1 Krise der Kritik und symbolische Macht

Die Demonstrationen in Barcelona und Madrid, in Athen und Paris, in Tel Aviv und Stuttgart werfen ein Licht darauf, dass die Kritik laut und vielfältig ist.

Von einem „Verstummen“ der Kritik kann keine Rede sein. Vielmehr ist die Kritik im Alltag der Menschen allgegenwärtig. Wenn wir gleichwohl von einer Krise der Kritik sprechen, so meinen wir damit, dass die ubiquitäre Kritik nicht zu einer kritischen gesellschaftlichen Erzählung findet, dass sie keine gemeinsame Sprache entwickelt mit erklärenden Bildern und Grammatiken, dass sie sich nicht organisiert und hilflos ist bei der Vorstellung einer gesellschaftlichen Veränderung oder sich einer solchen Vorstellung sogar verweigert. Genau diese Form der „Sprachlosigkeit“, so unsere These, zeichnet die Krise der Kritik aus.

Wir wollen im Folgenden zwei Erklärungen für die Krise im eben skizzierten Sinne einer Sprachlosigkeit der Kritik anbieten. Das sind zum einen die Veränderungen der normativen Kraft von Rechtfertigungsordnungen, wie sie von Boltanski, Thévenot und Chiapello analysiert worden sind, zum andern der Prozess der Individualisierung. Beide Entwicklungen sind eine symbolische Macht, mit der die Sprachlosigkeit der Kritik am Kapitalismus zumindest teilweise erklärt werden kann. Denn sie führen dazu, dass gerade jene gesellschaftlichen Strukturen, welche die Akteure in das „Elend der Welt“ (Bourdieu et al.1997) stürzen, im „subjektiven Erleben und Erleiden der Misere verborgen“ werden (Barlösius1999, S. 665, eigene Hervorhebung).

Von symbolischer Macht ist zu reden, wenn Akteure zu einem Denken, Fühlen, Handeln und Werten veranlasst werden, ohne dass dies auf dem Einsatz von Zwang, auf der Steuerung durch Knappheiten, Tausch und Anreizen beruht. Symbolische Macht bezeichnet damit Steuerung über Symbole, Ideologeme, Gefühle und Sprache. Für Bourdieu spielt neben der Inkorporierung des Habitus die Sprache die zentrale Rolle. Sie resultiert aus der Distinktions- und Vergemeinschaftungsbedeutung von Sprache einerseits, aus der Kraft, mit Sprache und Begriffen Realitäten und Situationen zu definieren und mit Sinn zu versehen, andererseits.Footnote 1 Die Macht der Sprache besteht nicht nur darin, andere zu „überreden“, sondern auch darin, anderen die Sprache zu nehmen, also ihnen die Fähigkeit zu beschneiden, ihre Anliegen und ihr Leiden in eine artikulationsfähige Sprache zu überführen.

Symbolische Macht ist allerdings, das wollen wir hinzufügen, nicht nur in einer Richtung zu betrachten. Es gibt eine Wechselbeziehung von symbolischer Macht und symbolischer Gegenmacht. Diese Wechselbeziehung ist oftmals interner Art. Das heißt, die Elemente symbolischer Macht können zugleich Elemente symbolischer Gegenmacht sein. Die zunächst von der Sprache Übermächtigten können sich teilweise derselben Sprache, Begriffe und Werte bedienen, ihnen eine veränderte Bedeutung geben oder sie auf ihre ursprüngliche zurückführen und sie gegen die Machthaber einsetzen. Das erklärt sich schon daraus, dass die Macht der herrschenden Symbole sich nur − oder besser − entfalten kann, wenn diese sich breit akzeptierter und sozial institutionalisierter Sinn- und Normstrukturen bedienen, denen sie eine bestimmte Wendung und Deutung geben können. Daher sind viele der machtvollen Symbole eincontested terrain, um sie kann sich ein Kampf der Deutungen und Wertungen ergeben.

Im folgenden Beitrag widmen wir uns zum einen den Rechtfertigungsordnungen als Ordnungen der Legitimation und Bestimmung von Wertigkeiten (2) sowie dem Prozess und der normativen Semantik der Individualisierung (3) als zwei Grundlagen symbolischer Macht. Rechtfertigungsordnungen sind mit Kritikdimensionen verbunden und insofern nicht nur Ordnungen der Legitimation, sondern auch der Kritik. Semantik und Normativität der Individualisierung sind nicht nur Instrumente der Partikularisierung und Ent-Sprachlichung, sondern auch der Reklamation von zentralen Werten moderner Normativität.

Anschließend an die Skizze der symbolischen Macht von Projektpolis und Individualisierung wollen wir daher auf Anzeichen und Ansatzpunkte einer Renaissance der Kritik hinweisen (4). Wegen des Doppelcharakters von Kritik als Mittel der Gegen-Macht und der Innovation von Legitimation sprechen wir von einem „Kampf um die Kritik“. Abschließend beleuchten wir die Bedeutung, die einer reflexiven Verbindung von kritischer Soziologie und Soziologie der Kritik zu einer kritischen Soziologie der Kritik in diesem Kampf um die Kritik zukommen kann (5).

2 Die Veränderungen von Rechtfertigungsordnungen

In klassischen Theorien des Kapitalismus wird dieser bestimmt durch innere Strukturwidersprüche der Ökonomie. Diese führen zu Krisen und treiben Klassen in Konflikte gegeneinander. Verschiedene Stränge dieses Diskurses unterschieden sich etwa darin, wie vermittelt beziehungsweise unvermittelt sie das Verhältnis von kritischer Lage und kritischem Bewusstsein konzipierten. Doch über alle Unterschiede hinweg teilten derartige kritische Ansätze die Leitidee, dass sie die zentralen Widersprüche in der Ökonomie selbst und den sich hieraus ableitenden Interessen angelegt sahen. Dem entsprach ein Verständnis der kapitalistischen Ökonomie als eines sich letztlich selbstregulierenden Mechanismus. An diesem Punkt bestand eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit der Auffassung von Max Weber, der nach einer „geistigen“ Inkubationsphase des Protestantismus den Kapitalismus als sich sachzwanghaft reproduzierendes System konzipierte. Dafür steht die oft zitierte Metapher vom „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber1980, S. 835), aus dem jeder „Geist“ und damit Sinn entwichen ist. Übrig bleibt der moralisch ausgekühlte stumme Zwang der Verhältnisse. Diese Denkfigur findet sich auch in den Argumentationsmustern neoliberaler Globalisierungsfatalisten wieder, die immer wieder auf die Anpassungsnotwendigkeiten an unabweisbare Sachzwänge hinweisen.

Von dieser klassischen unterscheiden sich Formen der Kritik, die in der normativen Ordnung der Gesellschaft begründet und explizit normativ formuliert sind. Sei es, dass die Ökonomie des Kapitalismus im Konflikt steht zu Wertmustern, sei es, dass Legitimationsmuster des Kapitalismus in sich selbst widersprüchlich sind und daher die Kritik gewissermaßen rekursiv ist, oder sei es, dass unterschiedliche Wertmuster miteinander in Konflikt geraten. In neuerer Zeit ist es insbesondere die Soziologie der Kritik von Boltanski, Chiapello und Thévenot, die gegen Weber darauf bestehen, dass der Kapitalismus eine „an sich“ absurde Ordnung ist, die sich weder selbst rechtfertigen noch die Subjekte ausreichend motivieren kann (Boltanski und Thévenot2007; Boltanski und Chiapello2003, S. 42). Um Engagement zu motivieren, reicht der stumme Sachzwang der Verhältnisse nicht aus. Vielmehr benötigt der Kapitalismus eine Rechtfertigungsordnung (polis), die umfassende Folgebereitschaften freisetzt. Eine solche Rechtfertigungsordnung enthält Vorstellungen von Gerechtigkeit und Gemeinwohl sowie Wertigkeits-, also Wertschätzungskriterien. Sie legitimiert eine bestehende Ordnung und formuliert zugleich normative Kriterien, die es ermöglichen, ein im Rahmen einer anerkannten Rechtfertigungsordnung legitimes von einem illegitimen Handeln zu unterscheiden. Damit legitimieren Rechtfertigungsordnungen den Kapitalismus und legen ihm im gleichen Zug bestimmte normative Schranken auf.

Zugleich besitzen Rechtfertigungsordnungen einen Geltungsüberhang (Honneth2003, S. 220 f.), das heißt, sie formulieren normative Prinzipien, die in den Verhältnissen des jeweils historischen Kapitalismus nicht realisiert sind. Diese Diskrepanzen können gleichzeitig als ideologische Vernebelung und als Kritikbasis gesehen werden. Als Beispiel sei auf den Doppelcharakter des Leistungsprinzips verwiesen:

Einerseits ist es ein Muster der ideologischen (weil nicht realitätsgerechten) Rechtfertigung der sozialen Ungleichheit, andererseits und zugleich ist es stets neu ein Ansatzpunkt der Kritik an der realen sozialen Ungleichheit (Voswinkel2010). Und drittens schließlich können Veränderungen, die aus der Kritik an der sozialen Ungleichheit auf der normativen Basis des Leistungsprinzips resultieren, zur neuen Legitimation des Kapitalismus beitragen. Auch dies gehört zu dem Zusammenhang, den Boltanski und Chiapello ansprechen, wenn sie über die Funktion der Kritik bei der Fortentwicklung und Neuerschaffung des Kapitalismus sprechen.

Der Kapitalismus verleibt sich Kritik nicht nur ein, sondern hieraus kann sogar ein neuer Legitimations- und Motivationszyklus resultieren. Die Inkongruenz von Struktur und Normativität und damit der Geltungsüberhang der Rechtfertigungsordnung bleiben indes bestehen, weil die Kritik nur in unzureichender oder verfremdeter Form inkorporiert wird, wie Boltanski und Chiapello dies am Beispiel der künstlerischen Kritik in der Projektpolis gezeigt haben. Damit ist es wahrscheinlich, dass sich die Kritik auch neu artikuliert.

Historisch greift der Kapitalismus auf verschiedene Rechtfertigungsordnungen zurück, die in unterschiedlichem Maße dominieren und zeitlich koexistieren können. Boltanski/Chiapello/Thévenot heben für die Gegenwart vor allem die Rechtfertigungsordnungen der Industrie und des Projekts hervor. Nach Boltanski und Chiapello (2003) ist es die „Projektpolis“, die einer vernetzten Welt angemessen ist und mit dem „neuen Geist des Kapitalismus“ bezeichnet wird. Sie ist zwar noch nicht eindeutig dominant geworden, hat aber am meisten an Zustimmung gewonnen. Die Wertigkeit von Akteuren bestimmt sich in der Rechtfertigungsordnung des Projekts (der Projektpolis) an ihrer Fähigkeit, Projekte zu initiieren und sich Projekten anzuschließen. Das erfordert als Persönlichkeitsmerkmal persönliche Flexibilität, kurzfristig aktivierbare, soziale und kommunikative Kompetenz, damit ein reflektiertes Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und seiner Performance, also die Eigenschaften, die man in jedem modernen Bewerbungsratgeber beschrieben findet. Zentrale Machtquelle sind das Informationskapital, die Kontrolle über schwer substituierbare Verbindungen und die Vernetztheit der Akteure. Die in der Projektpolis erzielte Wertschätzung, so möchten wir Boltanski/Chiapellos Überlegungen fortspinnen, nimmt entsprechend der Flüchtigkeit der Projekte selbst flüchtigen Charakter an, sie wird zwar teilweise als Reputation von Projekt zu Projekt transferiert, fungiert aber nicht als Verdienst auf Basis erbrachter Leistungen, sondern als Versprechen und Potenzial für die Zukunft des folgenden Projekts.

Diese Rechtfertigungsordnung setzt sich ab und koexistiert in der Gegenwart mit der industriellen Rechtfertigungsordnung. Im Mittelpunkt der industriellen Rechtfertigungsordnung steht „die Effizienz der Wesen, ihrer Leistung und Produktivität, ihrer Fähigkeit, ein normales Funktionieren zu gewährleisten und Bedürfnisse in nützlicher Weise zu befriedigen. Diese Funktionalität kommt in einer Organisation zum Ausdruck“ (Boltanski und Thévenot2007, S. 278). Die Subjekte haben sich in diese Organisation einzufügen, ihr Wert bemisst sich an ihrer Fähigkeit, zum Funktionieren der Organisation beizutragen, indem sie die ihnen dort übertragenen Aufgaben erfüllen.

Subjektivität im Sinne des Eigensinns, individueller Kreativität und Arbeitsautonomie ist in der industriellen Welt nicht vorgesehen und gilt eher als Störfaktor. Mit einem Wort: Arbeit und Person werden strikt getrennt gedacht. Subjektivität wurde als die eines bedürftigen Selbst konzipiert, das in Ergänzung zur Entsubjektivierung in der Arbeit einer sozialen Sicherung und Fürsorge durch das inkludierende Unternehmen und die Institutionen der kollektiven Interessenregulierung bedarf. In diesem Sinne war Subjektivität durchaus auch und gerade im Fordismus präsent.

Die Kritik an der industriellen Rechtfertigungsordnung richtete sich gerade gegen die Trennung von Arbeit und Autonomie, Arbeit und Leben und gegen das rein zweckrationale Verständnis von Arbeit. Weil in dieser Kritik Subjektivität im Sinne von Autonomie und Kreativität reklamiert wurde, bezeichnen Boltanski und Chiapello sie als „künstlerische Kritik“ − im Unterschied zur „sozialen Kritik“, in der die Lebens- und Reproduktionsbedingungen der Arbeitenden im Mittelpunkt stehen. Aus der künstlerischen Kritik ist die neue Rechtfertigungsordnung des Projekts entstanden. Diese Kritik wendete sich gegen feste Strukturen und Hierarchien und in ihrer postmodernen Variante auch gegen die Bindung an stabile Identitäten, die der organisatorisch geforderten und subjektiv gewünschten Flexibilität der Person entgegensteht. Auch die Kritik an der Trennung von Arbeit und Leben und die Rede vom Ende der Arbeitsgesellschaft, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren die Debatten in der Soziologie bestimmte, kann als Wegbereiterin der Entgrenzung von Arbeit verstanden werden. Der in der Projektpolis zentrale Wert der Aktivität unterscheidet grundsätzlich nicht zwischen „Arbeit“ und „Nicht-Arbeit“. In gewissem Sinne ist alles, auch Privates, Arbeit, und umgekehrt ist Arbeit immer auch und zugleich persönliches Projekt. Diese Einheit von Arbeit und Leben ist die gebrochene Integration der antitayloristischen Kritik. Der postmaterialistische Wertewandel, wie er in den 1980er Jahren diagnostiziert wurde, nämlich als Bedeutungsgewinn der Freizeit gegenüber der Arbeit, hat sich realisiert in der Form der Aufwertung der Arbeit zum Inhalt von Selbstverwirklichung. Honneth (2002b) spricht hier treffend von einer „organisierten Selbstverwirklichung“.

Orientierung und Bindung an Organisationen treten in der Wertigkeitsordnung des Projekts zurück. Die in der Ratgeberliteratur eingespielte Begleitsemantik dafür lautet: Wer nicht alle sieben Jahre die Arbeitsstelle wechsle und sich neuen Herausforderungen stelle, in neuen Projekten sich neu bewähre, der habe als Versager zu gelten. Flexibilität als Persönlichkeitseigenschaft steht hoch im Kurs, weshalb die schöne Formel von der Work-Life-Balance letztlich auch für eine komplexe Herstellungsleistung steht, welche die Entgrenzung von Arbeit und Leben wieder re-/regulieren soll.

Subjektivität wird nun ganz als Kreativität, Autonomie und persönliche Flexibilität verstanden. Demgegenüber wird die Subjektivität des Menschen als sozial bedürftigem und eingebettetem Wesen ausgeklammert. Eigenverantwortung suggeriert, dass jeder selbst sein Schicksal bestimmen könne und es auf sein positives Denken, seine Aktivitäts- und Flexibilitätsbereitschaft ankomme. Eine kollektive Perspektive verschwindet nicht komplett, sie wird nun aber als reversibles Ensemble projektförmig kooperierender Individuen verstanden und verliert so an dauerhafter ‚Substanz‘.

Durch die zweifache Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren und damit aus den Netzen herauszufallen, dieemployability verbürgen, wird die Arbeit weiter aufgewertet. Der permanente Bewährungszwang beinhaltet das permanente Risiko eines Scheiterns. Doch diese Angst ist eine Angst in einer individualisierten Konkurrenz, sie kann sich nur schwer kollektiv Ausdruck verschaffen (Dejours1998), und für die Artikulation des Leidens fehlt die legitime Semantik. Das hat seinen Grund sowohl in den Strukturfolgen des Individualisierungsprozesses als auch in der Zersplitterung der Perspektiven, die Bourdieu (1998b) für den „anonymen Strategen“ (Schimank2007, S. 195) der neoliberalen Dekonstruktion des Sozialen hält.

3 Individualisierung

Die Vereinnahmung der Künstlerkritik am Fordismus durch die neue Rechtfertigungsordnung des Projekts macht eines deutlich. Normative Ideale und semantische Figuren wie Emanzipation, Autonomie oder Gleichheit spielen für die normative Fundierung des Kapitalismus nicht nur eine zentrale, sondern auch eine dialektische Rolle, worauf Holtgrewe (2008) aufmerksam gemacht hat. Damit ist die Pendelbewegung zwischen Kritik und Vereinnahmung angesprochen.

Zwar ist die Denkfigur durchaus instruktiv, der zufolge die Transformation von kapitalistischen Institutionen, Strukturen und Organisationen durch die Kritik am Kapitalismus angestoßen wird, wobei die erfolgreiche Kritik sogleich in eine affirmative symbolische Macht kippt, die den Kapitalismus restabilisiert, bis sich neue Kritikmuster formieren. In dem ewigen Kreislauf fallen Geist des Kapitalismus, Kapitalismus, Kritik am und Revitalisierung respektive Restrukturierung des Kapitalismus spannungslos in eins. In dieser Perspektive, so Hessinger (2008), erscheint der Kapitalismus als ein Makrosubjekt, das passende Motivlagen, Sinnbestände und Legitimationsressourcen sucht undcum grano salis immer wieder findet. Solchen Konzepten attestiert Elster zu Recht eine „konspirative Auffassung der Geschichte“ (Elster1987, S. 62).

Um einer solchen Art der funktionalistischen Geschichtsschreibung nicht aufzusitzen, gilt es, die Attraktivität der Projektpolis in den Rahmen der längerfristigen Strukturveränderungen einzubetten, die mit dem Begriff der „Individualisierung“ bezeichnet werden. In diesem Prozess gewinnen die normativen Prinzipien von Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung weit über sozialstrukturelle Veränderungen hinaus an Attraktivität und Realitätssuggestion. Moderne Individuen können nun den Eindruck gewinnen, sie seien nicht in das harte Gehäuse ihrer Herkunft, Klassenzugehörigkeit und sozialen Lage eingezäunt und Autor ihres eigenen Lebens. Die damit verbundene Neuausrichtung von Zurechnungen ist jedoch ambivalent (ausführlich dazu Wagner2008). Das Individuum, das nicht fremd-, sondern selbstbestimmt leben und arbeiten will, kann und soll sich seinen Erfolg selbst zurechnen und mit Stolz auf die eigene Leistung blicken. Auf der Kehrseite der Medaille heißt das freilich auch, dass die Akteure auch für Misserfolge, Scheitern wie auch (erwerbs-)biographische Einbrüche umfassend verantwortlich zeichnen müssen. Diese Zuschreibungspraxis erfasst jeden und jede – ungeachtet der Frage, ob er oder sie tatsächlich autonom entscheidet oder nicht, ob er dieses ‚Lebenskonzept‘ teilt oder nicht. Das hat seinen Grund darin, dass im Zuge des Individualisierungsschubs Erwartungserwartungen auf einer normativen Ebene folgenreich umgeformt werden. Im Zuge des neuen Legitimationsregimes wird nunmehr eine Zuschreibungskonvention etabliert, der zufolge Akteure erwarten (sollen), dass konkrete wie verallgemeinerte Andere genau diese Erwartungshaltung von ihnen erwarten. Aus diesem Grund muss selbst derjenige, der mit der Individualisierungssemantik nichts anfangen kann oder will, dennoch in Rechnung stellen, „daß andere davon ausgehen, daß er weiß, was er (…) tut“ (Brose und Hildenbrand1988). In Folge dieser Zuschreibungspraxis werden die Akteure für das Gelingen wie auch für das Scheitern umfassend in Eigenverantwortung genommen. Denn soweit Akteure – nach Maßgabe der Individualisierungssemantik und der entsprechenden Erwartungserwartungen – ihr Leben in Eigenregie führen und nicht länger fremden Drehbuchvorgaben folgen, fallen die Möglichkeiten weg, sich auf höhere Mächte, das Schicksal, den Zufall oder die widrigen Umstände exkulpierend zu berufen. Mit einem Wort: Bei der Individualisierungssemantik geht es im Kern um eine Fremdzuschreibung, die die „Aufforderung an einen Akteur enthält, sich die geforderte Verantwortung selbst zuzuschreiben bzw. abzuverlangen“ (Heitzmann2004, S. 70), und zwar ungeachtet der Frage, ob die Adressatinnen und Adressaten den damit verbundenen Anforderungen überhaupt gerecht werden können.

Die hier skizzierte Ausblendung der strukturellen Kontextbedingungen hat auch Folgen für die Kapitalismuskritik. Voraussetzung der Kritik ist das Zuhandensein kollektiv geteilter Selbstthematisierungsformate, die es ermöglichen, den Widerspruch zwischen der zugeschriebenen Selbstverantwortung einerseits und den faktischen Grenzen dieser Subjektpositionierung andererseits in einer intersubjektiv anerkannten und damit gesellschaftlich anschlussfähigen Weise zum Sprechen zu bringen. Honneth charakterisiert dies als „eine Individualisierungspolitik (…), die die Kontrolle sozialen Unrechtsbewußtseins zur Aufgabe hat: sie vereinzelt die Erfahrung sozialer Lebensbedingungen und erschwert auf diesem Weg die kommunikative Identifizierung sozialen Unrechts“ und „zerstört die kommunikative Infrastruktur, die eine solidarische Mobilisierung von Unrechtserfahrungen voraussetzt“ (Honneth1990, S. 194−193). Wir sehen in dieser Auswirkung der Individualisierungssemantik einen zentralen Grund dafür, dass die Kritik aktuell weitgehend ihre Sprachfähigkeit verloren hat. Die Sozialfigur des ‚stolzen Opfers‘ der Verhältnisse ist weitgehend aus dem Kanon anerkannter Selbstthematisierungen herausgekürzt. Mit dem Verblassen des kollektiven Wir löst sich gleichzeitig auch das treibende Subjekt sozialer Protestbewegungen auf.

Es ist diese Diagnose, die Dubet (2008) dazu führt, von einem „Rondo der Kritik“ zu sprechen. In seiner Untersuchung über die Artikulation von Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz identifiziert er eine überbordende Fülle an Kritik und Unzufriedenheit. Es kann also keine Rede von einem Verstummen der Kritik sein. Insofern kann man Dubets Studie zunächst als eine Bestätigung der Bedeutung von Kritik im Alltag der Menschen lesen. Jedoch fehlt es diesem Panoptikum von Kritiken und Unmutsäußerungen an Kohärenz. Das hat seinen Grund darin, dass sich die drei zentralen Prinzipien der Kritik – namentlich Autonomie, Gleichheit und Leistung – nicht bruchlos ineinander fügen. Eine im Licht der Autonomie geäußerte Kritik rückt die Werte von Gleichheit und Leistung in den Hintergrund, eine im Lichte der Gleichheit artikulierte Kritik distanziert die Werte von Autonomie und Leistung, und eine leistungsbezogene Kritik stellt die Werte der Autonomie und der Gleichheit hintenan. Zugleich scheidet sich die Selbst- von der Weltdeutung. „Die Gefühle der Ungerechtigkeit verankern sich in der unmittelbaren Erfahrung und lösen sich von den Bildern des sozialen Lebens, die von der Dynamik der kritischen Prozesse erfasst werden.“ (Dubet2008, S. 262)

Die hier skizzierte Diagnose der Strukturblindheit der Akteure gegenüber den je gesetzten Kontextbedingungen ihres Erlebens, Handelns und Erleidens führt Dubet systematisch auf den Prozess der Individualisierung zurück. Wenn nämlich die Erfahrung von Ungerechtigkeit nicht mit der Weltdeutung, nicht mit einem Gesellschaftsbild verbunden ist, dann orientiert sie sich auf den Nahbereich und richtet sich gegen persönliches oder situatives Fehlverhalten, gegen Gemeinheiten und lokale Unfairness. Ungerechtigkeiten werden dann „den ‚sadistischen‘ Vorarbeitern, den skrupellosen Arbeitgebern oder auch den eigenen Kollegen“ angelastet (Dubet2008, S. 303). Ein weiteres Deutungsmuster verortet die Ursachen in einem anonymen System oder den oft zitierten Sachzwängen. Dann aber „sind es Dimensionen, die sich den Vorstellungen des Klassenkonflikts entziehen: Rassismus, Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und Generationen, Prekarität und so weiter. Unter diesen Bedingungen können die Arbeitenden ihre Leiden in keine Gesellschaftsstruktur einordnen, in der die Herrschenden an den erlittenen Ungerechtigkeiten schuld sind. Die Akteure deuten deshalb ihre Erfahrung eher moralisch als politisch“ (Dubet2008, S. 303 f.). Die Individualisierung führt also in dieser Lesart nicht zum Verstummen, sondern zur Ziellosigkeit von Kritik und zu ihrer mangelnden Organisierbarkeit. Soweit aber die Erfahrungen von Ungerechtigkeit ursächlich auf Charaktereigenschaften, moralische Haltungen und Defizite zurückgeführt werden, ist der scheinbare Ausweg des „positiven Denkens“ (Ehrenreich2010) nicht fern, also die Hoffnung, durch eine persönlich andere Haltung gegenüber der Welt wenn nicht die Ungerechtigkeit, so doch das Leiden daran individuell überwinden zu können. Und damit wird wiederum der Prozess der semantisch-normativen Individualisierung verstärkt.

Als Fazit der Analysen von Honneth, Bourdieu und Dubet möchten wir festhalten: Soweit Leid nur noch individuell erlebt wird, läuft der Protest gegen die Ausblendung struktureller Kontextbedingungen ins Leere – das deshalb, weil das Objekt des Protests eben ausgehöhlt ist. Selbst der angreifbare Adressat des Protests geht verloren (Hartmann2002). Nach Maßgabe der Individualisierungssemantik werden Unterstützungsbedürfnisse „aus der Gesellschaft ausgebettet“ (Heitzmann2004, S. 76). Damit können strukturelle Hindernisse und die Relevanz je konkreter Kontextbedingungen legitimerweise auch und gerade von Seiten der Begünstigten dieser Semantik geleugnet werden. Bourdieu beschreibt eine solche Konstellation als „Soziodizee“ der Privilegierten (Bourdieu1998b, S. 51), die ihre eigenen blinden Flecken kultiviert. Soweit Leid Ausdruck persönlich zu verantwortenden Scheiterns ist, errichtet die Individualisierungssemantik eine Zone legitimer Gleichgültigkeit gegenüber „dem Elend der Welt“ (Bourdieu et al.1997). In dieser Zone der legitimen Indifferenz ist die Individualisierungssemantik dann eine Chiffre für das „Einverständnis mit der Welt, so wie sie nun einmal geworden ist“ (Adorno1996, S. 243). Die Empörung über Ungerechtigkeit hat ihren Adressaten verloren, die „Topik der Kritik“ läuft wahlweise leer (Boltanski und Chiapello2003, S. 382) oder in fragmentierten Unmutsbekundungen gesellschaftlich folgenlos heiß (Dubet2008). Damit ist ein Modell formuliert, welches die bemerkenswerte Sprachlosigkeit respektive Zersplitterung der Kritik zu verstehen hilft. Gleichzeitig lassen sich aus dem Modell Hinweise entnehmen, die Anhaltspunkte für eine Erneuerung der Kritik auf der Höhe der Zeit liefern.

4 Ansatzpunkte einer erneuerten Kritik

Solche Ansatzpunkte für eine Erneuerung der Kritik zu benennen, scheint auch deswegen sinnvoll zu sein, weil sich die Bedingungen für eine Renaissance der Kritik zu verändern scheinen. Denn seit der Krise der New Economy und verstärkt der Finanzmarktkrise schwindet die Überzeugungskraft der Rechtfertigungsordnung des Projekts. Der von Boltanski und Chiapello erwartete Bedeutungsgewinn dieser Rechtfertigungsordnung kann zumindest nicht fortgeschrieben werden.Footnote 2

Wir finden Anhaltspunkte hierfür jedenfalls in Deutschland in der Reaktion der Unternehmen auf die Finanzmarktkrise, in der ein wieder gestiegenes Bewusstsein über die Bedeutung von Betriebsbindung und Beschäftigungsstabilität zu erkennen ist, eine Bedeutung, die nicht (in erster Linie) normativ, sondern (auch) ökonomisch-instrumentell zu verstehen ist. Dem entspricht eine normative (noch keineswegs eine politisch-praktische) Krise des Neoliberalismus. Natürlich ist dies keine einheitliche Tendenz, wie aber auch der Siegeszug der Projektpolis keine einheitliche Tendenz war, sondern sich in verschiedenen Sektoren der Arbeitswelt und bei verschiedenen Gruppen des Managements in sehr unterschiedlichem Maße vollzog. Das gilt und galt mehr noch in der Managementpraxis als in der Managementliteratur.

Wir stützen unsere These vom relativen Bedeutungsverlust der Projektpolis auch auf Ergebnisse unserer Untersuchung von Anerkennungspolitiken in Unternehmen.Footnote 3 Hier zeigte sich ein gewachsenes Verständnis von den Folgen der Fluidität von Status, Anerkennung und der Auflösung fester Strukturen und Hierarchien. Erkennbar waren Absichten, den Auswirkungen auf die (De-)Motivation der Beschäftigten entgegenzuwirken und die Stabilität von Betriebsbindungen wieder zu fördern. Diese relative Abkehr von Elementen der Rechtfertigungsordnung des Projekts gründet sich nicht auf neuen Prinzipien, auf einem „neuen Geist“, sondern sie kommt als neue Pragmatik daher, als Abkehr von „Auswüchsen“ und als neuer Realismus.

Diese Probleme der Praxis haben der Projektpolis viel von ihrer Strahlkraft genommen, wie auch der Neoliberalismus nach der Finanzmarktkrise vorrangig mangels einer hegemoniefähigen Alternative eher noch als Zitat seiner selbst fortexistiert. Man könnte insofern von einer „Kritik der Praxis“ sprechen, die sich nicht auf eine neue Rechtfertigungsordnung stützen kann. Vielmehr zeigen sich Ansätze einer Renaissance der Industriepolis, wenngleich doch deren Rhetorik nach wie vor alsoutdated empfunden wird.

In dieser Situation einer „neuen Unübersichtlichkeit“, um eine alte Metapher von Habermas (1985) zu zitieren, können sich Chancen für eine Erneuerung der Kritik erweitern. Sie kann sich aus zwei Quellen speisen. Zum einen kann sie als externe Kritik aus dem Geist einer anderen Polis entstehen, zum andern als interne Kritik aus dem Geist des Projekts formuliert werden.

Gefahr und Chance zugleich bietet hier der Rekurs auf dieRechtfertigungsordnung der Industrie. So kann auf einen Leistungsbegriff zurückgegriffen werden, demzufolge nicht nur Potenziale und marktliche Erfolge, sondern Anstrengung, Erfahrung und erworbene Verdienste wertgeschätzt werden. Dies geht einher mit der Betonung eines sozialen Status, der den Menschen eine gewisse auf Dauer gestellte, nicht nur fluide Anerkennung vermitteln kann. Anerkennung setzt zwar lesbare Bewährungsproben voraus, aber sie muss doch auch soweit gesichert sein, dass der Mensch nicht einer permanenten Bewährungssituation ausgesetzt ist.

Aber ebenso wie Fraktionen des Managements − in später Genugtuung gegenüber den „Auswüchsen der New Economy“ − die Vorzüge der soliden realen Wirtschaft in Erinnerung bringen, so könnten sich auch die Kritiker verführt sehen, die Probleme mit den Idealen der Selbstverantwortung, Selbstorganisation, der Subjektivierung der Arbeit in Verbindung zu bringen. Hierin liegt die Gefahr eines nostalgischen Rückblicks auf die guten Seiten des Fordismus und Taylorismus. Eine solche Tendenz ist nicht neu. Schon Richard Sennetts Buch über den flexiblen Kapitalismus (Sennett1998) ist nicht frei von einer Auf-Hellung der fordistischen Vergangenheit. Während der flexible Kapitalismus durch eine Drift der Subjekte von Episode zu Episode und die Unfähigkeit zu längerfristigen Erzählungen ihres Lebens gekennzeichnet sei, in der Bindungen gefährlich sind, scheint die Vergangenheit zuvor von Stabilität geprägt und ein in sich rundes Leben möglich gewesen zu sein. Das signalisiert schon der programmatische Titel „The Corrosion of Character“ (Sennett1998, eigene Hervorhebung).

Die Aufwertung der „Stabilität“ als eines Vorzugs der tayloristischen Vergangenheit ist ein einseitiger Blick. Er übersieht all die Kritik, die gegen den Taylorismus gerade im Hinblick auf die Eingrenzungen durch die Stabilität des „Organisationsmenschen“ vorgebracht wurde. Wir möchten die Gefahren der Nostalgie exemplarisch an einem Argument von Hartmut RosaFootnote 4 deutlich machen. Rosa zu Folge wird die Beschleunigung des sozialen Wandels über den intergenerationellen Wechsel hinaus als chaotische Unbestimmtheit und als entfremdende Belastung wahrgenommen. So heißt es bei Rosa:

In der ‚klassischen Moderne‘ des generationalen Wandlungstempos war es für die Subjekte aussichtsreich, eine positionale Strategie zu verfolgen: eine bestimmte Berufsposition zu erreichen (…), eine bestimmte Familienposition einzunehmen (vielleicht die des Ehemanns, Familienvaters und Hausbesitzers), eine ehrenamtliche Position zu bekleiden etc. Solche Positionen sicherten Ein- und Auskommen, aber auch Status, Anerkennung, Sicherheit und vor allem: autonome Gestaltungsräume. (…) In der Spätmoderne dagegen wandeln sich die Wettbewerbs- und Anerkennungskämpfe vom Positionskampf, der das Erreichen und Sichern von stufenförmig angeordneten Wettbewerbs- und Anerkennungsniveaus erlaubte, zum ununterbrochenen performativen Kampf.“ Und als Fazit: „Der Zwang, sich stets von Neuem und in allen Sphären des sozialen Lebens bewähren zu müssen, weil es keine Sicherheit über erreichte Niveaus gibt, untergräbt das Vertrauen darauf, sein Leben ‚im Griff‘ zu haben und daher selbstbestimmt gestalten zu können. (Rosa2009, S. 111 f.)

Aber: Ist wirklich der mehrfache Berufs- und Beschäftigungswechsel innerhalb eines Erwerbslebens, wie er dem beschleunigten Kapitalismus zugeschrieben wird, das Problem? Können sich hieraus nicht für viele Beschäftigte neue Möglichkeiten ergeben, die Vielfalt ihrer Potenziale und Interessen zu entwickeln und sich aus Sackgassen zu befreien? Bestand nicht eine Kritik am Fordismus auch darin, dass er die Entwicklung von Identitäten in das enge Gehäuse der Zugehörigkeit zu einem Unternehmen und in eine soziale Definition des Subjekts durch einen Beruf einschloss? Und war die gesicherte Anerkennung durch eine einmal erreichte Position, einen sozialen beruflich definierten Status nicht dieeine Seite, derenandere Seite darin bestand, dass diejenigen, die eine solche Position nicht erreicht hatten, auch eine stabile Form dauerhafter Nichtanerkennung aushalten mussten? Von der Ungleichheit und der Ungleichbewertung der Geschlechter ganz zu Schweigen.

Unseres Erachtens müsste eine Kritik an den Beschäftigungsverhältnissen des beschleunigten Kapitalismus die Akzente etwas anders setzen: Sie müsste sich nicht scheuen, den Tatbestand zur Kenntnis zu nehmen, dass die Beschäftigungsstabilität nach wie vor sehr viel größer ist, als dies Sennett’sche Drift-Diagnosen behaupten (Erlinghagen2010; Giesecke und Heisig2010). Denn dies bedeutet, dass den Menschen zu wenige Alternativen auf dem Arbeitsmarkt offen stehen und dass sie gezwungen sind, in Beschäftigungsverhältnissen auszuharren, in denen sie überbelastet und nicht anerkannt sind. Nicht die Seltenheit oder Häufigkeit des Berufs- und Beschäftigungswechsels ist das Problem, sondern die mangelnde Möglichkeit, die eigene Beschäftigung selbst zu wählen und die eigene Biographie autonomer zu entwickeln. Dass Sicherheit gepaart ist mit Unterordnung und Hinnahme unwürdiger Bedingungen. Und dass Veränderungen von Beschäftigungssituationen einhergehen mit Existenzrisiken und Abstiegsängsten.

Eine normative Renaissance der Industriepolis auch im Kontext antikapitalistischer Kritik würde nicht nur vergessen, dass die antitayloristische − in den Worten von Boltanski/Chiapello die „Künstlerkritik“ − gute Gründe für sich ins Feld führen konnte. Sie würde vor allem ignorieren, dass die Veränderungen von der Industrie- zur Projektpolis auf dem Boden einer grundlegenden Entwicklung zu verstehen sind, die mit dem Bedeutungsverlust der Projektpolis noch nicht selbst beendet ist: dem Prozess der Individualisierung. Die Projektpolis gießt die in der Künstlerkritik artikulierten, mit dem Individualisierungsprozess verbundenen normativen Prinzipien der Autonomie, Freiheit und Selbstverwirklichung, grundlegende Elemente der Normativität der Moderne, in eine ideologische Form, die sie als Rechtfertigungsordnung des Kapitalismus geeignet erscheinen lässt. Hinter den Prozess der Individualisierung zurückgehen zu wollen, ist ebenso illusorisch, wie es ein normativer Rückschritt wäre, aus den „Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus“ (Honneth2002a) auf eine Legitimitätskrise der grundlegenden Normen der Moderne zu schließen.

Vielmehr sollte eine erneuerte Kritik auch auf Basis der Werte und Normen formuliert werden, die in derProjektpolis in problematischer Weise entfremdet wurden. Eine solche Kritik muss die Maßstäbe der Autonomie und Flexibilität ernst nehmen und sie gegen die Realität der Netzwerkökonomie richten. Der Wert derFlexibilität wäre gegen eine Ökonomie zu wenden, die Anpassungsfähigkeit vom Individuum verlangt, doch zugleich dessen Unterordnung unter betriebliche Belange wie selbstverständlich erwartet. Demgegenüber erfordert Flexibilität die Entwicklung alternativer Potenziale für die Individuen. Sie müssen ihreemployability gerade dadurch entwickeln können, dass sie Alternativen auf dem Arbeitsmarkt besitzen. Sie müssen ihre Lebensoptionen erweitern können, weil Beschäftigungslücken und Karrierepausen nicht dazu führen sollten, dass die Akteure binnen kürzester Frist aus den Kontaktnetzen herausfallen. Beschäftigte müssen in bestehender Beschäftigung Zeit und Flexibilität gewinnen, sich und ihre Kompetenzen fortzuentwickeln, um sich auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Zum andern wäre deutlich zu machen, wie die Realität der subjektivierten und entgrenzten ArbeitAutonomie auch einschränkt, und zwar gerade durch die zugemutete Notwendigkeit ständiger und allseitiger Bemühung um Kontaktkapital, durch die Orientierung an der Bewertung Anderer und die Vermengung von Arbeit und Freizeit/Privatheit. So wäre etwa − wie dies derzeit ja im öffentlichen Diskurs auch stattfindet − eine Work-Life-Balance einzufordern, aber − anders als im Mainstream des Diskurses üblich − zugleich zu kritisieren, dass es zur individuellen Organisationsaufgabe wird, die Anforderungen der Arbeit und der Familie erfolgreich abzustimmen (Voswinkel und Kocyba2005) und damit einmal mehr gesellschaftlich verursachte Strukturkonflikte der individuellen Maßnahmephantasie anheimzustellen. Es wäre weiterhin Einspruch einzulegen gegen ein Verständnis von Arbeit, demzufolge „Arbeit“ zu einer allgemeinen Handlungsform wird, zu einem zentralen Handlungsdispositiv. Wird alles Handeln als Arbeit verstanden, so soll es stets zielgerichtet, zweck-mittel-rational angelegt und effizient organisiert sein. Auch die Freizeit ist dann zu organisieren, das Verhältnis von Erwerbsarbeit und den vielfältigen anderen Arten von Arbeit − Beziehungs-, Erziehungs-, Pflege- und Familienarbeit − abzustimmen, ist selbst „Arbeit“ bzw. Lebensmanagement. Demgegenüber bedeutet Autonomie hier die Möglichkeit, Grenzen zu setzen und nicht alle Anforderungen gleichermaßen virtuos erfüllen und nicht das Leben als Arbeit und die Arbeit als Leben betrachten zu müssen.

Eine erneuerte Kritik müsste den Gegensatz von künstlerischer und sozialer Kritik überwinden, der sich gerade mit der Entwicklung kollektiver und wohlfahrtsstaatlicher Formen der sozialen Einhegung des Kapitalismus entwickelt hat. Er geht jedoch zurück auf den Dualismus der Werte von Freiheit und Gleichheit, wie er tief in der Geschichte moderner Normativität verankert ist. Auch Dubet zufolge sind es die Werte von Autonomie und Gleichheit (sowie Leistung), die Bezugspunkte von Kritik sind und hierbei in dem Sinne miteinander konkurrieren, als soziale Phänomene, die mit dem Wert der Autonomie legitimiert werden, mit dem Wert der Gleichheit (und der Leistung) kritisiert werden können et vice versa.

Der scheinbare Gegensatz von Künstler- und Sozialkritik ist keineswegs einfach zu überwinden. Ein solches Vorhaben kann sich aber auf den Prozess der Individualisierung stützen und diesem zugleich eine normative Form geben, die sich von einem gleichheitsgefährdenden „negativen Individualismus“ (Castel2000) abhebt. Es geht, so die zweifellos noch abstrakte Formel, um dieGleichheit der Freiheit, um die soziale Kritik an den Bedingungen und Strukturen, die gleiche Autonomie behindern. In dieser Perspektive sind soziale und künstlerische Kritik nicht grundsätzlich Konkurrenten, sondern komplementär aufeinander verwiesen. Ein Subjektivitätsbegriff ist deshalb vonnöten, der das kreative nicht gegen das sozial bedürftige Selbst ausspielt, sondern weiß, dass soziale Anerkennung auch eine Basis individueller Autonomie und Kreativität ist.

Mit diesem Plädoyer für eine erneuerte Kritik, die zurückgreift auf Elemente verschiedener Rechtfertigungsordnungen und auf eine Verbindung von sozialer und künstlerischer Kritik zielt, ist ein Modell der Kritik formuliert, das auf der Spannung zwischen dem normativen Geltungsüberhang einer Rechtfertigungsordnung einerseits und ihrer je empirisch realisierten Variante andererseits beruht. Diese Differenz bezeichnet auf einer spezifischeren Ebene die grundsätzliche Spannung zwischen den fundamentalen normativen Prinzipien der Moderne, die man grob bündeln kann in den Begriffen „Freiheit“/„Autonomie“, „Gleichheit“ und „Solidarität“/„Partizipation“. Diese Prinzipien haben jeweils zugleich eine verschleiernde/legitimierende und eine kritische Bedeutung gegenüber der kapitalistischen Realität. Sie besitzen einen Geltungsüberhang, weil sie Ansprüche der Menschen prägen, ihr Leben nach diesen Prinzipien führen zu können, und damit die Anerkennungsansprüche der Subjekte begründen.

Es ist dieses Spannungsverhältnis von Normativität und kapitalistischer Realität, das den Doppelcharakter von Kritik begründet, wie er von Boltanski und Chiapello für die Künstlerkritik herausgearbeitet wurde. Kritik ist ihnen zufolge stets Opposition wie auch Steinbruch der Reformierung und Revitalisierung der Verhältnisse und Rechtfertigungsordnungen. Wenn dies generell gelten sollte − nicht nur für die paradoxen Umschläge und Indienstnahmen der Künstlerkritik für die Entwicklung der Projektpolis −, dann wäre die Kritik eine ständige Begleiterin des Kapitalismus, die immer wieder für eine neue Legitimationsform des Kapitalismus in Dienst genommen, dann aber immer wieder reformuliert und revitalisiert wird. In diesem Sinne ist Kritik eine symbolische Macht für gegensätzliche Kräfte in einem „Kampf um die Kritik“.

5 Kritische Soziologie und Soziologie der Kritik

Wenn Kritik sich aus der Spannung zwischen dem Geltungsüberhang der Rechtfertigungsordnungen und ihrer Realisierung und aus den praktischen Verwerfungen im Prozess der Realisierung speist, nicht aber aus der Ökonomie und der „objektiven“ sozialen Lage bereits begründen kann, dann spricht dies gegen ein Modell der Kritik, das diese aus objektiv gegebenen Interessenlagen und strukturell bedingten ökonomischen Widersprüchen und Gegensätzen ableiten zu können glaubt. Das gilt umso mehr in Zeiten der Individualisierung, in denen es die individualisierende Zuschreibung von Verantwortung für das eigene Leben, die Entsprachlichung der kollektiven Bezüge des je subjektiv erlebten Leidens und die Individualisierung respektive Zersplitterung von Interessenlagen kaum mehr möglich machen, gemeinsame, durch Gleichartigkeit standardisierte Interessenlagen zu identifizieren. Wenn zugleich der identifizierbare Gegner mit konträrer Interessenlage nicht mehr recht greifbar ist oder sich hinter den Schutzschild der legitimen Indifferenz zurückziehen kann, dann muss sich eine Renaissance organisierter Kritik wesentlich als normativer Prozess vollziehen. Dies ist nicht einmal so neu, wie es einem in altmarxistischer und arbeitnehmerorientierter Perspektive geschulten Kritikverständnis scheinen mag, denn auch die frühere Kritik am Kapitalismus war wesentlich eine normative Kritik, die sich auf sozialmoralische Milieus stützen konnte.

Die Rolle der Soziologie in der Entwicklung von Kritik ist einedreifache: Sie nimmtzunächst gegenüber der Realität einedoppelte Außenperspektive ein. Sie nutzt den verfremdenden Blick der Soziologin, die Selbstverständlichkeiten des Alltags und der praktisch orientierten Einrichtung im Gegebenen zu dekonstruieren und ein Bild der Gesamtheit gesellschaftlicher Zusammenhänge zu entwerfen. Und sie rekurriert auf die Ansprüche der Normativität der Moderne, um sie gegen ihre Zermahlung, Pervertierung und Fragmentierung in der realen Umsetzung in Erinnerung zu rufen. Insoweit folgt eine kritische Soziologie dem Programm von Pierre Bourdieu, der die Rolle der Soziologie als diejenige eines Arztes beschreibt, der gerade auch die Krankheiten aufdecken und auf ihre Ursachen zurückführen will, die nicht offensichtlich sind und daher von den Leidenden nicht artikuliert werden, ja ihnen oft unbewusst sind (Bourdieu et al.1997, S. 825). Es geht also darum, die ausgeblendeten Voraussetzungen von Erleben und Handeln mit dem doppelten Ziel wieder einzublenden, „die Aufklärung der Akteure und (die) Auflösung ihrer doxa“ (Celikates2009, S. 69) voranzutreiben.

Tatsächlich formuliert Bourdieu keineswegs nur eine Kritik von einem Außenstandpunkt aus. Vielmehr verfolgt er auch das Ziel, aus Forschungsobjekten Subjekte zu machen. Soziologinnen und Soziologen sollen dabei eine „zugleich provozierte und unterstützte Selbstanalyse“ mit dem Ziel ermöglichen (Bourdieu et al.1997, S. 792), den ‚sprachlosen‘ Gruppen „bei der Explizitwerdung (zu assistieren)“ und diesen „Ausdruckshilfen zu geben“, damit sie sich selbst ausdrücken können (Bourdieu1991, S. 17). Besonders in „Das Elend der Welt“ gibt das interaktive Setting offener Interviews den Gesprächspartnern den Raum, „sich zu erklären (…), also ihre eigene Sichtweise von sich selbst und der Welt zu konstruieren, und jenen Punkt innerhalb dieser Welt festzulegen, von dem aus sie sich selbst und die Welt sehen, von dem aus ihr Handeln verständlich undgerechtfertigt ist“ (Bourdieu et al.1997, S. 792, eigene Hervorhebung). Dabei geht es nicht allein darum, den – nichtwie üblich lediglichBefragten, sondern – explizitGefragten die Möglichkeit zu geben, ihre „ureigenste Perspektive“ in der öffentlichen Auseinandersetzung selbst zu präsentieren (Bourdieu1985, S. 30). Weit über dieses deliberative Moment hinaus geht es Bourdieu auch und vor allem darum, jene „gesellschaftlichen Strukturen“ nicht nur akademisch sichtbar, sondern den Betroffenen einsehbar zu machen, die „jede einzelne Lebensgeschichte (…) in die ›Misere‹ treiben“ (Barlösius1999, S. 665). Letztlich, so Bourdieu, geht es darum, „jenen, die leiden, einen Weg zu (eröffnen), ihr Leiden auf gesellschaftliche Ursachen zurückzuführen und sich solcherart vom Gefühl eigenen Verschuldens zu befreien, (und) (…) die kollektiv verdunkelte gesellschaftliche Bedingtheit des Elends in all seinen auch noch so intimen und noch so geheimen Formen zu Bewusstsein (zu bringen)“ (Bourdieu et al.1997, S. 826).

Unser Verständnis einer kritischen Soziologie – und damit kommen wir zum zweiten Aspekt − hebt sich allerdings ab von der Vorstellung, der Bourdieu bisweilen zuzuneigen scheint, dass den Akteuren selbst durch ihre Involvierung in die Praxis täglichen Lebens, Reproduzierens und Handelns in der Regel die Möglichkeit versperrt sei, ihre Lage kritisch und objektivierend zu verstehen.Footnote 5 Zwar ist der Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Fremd- und der empirischen Selbstbeschreibung der Akteure unhintergehbar. Aber gerade darum sollte die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin erst gar nicht versuchen, was sie ohnehin nicht zu leisten vermag: Nämlich an die Stelle der Praxis sozialer Kritik zu treten oder den Akteuren gar vorzuschreiben versuchen, wann, wo und unter Berufung auf welche Normen und Werte sie Kritik üben sollten.

Um in diesem Sinne nicht „abgehoben“ (Boltanski2010, S. 73 ff.) zu sein, muss diekritische Soziologie drittens zugleich eineSoziologie der Kritik sein. Sie analysiert, wie dies in unterschiedlicher Weise von Boltanski, Thévenot, Chiapello und von Dubet gezeigt wurde, die real vorfindliche Kritik und entdeckt den Doppelcharakter der Kritik: als Einwand gegen den real existierenden Kapitalismus und als Entwurf einer anderen normativen Ordnung auf der einen, als Baukasten für eine Renovierung des Kapitalismus und der zur Legitimation herangezogenen Rechtfertigungs- und Motivationsordnungen auf der andern Seite. Eine Verbindung von kritischer Soziologie und Soziologie der Kritik, für die neuerdings auch Boltanski (2010) plädiert, hat in diesem Sinne Ansatzpunkte der Kritik in den Rechtfertigungsordnungen und den realen Verhältnissen des Kapitalismus zu identifizieren und hierbei eine wissenschaftlich reflektierte Außenperspektive gegenüber der Gesellschaft einzunehmen. Die kritische Soziologie der Kritik kann die Kritik jedoch nicht selbst − etwa von einem Interesse her − begründen.

Dabei hat sie die Wirkung der Kritik in der Entwicklung des Kapitalismus zu rekonstruieren. Das bedeutet auch, dass sie sich Klarheit über ihre − möglicherweise nicht intendierten − Folgen und über die in ihr eingelagerten Potenziale der Funktionalisierung durch den Kapitalismus verschaffen sollte. Die Soziologie der Kritik kann es so ermöglichen, dass eine kritische Soziologie und die kritischen Akteure ein reflexives Verständnis ihres Tuns entwickeln. Vielleicht ist es so möglich, dass die Kritikerinnen nicht immer so unvorbereitet wie im Falle der Taylorismuskritik davon getroffen werden, dass ihre Kritik zur Neubegründung kapitalistischer Legitimation genutzt werden kann. In diesem Sinne ist auch zu hoffen, dass die Kritik an der Projektpolis bzw. dem Postfordismus und Finanzmarktkapitalismus ihrerseits nicht einer unkritischen Renaissance des Taylorismus im Geiste der Industriepolis Hilfestellung leistet und damit von einem Element symbolischer Gegenmacht zu einem der Innovation symbolischer Macht im Kampf um die Kritik wird.