1 Problemaufriss und Fragestellung

1.1 Mobilisierung von Ressourcen

Ein Blick auf aktuelle Diskurse um lebenslanges Lernen oder Kompetenz(en) vermittelt einen Eindruck von dem, was Individuen potentiell zu leisten in der Lage sein sollten: Lernen, Leben und Arbeiten sollen demnach selbst organisiert werden, erwartet wird ein flexibler Umgang mit unterschiedlichen Arbeits- und Beschäftigungssituationen, die Qualifikation sollte jederzeit ,upgedatet‘ sein, die Bereitschaft zur Mobilität wird vorausgesetzt, und ein kompetenter Umgang mit Problemen aller Art wird als unabdingbar erachtet. Bereitschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen repräsentieren eine breite Palette an Ressourcen, die seit den 1990er Jahren in zahllosen Diskursen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern mobilisiert werden. Sei es in der Wissenschaft, in der Kompetenzen definiert, diagnostiziert und standardisiert werden, in der Politik, die auf eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik setzt, oder in der Ökonomie, in der individuelle Ressourcen und Reserven auf einem mittlerweile globalisierten Beratungs- und Coachingmarkt ausgeschöpft werden sollen. Begründet wird die Suche nach möglichen unentdeckten Rohstoffen im Subjekt oftmals mit Topoi wie das Risiko, die Offenheit und Kontingenz biographischer (Un-)Sicherheiten und Zukunftsplanungen und der damit einhergehenden notwendigen Flexibilisierung von Arbeit und individueller Anpassungsfähigkeit sowie mit der Notwendigkeit, die Probleme und Herausforderungen individuell zu bewältigen.

1.2 Die Entdeckung des Risikos und dessen Bewältigung

Die genannten Allgemeinplätze umreißen insgesamt das Bild einer Gesellschaft, deren Grenzen, Institutionen und damit alle Formen von Sicherheit sich verflüssigen. Diese Tendenz zu sozialer Ent-Bindung, Ent-Sicherung, De-Institutionalisierung und Auflösung normativer Bindungen wurde sozialwissenschaftlich Mitte der 1980er Jahre im Ansatz der Individualisierungstheorie bzw. der Risikogesellschaft beschrieben.

Die Diagnose der Risikogesellschaft (Beck 1986) und die ubiquitäre Suche nach den Aktivierungsmöglichkeiten individueller Ressourcen sind komplementäre Diskursentwicklungen. Beide Argumentationsstränge kommen etwa im sozial- und erziehungswissenschaftlichen Bewältigungskonzept zusammen, in dem auf die genannten individualisierungstheoretischen Topoi zurückgegriffen wird, um entsprechende individuelle Bewältigungsstrategien zu begründen. Der Rückgriff auf Modernisierungs- bzw. Individualisierungstheorie(n) im Rahmen von ressourcenorientierten Ansätzen (z. B. Kompetenz-, Resilienz- oder Bewältigungsdiskurse) geschieht meines Erachtens nach aber oft in selektiv-assoziativer Weise und eher im Gestus einer beiläufigen Adaption bzw. Subsumption dieses dominierenden Paradigmas. Hierbei werden neue Grenzziehungen, Macht- und Exklusionsformen, die mit jüngeren gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen strukturell verknüpft sind, entweder kaum reflektiert oder lediglich als Anlass zur individuellen Überschreitung besagter Grenzen mit dem Fokus auf subjektiven Ressourcenpotentialen thematisiert.

Ein theoretisch ambitionierter Versuch liegt im Bewältigungsansatz von Lothar Böhnisch, Karl Lenz und Wolfgang Schröer vor (Böhnisch et al. 2009), in dem Individualisierungstheorie und das Habituskonzept mit einem tiefenpsychologischen Modell der Subjektentwicklung gekoppelt werden. In kritischer Auseinandersetzung mit diesem Bewältigungsansatz soll im Folgenden den Fragen nachgegangen werden, wie sich allgemein die Subjektkonzeptionen im Rahmen von Sozialisationstheorien der 1980er/1990er Jahre unter den Vorzeichen der individualisierungstheoretischen Risikologik verändert haben (Punkt 2). Im zweiten Schritt werden das Bewältigungskonzept der genannten Autoren, seine modernisierungstheoretische und tiefenpsychologische Basis sowie die Neuinterpretation des Habitusbegriffs kritisch diskutiert (Punkt 3). Mittels der anschließenden Rekonstruktion des Bourdieu’schen Habituskonzepts soll seine Bedeutung für die Verknüpfung von Subjekt- und Gesellschaftstheorie skizziert werden (Punkt 4). Abschließend werde ich die Argumentation und Kritik in einem Fazit zusammenfassen und einen Ausblick auf die Forschungsperspektive geben (Punkt 5).

2 Subjektivierung im Zeichen des ,Risikos‘

2.1 Risiko als Deutungsmuster

Mit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ von 1986 gelangte der Risikobegriff ins Zentrum des sozialwissenschaftliches Interesses: Es gehe um den „Weg in eine andere Moderne“, wie der Untertitel lautet, die durch alle denkbaren Arten von Risiko charakterisiert sei: Modernisierungsrisiken, technische Risiken, soziale und klassenspezifische Risiken sowie Zivilisationsrisiken (Beck 1986, S. 25–66), was insgesamt als „neues Paradigma der Risikogesellschaft“ bezeichnet wird (ebd., S. 26). Der Risikobegriff wirkt hierbei nicht nur wie ein neues globales Vorzeichen, mit dem soziale, ökonomische und politische Veränderungen im Prozess der Modernisierung von der Makro- bis zu Mikroebene neu definiert, umgeschrieben und auch umgewertet werden, sondern es handelt sich nach Beck um objektive Risiken, die seit der industriellen ersten Moderne zugenommen hätten (ebd.). Damit komme es zu einer Verschiebung der Bedeutung von Gleichheit im Kontext der Klassengesellschaft hin zur (Un-)Sicherheit – und deren Bewältigung, so muss hinzugefügt werden – der individualisierten Risikogesellschaft: „An die Stelle des Wertesystems der ,ungleichen‘ Gesellschaft tritt also das Wertesystems der ,unsicheren‘ Gesellschaft“ (ebd., S. 65). Modernisierung und Risiko werden ausdrücklich auch auf den „Wandel der Sozialcharaktere und Normalbiographien, der Lebensstile (…) der politischen Unterdrückungs- und Beteiligungsformen, der Wirklichkeitsauffassungen und Erkenntnisnormen“ bezogen (ebd., S. 25). Damit rückt das Risikokonzept als umfassende Determinante aller sozialen Beziehungen in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Betrachtungen. Mit dem Schwinden normativer und sozialer Klassenbindung wird zugleich ein „Freisetzungsschub“ für Individuen diagnostiziert (ebd., S. 124 und S. 210), der plurale ,Unverbindlichkeiten‘ zur Folge hat, bei denen das Individuum die letztinstanzliche Richtgröße für die Adressierung der Risikoverantwortung ist. Aufgrund dieser Dynamik sozialer und kultureller Ent-Bindungen wird geschlussfolgert, dass „der oder die einzelne selbst zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“ (ebd., S. 209) werde.

Dabei ändern sich die normativen gesellschaftlichen Grundlagen, was sich in der Verschiebung, d. h. Individualisierung der VerantwortungFootnote 1 widerspiegelt. Durch „qualitativ neue Formen des persönlichen Risikos“ komme es zu neuen „Schuldzuweisungen“ (ebd., S. 218) und damit zu neuen Verantwortlichkeiten, die einen qualitativ neuen selbstreflexiven Umgang mit eigenen biographischen „Entscheidungen“ notwendig machten (ebd., S. 216). Gesellschaft müsse „unter den Bedingungen des herzustellenden Lebenslaufs als eine Variable individuell gehandhabt werden“ bzw. werde zur „Umweltvariable“ des eigenen Lebens (ebd., S. 217) – was kritisch als „Subjektivierung der Vergesellschaftung“ bezeichnet wurde (Junge 1998, S. 51).

2.2 Subjektivität zwischen Er- und Entmächtigung im Risikodiskurs

Die im Risikodiskurs zum Tragen kommenden Begriffe von Reflexivität, Entscheidung und Verantwortung entfalten erst unter Zugrundelegung bestimmter Rationalitätsannahmen bezüglich des Subjekts eine sozial normative und handlungsaktivierende Wirkung.Footnote 2 Angesichts der Diagnose zunehmender Risiken werden nun die Formen der rationalen individuellen Risikokalkulation und entsprechender Präventionen von entscheidender Bedeutung. Im Unterschied zu Becks objektivistischem Risikobegriff wird in gouvernementalitätstheoretischer Perspektive Risiko als eigenes „Rationalitätsschema“ verstanden, „bestimmte Elemente der Realität zuzuordnen, sie berechenbar zu machen und gezielt auf sie einzuwirken“ (Schmidt-Semisch 2004, S. 222). Je stärker Rationalität und rationale Steuerung (von Risiken) über Begriffe wie Entscheidung und Verantwortung auf die Seite des Subjekts verschoben werden, umso nachhaltiger wird die Gesellschaft aus der Verantwortung entlassen und damit quasi ,verantwortungslos‘ – analog zu ihrer Bedeutung als „Umweltvariable“ individuellen Verhaltens. Komplementär dazu gerät der Einzelne zunehmend unter Erfolgszwang und – im Falle des Scheiterns – in die Gefahr individueller „Schuldzuweisung“ (Beck 1986, S. 218). Angesichts des Risikoregimes wird die permanente und selbstständige Mobilisierung und Koordinierung des „individuellen Humankapitals“ erwartet (Schmidt-Semisch 2004, S. 225) – Beck verwendet für diese Form der Selbstrationalisierung die Metapher des „Planungsbüros“, das der Einzelne für das eigene Leben und Arbeiten darstelle (Beck 1986, S. 217).

Mit dem Risikohandeln wird eine marktanaloge Handlungslogik auf Gesellschaft und Biographie übertragen, die nicht nur dem Gedanken rationaler Selbststeuerung (Entscheidung, Reflexion) und biographischer Optimierung (Nutzenkalkül) folgt, sondern auch erfolgsorientiert ist. Hierbei ist jedoch der Grat zwischen Scheitern und Erfolg denkbar schmal und abhängig davon, in welchem Umfang Kapital eingebracht oder vermehrt werden kann. Angesichts von Misserfolg oder Scheitern kann die Differenzierung zwischen individuellem Können und Wollen rasch bedeutungslos werden ,wenn die sozialen Folgekosten ,unverantwortlichen‘ Risikoverhaltens kollektiv beglichen werden müssen: Ob jemand angesichts von Misserfolg nicht gekonnt oder gewollt hat, an sich aber vielleicht fähig gewesen wäre, erfolgreich zu sein, und nur situativ scheiterte, relativiert sich bei ungünstiger Kosten/Nutzen-Relation. Insofern hängt die Zuschreibung des Subjektstatus von den individuellen Ressourcen bzw. vom individuellen Humankapital ab sowie von der Bereitschaft, dieses zu entwickeln und erfolgreich zu handeln. Der Erfolg wird hierbei zum Normalfall und Scheitern zur Abweichung, was die Dialektik des Risikosubjekts Beck’scher Provenienz deutlich macht: Seiner theoretisch rationalistischen Ermächtigung zum „Planungsbüro“ steht die Entmächtigung des Subjekts im Falle seines Scheitern gegenüber, was individuell zu verantworten ist.

Infolge des Abbaus sozialer und kultureller Steuerungsmechanismen mit dem Effekt der Freisetzung wird nun die individuelle Steuerungsfähigkeit tragend, womit sich strukturell die Frage nach dem Potential und mithin der Ressourcen stellt, auf die das Subjekt im Normal- und Risikofall zurückgreifen können soll. Lebenslange Unsicherheitsbewältigung betrifft im Risikoregime – mit einer Unterscheidung von Habermas – System(e) und Lebenswelt(en) in umfassender Weise, was einen Wechsel im Modus der Integration nach sich zieht: Neben der System- und Sozialintegration wird in der Sozialisationstheorie auch die normative Figur der Selbstintegration zunehmend wichtiger (vgl. Bauer 2002). Eine Brücke dazu bildet die sozialisationstheoretische Figur des handlungskompetenten Subjekts, das kein „Opfer“ von „passiv hinzunehmende(n) Prägungs- oder Determinationsvorgänge(n)“ sei, sondern – so das Leitbild – zu einer „konstruktiven und produktiven Verarbeitung der Realität“ in der Lage wäre (Hurrelmann und Ulich 1991, S. 8).

Gegenüber dem Mitte der 1970er Jahre geforderten Erwerb von Schlüsselqualifikationen für den Arbeitsmarkt, durch die Kompetenzen und Qualifikationen im (Aus)Bildungsbereich noch eng aneinander gekoppelt blieben, tritt in den 1990er Jahren die eigene, singuläre „Lebensbewältigung“ (Hurrelmann 1991, S. 196) in den Vordergrund. Damit rückt der Begriff der „Handlungskompetenz“ im Sinne der „individuellen Verfügbarkeit und der angemessenen Anwendung von Fertigkeiten und Fähigkeiten zu Auseinandersetzungen mit der inneren und äußeren Realität“ (ebd., S. 197) ins Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit.

2.3 Potentiale und Ressourcen anstelle von Identitäten

Die Potential- bzw. Ressourcen-Semantik, die in Begriffen wie Fertigkeiten, Fähigkeiten, Kompetenz repräsentiert ist, ermächtigt das Subjekt insofern, als es in ein spezifisches Selbstverhältnis gesetzt wird: Es wird zum Herrscher über seine Ressourcen. Angesichts dieser Veränderungen in der Subjektkonzeption ergeben sich einige grundlegende Fragen: Welche Verschiebungen lassen sich mit der aktivierenden und ressourcenmobilisierenden Perspektive auf Subjekte beobachten? Welche Effekte gehen mit diesen Zuschreibungen einher? Wie wird das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft theoretisch bestimmt? Vergleicht man aktuelle ressourcenorientierte Ansätzen mit älteren sozialisationstheoretischen Subjektvorstellungen wie etwa dem symbolischen Interaktionismus, so wird mit der Ressourcenorientierung eine wichtige Verschiebung deutlich.

Die Handlungsfähigkeit des Subjekts im Rahmen des symbolischen Interaktionismus war sozial und individuell-psychisch insofern voraussetzungsreich, als Frustrationstoleranz, Ambiguitätstoleranz und RollendistanzFootnote 3 entscheidende Bedingungen für die Aufrechterhaltung einer Ich-Identität in einer komplexer werdenden Gesellschaft bilden (vgl. Tillmann 1997, S. 139).Footnote 4 Hierbei ging es um das risikoreiche Ausbalancieren unterschiedlicher gesellschaftlicher Ansprüche und Erwartungen mit den individuellen Bedürfnissen in der Suche und Stabilisierung der eigenen Identität. In dieser grundlegenden Spannung stand das sinnproduzierende und -verhandelnde Subjekt des symbolischen Interaktionismus, das seinerzeit kritisch von der rigiden Normintegration durch Institutionen im Rahmen des Strukturfunktionalismus abgegrenzt wurde (vgl. ebd., S. 127).

Mit der Perspektive der Individualisierung verschiebt sich nun der Fokus auf das Subjekt erneut unmerklich, aber folgenreich. Denn von der Warte des interaktionistischen Subjekts aus wird die Problematik einer risikoreichen Identität im Rahmen der Individualisierungstheorie durch die oben erwähnte Expansion des Risikobegriffs gewissermaßen externalisiert. Sinn- und Identitätsfragen werden hierbei nicht nur in die Frage nach der „Handlungsfähigkeit“ transformiert, sondern den subjektorientierten Sozialisationstheorien wird die Aufgabe der „Entwicklung von Handlungskompetenzen“ zugedacht (Hurrelmann und Ulich 1991, S. 8). Aus dieser Selbstverortung der Sozialisationstheorie wird die subtile funktionale Verschiebung deutlich, bei der Fähigkeiten und Kompetenzen nun primär auf externe gesellschaftliche, politische und ökonomische Risikolagen bezogen werden. Diese müssen bei der Gestaltung des Lebenslaufs zunehmend berücksichtigt werden, worauf die Individuen in Form von Herausforderungen zu reagieren haben. Damit tritt tendenziell die Frage nach der Fragilität von Identität und der Widerständigkeit zugunsten einer Ressourcenorientierung in den Hintergrund. Spannungen, Widersprüche und Konflikte als Teil individueller Identität(sfindung) können sich Subjekte angesichts zunehmender Unsicherheit(en) gleichsam nicht mehr leisten. Aus dem ,Sein‘ des Subjekts, das der Frage nach der Identität(ssicherung) unterlegt war, ist in der Beschreibung nun ein potentielles ,Haben‘ bzw. ein Verfügen über individuelle Ressourcen geworden, die strategisch zur Bearbeitung von Risikolagen eingesetzt werden (müssen).

2.4 Selbst-Verfügung als neue Subjekt-Ontologie

Die aufgezeigten Verschiebungen im Subjektverständnis lassen eine gewisse Affinität zu liberalen Vorstellungen von Markt(verhalten) und Unternehmertum erkennen. Deren Auftauchen und zunehmende Dominanz als gesellschaftspolitisches Leitbild kann mit der Debatte um den Arbeitskraftunternehmer seit Mitte der 1980er Jahre im „Kontext einer Analyse über die subjektiven Bewältigungsstrategien von Massenarbeitslosigkeit“ angesetzt werden (Bröckling 2007, S. 55 f.), in der die ökonomische Mobilisierung von Humanressourcen das Ziel war. Diese historische Krisenerfahrung hinterlässt ihre Spuren in den normativen Vorstellungen von Subjektivität, die ein neues Wissen von Verhalten und sozialer Existenzweise befördern.

Die Figur des risikoaffinen Unternehmers, der am Markt der Möglichkeiten unter Einsatz all seiner Ressourcen seine Herausforderungen sucht, ist funktional hoch anschlussfähig an das dargestellte individualisierungstheoretische Risikosubjekt. Denn die Risikogesellschaft kann insofern als eine soziale Verallgemeinerung des Marktes betrachtet werden, als die Verantwortungsindividualisierung zu einer optimalen Allokation der eigenen Ressourcen führen soll, bei der Kollektivnormen wie Gleichheit und Solidarität als Barrieren gelten. Da individuelle strategische Entscheidungen und Kompetenzen das Proprium des modernen Selbst-Unternehmers ausmachen, erhält die Verfügung über das eigene Kapital geradezu einen ontologischen Stellenwert, oder anders formuliert: Die Verfügung über Kompetenzen, Fertigkeiten, Wissen usw. stellt in der Unternehmerfigur eine eigene, genuine – auch soziale (!) – Seinsform dar. Die Alternative lautet gerade nicht ,Haben oder Sein‘ (Erich Fromm), sondern ,Haben und Sein‘. Nur die vollkommene Verfügung über die (eigene) Arbeitskraft ermöglicht und legitimiert ein soziales Sein. Mit anderen Worten: Erst im Selbst-Unternehmer ist die Trennung von Haben und Sein aufgehoben.

Wie aber wird dieses neue Selbst-Verhältnis sozialisationstheoretisch ausbuchstabiert? Mit der skizzierten Transformation wird das Subjekt, wie erwähnt, in ein spezifisches, sprich: funktionales (Verfügungs-)Verhältnis zu sich und seinen Identitätsmerkmalen gesetzt. Was sozialisationstheoretisch vormals seine unhintergehbaren Attribute sowie die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit seiner Identität ausmachte, wird nun unter den Vorzeichen von Flexibilität, Aktivität und Selbst-Konstruktion zur verfügbaren und damit formbaren Ressource. Grundsätzlich werden damit alle persönlichen Merkmale als hintergeh- und veränderbar erachtet, und die permanente ,Arbeit an sich und seinem Selbst‘ zum Markenzeichen gelingender individueller Passungen und Übergänge (Masschelein und Simons 2005). Nicht die Welt, sondern sich selbst gilt es zu verändern, wodurch sich die Grenzen zwischen dem sozialen Außen und dem individuellen Innen gleichsam verflüssigen. Dies bleibt für das Gesellschaftskonzept nicht folgenlos. Denn in dem Maße, wie sozialisationstheoretisch der Fokus einseitig auf das individuelle Verfügungspotential gerichtet wird, wird das Soziale amorph und nur noch zum Anlass bzw. zur Herausforderung für individuelle Ent wicklungsmöglichkeiten – und somit zu einer wichtigen Prämisse für die angedeutete Verschiebung vom Sein zum Haben bzw. zum ,Haben-als-Sein‘ im Sinne der Verfügung und des adäquaten Einsatzes der eigenen Arbeitskraft und Kompetenzen. Die marktanaloge Ontologisierung des Subjekts und seiner Kräfte – ob als Unternehmer der eignen Arbeitskraft oder Bewältiger von Leben und Lernen – erscheint auf der einen Seite als neue Sozialutopie einer vollends individualisierten Gesellschaft, in der aufgrund des Selbst-Verfügungs-Postulats die Trennung von Produktionsmittelbesitzer und Arbeitskraftinhaber aufgelöst zu sein scheint, was gewissermaßen den utopischen Kern ressourcenorientierter Subjektkonzeptionen ausmacht. Auf der anderen Seite wird diese Fokussierung auf das Subjekt in der Sozialisationstheorie als genereller Verlust der gesellschaftlichen Dimension von Sozialisationsprozessen kritisiert und als „strukturloser Subjektzentrismus“ bezeichnet, der das „Hauptcharakteristikum sozialisationstheoretischer Ansätze der vergangenen zwei Jahrzehnte“ sei (Bauer 2002, S. 118).

3 Das Subjekt der Bewältigung

3.1 Die Verfügbarkeit des eigenen Lebens und der Identität

Der Bewältigungsansatz zählt zu einem mittlerweile etablierten interdisziplinären Forschungsfeld von ressourcenorientierten Ansätzen, zu denen u. a. Konzepte der Kompetenz und Resilienz in der Pädagogik, der Bewältigung in Soziologie und sozialer Arbeit oder des Empowerment und des Coping in der Psychologie gehören (vgl. Zander 2009, S. 29; Bröckling 2007, S. 180 ff.). Hierbei ist der Bewältigungsbegriff auf der Ebene individueller Handlungsstrategien angesiedelt und beschreibt das Potential einer Person, mehr oder minder erfolgreich mit Problemen aller Art umzugehen (Leben, Arbeit, Psyche usw.). Bewältigung sei, so eine Definition, „das aktive Bestreben von Menschen, im Kontext ihrer jeweiligen Lebenslage, handlungsfähig zu bleiben“ (IfSP 2011). Bewältigung als „Prozess der Wahrnehmung, Bewertung und Bearbeitung je individueller Lebenslagen“ lasse sich nur aus der subjektiven Perspektive der Menschen verstehen und erklären: „Bewältigungsstrategien spiegeln sowohl den Zugang zu sozialen Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten als auch subjektive Interessen, Bedürfnisse und Erfahrungen wider“ (ebd.).

Mit dem Bewältigungsbegriff stellt sich damit die grundlegende Frage nach individuellen und sozialen Ressourcen als Basis von Bewältigung. Nicht umsonst wird die Frage nach der „Vermittlung von Subjekt und Gesellschaft“ von Lothar Böhnisch, Karl Lenz und Wolfgang Schröer als theoretisch zentral eingestuft (Böhnisch et al. 2009, S. 10). Um die gesellschaftstheoretischen Grundlagen des BewältigungsansatzesFootnote 5 zu bestimmen, orientieren sich die Autoren an dem Konzept der Zweiten bzw. Reflexiven Moderne. Die sozialisationstheoretischen Konzepte der Ersten Moderne seien auf das „Konstrukt eines sich linear entwickelnden Lebenslaufs“ bezogen gewesen, von dem Abweichungen als „Devianz“ von der Normalbiographie wahrgenommen worden seien (ebd., S. 9). Die „Zweite Moderne“ sei demgegenüber durch umfassende „Entgrenzungen“ charakterisiert, die reflexiv zu bearbeiten sind:

Etablierte Strukturen lösen sich auf oder vermischen sich mit neuen, Grenzen verschwimmen, neue tun sich auf. Bisherige lineare Konstruktionen im Lebensverlauf brechen auf, werden hinterfragt und mitunter reflexiv rekonstruiert. (ebd., S. 9)

Abweichungen werden hierbei nicht mehr mit Abwegen oder Sackgassen assoziiert, sondern als normaler Bestandteil von Biographien aufgefasst und in Form von Distinktion im Gegenzug noch positiv umgewertet. Mit der „Entgrenzung der Erwerbsarbeit“ und der „Entgrenzung des Lernens erhält Bildung ein sozialisatorisch erweitertes (…) in die gesamte Lebenszeit hineingehendes Profil“, wodurch gleichzeitig die „Chance und der Zwang zur Selbstorganisation“ stiegen (ebd., S. 10). Die „makrosoziale Kernfrage einer Sozialisationstheorie der Zweiten Moderne“ würde daher lauten, wie die Gesellschaft „in den Sozialisationsprozess strukturbildend – komplex und ambivalent – eindringt und unter den Bedingungen ,hybrider Subjektivität‘ (Reckwitz) bewältigt wird“ (ebd., S. 27). Da die Relevanz eindeutiger Identitätsbezüge wie Geschlechterdifferenz zunehmend in der zweiten Moderne verblasse, solle etwa

Männlichkeit und Weiblichkeit als Bewältigungsmuster im Streben nach biographischer Handlungsfähigkeit betrachtet werden, die aktiviert werden, wenn es Druck und Dynamik der Lebenslaufkonstellationen ,erfordern‘. (ebd., S. 40)

Damit stellt sich zumindest die Frage nach der Instanz im Subjekt, von der aus die in der individuellen Psyche tief verankerten Identitäten wie Geschlechter- oder Migrantenidentität beeinflusst oder gar gesteuert im Sinne von ,bewältigt‘ werden. Was das Bewältigungskonzept allgemein betrifft, so sehen die Autoren

in den Vergesellschaftungsprozessen der Zweiten Moderne mit ihren Entgrenzungs- und Freisetzungsdynamiken eine Verdichtung und Verstetigung offener, das Streben nach Handlungsfähigkeit herausfordernder und darin ,kritischer‘ biographischer Konstellationen, die den Sozialisationsprozess im Lebenslauf in eine nicht selten reversible Abfolge von Bewältigungsschritten drängen. (ebd., S. 30)

Dieses gesellschaftliche Panorama der Entgrenzung, Freisetzung, höherer Wahloptionen, Entscheidungsmöglichkeiten und -zwänge hat ein hohe Passung mit dem Konzept zur „Leitfigur des ,gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts‘ (Hurrelmann)“ (ebd., S. 10): Vor dem Hintergrund der soziologischen Analyse einer insgesamt sich entgrenzenden, de-institutionalisierenden oder flexibilisierenden, d. h. sich individualisierenden Gesellschaft sind gleichsam die theoretischen Handlungsspielräume vorgezeichnet, die das handlungskompetente Subjekt ,besetzen‘ kann oder können sollte. Aufgrund der Deinstitutionalisierung, der Unsicherheit und des Risikos scheint aber der Einzelne auch in seinen Handlungsmöglichkeiten depotenziert zu werden, denn der durchgehend „kompetente Akteur“ der ersten Moderne sei zusehends durch die „Ambivalenzen“ ersetzt worden, „die den Sozialisationsprozess letztlich kontingent machen“ (ebd., S. 27). Subjektivität changiert daher zwischen der Überwältigung durch Situationen von Risiko und Unsicherheit und der Herausforderung unterschiedlicher biographischer „Bewältigungssituationen und -konstellationen“ (ebd., S, 32). Im Wechselspiel von Chancen und Risiken wird die „Verfügungsmacht über Ressourcen, hinreichende Selbstreferenz und Kompetenz zentraler Bezugspunkt biographischer Rationalität“ (ebd., S. 18, Hervorh. T. H.).

Kontrastiert man dieses Postulat der „biographischen Rationalität“ mit dem zuvor erhobenen expliziten theoretischen Anspruch einer stärkeren gesellschaftlichen Situierung des Subjekts (ebd., S. 10), stellt sich die grundlegende Frage nach dem gesellschaftlichen Ursprung der Ressourcen bzw. der Selbst-Referenz. Denn diese sind gesellschaftlichen Definitions- und Anerkennungsprozessen unterworfen, zumal sich gerade in der Forderung nach mehr individueller Autonomie und Selbstverantwortung die gesellschaftliche Vermitteltheit der Kategorien in Form programmatischer Zuschreibungen zeigt. Worin, so wäre also zu fragen, besteht die „hinreichende Selbstreferenz“ eines jugendlichen Schulabbrechers der Hauptschule, die „Verfügungsmacht über Ressourcen“ einer Kurzarbeiterin mit Realschulabschluss oder die „biographische Rationalität“ einer mini-jobbenden Akademikerin nach jahrelangem Studium?

3.2 Die Bewältigung des Habitus

Die „Handlungsfähigkeit“ des Subjekts wird im Bewältigungskonzept von Böhnisch/Lenz/Schröer tiefenpsychologisch begründet, was den „Argumentationskern des Bewältigungskonzepts“ ausmache (ebd., S. 30). Die „Selbstbehauptungskraft“ bzw. die „Antriebsstruktur kindlicher und jugendlicher Selbstbehauptung“, die dem „Handeln des Menschen“ unterliege, wird als „Urform des Selbst“ bezeichnet (ebd., S. 41). Diese triebtheoretische Fundierung wird mit einer „interaktiven und gesellschaftlichen Dimension von Lebensbewältigung“ (ebd.) verknüpft. Es entstünden „verschiedene biographische Bewältigungskonstellationen“ (ebd., S. 41–42), bei denen „kulturübergreifende Basisemotionen wie Neugier, Furcht, Schuldgefühle, Angst und Freude“ die „affektiven Antriebe des Bewältigungsverhaltens“ darstellten (ebd., S. 42). An dieser Stelle wird der Begriff der Aneignung nicht nur eingeführt, sondern auch zum Ausgangspunkt für eine Kritik am Habituskonzept gemacht, das schließlich aneignungs- bzw. bewältigungstheoretisch reformuliert wird:

Wir werden aber mit dem Bewältigungskonzept aufschließen können, dass innere Antriebe der Selbstbehauptung sich – vor allem in offenen und damit tendenziell kritischen Lebenssituationen – verselbstständigen und so zu den sonstigen, biographisch eingespielten Praktiken der Lebensführung gegenläufig werden können. (ebd., S. 36)

Was den Aneignungsbegriff betrifft, so wird dieser zwar deklarativ in der Tradition von Holzkamp verortet (ebd., S. 50), aber nicht weiter expliziert.Footnote 6 Ziel ist es, die die aktiv-konstruierende Dimension „kultureller Praktiken“ hervorzuheben (ebd., S. 51).

Das Konzept der Aneignungskulturen wird zwischen „Lebenslagen“ (ebd., S. 44 ff.) und den „Sozialisationsregimes“ (ebd., S. 54 ff.) als vermittelnde Instanz situiert. So würden Aneignungskulturen den eigentlichen „Bewältigungsrahmen“ bilden, der wiederum „in den Milieus eingelassen ist“ (ebd.). Dieser relativiert in gewisser Weise den Einfluss der Milieus, so dass „Spielräume der Lebenslagen“ entstünden, in denen Migrantenjugendliche – analog zur Geschlechterdifferenz – beispielsweise „Ethnizität aktivieren“ und so zur Konstruktion „kultureller Praktiken“ beitragen würden (ebd.). Erst in der Form kultureller Praktiken werden die Jugendlichen zu aktiv Handelnden, wodurch Geschlecht und Ethnizität zu einer Art biographischen Steuerungsressource werden. Die kulturellen Praktiken sind durchaus keine voluntaristischen Spielfelder für Identitäten, sondern „aufgeladen durch Etikettierungs- und Ausgrenzungskontexte, Wirkungsformen der Hegemonialkultur“ (ebd.). Kulturelle Praktiken sind ähnlich wie die Aneignungskulturen insofern ambivalent, als sie gegenüber einem statischen Verständnis von habitueller Prägung zwar ein dynamisierend-dialektisches Moment der Identitätskonstruktion stark machen, aber nicht genau die individuellen und sozialen Verfügungsbedingungen zwischen aktiven und passiv-restringierenden Konstruktionsprozessen benennen. Wann und unter welchen Bedingungen wirken welche Identitätskonstruktionen restringierend, ermöglichend, in eine bestimmte Richtung kanalisierend, verstärkend oder hemmend? Diese theoretische Perspektive tendiert daher in letzter Instanz zu einer individualisierenden Begründung von Bewältigungshandeln. Denn mit der Umdeutung sozial umkämpfter Identitätsmerkmale zu strategischen Ressourcen werden institutionelle Restriktionen und machtvolle Zuschreibungen durch die postulierte biographische Rationalität in gewisser Weise vor allem als theoretisches Problem entschärft bzw. neutralisiert – die Unterscheidung von „offenen, demokratischen und regressiv, autoritären Milieubezügen“ (ebd., S. 49) zeigt zudem die normative Ausrichtung des Milieukonzepts.

Von der aneignungslogischen Reformulierung des Habitusbegriffs versprechen sich die Autoren die Möglichkeit, die individuelle Überschreitung der MilieugrenzenFootnote 7 begründen zu können. Dieses Habituskonzept wird vom Bourdieu’schen Habituskonzept insofern abgegrenzt, als es der ersten Moderne zugeordnet und sein „statischer Charakter“ hervorgehoben wird, den es zu „relativieren“ gelte (ebd., S. 31). Habitusbildung würde „stabile gesellschaftliche Kontexte und darin eingebettete Lebensläufe“ sowie „verlässliche soziale Milieus und institutionelle Arrangements der Arbeitsgesellschaft“ (ebd., S. 32) voraussetzen, was sich den „Ambivalenzen und Brüchen der Gesellschaft der Zweiten Moderne gegenüber als zu starr“ erweise (ebd., S. 32). Das Habituskonzept habe den Stellenwert einer „impliziten Sozialisationstheorie“ (ebd., S. 35), die aber die „tiefenpsychischen Bewältigungsantriebe“ des Subjekts nicht erfasse, bei denen es zu „habituellen Verkehrungen“ in „kritischen Lebenssituationen“ komme (ebd., S. 36). Der Habitus sei aber kein „starres Dispositionssystem“, sondern ein „Aneignungsmodus“, wodurch das Subjekt im „Streben nach biographischer Handlungssicherheit das habituelle Korsett immer wieder sprengen kann“ (ebd., S. 45). Dieser optimistischen Einschätzung von der demiurgischen ,Spreng- und Schaffenskraft‘ der Subjekte soll abschließend eine Konzeption des Habitus gegenübergestellt werden, welche die fruchtbare Unterscheidung von Handlungsmöglichkeiten und Handlungswahrscheinlichkeiten im Sinne Bourdieus erlaubt.

4 Eine habitustheoretische Dekonstruktion des Bewältigungskonzepts

4.1 Unverfügbarkeiten hinter dem Rücken der Subjekte

Die folgenden habitustheoretischen Überlegungen haben das Ziel, deutlicher die Grenzen und Möglichkeiten der Ressourcenorientierung mit Blick auf das Bewältigungskonzept herauszuarbeiten und eine alternative, sprich: habitustheoretische Perspektive auf biographische Bildungsprozesse und individuelle Ressourcen zu skizzieren.

Zunächst einmal ist hervorzuheben, dass die zentrale Bedeutung des Habituskonzepts in seiner Funktion als Bindeglied zwischen Subjekt und Gesellschaft besteht. Die tiefenpsychologische Kritik am Habitus im Rahmen des referierten Bewältigungsansatzes kappt aber genau diesen Zusammenhang und verkennt in gewisser Weise die Affinitäten zwischen Habituskonzept und psychoanalytischer Subjekttheorie. Denn beide Ansätze betonen, wenn auch theoretisch unterschiedlich begründet, die Bedeutung vor- und unbewusster Einflüsse und Dynamiken für individuelles Handeln.

Wichtig scheint mir zudem die – im Bewältigungsansatz gänzlich unterschätzte – Bedeutung des Körpers als Medium sozialer Einschreibungen und Widersprüche, die das Bourdieu’sche Habituskonzept beinhaltet. Erst in dieser Perspektive wird die Bedeutung vorbewusster, der Reflexion kaum zugänglicher Subjektivierungspraktiken deutlich, welche auch die Grenzen der individuellen Aneignung jedweder Kompetenzen, Fähigkeiten und mithin der „biographischen Rationalität“ theoretisch bestimmbar machen.

Die im Bewältigungsansatz geäußerte These, dass das Streben nach biographischer Handlungssicherheit das „habituelle Korsett“ sprengen könnte, löst das Subjekt aus den sozialen Vermittlungen wieder heraus, die nach der Zielsetzung der Autoren in dem Bewältigungsansatz systematisch berücksichtigt werden sollten (Böhnisch et al. 2009, S. 10). Dies gilt in gleichem Maße für die These der grenz(en)überschreitenden Krisenerfahrungen, da der Zusammenhang von Krise und Risikobewältigung in Individualisierungsprozessen undeutlich bleibt, denn Krisen sind weder notwendige noch zeitlich bestimmbare oder gerichtete Ereignisse.Footnote 8 Die erwähnten „habituellen Verkehrungen“ in existenziellen Krisen können möglich sein, müssen dies aber nicht, wie auch umgekehrt habituelle Veränderungen zu existenziellen Krisen führen können, dies aber nicht müssen. Aber inwiefern Krisen der systematische Ort sein können, um zu Habitusgrenzen überschreitenden positiven Veränderungen bzw. Konversionen auf Seiten der Subjekte zu führen, bleibt offen. Zumal diese kaum pädagogisch gesteuert, sondern vor allem therapeutisch bearbeitet werden.

Skepsis ist daher gegenüber der behaupteten „Bewältigungsdynamik“ angebracht, dass die habituellen Grenzen nicht nur ,gesprengt‘, sondern erfolgreich und nachhaltig überschritten werden könnten. Schließlich hat das ,habituelle Korsett‘ für die Subjekte in der Regel auch und vor allem eine wichtige Stütz- und Sicherheitsfunktion, mit dem sie Alltagspraxis – und zuweilen auch Krisen selbst – bewältigen, deren Bedeutung im Bewältigungsansatz unterschätzt wird. Von der Konzeption des Habitus hängt demnach in entscheidender Weise ab, ob und wie auf welche Ressourcen auf Subjektseite zurückgegriffen werden kann, um die Krisendynamik auch positiv nutzen zu können. Ich möchte daher genauer auf das Bourdieu’sche Habituskonzept eingehen, dessen pauschale Zuordnung zur ersten Moderne hinterfragen und der missverständlichen Lesart, dass es sich um ein statisch-oberflächliches Konzept handle, das der Tiefe(ndynamik) des Subjekts nicht gerecht werde, einige Bedenken entgegenhalten.

4.2 Habitustheoretische Reflexionen zur Bewältigungsproblematik

Entgegen der Annahme, dass das Habituskonzept ein statisches oder deterministisches Konzept sei, ist der Habitus als ein „offenes Dispositionssystem“ zu verstehen, „das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt beeinflusst wird“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 167). Der „gleiche Habitus kann je nach Stimulus und Feldstruktur ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche Praktiken hervorbringen“ (ebd., S. 168). Im Unterschied zur Sozialpsychologie, so Bourdieu in einem Interview, „die den Menschen untersucht, als bestünde er aus einer Summe von Fähigkeiten – Wahrnehmung, Gedächtnis, ästhetische Einstellungen usw.“, habe er nachzuweisen versucht, dass der Habitus ein generatives, einheitsstiftendes Prinzip bilde, das bewirke, dass der charakteristische Stil einer Person eine Totalität mit je eigener Physiognomie darstelle (Bourdieu 1985, S. 386). Der Habitus müsse zudem über eine gewisse Formbarkeit und Elastizität verfügen, da es sonst keine Passung mit den verschiedenen Feldern und Praktiken gäbe, „um sich in einen konformen Habitus konvertieren zu lassen, der (…) kongruent und lernfähig, d. h. offen für die Möglichkeit der Restrukturierung ist“ (Krais und Gebauer 2002, S. 62). Dispositionen seien daher „Virtualitäten, Potentialitäten“, die „erst im Verhältnis zu einer bestimmten Situation manifest“ würden (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 168). Dem Habitus liegt das erwähnte genetische Prinzip zugrunde, nach dem er „wie eine Grammatik in die Gegenwart hinein(wirkt), eine Grammatik, deren Regeln gekonnt, aber nicht gewusst werden“ (Wolf 2007). In diesem Sinne betont Bourdieu:

In Abhängigkeit von neuen Erfahrungen ändern die Habitus sich unaufhörlich. Die Dispositionen sind einer Art ständiger Revision unterworfen, die aber niemals radikal ist, da sie sich auf der Grundlage von Voraussetzungen vollzieht, die im früheren Zustand verankert sind. (Bourdieu 2001, S. 207)

Die von Böhnisch/Lenz/Schröer angesonnene tiefenpsychisch verankerte Bewältigungsdynamik soll jedoch genau die radikalen Konversionen habitueller Dispositionen im Subjekt ermöglichen, und die sprichwörtliche ,Krise als Chance‘ soll hierbei genutzt werden. Die letztinstanzliche Triebdynamik wird gegen das „habituelle Korsett“ ausgespielt, ohne die Grenzen der Verfügbarkeit des Subjekts über habituelle Strukturen zu reflektieren, mit dem Effekt, dass soziale Struktur und psychische Entwicklung weitgehend auseinandergezogen werden. Offen bleibt zum Beispiel, welche Formen und Effekte die sozialen und kulturellen Umformungen des Selbstbehauptungstriebs haben.

Während im Bewältigungsansatz die tiefenpsychischen Strukturen den Ausgangspunkt für die Bewältigung/Überschreitung von Milieugrenzen darstellen ,hebt das Habituskonzept Bourdieu’ scher Provenienz die transgressionslimitierende Dimension von Handeln hervor, weil sie dem Erkennen und der willentlichen Beeinflussung des Subjekts nur schwer zugänglich sind. Zentral ist hierbei der Gedanke, dass habituelle Formierungen sich in sozialen Praktiken implizit, d. h. körperlich manifestieren. Sie bilden die materiell-körperliche Dimension der Identität. Dispositionen sind hierbei nicht kognitivistisch misszuverstehen, sondern beinhalten „körperliche und leibliche Aspekte“, denn „als körperliches Konzept verweist der Habitus auf die sichtbare Verkörperung der Lebensgeschichte einer Person (…) als leibliches Konzept auf das leibliche Wissen, den sozialen Spürsinn oder, in Bourdieus Terminologie, den ,praktischen Sinn‘“ (Gugutzer 2004, S. 72). Der individuell-soziale ,Klassenkörper‘ ist weder lernunfähig noch rational vollkommen hintergehbar, sondern bleibt als soziales und individuelles Medium umkämpft in seinen symbolischen Besetzungen – Bourdieu spricht hierbei von „Hexis“ als „dauerhafte Art und Weise, sich zu geben, zu sprechen, zu gehen, und darin auch: zu fühlen und zu denken“ (Bourdieu 1979, S. 195). Ein rationalistischer Fehlschluss verleitet dazu, die Beharrungskraft der ,kleinen Klassenunterschiede‘ gegenüber individueller Vernunftsteuerung zu unterschätzen. Jürgen Wittpoth hat hierbei treffend vom „überforderten Subjekt“ (Wittpoth 1995) gesprochen, was für einen emphatischen pädagogischen Subjektbegriff mit hypertrophen Autonomieansprüchen genauso gilt wie für das rationalistische Pendant eines potentiell souveränen Vernunftsubjekts. Von Bourdieu könne man lernen, „daß wir dann, wenn wir uns besonders reflektiert und originell wähnen, den Vorgaben unseres Milieus in hohem Maße angepaßt sind“ (ebd., S. 25).

Auch die Dialektik von grenzsichernder Identitätsarbeit und verunsichernder Grenzüberschreitung im Handeln der Subjekte wird in der Zuschreibung allgemeiner Bewältigungskompetenzen eingeebnet. Aber in dieser vielfältigen Dynamik möglicher Formen von Transgression, Progression und Regression liegt auch ihre verhaltenssichernde Funktion für die Subjekte, worauf in hohem Maße die Beharrungskraft des Habitus zurückzuführen ist. Damit wird also nicht die Unmöglichkeit der Überschreitung und Veränderung habitueller Grenzen behauptet, jedoch deren (Un-)Wahrscheinlichkeit deutlich gemacht.

Der Habitus repräsentiert daher im umfassenden psychophysischen Sinne das inkorporierte Soziale (Bourdieu 1987, S. 729) eines Subjekts. Was der Leib gelernt habe, so Bourdieu, „das besitzt man nicht wie ein wieder betrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu 1995, S. 135). Und weiter heißt es:

Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körper gemachten Werte. (Bourdieu 1979, S. 200)

Auch der Krisenbegriff kann mit dem Bourdieu’schen Hysteresiskonzept verknüpft werden, denn Hysteresis wird als Nicht-Passung von Habitus, Dispositionen und Feld begriffen (Bourdieu 2001). Es könne geschehen, dass die „Dispositionen mit dem Feld und den für seinen Normalzustand konstitutiven ,kollektiven Erwartungen‘ in Missklang geraten“ (ebd., S. 206). Eine spontane und die Widerständigkeit des eigenen Habitus gänzlich konterkarierende Anpassung sei aufgrund der „Trägheit (Hysteresis) des Habitus“ (ebd.) nicht möglich, so dass es zu grundlegenden Dissonanzen, Desynchronisierungen und damit zu einer Reihe „verpasster Gelegenheiten“ (Bourdieu 1995, S. 111) komme. Bourdieu weist auf die grundlegenden habituellen Schwierigkeiten hin, die „in Krisen oder bei einem plötzlichen Wandel“ wie etwa einer „sehr raschen Deplazierung im sozialen Raum“ entstehen können (Bourdieu 2001, S. 207). Hierbei hätten die „Akteure oft Mühe, die mit unterschiedlichen Zuständen oder Etappen verbundenen Dispositionen zu vereinen“ (ebd.).Footnote 9

5 Zusammenfassung, Kritik, Ausblick

Ausgangspunkt war die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft im Bewältigungsansatz und die modernisierungs- bzw. individualisierungstheoretische Begründung im Rahmen eines neuen Risikoregimes, bei dem Risiko zur umfassenden Determinante aller sozialen Beziehungen (gemacht) wird. Im Zentrum der weiteren Betrachtung stand die Problematisierung der Ressourcen, die dem Subjekt global zugeschrieben bzw. die als notwendig für Arbeit und Leben postuliert werden. Dabei geht es nicht (mehr) nur um die grundlegende Frage nach Handlungsermöglichung, sondern im Kontext zunehmender Unsicherheiten (,Risikoregime‘) in der Zweiten Moderne um eine strategische Orientierung und Mobilisierung von Ressourcen auf Seiten des Subjekts (Reflexion, Entscheidung, Selbststeuerung, „biographische Rationalität“). Indem das Individuum zum „Planungsbüro“ (Beck 1986, S. 209) und zur „lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“ (ebd., S. 217) erklärt wird, wird Gesellschaft kategorial auf eine „Umweltvariable“ (ebd.) des Individuums reduziert. In dem Maße, wie Gesellschaft damit gegenüber dem Subjekt abstrakter wird, verschiebt sich auch der normative Rahmen. Denn die Veränderungen von einer gesellschaftlichen Gleichheitsorientierung hin zu einer Risikoorientierung führen im Effekt zu einer Individualisierung von Handlungsverantwortung. Damit sind die normativen Veränderungen angedeutet, aufgrund derer die Bedeutungszunahme individueller Kompetenzen/Ressourcen und deren Mobilisierung legitimiert werden können. So kommt es zu einer rationalistischen Neuakzentuierung der Subjektkonzeption in der Sozialisationstheorie.

Mit Beginn der 1990er Jahre wird ein neues Leitbild des produktiv die Realität verarbeitenden Subjekts etabliert, dessen „Entwicklung von Handlungskompetenzen“ als sozialisationstheoretische Hauptaufgabe bestimmt wird (Hurrelmann und Ulich 1991, S. 8). Die Akzentuierung individueller Ressourcen führt weg von der Frage, was Handeln auch in seiner gesellschaftlichen Widersprüchlichkeit von Sinnbildung und Identitätsprozessen ausmacht. Fokussiert wird nun auf die flexiblen Ressourcen/Kompetenzen, die erfolgreiches Handeln ermöglichen (sollen), für das fixe Identitäten grundsätzlich dysfunktional sind. Flexibilisierungspostulat und Mobilisierungsgebot haben einen normalisierenden Effekt dahingehend, als tendenziell erfolgreiches Handeln – wie auch immer definiert – zur Norm und Misserfolg bzw. Scheitern zur Abweichung davon gemacht wird. Damit ist ein variierender Subjektstatus und ein Spektrum aus unterschiedlichen Positionierungen des Einzelnen begründbar, der von erfolgreicher Bewältigung über ,Risikogruppe‘ bis Scheitern reicht.

Die Funktionalisierung individueller Potentiale basiert auf der Annahme einer hochgradigen Selbst-Verfügung, die gewissermaßen als neue Subjekt-Ontologie fungiert: Das statische Sein sozialer Identitäten wird durch das Postulat eines flexiblen Verfügens über die eigene Identität ersetzt, bei der Gesellschaft, Milieu, Klasse, Geschlecht, Ethnizität gewissermaßen nicht mehr als Schicksal erlebt werden sollen. Emanzipatorische und individualisierende Motive fließen hierbei untrennbar zusammen. Daher gehört die Verknüpfung eines emphatisch aufgeladenen rationalistischen Subjektbegriffs mit den umfassenden funktionalen Adaptions- und Problemlösungsfähigkeiten, die als Teil einer zu erwerbenden Kompetenzausstattung deklariert werden, zum Markenzeichen dieses Subjekttypus. Es ist weniger der Sinn auszuhandelnder Identitätskonstruktionen, der von Bedeutung ist, als vielmehr der Handlungserfolg durch den passenden Kompetenzerwerb, der die Überschreitung individueller und sozialer Milieugrenzen ermöglichen soll.

Die angedeutete rationalistische Verschiebung des Subjektkonzepts zeigt Affinitäten zur Figur des Selbst-Unternehmers, der in umfassender Weise soziales, kulturelles und ökonomisches Humankapital zu mobilisieren in der Lage ist/sein soll. Seine Rationalität ist also nicht auf erfolgreiches ökonomisches Handeln im Sinne eines rational operierenden und nutzenmaximierenden Akteurs auf dem Markt beschränkt (rational choice, homo oeconomicus), sondern stellt das neue Leitbild und eine verallgemeinerte soziale Handlungsnorm der Flexibilisierung dar. Erst ein umfassender und ganzheitlicher Humankapitalbegriff, in dem verschiedene soziale, ökonomische und politische Handlungsrationalitäten verschmelzen, macht das ,Über-Leben‘ in der Risikogesellschaft für die Subjekte möglich. Damit wird auch verständlich, warum Identitätsmerkmale wie Geschlecht und Ethnizität als formbare Ressourcen eingesetzt und strategisch genutzt werden können (sollen). Die beschleunigte gesellschaftliche Risikodynamik, bei der kein sozialer Stein mehr auf dem anderen bleibt, erinnert nicht nur an die Volatilität von Finanzmärkten, sondern zeigt, dass in gewisser Weise das Konzept der Risikogesellschaft für soziale Verallgemeinerung des Marktes steht und gleichzeitig eine in den 1980er Jahren anhebende Ökonomisierung des Sozialen beschreibt. Auf Märkten ist das Risiko ein systemkonstitutiver Bestandteil ökonomischer Mehrwertreproduktion, hoch funktional und erfordert entsprechende Risikosubjekte.

Im Rahmen des Bewältigungskonzepts werden Merkmale wie Uneindeutigkeiten, Differenz, Diskontinuität und Flexibilität als Leitkategorien etabliert, wodurch bereits der begrifflichen Logik nach kein Habituskonzept passt, mit dem die Kontinuität von Klassenstrukturen behauptet wird. Die zentrale Bedeutung dieser Frage zeigt sich im Bewältigungskonzept auch dort, wo gesellschaftliches Handeln in eine Reihe von „Bewältigungskonstellationen“ (ebd., S. 32) aufgelöst und damit in Optionen, d. h. Wahlentscheidungen zwischen Möglichkeiten und vermeintlichen Alternativen transformiert wird. Dies umfasst alle Bereiche des Lebens, Arbeitens, Kommunizierens usw., die lediglich durch eine „biographische Rationalität“ (ebd., S. 18) zusammengehalten werden, die selbst nicht weiter theoretisch begründet wird. Mit der aneignungstheoretischen Umformulierung des Habituskonzepts („Aneignungskulturen“) wird der Habitus gleichsam gegen den Subjektbegriff ausgespielt, womit er seine theoretische Bedeutung für das angedeutete Struktur- bzw. Transformationsproblem verliert.

In dem gesellschaftlichen Risikoszenario von Entgrenzung und Verflüssigung als Diskontinuität sozialer und kultureller Strukturen stellt sich daher grundsätzlich die Frage nach Kontinuität und Re-Strukturierungen auf gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Ebene. Die Frage der Transformation, d. h., wie Kontinuität und Diskontinuität in der Strukturbildung und -veränderung bzw. der Neustrukturierung im Bewältigungsgeschehen zusammenhängen, stellt ein Basisproblem des individualisierungstheoretisch begründeten Bewältigungsansatzes dar, für das – so meine These – das Habituskonzept Bourdieus zumindest einen begrifflichen Rahmen der Analyse bilden kann. Denn es wird gegenüber der Statik des Habitus gerade seine Lernfähigkeit als die „Möglichkeit der Restrukturierung“ (Krais und Gebauer 2002, S. 62) geltend gemacht. Damit wird gegenüber der globalen Möglichkeitsunterstellung, alle Individuen könnten aufgrund ihrer Triebausstattung potentiell soziale und milieuspezifische Restriktionen bewältigen, die (Un-)Wahrscheinlichkeit grenzüberschreitenden Verhaltens unterstrichen.

Habitus, Hexis und Hysteresis bilden hierbei die Eckpunkte eines Konzepts wahrscheinlichen sozialen Handelns. Der Akteur handelt in einem sozialen Raum von Möglichkeiten nach der „Kausalität des Wahrscheinlichen“ (Krais und Gebauer 2002, S. 46). Gegenüber einem Begriff von Kontingenz als potentiell immer möglicher Grenzüberschreitung – nach Luhmann das, „was weder notwendig ist noch unmöglich ist“ (1984, S. 152) – wird mit dem wahrscheinlichkeitstheoretischen Konzept der Raum der Handlungsmöglichkeiten von vornherein so eingeschränkt, dass nicht alle alles erreichen können:

Die ökonomische und soziale Welt – Positionen, die man einnehmen, Bildungswege, die man einschlagen, Güter, die man konsumieren, Besitztümer, die man kaufen, und Frauen, die man heiraten kann usw. – nimmt niemals (…) die Gestalt eines Universums von Möglichkeiten an, die jedem beliebigen Subjekt gleichermaßen offen stehen. (Bourdieu nach Krais und Gebauer 2002, S. 46)

Theoretisch wie auch für eine entsprechende empirische Forschung ist es wichtig, die feinen Abstufungen zwischen der Wahrscheinlichkeit und der Unwahrscheinlichkeit und damit die Bandbreite im Handeln der Subjekte zu bestimmen. Der Begriff der Handlungsmöglichkeiten macht für die Analyse etwa von Lebensläufen oder lebenslangen Lernprozessen dann Sinn, wenn er in einem sozialen (Handlungs-)Raum von Wahrscheinlichkeiten situiert wird. Daraus ergeben sich Fragen für Bewältigungsformen und -prozesse wie: Worin liegen die ,feinen Unterschiede‘ im Lernverhalten, welche Korrespondenzen lassen sich zwischen habituellen Rahmungen und dem individuellen Handeln als „Aktualisierung der Potentialität“ (Bourdieu 2001, S. 192) feststellen, welche „verpassten Gelegenheiten“ individueller Biographien lassen sich rekonstruieren, und wo haben sich Brüche eingestellt, ob als Krisen, Passungsprobleme oder Hysteresis-Effekte.