1 Die Aneignung von Medien und der Diskurs der Cultural Studies

Die Annahme einer tiefgreifenden medialen Durchdringung des Alltagslebens und das Verständnis von Medien als „Motor der Ausbildung des Realitätssinns einer Gesellschaft“ (Keppler 2006, S. 321) sind mittlerweile Bestandteil des wissenschaftlichen Common Sense. Dies hat dazu geführt, dass insbesondere qualitativ-rekonstruktive Arbeiten zur Integration von Medien in den Alltag an Relevanz gewonnen haben (vgl. Ayaß u. Bergmann 2006; Mikos u. Wegener 2005). Im Bereich der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Medien- und Rezeptionsforschung stellen derzeit vor allem die Cultural Studies – im angloamerikanischen wie mittlerweile auch im deutschsprachigen RaumFootnote 1 – den ohne Zweifel populärsten Ansatz zur qualitativen Analyse von Medienrezeptionen dar. Seine Vertreter und Vertreterinnen bestehen in Abgrenzung von einer quantitativ-standardisierten Wirkungsforschung auf der Konzeption eines aktiven und kreativen Zuschauers, fordern eine spezifische „Aneignungsforschung“ (Hepp 1999, S. 164 ff.; 2008, S. 142 ff.) ein und haben den – vor allem in der deutschsprachigen Forschungslandschaft (vgl. Geimer u. Ehrenspeck 2010) inflationär verwendeten – Begriff der „Aneignung“ entscheidend (mit-)geprägt. Im angloamerikanischen Raum wird „appropriation“ weniger genutzt, allerdings kursiert ebenso „the notion of ‚active‘ audiences“ (Schrøder et al. 2003, S. 124; Göttlich 1997, S. 109). Der Begriff der Aneignung bzw. Zuschaueraktivität wurde in der neueren Medienrezeptionsforschung zu einem Allgemeinplatz der kontextsensitiven Interpretation und intersubjektiven Bedeutungsaushandlung von Medien (vgl. Geimer 2009, 2010), d. h.: „Die Situation der medialen Wahrnehmung ist also immer eine Situation der Aneignung der medialen Präsentationen“ (Keppler 2006, S. 34).

Aus einer praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive (Bohnsack 2008) ist hinsichtlich der Konzeptualisierung einer Aneignung im Sinne eines Sich-zu-eigen-Machens die Herstellung eines Passungsverhältnisses zwischen einer filmisch dargestellten Praxis und der eigenen, selbst erlebten Praxis bzw. der diese strukturierenden Orientierungen zentral (Bohnsack 2009; Geimer 2009, 2010). Es sind jene stillschweigenden, atheoretischen und impliziten Tiefenstrukturen des Wissens, d. h. das konjunktive Wissen im Sinne Mannheims (1980, S. 155 ff.; vgl. Bohnsack 2008, S. 61 ff.), die mit einem Medienprodukt interagieren und die von Prozessen der lokalen Bedeutungsaushandlung zu unterscheiden sind. Ein solcher Modus der Rezeption wurde in Bezug auf die Rezeption von Fotografien bereits von Michel empirisch herausgearbeitet und theoretisch begründet. Michel (2005, S. 110) differenziert zwischen einer „Medienrezeption im kommunikativen Modus“ und einer solchen im „konjunktiven Modus“. Letztere „vollzieht sich dann als vor-begriffliche und präreflexive Praxis“ (Michel 2005, S. 116), während es sich im kommunikativen Modus um explizite Interpretationen und Aushandlungen der Bedeutung eines Bildes handelt. Ausgehend von dieser Unterscheidung und der Beobachtung, dass jener konjunktive Modus der Rezeption „in der herkömmlichen Rezeptionsforschung unberücksichtigt [bleibt]“ (Michel 2006, S. 393), fordert Michel eine „praxeologische Rezeptionsforschung“ (ebd.). In eben diesem Sinne weist auch Schäffer (2003, S. 401) darauf hin, dass Medien so genutzt werden können, dass eine „konjunktive Dekodierung“ und eine Einbindung in die Alltagspraxis stattfindet. Die entsprechende grundlagentheoretische Arbeit wurde vor allem von Bohnsack geleistet, der das Konzept der Aneignung aus Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie folgendermaßen fasst: „Eine Aneignung setzt ein Verstehen voraus, d. h., Aneignung ist dann möglich, wenn es den Rezipient(inn)en gelingt, mit ihrem eigenen konjunktiven Erfahrungswissen an das medial vermittelte Wissen anzuschließen“ (Bohnsack 2009, S. 130).

Ich selbst habe in empirischen Untersuchungen die Modifikation von habituellen Strukturen und konjunktiven Orientierungen im Zuge der Filmrezeption rekonstruiert und die entsprechende Praxis der Rezeption produktive Aneignung genannt (vgl. Geimer 2009, 2010). Diese ist von einer reproduktiven Aneignung zu unterscheiden, in welcher sich habituelle Strukturen und elementare Orientierungen lediglich in Filmen spiegeln (ohne modifiziert zu werden). Die empirische Analyse mittels der dokumentarischen MethodeFootnote 2 von 14 Interviews und Film-Nacherzählungen von Berliner Jugendlichen in der späten Adoleszenz (18–22 Jahre),Footnote 3 auf der diese Ergebnisse beruhen, konnte zudem zeigen, dass einige Jugendliche beide Formen einer Aneignung nicht realisieren, Filme also vorrangig vor Normalitätshorizonten des Common Sense und des allgemeinen Weltwissens interpretieren. Die nachstehende Übersicht (vgl. Abb. 1) fasst die empirischen Ergebnisse dieser Untersuchung zusammen.

Abb. 1
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Typologie von Rezeptionspraktiken

Der Rezeptionspraxis der produktiven bzw. reproduktiven Aneignung ist eine ästhetisierende Formalisierung gegenüberzustellen. Wie auch die Formen der Aneignung beruht diese Rezeptionspraxis auf der Herstellung eines Passungsverhältnisses zwischen Wissensstrukturen und Filmstrukturen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um konjunktiv gebundenes Wissen, das in fundamentalen Erfahrungsschichten der alltäglichen Praxis angelagert ist, sondern um kommunikativ-generalisiertes Wissen bzw. – genauer – einem bestimmten Teil des allgemeinen Weltwissens: um ästhetisches Wissen, das in unterschiedlichen öffentlichen (Spezial)Diskursen angelagert ist (Wissen um die Filmästhetik, Filmgeschichte, Genre-, Erzähl- und Darstellungskonventionen und deren Einsatz als Mittel zur Verbreitung von Botschaften). Anders als in der ästhetisierenden Formalisierung gelingt es hingegen in der polysemen Interpretation nicht, eine einheitliche und kongruente Filmlesart festzustellen – es wird allerdings ebenfalls versucht und dabei gleichfalls auf kommunikativ-generalisiertes Common Sense-Wissen Bezug genommen. Diese Rezeptionspraktik gründet ganz wesentlich in dem Fehlen einer spezifischen Anschlussfähigkeit von kommunikativen Wissensstrukturen an die Filmstruktur; es misslingt, den Anschluss an eine Dimension des Films herzustellen; stattdessen werden variable – nicht auf eine zu reduzierende – Lesarten des Filmes produziert.

Im Gegensatz zu den Formen der Aneignung beziehen sich also die beiden zuletzt genannten Rezeptionspraktiken nicht auf die Grundlagen der eigenen Alltagspraxis. Diese kann auch insofern für die Rezeption bedeutsam sein, als dass ein Film als negativer Gegenhorizont dient, vor dem sich die eigenen Erfahrungs- und Wissensstrukturen abheben (konjunktive Abgrenzung). Diese Form einer Distinktion und die Artikulation eines ‚Nicht-Verstehen-Könnens‘ variiert höchst filmspezifisch. Beispielsweise können milieugebundene Orientierungen eine solche konjunktive Abgrenzung hervorbringen, wenn etwa ein Mitglied einer sozialen Gruppe der Repräsentation seiner Gruppe in einem Film widerspricht.

Neben diesen Rezeptionspraktiken konnte ein Modus der Bezugname auf Filme herausgearbeitet werden, in welchem diese vor allem als Ressource sozialer Interaktionen genutzt werden, was bisher in der Medienforschung (insbesondere dank der Cultural Studies) gut untersucht ist. Filme werden – so gesehen – vorrangig zur Strukturierung von Interaktionen, situativen Validierung von Identitätszuschreibungen und inszenatorischen Selbstrepräsentation herangezogen. Die Möglichkeit zur Transformation der Alltagspraxis aber, die im Aneignungskonzept der Cultural Studies inflationär als Kernmerkmal jeglichen alltagsbezogenen Medienhandelns entworfen wird (vgl. beispielsweise Winter 2008), hat – ausgehend von der hier eingenommenen praxeologischen Perspektive – einen spezifischen Platz im Alltags- und Medienhandeln: in einer produktiven Aneignung, die als spezifisch (mimetisch-)ästhetische Erfahrung zu verstehen ist, was im Weiteren detailliert zu diskutieren ist.

2 Produktive Aneignung als Modifikation habitueller Orientierungen im Zuge ästhetischer Erfahrungen

Um das Konzept einer praxeologisch gefassten Aneignung zu konkretisieren, werden im Folgenden zwei Beispiele aus oben genannten Interviews gegeben. Die Darstellung der empirischen Ergebnisse findet nur kurz und beispielhaft statt (ausführlicher in: Geimer 2010), da ich hier detailliert auf die Implikationen dieser Ergebnisse für die erziehungswissenschaftliche Bildungstheorie eingehen möchte.

Lars (20) sucht, „Metaphern“ aus Filmen zu ziehen – er verwendet den Begriff der Metapher neun Mal im Kontext seiner Filmrezeption im Interview; es handelt sich um ein Extrahieren von für ihn bedeutsamen Destillaten eines Films. Besonders deutlich wird diese Rezeptionspraxis einer produktiven Aneignung anhand der Beschreibung des Films MILLION DOLLAR HOTEL, der ihn in hohem Maße beeindruckte und lange beschäftigte. Entscheidende Bedingung dafür ist, dass das Setting des Films dem „wirklichen Leben“ und seinem „Kiez“ und „Szenebezirk“ entspricht:

L: dat spielt in nem Assiheim in San Francisco und der janze Look von dem Film is ((betonend)) total dreckich und ik liebe det wenn ja och so im wirklichen Leben, weißte so/äh/dat Kiez, wo ik wohne, weeste, allet ja Szenebezirk, weeste allet dreckisch, aber ja man muss einfach jenau hinkucken, weeste und in dem Film is et wirklich so, dass das provoziert is, also man muss jenauer hinkucken um den Film schön zu finden.

Auch die ‚kaputte‘ Erscheinung der beiden Hauptfiguren ist in seinen Augen durch eine „völlige Individualität in der Szene und trotzdem […] Schönheit“ gekennzeichnet. Dieser die Rezeption von Lars prägende Widerspruch zwischen „ranzig und hässlich, aber trotzdem wunderschön“, der das Film-Setting wie das Umfeld von Lars in seinen Augen kennzeichnet, führt schließlich zur Entwicklung der Metapher „jeder kann glücklich sein“. Anhand des Films und im Zusammenspiel mit seiner Alltagserfahrung erschließt er sich die Einsicht, dass Glück nicht von konkreten Lebensbedingungen abhängig sein muss („ob Penner oder meinetwegen Verschiss oder wat wees icke“). Die eigene Praxis und die im Film inszenierte Praxis werden zunehmend aneinander angenähert, mimetisch angeglichen und abgeglichen. Im Film inszenierte Praxis und eigene Alltagspraxis bilden wechselseitig füreinander Metaphern, bis eine Schlussfolgerung aus diesem Prozess der Parallelisierung erfolgt, die neues Wissen generiert und eine neue Positionierung gegenüber Sachverhalten (hier: hinsichtlich der Möglichkeit des persönlichen Glücks) einleitet. Diese Metaphern sind Lars ein Mittel der Selbstvergegenwärtigung und Ausbildung von Handlungstendenzen und als solche kaum unmittelbar in Interaktionen einzubringen, sondern: „an denen kann man sich eigentlich nur festhalten, weil in dem Moment, wo man se jebraucht, so da klingen se vielleicht manchmal blöde so“. Entsprechend kann er handlungsleitende Metaphern, die ihn im Aufkündigen einer Beziehung stützen können („Wege trennen sich im Leben“), nicht der (ehemaligen) Partnerin gegenüber offenlegen. Dennoch unterstützen sie ihn in seinem eigenen Handeln und leiten dieses an.

Auch Katja (22) kennt eben diesen Modus der Bezugnahme auf Filme, den ich als produktive Aneignung bezeichne. Ausgehend von der Äußerung, dass sie mit verschiedenen Leuten verschiedene Filme schaut, aber nicht benennen kann, wieso und vor allem welche Art von Filmen sie mit ihrer Familie schaut, wird schließlich deutlich, dass sie mit ihrer Familie immer wieder Beziehungsdramen wie ENOUGH (2002, dt.: Genug) oder SLEEPING WITH THE ENEMY (1991, dt.: Der Feind in meinem Bett) rezipiert und dass diese ihre eigene Beziehungsvergangenheit thematisieren, in welche ebenfalls die Familie stark involviert ist:

K: Ja. Aber dis war, is 'ne gute Frage, wie der hieß. Ja, der hieß Genug.

I: Genug?

K: Und, mit leider Jennifer Lopez, die ich nicht, also nicht, als tolle, tolle Schauspielerin, aber die halt auch oder Der Feind in meinem Bett mit Julia Roberts. (I: Ehem) Dis sind halt alles so 'ne Filme, wo ja die Frau erst super glücklich verliebt war und der Mann sich dann als Tyrann herausgestellt hat und die halt alles probiert haben, von dem Mann wegzukommen.

I: Und das ging nicht. Oder es war schwierig zumindest …

K: Ja. Also der hat sie wirklich, der wollte die dann auch umbringen und alles und/äh/sie durfte kein einziges Wort sagen, wurde von der Familie weggebracht und alles. Und also genau das gleiche habe ich letztendlich auch erlebt. (I: Ach so) Und deswegen geht dis mir halt ziemlich nahe, wenn ich so was sehe oder dadurch teilweise aber weiß im Film, die haben es auch geschafft.

Entsprechend gestrickte Dramen, wie die beiden von ihr angeführten, in denen eine „super glücklich verliebt[e]“ Frau – wie die Befragte anfänglich selbst in einer vergangenen Beziehung – feststellen muss, dass ihr Mann ein „Tyrann“ sei, dem sie nicht entrinnen kann, dienen der Reproduktion eines familiären Erfahrungsraums wie zugleich der Bewältigung eines Traumas: der erheblichen Unterdrückung von Katja in einer unglücklichen Partnerschaft und der durch diese Beziehung hervorgerufenen Distanz zur eigenen Familie. Indem diese Geschichte gerade mit der Familie im Film nochmals gemeinsam rezipiert wird, lässt sich die Erfahrung als Familie ‚verkraften‘, das Trauma bearbeiten – denn: „die [im Film, A.G.] haben es ja auch geschafft“.

Eine solche Form der produktiven Aneignung ist weitgehend habituell verankert, d. h., sie findet routinisiert und gewissermaßen automatisiert statt und ist in die Selbst-Verständlichkeiten des alltäglichen Filmkonsums eingegangen. Von einer habituellen Verankerung zu sprechen, meint jedoch nicht, eine Exklusivität derselben anzunehmen. Die Interviewanalyse zeigt, dass Praktiken des Filmkonsums nicht bzw. nur in Ausnahmefällen singulär und exklusiv habitualisiert sind, sodass verschiedene Praktiken realisiert werden können. (Es handelt sich also um eine Typik von Praktiken der Rezeption und nicht um einen Personen-Typus der Rezeption.)

Im Folgenden soll die Rezeptionspraxis der produktiven Aneignung genauer in den Blick genommen werden, denn in den Formen einer produktiven Aneignung steckt eine beachtliche Paradoxie, die im Zusammenhang mit Überlegungen zur Natur spezifischer ästhetischer Erfahrungen zu sehen und im Kontext der Bildungstheorie zu diskutieren ist: Es handelt sich um eine habituell verankerte Praxis der Rezeption, die ebenso habituell verankerte Routinen und Orientierungen restrukturieren lässt. Das bedeutet, dass sich ein Habitus vermittels der Erfahrung eines Films derart sich selbst zuwendet, dass er sich (partiell) erweitert oder restrukturiert, also Modifikationen seiner selbst zulässt. Wie Bourdieu (1993, S. 114) hervorhebt, schützt sich ein Habitus typischerweise „vor Krisen und kritischer Befragung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie möglich vorangepaßt ist“. Dieser Schutzmechanismus führt zu einer selektiven Auswahl von Informationen, welche Dissonanzen zu minimieren und Übereinstimmung herzustellen sucht; und somit dazu, dass ein Habitus eher neue „Informationen, die die akkumulierte Information infrage stellen können, verwirft, wenn er zufällig auf sie stößt oder ihnen nicht ausweichen kann“ (ebd., S. 113 f.).

Im Weiteren möchte ich einige grundlegende Aspekte der spezifisch ästhetischen Erfahrung des Filmerlebens diskutieren, welche dazu führen, dass die Praxis der produktiven Aneignung geeignet ist, die Modifikation (von Komponenten) eines Habitus ein- und anzuleiten. Ähnlich hat bereits Oevermann darauf hingewiesen, dass ästhetische Erfahrungen relativ kontrollierte Krisenerfahrungen bedeuten, durch welche sich Routinen und Gewohnheiten des Handelns fundamental ändern können, indem das „Subjekt sich gewissermaßen freiwillig in die potentiell zur Krise sich öffnende Kontemplation begibt“ (Oevermann 1996, S. 8). Das heißt: In der ästhetischen Erfahrung können sich habituelle Strukturen verändern, ohne dass eine alltagspragmatisch unmittelbar relevante Krise stattfinden und also ein subjektiv erlebtes Scheitern von elementaren Handlungsroutinen vorliegen muss. Wenn Bourdieu (1993, S. 177) also schreibt, dass sich Akteure „den Luxus der […] mystischen Schwärmerei oder der metaphysischen Umtriebe nicht leisten können“, weil sie stets in einem unmittelbar praktischen Verhältnis zur Welt stehen, so ist gerade dieses Verhältnis in spezifisch ästhetischen Erfahrungen partiell aufgehoben. Die folgenden Ausführungen sind deshalb von Relevanz, da bisher kaum Arbeiten zur Modifikation habitueller Strukturen und konjunktiver Wissensbestände, also „grundlegender Figuren des Selbst und Weltverhältnisses“ (Koller 2007, S. 52), vorliegen; es somit „in der Bildungstheorie selbst kaum Ansätze gibt, transformatorische oder innovatorische Prozesse dieser Art begrifflich zu fassen“ (ebd., S. 51). Obschon viele Autor(inn)en auf die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung – vor allem im Kontext der Bildungsphilosophie – hingewiesen haben, steht eine systematische und empirisch fundierte Auseinandersetzung mit ästhetischen Erfahrungen (insbesondere im Rahmen der Rezeptionsforschung) noch aus.Footnote 4 Entsprechend stellt Ehrenspeck hinsichtlich der Perpetuierung der positiven Wirkmacht des Ästhetischen in der Bildungsphilosophie fest: „Bei den jeweiligen Neuauflagen wird […] oftmals explizit oder auch implizit auf jene Konstrukte der Grundkonstellation der Entstehung der ‚Versprechungen des Ästhetischen‘ zurückgegriffen, wodurch die Aspirationen auf die positiven Wirkungen des Ästhetischen immer wieder relegitimiert werden“ (Ehrenspeck 1998, S. 281; 2001). Auch Liebau (1992, S. 165) ist der Auffassung, dass „die bildungstheoretische Debatte über die ästhetische Erziehung […] sozialwissenschaftlich zu erforschenden Aspekte bisher geradezu systematisch ausspart. […] Es bleibt bei abstrakt-universalistischen Konzepten“.

3 Der Film als Sinnprovinz der ästhetischen Erfahrung

Es kann in diesem Kapitel nicht darum gehen, ein umfassendes Konzept der ästhetischen Erfahrung vorzulegen; stattdessen ist das Ziel der nachstehenden Ausführungen, anhand verschiedener Arbeiten zur ästhetischen Erfahrung die Rezeptionspraxis der produktiven Aneignung zu durchleuchten. Ich beziehe mich dabei insbesondere auf Ansätze aus dem Pragmatismus. Mead charakterisiert in seiner Arbeit „The Nature of Aesthetic Experience“ aus dem Jahr 1926 die gesteigerte Aufmerksamkeit und Faszination, die man bei der Rezeption jeglicher Produkte generell einnehmen kann, als eine Haltung, die nicht im alltäglichen Interaktionsstrom auftritt: eine spezifisch „ästhetische Haltung“ (Mead 1982, S. 347). Der Gegenstand der Wahrnehmung interessiert nicht in einem unmittelbaren, sozialen Verwertungszusammenhang. Während das alltägliche Handeln „infiziert [ist] vom Interesse, Mittel auf Zwecke zuzuschneiden, Hypothesen aufzustellen und zu testen, Kunstfertigkeiten zu üben“ (ebd.), ist die ästhetische Erfahrung diesem Handlungsdruck enthoben. Man findet sich gleichsam versetzt in eine Sinnprovinz im Sinne von Schütz, der beispielsweise „das Einschlafen als Sprung in den Traum, das Erwachen, das Öffnen des Theatervorhangs, das ‚Versenken‘ in ein Gemälde“ (Schütz u. Luckmann 2003, S. 56) als Übergänge in Sinnprovinzen führt. Die Sinnprovinz des Films kann gleich jener des Theaters, Traumes oder auch Spiels einen geschlossenen Bereich innerhalb der Lebenswelt darstellen, der sich zu den konkreten Zwängen und dem Handlungsdruck und Handlungsabsichten der Alltagswelt zunächst überschneidungsfrei verhält. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Separiertheit der ästhetischen Erfahrung von der Alltagswelt muss die Bearbeitung der Grenze, also Momente des Übergangs von der Sinnprovinz des Films in andere Realitätsbereiche von besonderem Interesse sein.

Wenngleich dieser Aspekt weder von der phänomenologischen Soziologie noch von der Rezeptionsforschung systematisch bearbeitet wurde, ist dessen Dringlichkeit schon dem Filmtheoretiker Kracauer aufgefallen, der die Film-Erfahrung mit der Traum-Erfahrung verglichen hat. Er war der Ansicht, dass der „Rückkehr aus der Traumwelt“ (Kracauer 1985, S. 233) besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte, denn: „Hier erhebt sich die entscheidende Frage nach der Bedeutung des Filmerlebnisses, eine Frage, die vorläufig unbeantwortet bleiben muß“ (ebd.). Damit hat sich gleichfalls Musil (2001) auseinandergesetzt. Er interessierte sich in seiner Rezeptionsästhetik für die Übergänge zwischen ästhetischen und normalen – im Sinne von alltäglichen – Zuständen. Wie Berger (1983) zeigen konnte, ähnelt Musils Konzept des anderen Zustands, der in ein Verhältnis zum alltäglichen Normalzustand zu bringen ist, frappierend dem Schützschen Konzept der Sinnprovinz. Die Transformation einer ästhetischen Erfahrung in das Alltagsleben, den Übergang von der Sinnprovinz Film zurück in die alltägliche Lebenswelt, verstand Musil als eine „Rückübersetzung“ (Musil 2001, S. 163), in welcher die Bedeutung des Erlebnisses konstituiert wird. Wie schon Kracauer, betont Musil die Bedeutung der von der Alltagserfahrung losgelösten, ästhetischen Erfahrung für die Alltagserfahrung. Dieses „Zurückfinden in die Alltäglichkeit“ (Baacke et al. 1994, S. 150) wurde gleichfalls aus bildungs- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive thematisiert. Baacke und Kollegen heben hierbei (ebenso wie Kracauer und Musil) hervor, dass gerade diese zentrale Frage im Kontext der Rezeptionsforschung ungeklärt geblieben ist und folglich bis heute offen bleibt, wie die Film-Erfahrung „durch eine Rekontextualisierung bewältigt wird, die die Filmerfahrung – in welcher Weise auch immer – in sich aufnimmt und verarbeitbar macht. Hier findet ein Prozess statt, dessen Regeln wir bis heute nicht kennen“ (Baacke et al. 1994, S. 151). Eben die Frage nach der Organisation dieses Prozesses der Verschränkung der Film-Erfahrung mit dem alltäglichen Wahrnehmen, Denken und Fühlen war eine der wesentlichen Leitfragen meiner empirischen Arbeit. Die Rezeptionspraxis der produktiven Aneignung ist eine spezifische Regelung jenes Verhältnisses zwischen Alltagswelt und Filmwelt, durch welche eine Aufhebung der Grenzen zwischen beiden impliziert ist, was von erheblicher bildungswissenschaftlicher Bedeutsamkeit ist.

Um den Aspekt der Aufhebung der Grenze von Film- und Alltagserfahrung, also die existenzielle Kopplung einer Alltagspraxis an eine filmisch inszenierte Praxis, weitergehend zu klären, bietet sich das Mimesis-Konzept nach Wulf und Gebauer an, die eine Theorie komplex mimetischer Prozesse vorgelegt und sich dabei auf spezifisch ästhetische Zugänge zur Welt bezogen haben: „Im Unterschied zur Imitation und Simulation wird mit der Verwendung des Begriffs ‚Mimesis‘ an einem Außen festgehalten, dem man sich annähert und ähnlich macht, in das hinein das Subjekt sich aber nicht ‚auflösen‘ kann, zu dem also eine Differenz bestehen bleibt. Dieses Außen, auf das sich Subjekte hinbewegen, kann ein anderer Mensch, ein Teil der Umwelt oder eine konstruierte imaginäre Welt sein“ (Wulf 2005, S. 61; Hervorhebung: A.G.). Die produktive Aneignung von Filmen birgt in diesem Sinne die ästhetische Erfahrung einer „mimetischen Annäherung“ (Gebauer u. Wulf 2003, S. 66), in der sich der Rezipient oder die Rezipientin Bilder bzw. Filme (oder generell Medienprodukte) erschließt, indem er bzw. sie sich diesen gewissermaßen „anschmiegt“ (ebd.), d. h. die eigene Vorstellungswelt der rezipierten Bilderwelt nahe bringt und beide parallelisiert – allerdings ohne sich dabei das Produkt lediglich einzuverleiben oder im Produkt angelegte Strukturen mit sich zu verwechseln, somit unbewusst zu übernehmen, und so die in einem Produkt dargestellte Praxis schlicht zu imitieren. Vielmehr ist die produktive Aneignung als ein kreativer Prozess zu sehen. Die damit einhergehende mimetisch-ästhetische Erfahrung ist „weit mehr als bloße Imitation; Mimesis ist kreative Nachahmung. Sie bezeichnet Prozesse des Sich-in-Bezug-Setzens zu anderen Menschen, zu denen und zu den eigenen Handlungen, sowie zu szenischen Inszenierungen, Bildern und Texten“ (Wulf 2005, S. 26; Hervorhebung: A.G.).

Ebenso wenig wie bloß eine innere Kopie des (hier filmischen) Gegenstands der Erfahrung angelegt wird, wird auch der Gegenstand der Erfahrung nicht nur in den eigenen Erfahrungsraum gezogen. In diesem Sinne bezieht sich auch Michel hinsichtlich der Bildwirkungsforschung auf das Konzept der Mimesis, wenn er konstatiert, dass nicht nur untersucht werden sollte, „wie Bilder angeeignet und verstanden werden, sondern auch, welches handlungsleitende Potenzial sie haben“ (Michel 2004, S. 83) und dann feststellt, dass zur Beantwortung dieser offenen Frage „der Begriff der Mimesis […] ins Zentrum der ‚Bildwirkungsforschung‘ zu rücken [wäre]“ (ebd.). Michel sieht so gleichfalls die Möglichkeit des Verständnisses von „Mimesis als Modus der Medienrezeption“ (Michel 2010, S. 81). Ebenso weist Bohnsack (2009, S. 131) darauf hin, dass die „Aneignung einer Praxis […] nicht […] auf dem Weg der Interpretation und (theoretischen) Reflexion [gelingt], sondern auf dem Wege des Verstehens einer durch Bild und Ton vermittelten Handlungspraxis und der Integration in die eigene Praxis der Rezipient(inn)en, also u. a. auf dem Wege der ‚Mimesis‘“. Eine solche Modifikation von konjunktiven Erfahrungs- und Wissensstrukturen ist nicht mit einem Lernprozess zu vergleichen, der von expliziten oder zumindest weitgehend explizierbaren Interessen und Intentionen geleitet ist und der Erweiterung generalisierten Weltwissens im Rahmen instrumentellen Handelns dient. Die Spontaneität und Implizitheit des Medienhandelns durch ästhetische Erfahrungen sowie dessen Gebundenheit an existenzielle Erfahrungs- und Wissensstrukturen kann im Weiteren in Anlehnung an Deweys Arbeit über „Kunst als Erfahrung“ (Dewey 1980) und Nohls (2006) Studien zu spontanen Bildungsprozessen genauer herausgearbeitet werden. Die produktive Aneignung wird so als Ausgangspunkt eines spontanen Bildungsprozesses gefasst; dabei wird zugleich die Integration der Ergebnisse dieser Arbeit in eine praxeologisch informierte Bildungstheorie erarbeitet.

4 Mimetisch-ästhetische Erfahrung der produktiven Aneignung als impliziter, spontaner Bildungsprozess

Der Lernbegriff vermag weniger die Konjunktivität, also die Tiefe der Transformationsprozesse, auszuloten und unterstellt mindestens vage Intentionen des/der Lernenden. Man kann dies, etwa mit Meder (2002, S. 11), auf die „Psychologisierung und Technologisierung“ des Lernbegriffs zurückführen. Auch weist Meder darauf hin, dass im Kontrast zum Lernbegriff der Begriff der Bildung „Veränderungsprozesse [kennzeichnet; A.G.], die Lernen enthalten, in denen aber darum gestritten wird, was Welt und Gesellschaft ist und sein soll und wie sich der Einzelne in Welt und Gesellschaft verortet“ (ebd.). Wie schon häufig unterschieden (z. B. bei Nohl 2006; Koller 2007; Wigger 2007), kennzeichnet also der Lernbegriff die Veränderung innerhalb einer gegebenen Ordnung bzw. eines bestehenden Rahmens, während der Bildungsbegriff die Änderungen an der Gegebenheit von Ordnungen bzw. der Konfiguration der Rahmen meint. Diese Differenz wurde bereits von Peukert und Kokemohr bearbeitet (vgl. dazu Nohl 2006, S. 11 ff.) und von Marotzki (1990, S. 52 ff.) im Anschluss an Bateson weitergeführt. „Jedem Lernprozeß liegt ein Rahmen zugrunde, der als Kon-Text den Text definiert. […] Lernen innerhalb eines Rahmens hat akkumulierende Funktion: es vermehrt in quantitativer Weise das Wissen. […] Lernprozesse, die diese Rahmen transformieren, habe ich Bildungsprozesse genannt“ (a. a. O., S. 52). Diese grundlegende Unterscheidung wurde vielfach wieder aufgegriffen und weiter entwickelt. Gemeinsamer Kern der jeweiligen Arbeiten ist die Annahme einer „Subjektivierung durch die Transformation von Lebensorientierungen“ (Nohl 2006, S. 12). Bildung ist damit im Sinne von Nohl und im Rahmen einer praxeologischen Wissenssoziologie eine ‚höherstufige‘ bzw. ‚tiefergehende‘ Veränderung in Orientierungen, die von Lernprozessen zu unterscheiden ist. Während Lernen, auch im Falle einer weitestgehenden Autonomie und Selbststeuerung, stets die Ausdifferenzierung von Wissensstrukturen in einem gegebenen Rahmen bezeichnet, bezeichnet der Bildungsbegriff die Modifikation umfassender Orientierungsrahmen eines handlungsleitenden und praxisrelevanten (konjunktiven) Wissens. Die Praxis der produktiven Aneignung im Sinne dieser Arbeit kann durch die ihr eigene mimetisch-ästhetische Erfahrung zu Subjektivität produzierenden Prozessen der Modifikation habitueller und konjunktiver Wissensstrukturen anregen. Ihre Besonderheit hinsichtlich der mimetischen Aufhebung der Grenzen zwischen Film- und Alltagswelt lässt sich nun anhand der Überlegungen von Dewey zu „Art as Experience“ aus dem Jahr 1934 weiter bestimmen (vgl. Dewey 1980).

Deweys Arbeit über „Kunst als Erfahrung“ (Dewey 1980) ist vorrangig von dem Willlen geprägt, der Kunst einen Platz in der alltäglichen Erfahrung, von der sie sich im Diskurs über die Kunst entfremdet hat, zu verschaffen (vgl. a. a. O., S. 9).Footnote 5 Dabei hebt Dewey, gleich Mead, die Abgeschlossenheit und Einheit der – wie beide feststellen auch durch Filme ermöglichten – ästhetischen Erfahrung hervor; diese ist in den „Gesamtstrom der Erfahrung eingegliedert und darin gleichzeitig von den anderen abgegrenzt“ (a. a. O., S. 47). Die Grenze zur Alltagserfahrung kann jedoch in der Rezeption aufgehoben werden, indem der Rezipient unter seinen eigenen Bedingungen das Kunstwerk neu schafft – also mimetisch nachahmt (vgl. Wulf 2005). Dewey weist in diesem Sinne darauf hin, dass „Rezeptivität nicht Passivität [bedeutet]“ (Dewey 1980, S. 66) und kritisiert, dass eine Aktivität zumeist ausschließlich auf der Seite des/der Kunstschaffenden verortet und Rezeption nur als passives Aufnehmen verstanden wird. Man übergehe so, „daß dieses Aufnehmen Tätigkeiten umfasst, die mit denen des Schöpfers vergleichbar sind“ (ebd.). Die ästhetische Erfahrung ist vielmehr ein „Akt des konstruktiven Wirkens“ (a. a. O., S. 67) und „der Neuschöpfung“ (a. a. O., S. 68). Entscheidend ist in diesem Prozess einer mimetischen Neuschöpfung in der ästhetischen Erfahrung, dass der Rezipient nicht dem Plan eines Produzenten zu folgen sucht oder sich auf die Suche nach dessen Intentionen oder einer Botschaft begibt, sondern den Gegenstand der Erfahrung in seinen eigenen Relevanzrahmen hereinnimmt. Dies ist zugleich eine Form des Handelns, die nicht lediglich auf das Erkennen eigener Orientierungen abzielt: „[S]ofern dieses Tun nicht völlig willkürlich oder reine Routine ist, trägt es eine Bedeutung in sich, die extrahiert und konserviert wurde“ (a. a. O., S. 71).

Dewey legt gesteigerten Wert auf die Zug um Zug stattfindende Aufschichtung von Bedeutung in der Rezeption, beschreibt eine sukzessive Extraktion von Bedeutungen im Zuge der Entwicklung der ästhetischen Erfahrung. Diese Extraktion erfolgt dabei nicht vor dem Hintergrund des Common Sense und anhand eingeschliffener Interpretationsschemata; sie erschöpft sich nicht in einem „Wiedererkennen“ (Dewey 1980, S. 67). Stattdessen besteht Dewey zufolge in einer solchen ästhetischen Erfahrung eine konstitutive Spannung zwischen „Alt und Neu“ (ebd.); d. h. zwischen alten verinnerlichten Orientierungen und neuen, die sich anhand der ästhetischen Erfahrung bilden lassen. Das bedeutet, dass die in der ästhetischen Erfahrung stattfindende „Erregung […] ein ganzes Lager von Einstellungen und Bedeutungsinhalten aufwühlt, die aus vorangegangener Erfahrung herrühren. […] Im Ich geraten aus früheren Erfahrungen stammende Elemente in neuen Sehnsüchten, Antrieben und Vorstellungen neu in Aktion. […] Sie scheinen nicht dem Ich zu entstammen, denn sie entstehen aus einem Selbst, das sich seiner nicht bewusst ist“ (a. a. O., S. 80).

An diesen Aspekt der ästhetischen Erfahrung, in der Selbst (bzw. HabitusFootnote 6) und Welt in ein spannungsreiches Verhältnis gesetzt werden, knüpft Nohl (2006) (vorrangig mit den kunst- und religionstheoretischen Arbeiten Deweys) an, um sein Konzept der spontanen Bildungsprozesse auszuarbeiten. Nohl unterscheidet mit Deweys Begriff der Impulsion eine spontane Handlungseingebung ohne reflexive Distanz, die existenzielle Erfahrungs- und Wissensstrukturen verändern kann, von einer solchen Anregung durch Impulse, die zwar gleichfalls Spontaneität hervorbringen, jedoch dabei nicht verinnerlichte Handlungsroutinen („habits“) und zugrunde liegende Orientierungen aufheben und neu strukturieren, sondern im Rahmen dieser ablaufen oder diese lediglich leicht modifizieren (vgl. Nohl 2006, S. 86 ff.). Die prägende Kraft der Impulse ist beschränkt, sie ermöglicht nur „partielle Anpassung“ (a. a. O., S. 114) einzelner Handlungsroutinen, aber – im Gegensatz zu Impulsionen – keine sonderlich umfassenden und tiefgreifenden Veränderungen auf der Ebene von Orientierungen. Um jene Impulsionen als Auslöser von Subjektivität produzierenden Bildungsprozessen genauer in den Blick zu bekommen, bezieht sich Nohl dann auf Deweys Religions- und Kunsttheorie und dessen oben geschildertes Konzept der ästhetischen Erfahrung: „Während die Impulse auf einzelne habits [Handlungsroutinen, A.G.] und Situationen bezogen sind, stellt die spontane ‚Impulsion‘ eine Bewegung des gesamten Organismus dar, die auf die Gänze des Selbst und seiner experiences zielt“ (a. a. O., S. 115).

Solche Impulsionen können mithin in der mimetisch-ästhetischen Erfahrung evoziert werden, es handelt sich um Prozesse der Berührung und des „Aufwühlens“ (Dewey 1980, S. 80) von Tiefenstrukturen des Selbst (bzw. eines Habitus). Wenn die durch die Impulsionen implizierte Handlungstendenz nicht mit gegebenen Handlungsroutinen übereinstimmt oder – wie im Falle von jugendlichen Rezipienten häufig (vgl. den Fall Lars) – Orientierungen überhaupt erst noch auszubilden sind, können Impulsionen Neukonfigurationen des Habitus einleiten oder im Sinne der praxeologischen Wissenssoziologie: die Modifikation von Komponenten des impliziten, konjunktiven Wissens.Footnote 7 Ein solcher Prozess wird in der ästhetischen Erfahrung der produktiven Aneignung angestoßen, die als ein (möglicher) Ausgangspunkt spontaner Bildungsprozesse zu verstehen ist. Nohl, der sich allerdings nicht auf spezifisch ästhetische Erfahrungen anhand von Medien bezieht, unterscheidet sieben Phasen eines biografischen Wandlungsprozesses. Lediglich die initialen Phasen können zum Vergleich herangezogen werden. Über anschließende Phasen einer „gesellschaftlichen Bewährung“ (Nohl 2006, S. 117) dieser spontanen Modifikation können hier keine Aussagen getroffen werden. Es ist also betontermaßen nicht möglich festzustellen, inwiefern langfristig wirksame Transformationen durch Praktiken der produktiven Aneignung von Filmen stattfinden; dies ist eine weitere (und empirische) Frage.

5 Praktiken der spontanen Bildung des Habitus durch ästhetische Erfahrungen in der Aneignung von Medien

Dass spezifisch ästhetische Erfahrungen generell geeignet sind, eine Modifikation habituell verankerter Tiefenstrukturen des Wissens anzuleiten, geht nicht nur aus der hier vorgenommenen, detaillierten Diskussion empirischer Ergebnisse zur produktiven Aneignung von Filmen hervor, sondern gleichfalls aus Überlegungen der pädagogischen Anthropologie. So bringt Zirfas die ästhetische Erfahrung in Zusammenhang mit Foucaults Spätwerk (vgl. Zirfas 2004, S. 90 ff.) und „‚Künsten der Existenz‘“ (Foucault 1990, S. 252). Unter diesen versteht Foucault „gewusste und gewollte Praktiken […], mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren“ (ebd.). Diese „Selbsttechnologien“ und Praktiken der Selbstsorge und Pflege verloren, Foucault zufolge, mit der Kulturbedeutsamkeit des Christentums an Bedeutung, indem sie zunächst in die Pastoralmacht integriert wurden, und später Eingang gefunden haben in „erzieherische, medizinische oder psychologische Praktiken“ (ebd.). Zirfas sieht in ästhetischen Erfahrungen gewissermaßen Reste dieser Praktiken des Selbst, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen: „Eine Ästhetik der Existenz unter bildungspraktischen Gesichtspunkten lässt das Leben selbst als ein Kunstwerk erfahren, das es zu entwerfen und zu gestalten gilt“ (Zirfas 2004, S. 91). Ästhetische Erfahrungen in der produktiven Aneignung sind in diesem Sinne als konstitutives Element von Praktiken des Selbst zu sehen; allerdings ohne dass von einer Intentionalität dieses Medienhandelns und der Möglichkeit einer freien Selbstgestaltung ausgegangen wird. Die Position Zirfas ist daher zwar mit meinen Überlegungen verwandt, aber schwierig zu vereinbaren, da Zirfas sich zugleich auf Sartre und dessen Vorstellung des freien Selbstentwurfs bezieht (Sartre 2003, S. 753 ff.), der mit den handlungstheoretischen Grundlagen dieses Beitrags gemäß der praxeologischen Wissenssoziologie in erheblichen Widerspruch gerät (vgl. Geimer 2010). Auch Foucaults Begriff des Selbst bzw. Subjekts ist hier nur eingeschränkt anschlussfähig. In ähnlicher Weise hat aber auch Reckwitz (2006) auf die Bedeutung der Medien im Kontext von Praktiken der Bildung des Selbst hingewiesen und herausgestellt, dass diese nicht nur der Kommunikation und Verständigung, sondern auch einer Form der Selbstverständigung und Selbstgestaltung dienen; Medien werden so als „technische Voraussetzungen dafür verstanden, dass das moderne Subjekt ein spezifisches Verhältnis zu sich selber herstellt, das heißt in sich selber bestimmte Effekte erzielt“ (Reckwitz 2006, S. 59). Mit der Erosion der bürgerlichen Schriftkultur kommt dabei, Reckwitz zufolge, Kino und Fernsehen eine besondere Bedeutung zu. Die Erforschung von Praktiken der produktiven Aneignung als Formen einer informellen, impliziten Selbstbildung kann daher nicht nur einen Beitrag zur erziehungswissenschaftlichen Medienrezeptionsforschung leisten, sondern die Bedeutung von Medien im Prozess der Subjektkonstitution beleuchten. In diesem Kontext ist den für eine produktive Aneignung konstitutiven ästhetischen Erfahrungen und ihrer Beziehung zur Alltagserfahrung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es stellen sich vor allem Fragen nach der kontextuellen (biografischen wie sozialen) Einbettung; also: Wie verankern sich diese Praktiken (etwa lebensphasen- und milieubedingt) in habituellen Strukturen? Wie gestalten sich weitere Phasen des Handelns, in denen die durch eine produktive Aneignung angestoßene Orientierungsbildung ausgebaut, differenziert, weiter modifiziert oder auch neutralisiert wird? Das Ziel dieses Beitrags ist es, auf diese und anschließende, bisher unterbelichtete Fragen der Medien-Rezipienten-Interaktion und deren erziehungswissenschaftliche Relevanz hinzuweisen.

6 Die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung im Kontext von Habitustheorie und praxeologischer Wissenssoziologie

Die hier vorgenommene Diskussion jener Rezeptionspraxis der produktiven Aneignung eröffnet auch kritische Fragen an die Habitustheorie Bourdieus hinsichtlich ihres Potenzials zur Erfassung von Transformationsprozessen. Dies allerdings, ohne in eine pauschale Zurückweisung zu verfallen – vielmehr ist das Habituskonzept um Aspekte der mimetisch-ästhetischen Erfahrung anhand von Filmen bzw. Medien zu ergänzen. Dem schlichten Vorwurf, das Habituskonzept sei eine reine Reproduktionstheorie, ist bei der Durchsicht auch der älteren Arbeiten Bourdieus einerseits schon seine nicht-deterministische Konzeption der Primärsozialisation entgegenzuhalten wie andererseits die Vorstellung von Habitusveränderungen durch sekundäre Sozialisationsprozesse. Eine reine Reproduktionstheorie müsste frühkindliche Einflüsse weitaus stärker gewichten. Bourdieu und Passeron warnen hingegen geradezu davor, die Bedeutung der frühen Erziehung und Kindheit zu überschätzen und „sie als erstes Glied einer Kausalkette zu deuten“ (Bourdieu u. Passeron 1971, S. 146). Zudem ist das Handeln und Verhalten gemäß eines Habitus nicht als schlichte Befolgung einer verinnerlichten Norm oder Regel zu sehen: „[D]ie vom Habitus erzeugten Verhaltensweisen [weisen] nicht die bestechende Regelmäßigkeit des von einem normativen Prinzip geleiteten Verhaltens aus: der Habitus ist aufs engste mit dem Unscharfen und Verschwommenen verbunden.“ (Bourdieu 1992, S. 101). Prozesse, die in gesteigertem Maße die Spontanität eines Habitus anreizen und Transformationen bewirken können, entstehen Bourdieu zufolge beispielsweise durch Klassen- oder Milieuverschiebungen und kreuzungen. Der Habitus im Schnittpunkt zweier Milieus ist nicht derselbe wie ein einheitlicher und daher Transformationsprozessen ausgesetzt; wodurch Prozesse sozialen Wandels und Habitusmodifikation sehr detailliert zu beschreiben sind (dazu auch Wigger 2006, S. 107; Rieger-Ladich 2005, S. 191; Ebrecht 2004, S. 230; Meuser 1999, S. 141). Darüber hinaus kennt Bourdieu nicht nur einen einheitlichen und harmonisch strukturierten, sondern ebenso einen widersprüchlichen und „zerrissenen Habitus“ (Bourdieu u. Wacquant 1996, S. 161), der eine Affinität zu spezifischen sozialen Feldern hat, wie etwa dem künstlerischen Feld (Bourdieu 2001a, S. 359 f.).

Trotz dieser Einschränkungen besteht zu Recht die Kritik, dass die bildungstheoretische Biografieforschung begrifflich in der Lage sein sollte, weitergehende Transformationen des Subjekts zu erfassen, die Bourdieus Habituskonzept entgehen müssen, da es „die Last der inkorporierten Geschichte und die Voraussetzungshaftigkeit und gesellschaftliche Begrenzung von Veränderung“ (Wigger 2007, S. 184) doch erheblich akzentuiert. Dennoch sollte die bildungstheoretische Diskussion an die Logik des praktischen Sinns anknüpfen und nicht auf die Illusion eines sich selbst transparenten Subjekts bzw. „trägheitslosen Bewusstseins“ (Bourdieu 1993, S. 86) und damit die „Möglichkeit des radikalen Wechsels der Haltung und der eigenen Praxis durch Einsicht und Entschluss und somit eines Neuen und Anderen“ (Wigger 2007, S. 184) setzen, wie dies auch Zirfas (2004) in Anschluss an Sartres Selbstentwurf und Foucaults Selbsttechnologien vorsieht. Derart subjektivistisch-intentionalistischen Positionen entgegnet Bourdieu mit Bachelard immer wieder, dass „die Welt, in der man denkt, nicht die Welt ist, in der man lebt“ (Bachelard, zit. n. Bourdieu 2001b, S. 66). Ich teile zwar die Auffassung, dass Bourdieus Habituskonzept die Entstehung von Neuem nicht ausreichend berücksichtigt – allerdings ist Bourdieu zu ergänzen, um seine Errungenschaft einer Überwindung des Widerspruchs zwischen subjektivistischen bzw. individualistischen und objektivistischen bzw. holistischen Theorietraditionen in einer praxeologischen Wissenssoziologie zu bewahren (vgl. Bohnsack 2003, 2007).

Vermittels der Konzeption der Habitusmodifikation im Zuge einer mimetisch-ästhetischen Erfahrung in der produktiven Aneignung von Filmen bzw. Medien, die ich an anderer Stelle ausführlich empirisch bearbeitet habe (Geimer 2010), kann der Trägheit eines praktischen Bewusstseins ebenso Rechnung getragen werden wie der Möglichkeit zur impliziten und ungeplanten Modifikation desselben. Ein Hauptanliegen dieses Beitrags ist es somit nachzuzeichnen, inwiefern Filme bzw. Medien in der Lage sind, grundlegende Orientierungen von Rezipienten zu verändern; dies allerdings nicht in einer Leichtigkeit der Alltagskreativität eines stets aktiven Rezipienten oder unter Voraussetzung einer Option der reflexiven Distanzierung von habituell verankerten Orientierungen und eines intentionalen Eingriffs in die eigene Sozialisationsgeschichte. Stattdessen hat diese Arbeit das Ziel, die Möglichkeit der Modifikation von Orientierungen durch Prozesse des Aneignens von Filmen unter den Bedingungen einer gegebenen Stabilität und Konjunktivität dieser Orientierungen aufzuweisen. Unter dem Rückgriff auf das Konzept einer mimetisch-ästhetischen Erfahrung lässt sich eine implizite Bildung mittels Medien jenseits von Prozessen einer kreativen lokalen Aushandlung oder spontanen Selbstreflexion fassen. Zugleich lässt sich so die überholte Rede von ‚Wirkungen‘ durch Filme oder allgemein Medienwirkungen – die heute zugunsten des unscharfen Begriffs eines stets aktiven und kreativen Rezipienten zu Unrecht nahezu völlig außer Mode gekommen ist (Bohnsack 2009, S. 131; Barker 2006, S. 125 f.) – auf das Fundament einer formalen, praxeologisch informierten Bildungstheorie stellen: Filme wirken, wenn sie Aneignungsprozesse bewirken.