebter in außerfamilialen Peer-Netzwerken im Vergleich zu Kindern mit altersnahen Geschwisterkindern einschätzen. Dies kann als ein Hinweis verstanden werden, dass Kinder im Zusammenleben mit etwa gleichaltrigen Geschwistern soziale Kompetenzen erwerben, die ihnen soziale Anschlussfähigkeit und Akzeptanz in ihren Peerbeziehungen sichern. Abgesehen von solchen vereinzelt vorliegenden Befunden stellen jedoch Geschwisterkinder als noch genauer zu bestimmende peer-group eigener Art ein weitgehend unerforschtes Gebiet dar.

Ähnliches gilt auch für das Zusammenwirken von Familie und Peers als Bildungskontexte. Auch wenn sie bisher ganz weitgehend getrennt voneinander untersucht werden, so kann doch davon ausgegangen werden, dass die über den familialen Alltag und die Peer-Bezüge hergestellten bildungsrelevanten Gelegenheitsstrukturen nicht nur jeweils für sich genommen wirksam werden, sondern in einem wechselseitigen Dependenzverhältnis stehen. So fanden etwa Mounts und Steinberg (1995), dass spezifische elterliche Praktiken wie „monitoring“ (erfahren wollen, wer die Peers sind, was sie in der Freizeit unternehmen usw.) und „encouraging achievement“ (Interesse für und Anerkennung von schulischen Leistungen der Kinder) in Zusammenhang mit der Wahl von Freunden und Freundinnen stehen, die eine hohe Bildungsorientierung zeigen. Ebenso gibt es Hinweise, dass Peers als Einflussgröße (im positiven wie im negativen Sinn) dann besonders relevant werden, wenn die Beziehung zu den Eltern aus Sicht der Jugendlichen als wenig unterstützend erlebt wird (Wehner 2009). Während diese Zusammenhänge für die Entwicklung von riskanten Verhaltensweisen und Delinquenz gut untersucht sind, stehen Forschungsarbeiten noch weitgehend aus, die in Rechnung stellen, dass Eltern, Geschwister und verschiedene Formen der Peer-Einbindung in Ko-Produktion an der sozialen Hervorbringung von bildungsbiographischen Verläufen beteiligt sind. Diese ohnehin schon sehr unübersichtlichen Zusammenhänge werden noch einmal komplexer, wenn in der Analyse berücksichtigt wird, dass sich das Bildungsgeschehen in der Familie, in Peer-Zusammenhängen und in der Schule in seiner wechselseitigen Bezogenheit je nach milieuspezifisch-lebensweltlicher Einbindung unterschiedlich konflikthaft aber auch reibungslos ineinandergreifend vollziehen kann. So erfreulich also zum einen die besondere Bedeutung ist, welche die Vorstellung von Multilokalität (auch jenseits der institutionellen Bildungsorte) im derzeitigen Bildungsdiskurs einnimmt, so sehr bleibt auf der anderen Seite zu konstatieren, dass die Komplexität des Zusammenspiels bildungsrelevanter Erfahrungen in den verschiedenen Kontexten bislang empirisch noch kaum erforscht ist.

Dies mag auch einer der Gründe dafür sein, dass eine systematische Theoretisierung dieser bildungsbezogenen Interdependenzverhältnisse bisher noch weitgehend aussteht. Die bislang vorgelegten, wesentlich an Falldarstellungen orientierten Analysen sind äußerst hilfreich, um zunächst einmal noch weitgehend getrennt voneinander sowohl für den familialen als auch peer-bezogenen Kontext aufzuzeigen, wie diese jeweils in spezifischer und sehr unterschiedlicher Art und Weise bildungsbezogene Gelegenheitsstrukturen eröffnen oder auch vorenthalten. Sie sind – vor allem wenn zu einer Typologie verdichtet – besonders geeignet, die alltäglich gelebte Seite der Bildung zu repräsentieren und diese in ihrer Bedeutung auch für schulische Laufbahnen zu erhellen. Gleichwohl wird es in zukünftigen analytischen Anstrengungen vermehrt darum gehen müssen, diese Wirkungsverflechtungen auch begriffstheoretisch noch genauer in den Blick zu bekommen und zu systematisieren. Dass hierbei auch notwendigerweise die Erträge von Längsschnittanalysen zu integrieren sind, macht das Unterfangen nicht einfacher, ist aber unerlässlich, weil sich die sich wechselseitig verstärkenden, kompensierenden, obstruierenden oder gar blockierenden Bildungseinflüsse von Familie und Peers in ihren Folgen stets nur in der Zeit und über die Zeit erhellen lassen.