1 Einführung: Arbeitswelt im Wandel

Die Arbeitswelt befindet sich im Wandel. Im Zuge der Digitalisierung wird sie sowohl bezüglich der Arbeitszeit als auch bezüglich des Arbeitsortes flexibler. Dies lässt Anpassungsbedarfe im Umgang mit Regelungen, Vereinbarungen, Pflichten und Rechten erwarten. Beschäftigte sind zunehmend selbst verantwortlich dafür, den gebotenen Handlungs- und Gestaltungsspielraum effizient zu nutzen (Schermuly und Koch 2019). Ein Umdenken bei Beschäftigten und Führungskräften wird notwendig (Antoni und Syrek 2017; Welpe et al. 2018) und neue Anforderungen an Führung wie etwa „servant leadership“ setzen sich mehr und mehr durch (Drescher et al. 2014).

Der Wandel macht sich auf verschiedenen Ebenen einer Organisation bemerkbar. So erfordert etwa eine Digitalisierung der Kommunikationsstrukturen klare Absprachen in Teams bzw. Organisationseinheiten. Da sich agile Arbeit und selbstorganisierte Teams zunehmend etablieren, sind alle Teammitglieder aufgefordert, zum Erreichen des Ziels beizutragen (Schermuly und Koch 2019). In diesem Beitrag werden Flexibilitätsanforderungen digitaler Arbeit im Kontext erhöhter Zeit‑, Ort und Handlungsspielräume identifiziert sowie Selbstführungskompetenzen sowie -strategien für den Umgang mit diesen speziellen Anforderungen untersucht. Daraus werden Empfehlungen zu Qualifizierungen in diesem Kompetenzbereich abgeleitet.

2 Flexibilisierung als ambivalenter Trend

Eine steigende Flexibilität und damit verbundene Eigenverantwortlichkeit in Bezug auf Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum ist seit einigen Jahren zu verzeichnen (Lott 2017; Waltersbacher et al. 2019). Zeitspielraum umfasst die Freiheitsgrade und Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Lage, Verteilung und Geschwindigkeit der Arbeitszeit. Ortspielraum bezieht sich auf das Maß, in dem der Arbeitsort frei gewählt werden kann und Handlungsspielraum fokussiert die inhaltliche Entscheidungsfreiheit über die Art und Weise der Aufgabenerledigung. Die Vorteile von Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum wie etwa die höhere Work-Life-Balance, Leistung und Arbeitszufriedenheit sind mannigfaltig (Nieminen et al. 2011). Trotz der vielen wahrgenommenen Vorteile hoher Flexibilität, werden die Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden der Beschäftigten ambivalent bewertet (Beermann et al. 2017; Maschke 2016; Prümper et al. 2016). So geht gemäß Beermann et al. (2017) v. a. die Gefahr der Selbstausbeutung in Form von ständiger Erreichbarkeit, langen Arbeitszeiten und einer beeinträchtigten Erholung damit einher. Selbstführung kann bei der Bewältigung helfen (Graf und Olbert-Bock 2019), da sie u. a. zielorientiertes Handeln vermittelt und somit Unsicherheiten im Umgang mit Flexibilität reduzieren kann. Bislang gibt es jedoch wenig empirische Befunde dazu, wie Selbstführung sich speziell bei großen Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum auf das Erleben von Entgrenzung und die Gesundheit auswirkt. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass Flexibilität die Nutzung von Spielräumen auf Seiten der Beschäftigten aber auch der Unternehmen meinen kann. Mit Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum hingegen ist die Entscheidungsfreiheit seitens der Beschäftigten gemeint.

Durch die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort können die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben und die damit verbundenen Rollen verschwimmen. Inwieweit dies geschieht, hängt auch davon ab, wie Beschäftigte mit der Anforderung umgehen, die Übergänge zwischen unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbereichen und Rollen zu gestalten bzw. wie sie Grenzen zwischen ihnen ziehen. Ashforth et al. (2000) beschreiben diese Grenzziehung bzw. Entgrenzung in ihrer Boundary Theory auf einem Kontinuum zwischen Segmentierung und Integration, d. h. zwischen strikter Abgrenzung und Entgrenzung der Bereiche und Rollen. Personen, die z. B. dieselbe Telefonnummer für die Arbeit und Privatleben nutzen, wenden die Strategie „Integrieren“ an, Personen die unterschiedliche Telefonnummern nutzen, wenden die „Segmentierungsstrategie“ an (Fonner und Stache 2012). Gemäß Ashforth et al. (2000) gibt es keine klare Empfehlung dafür, ob die Segmentierungsstrategie oder die Integrationsstrategie besser zur Bewältigung von Entgrenzung geeignet ist. Beide Strategien und ihre Mischformen haben Vor- und Nachteile. Jedoch gibt es Hinweise darauf, dass sog. „Integrierer“ besser mit Grenzübertritten umgehen können und sich davon weniger gestört fühlen. So fühlen sich Segmentierter stärker gestört, wenn sie z. B. im Urlaub von einer Arbeitskollegin angerufen werden (Fonner und Stache 2012). Integrieren ist allerdings weniger planbar als das Segmentieren und somit schwieriger zu kontrollieren. Ashforth et al. (2000) weisen darauf hin, dass mehr Eigenverantwortung auf Seiten der Beschäftigten hilfreich sei, um ihnen die Möglichkeit zu geben, die eigenen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Dabei ist jedoch offen, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Art und Weise dies sinnvoll ermöglicht werden kann. Auf individueller Ebene erscheinen Kompetenzen als probate Voraussetzung für die Umsetzung. In diesem Beitrag betrachten wir Integrations- und Segmentierungsstrategien als Beispiele für Selbstführungsstrategien im Umgang mit Entgrenzung. „Selbstführung“ meint dabei eine individuelle Bewältigungsstrategie, um Ziele wie z. B. Effizienzsteigerung oder eine qualitativ hochwertige Umsetzung von Projekten im Unternehmen erfolgreich umzusetzen (Graf und Olbert-Bock 2019).

3 Selbstführung als Bewältigungsstrategie für Anforderungen im Wandel der Arbeitswelt

Das Konzept der Selbstführung nach Neck und Manz (2013) zielt auf einen Prozess ab, in dem Personen sich selbst so beeinflussen, dass sie ihre Ziele erreichen. Dabei kommen die folgenden Selbstführungsstrategien zum Einsatz: Selbsterinnerung, Selbstbeobachtung, Selbstbelohnung, Selbstbestrafung, natürliche Belohnung, eigene Zielsetzung, Überzeugungen und Sichtweisen bewerten, erfolgreiche Leistung imaginieren sowie Selbstgespräche (Andreßen und Konradt 2007). Die einzelnen Ansätze, die zu Selbstführung beitragen, finden auf kognitiver und behavioraler Ebene sowie durch sog. natürliche BelohnungsstrategienFootnote 1 statt. Das Konzept basiert auf unterschiedlichen Theorien, die im Forschungsprozess kombiniert und weiterentwickelt wurden. Die sozialkognitive Lerntheorie (Bandura 1986) geht davon aus, dass Lernen am Modell geschieht. Die Abhängigkeit von Umgebung, Beobachtung und Vorstellungskraft schlägt sich so auch in Strategien der Selbstführung nieder, indem z. B. Glaubenssätze anhand von Beobachtungen reflektiert werden (Neck und Manz 2013). Bandura gibt dabei zu Bedenken, dass Umgebung, persönliche Faktoren und Verhalten interagieren (1986). Während die kognitiv-behavioristische Perspektive eher auf Bandura (1986) zurückgeht, können die natürlichen Belohnungsstrategien eher Deci und Ryan (1980) zugeordnet werden. Die Selbstbestimmungstheorie nach Deci und Ryan (1980) beschäftigt sich mit intrinsischer Motivation und gibt Hinweise auf die hohe Relevanz natürlicher Belohnungen als Begleiterscheinung intrinsisch motivierter Handlungen. Weitere Theorien sind in das Konzept der Selbstführung als Strategie eingeflossen, namentlich Selbstregulation, Selbstkontrolle und Selbstmanagement. Die Abgrenzung der Theorien bzw. Konzepte ist dabei unscharf (Neck und Houghton 2006):

Selbstregulation wird aus kontrolltheoretischer Sicht als Prozess definiert, bei dem zum einen Ziele festgelegt werden und zum anderen die Ziele als Referenzwert zur Überprüfung der Zielerreichung genutzt werden (Carver and Scheier 1981, S. 117). So entstehen Rückkopplungsschleifen (Carver and Scheier 1981, S. 117). Gemäß Bandura (1986) wird Selbstregulation nicht durch das Aufbringen von Willenskraft erreicht, sondern durch ein Zusammenspiel verschiedener Funktionen. Diese müssen erst entwickelt und aktiviert werden, damit sie in einem Selbststeuerungsprozess abgerufen werden können (Bandura 1986). Selbst-Kontrolle ist nach Thoresen und Mahoney (1974, S. 12) gegeben, wenn sich Personen bei einer Auswahl von Optionen bewusst aufgrund langfristiger externer Faktoren für ein Verhalten entscheiden. Selbstmanagement wird in der behavioristischen Psychologie als Regulation von Reiz und Reaktion verstanden, wobei die Reize von der Person selbst gesetzt werden (Luthans und Davis 1979). Manz und Sims (1980) beschreiben Selbstmanagement als Abwägungsprozess zwischen verschiedenen möglichen Ergebnissen (engl. Responses) und Konsequenzen. Als weitere Abgrenzung zu den anderen Begriffen ist festzuhalten, dass Selbstmanagement auch als Ersatz für Führung diskutiert wird (Manz und Sims 1980). Insgesamt lässt sich feststellen, dass die unterschiedlichen historischen Konzepte im Kern denselben Inhalt erfassen.

4 Neue Anforderungen durch Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum mittels Selbstführung bewältigen

Handlungsspielraum ist gemäß der Einordnung im Job Demands-Resources Model (Bakker und Demerouti 2007) grundsätzlich als Ressource für Beschäftigte einzustufen. Dies wird bereits anhand der Definition von Autonomie (analog zum Handlungsspielraum) als eines von fünf Jobmerkmalen nach Hackman und Oldham (1975) deutlich. Wenn Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum genutzt werden, kann dies als Teil von Selbstorganisation in einem sozialen System interpretiert werden (Pongratz und Voß 1997). Die Begriffe „Selbstorganisation“ und „Selbstführung“ werden teilweise vermischt und gleichgesetzt (Kendzia und Björck 2018). Um Klarheit zu schaffen, werden die beiden Begriffe hier jedoch unterschieden. Selbstorganisation ist hier als Prozess auf struktureller Ebene bzw. als Organisationsform zu betrachten, welcher die Gestaltung und die Nutzung von Spielräumen beschreibt (vgl. Lott 2017; Paridon und Hupke 2009; Waltersbacher et al. 2019). Dagegen meint Selbstführung die individuelle Kompetenz, Spielräume zielorientiert zu nutzen. So können Zeitspielräume bspw. durch Zeitkompetenz zielführend genutzt werden, um kreative Ansätze zu finden oder eine spezifische Vorgehensweise zu entwickeln, damit gesteckte Ziele erreicht oder Probleme gelöst werden (Hellert 2018).

Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum werden meist als Ressourcen und damit als motivierend und positiv konnotiert betrachtet (Bakker und Demerouti 2007). Mit Blick auf Gesundheit und Entgrenzung werden große Zeit‑, Orts- und Handlungsspielräume aber auch als potenzielle Anforderungen diskutiert (Bredehöft et al. 2015). Daraus wird die folgende Fragestellung abgeleitet:

Inwiefern gehen erhöhte Zeit‑, Ort und Handlungsspielräume mit neuen Arbeitsanforderungen einher?

Wenn die Anforderungen an Beschäftigte bei großen Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum steigen, erscheint Selbstführung als ein probates Mittel zur Bewältigung. Aus der Studienlage geht hervor, dass die Wirkmechanismen noch wenig eindeutig sind. Zwar ist Selbstführung insgesamt gesundheitsfördernd, jedoch wurde sie noch kaum im Kontext von Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum untersucht und es gibt wenige empirische Befunde dazu. Daraus folgt die folgende Forschungsfrage:

Wie gut eignet sich Selbstführung als Strategie, um neue Arbeitsanforderungen durch erhöhte Zeit‑, Ort und Handlungsspielräume zu bewältigen?

5 Methode

Anhand eines explorativen Vorgehens wurde untersucht, mit welchen Anforderungen Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum einhergehen und wie Selbstführung zur Bewältigung beitragen kann. Die qualitative Studie mit zwölf leitfadengestützten Interviews (N = 12) und zwei Gruppendiskussionen (N = 15) wurde im Rahmen des Projekts xx [anonymisiert] durchgeführt, dessen Schwerpunkt bei dieser Untersuchung auf Zeitkompetenz und Vertrauen lag, die hier nicht Gegenstand der Analyse sind. Das explorative Vorgehen diente der Beantwortung der offenen Fragen, ohne mögliche Wirkmechanismen von Anfang an auszuschließen. So sollten die Teilnehmenden die Flexibilitätsanforderungen unvoreingenommen thematisieren und eigene Ideen und Gedanken einbringen.

Die Erhebung erfolgte in mittelständischen Unternehmen der IT-Branche und berücksichtigte Beschäftigte, sowie Personen mit Personal- und Geschäftsverantwortung. Die Auswertung wurde entsprechend der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) durchgeführt und erfolgte sowohl induktiv als auch deduktiv. Im Rahmen der Kodierung der Interviews in der Hauptkategorie Zeitkompetenz entstand die Subkategorie Selbstführung. Zeitkompetenz umfasst darüber hinaus noch andere Aspekte wie etwa Zeitplantechniken oder Überlast. Im vorliegenden Beitrag liegt der Fokus auf der Bedeutung von Selbstführung als Bewältigungsstrategie. Im Rahmen eines strukturiert zusammenfassenden Vorgehens nach Mayring wurden hierzu einige Aussagencluster zusammengeführt. Wie die Aussagen der Befragten zu Anforderungen an die Selbstführungskompetenz kodiert wurden zeigt Tab. 1 beispielhaft.

Tab. 1 Kodiersystem der Anforderungen an die Selbstführungskompetenz

6 Ergebnisse

In den untersuchten Unternehmen sind Ort- und Zeit-verteilte Teams ein wesentlicher Bestandteil der virtuellen Arbeitsstrukturen. Die Teammitglieder arbeiteten in diesen Strukturen verstärkt eigenverantwortlich. Hierbei wurde die Selbstführungskompetenz der Beschäftigten mehrfach als zentraler Faktor für eine erfolgreiche Bewältigung genannt. Im Folgenden werden zunächst die identifizierten Anforderungen und die im Anschluss daran genannten Selbstführungsstrategien zur Bewältigung dieser Anforderungen beschrieben.

6.1 Arbeitsanforderungen für Beschäftigte bei virtueller Arbeit

Home-Office ist das prototypische Beispiel für flexible Gestaltung des Arbeitsortes. Dabei besteht die Anforderung in einer räumlichen Entgrenzung. In den untersuchten Unternehmen wird Home-Office meist in Form einer Mischung aus Arbeit im Büro und aus dem heimischen Arbeitszimmer genutzt. Die Entscheidung für den Arbeitsort konnten Beschäftigte nach Absprache mit ihren Vorgesetzten i. d. R. selbst treffen. Während im Büro eine klare räumliche Abgrenzung zum Privatleben besteht, ist eine Abgrenzung im Home-Office nicht automatisch gegeben. Ablenkungen durch das private Umfeld können die Arbeitsleistung beeinträchtigen. Für andere wiederum kann Home-Office Isolation und verdichtete Arbeit bedeuten, da sie zu Hause fokussierter als im Büro arbeiten: „Da arbeitet man aber automatisch noch mehr. (…) Zu Hause da sitze ich dann nur vor dem Ding, da telefoniere ich, also man arbeitet noch [mehr] (…)“ (B06, 73).

Home-Office kann aus Sicht der Befragten abhängig von der eigenen Herangehensweise dazu führen, dass eine zeitliche Entgrenzung stattfindet und z. B. Pausen ausgelassen werden. Die Grenzen von Lage und Verteilung der Arbeitszeit können verschwimmen, wenn die Beschäftigten im Home-Office etwa mehrere Pausen einlegen und sich dadurch die Lage der Arbeitszeit in den späten Abend ausdehnt. Ob Home-Office zum Vor- oder Nachteil der Beschäftigten genutzt wird, hängt aus Sicht der Befragten maßgeblich von den Betroffenen selbst ab: „… man muss sich dann schon selbst organisieren können“ (B01, 342).

Bei Vertrauensarbeitszeit besteht die Gefahr, dass Beschäftigte sich durch eine zeitliche Entgrenzung selbst ausbeuten, indem sie regelmäßig Mehrarbeit leisten. Gemäß einer Führungskraft ist dabei von den Mitarbeitenden Verantwortung für den Umgang mit Mehrarbeit zu übernehmen: „… da erwarten wir aber dann trotzdem (…) dass die Mitarbeiter diese Stunden dann bitte auch aufschreiben und zeitnah dann einfach sagen, ich gehe dann am Freitagmittag oder komme am Montag erst um 11.00 Uhr“ (B07, 135). Erschwerend kommt hinzu, dass Beschäftigte oft eine große Flut an Informationen verarbeiten müssen und die Zeit dafür knapp ist.

Eine weitere Herausforderung liegt in dem Umgang mit ständiger Erreichbarkeit, da die Erholung bzw. das Abschalten von der Arbeit dadurch beeinträchtigt werden kann. Mobile Endgeräte begleiten Beschäftigte in ihrem Alltag und werden sowohl für geschäftliche als auch für private Themen genutzt. Eine Aussage zur Nutzung eines geschäftlichen Mobiltelefons fasst zusammen: „[Die Nutzung] ist aber eine persönliche Entscheidung, es gibt immer Kollegen, die sagen ‚ich benutze es nicht privat, weil ich es dann einfach nicht genau trennen kann‘“ (B05, 123). Kurznachrichten durch private Kontakte während der Arbeitszeit können von der Arbeit ablenken. Sie können gemäß einem Befragten aber auch als Motivation in Form einer Selbst-Belohnung im Alltag interpretiert werden. Kontaktaufnahme zum Beschäftigten während dessen Freizeit wird im Interview als Ausnahmefall beschrieben und daher nicht als Problem interpretiert: „Also [bei einem Anruf am Wochenende] ist er wirklich wichtig und dann ist es auch in meinem Interesse, dass ich dann rangehe … Es kommt wirklich selten vor, dass ich mal außerhalb der Arbeitszeit am Wochenende einen unwichtigen Anruf bekommen würde“ (B05, 130).

Als Arbeitsanforderungen bei virtueller Arbeit konnten somit räumliche sowie zeitliche Entgrenzung, Ablenkungen und ständige Erreichbarkeit identifiziert werden.

6.2 Selbstführungsstrategien zur Bewältigung von Arbeitsanforderungen

In Bezug auf die identifizierten Anforderungen wurden die folgenden Verhaltensweisen genannt, die bei Personen mit hohen Selbstführungskompetenzen zu beobachten waren.

Räumliche Entgrenzung bewältigen

In mehreren Interviews gaben Befragte an, dass sie die Selbstdisziplin bzw. Selbstregulation der Beschäftigten als wichtige Voraussetzung für erfolgreiches Arbeiten im Home-Office betrachten. Selbstdisziplin lasse sich mit Hilfe verschiedener Methoden gestalten und dies könne bereits damit anfangen, Struktur und Ordnung durch einen festen Tagesablauf und Bürokleidung zu etablieren. „Das sind so Tricks, (…) mit der Zeit muss man die lernen. Das sind so Kleinigkeiten, aber das funktioniert eigentlich ganz gut“ (B08, 237). So wird in einer Gruppendiskussion zur Selbstdisziplin erklärt: „Home-Office ist natürlich eine Umgewöhnung. Du musst versuchen, dich nicht ablenken zu lassen. Ganz blöd gesagt, wenn die Spülmaschine fertig ist und piept, dann muss man sich halt angewöhnen: Ok, ich gehe jetzt nicht runter und räume sie mal eben aus“ (GD01, 120). Hier wurde folglich Selbstdisziplin bzw. Selbstregulation zur Bewältigung einer räumlichen Entgrenzung identifiziert.

Ablenkungen bewältigen

Um Ablenkungen durch das private soziale Umfeld vorzubeugen, wird empfohlen, eine eigene Lösung zu entwickeln. Ein Befragter hat dies im Gespräch mit der Familie umgesetzt: „Die Vereinbarkeit privat, das funktioniert bei mir ganz gut, das muss man aber auch, ich sage mal, dem Partner oder auch den Kindern, wenn man Kinder hat, klarmachen, wenn man da arbeitet und das Büro [hinter der] Tür ist, ist sie zu“ (B08, 235). Zur Bewältigung von Ablenkungen wurde hier das Umfeld beobachtet und es erfolgte eine Abgrenzung von Arbeit und Privatleben.

Ständige Erreichbarkeit bewältigen

Beschäftigte können aus Sicht der befragten Mitarbeitenden selbst entscheiden, ob sie außerhalb der Arbeitszeiten arbeitsbezogene Telefonanrufe beantworten. Zudem übertragen sie den kontaktierenden Personen die Verantwortung, in der Situation umsichtig zu entscheiden, wann eine Störung zweckmäßig und notwendig ist. Alternativ kann die Erreichbarkeit eingeschränkt werden, indem z. B. getrennte Telefonnummern verwendet werden. Dabei kommt bei einem Teil der Befragten, wie von der Boundary Theory beschrieben die Strategie der Abgrenzung bzw. der Integration zum Einsatz.

Zeitliche Entgrenzung bewältigen

Beschäftigte sollten Überblick über geleistete Arbeitszeit bewahren und einen zeitnahen Ausgleich einplanen oder in Rücksprache eine Lösung für den Ausgleich suchen. Zu einer strukturierten Arbeitsweise können eine logische Ordnerstruktur oder das technische Abblocken von Unterbrechungen beitragen. Z. B. wird berichtet: „… also ich habe alle Push-Nachrichten deaktiviert, sowohl im Smartphone als auch im Outlook, also ich werde nicht erinnert, wenn irgendeine Mail kommt“ (B08, 208). Ergänzend kommt eine analoge Liste zur Priorisierung von Aufgaben, also zur Arbeitsstrukturierung zum Einsatz. Verschiedene Zeitplantechniken können aus Sicht der Befragten können in unterschiedlichen Situationen sinnvoll sein. Durch regelmäßige Reflexion und Zielorientierung kann ein zeitkompetentes Verhalten erzielt werden.

Die Anforderungen können somit aus Sicht der Befragten insbes. durch Reflexion, Selbstdisziplin, Struktur und Abgrenzung bewältigt werden. Dabei gilt jedoch zu berücksichtigen, dass dieser Lösungsansatz nicht für jeden Beschäftigten geeignet ist.

7 Diskussion: Selbstführung zur Bewältigung von Anforderungen

Eine wichtige Anforderung bei virtueller Arbeit besteht in der Bewältigung von Entgrenzung bzw. der Abgrenzung. Der Forschungsstand zu dieser Anforderung ist maßgeblich durch die Boundary Theory (Ashforth et al. 2000) geprägt. So ist speziell im Fall von Home-Office die Unterscheidung zwischen „Segmentieren“ und „Integrieren“ der beiden Lebensbereiche Arbeit und Privatleben ein Konzept, das zum besseren Verständnis und damit auch zur Bewältigung beitragen kann (Ashforth et al. 2000; Fonner und Stache 2012). Personen, die im Home-Office arbeiten, können davon profitieren, sich mit Konzepten wie „Boundary Management“ zu beschäftigten, um sich selbst reflektierend für die für sie passendere Strategie zu entscheiden. Dieser Prozess der Selbstbeobachtung und Reflexion ist ein wesentlicher Teil verhaltensfokussierter Selbstführungsstrategien. Selbstführung aktiv zu nutzen bedeutet u. a., sich mit eigenen Zielen und dem Weg der Zielerreichung auseinanderzusetzen. Sie ist als stetiger Prozess zu verstehen, der Erfahrungen in eine neue Bewertung der Ziele und Methoden einbezieht. Konzepte wie Boundary Management (Kossek et al. 2006) können situationsgerecht zur Umsetzung dieses Ansatzes dienen. Selbststrukturierung und Selbstdisziplin lassen sich ebenfalls in verhaltensbasierten Selbstführungsstrategien einordnen. Die Selbststrukturierung kann zum Teil in der Selbstführungsstrategie „Selbsterinnerung“ wiedergefunden werden. Dabei kommen z. B. Listen mit Priorisierungen zum Einsatz, um den Fokus auf das Wesentliche zu lenken. Selbstdisziplin ist der Selbststrukturierung ähnlich und wird durch Selbstbeobachtung aber auch durch Selbstbelohnung erzielt (vgl. Neck und Manz 2013).

Dabei ist kritisch zu betrachten, welches Interesse Organisationen haben. Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum zu erhöhen, ist besonders dann mit Motivation und Zufriedenheit der Mitarbeitenden verbunden, wenn darin auch das Interesse der Arbeitgebenden liegt. Bei Unternehmen, die keine Maßnahmen zum Schutz der Mitarbeitenden etablieren, ist fraglich, ob Mitarbeitende von steigenden Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum profitieren oder die gesundheitsbeeinträchtigenden Folgen von Entgrenzung im Vordergrund stehen. Dabei sind die Spielräume womöglich nur vermeintlich höher. Die Unternehmenskultur sollte daher unbedingt berücksichtigt werden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die wesentlichen Bewältigungsstrategien, die von den Befragten beschrieben wurden, in das Konzept der Selbstführung einordnen lassen. Dabei tragen Abgrenzung, Selbststrukturierung und Selbstdisziplin maßgeblich zur erfolgreichen Bewältigung des Arbeitsalltags bei. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass Selbstführung insgesamt ein Konzept ist, das gut geeignet ist, um mit Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum umzugehen. Es erscheint sogar besonders geeignet, da komplexe Arbeitsumgebungen und -situationen individuelle, bzw. agile Gestaltungsansätze erfordern. Hier ist Selbstführung ein probates Mittel, da die Personen selbst auf deren individuelle Bedürfnisse ideal eingehen können.

8 Transfer in die Praxis

Bei virtueller Führung entstehen neue Anforderungen. Selbstführungskompetenz kann gemäß unserer Studie dabei helfen, diese zu bewältigen. Kommunikation sollte in diesem Sinne neu gedacht werden, sodass die Wahrscheinlichkeit für Missverständnisse minimiert und Kommunikationszeit effektiv genutzt wird. Beispielsweise hilft die korrekte Verwendung der „CC-Funktion“ in E‑Mails dabei, Informationen koordiniert zu verteilen. Selbstführung kommt dabei ins Spiel, wenn Beschäftigte selbst in der Verantwortung sind, ein Gespür für den richtigen Umgang mit den Anforderungen zu finden. Auch der Umgang mit Überstunden liegt bei höherem Arbeitszeitspielraum mehr in der Verantwortung der Mitarbeitenden, sodass diese den Ergebnissen entsprechend selbst für Ausgleich sorgen müssen.

Beschäftigte können von den Erkenntnissen profitieren, indem sie in ihrem eigenen Alltag Strategien der Selbstführung gezielt anwenden. In Form von Selbstbeobachtung kann das bedeuten, täglich Revue passieren zu lassen, wie der Arbeitstag verlaufen ist. In Form von Selbsterinnerung wiederum kann es beispielsweise bedeuten, sich durch Notizen oder „Post-its“ auf die gesetzten Ziele zu fokussieren. Durch das Setzen von eigenen Zielen wird Selbstführung so praktiziert, dass überprüft werden kann, ob die aktuellen Ziele noch mit den eigenen Werten und langfristigen Lebenszielen kongruent sind. Die verschiedenen Instrumente der Selbstführung können erlernt und geübt werden. Selbstführung bietet einen zeitgemäßen und empfehlenswerten Lösungsansatz für die Bewältigung der Herausforderungen aus den o. g. Veränderungen (Furtner und Baldegger 2016). Durch Trainings kann Selbstführung praxisnah erlernt und entwickelt werden (Neck und Manz 1996).

9 Fazit

Ein großer Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum geht mit verschiedenen Anforderungen und Ressourcen einher. Um diese Spielräume zum Vorteil zu nutzen, kann Selbstführung eine Bewältigungsstrategie im Umgang mit Entgrenzung von Arbeit und Privatleben, Ablenkungen, ständiger Erreichbarkeit, Informationsüberflutung und Arbeitsverdichtung sein. In welchem Ausmaß Selbstführung in diesem Kontext zur Erhaltung der psychischen Gesundheit und der Bewältigung der beschriebenen Anforderungen moderner Arbeit beiträgt, gilt es in weiteren Studien zu untersuchen.

In diesem Beitrag wird bewusst davon Abstand genommen, Home-Office generell zu bewerten. Wie eingangs erwähnt, hat Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum viele Vor- und Nachteile. Passend zum aktuellen Forschungsstand wird deutlich, dass es auf die individuelle Situation ankommt und gemäß den vorhandenen Anforderungen und Ressourcen abgewogen werden sollte, ob die Vor- oder die Nachteile überwiegen. Zudem ist der Wandel hin zu verstärkter verteilter Arbeit und virtuellem Arbeiten durch die besondere Situation im Jahr 2020 deutlich geworden. So geht es längst nicht mehr um die Frage, ob Home-Office genutzt werden sollte, sondern unter welchen Bedingungen es gut genutzt werden kann.

Es wurde gezeigt, dass Zeit‑, Orts- und Handlungsspielraum mit einigen Anforderungen einhergehen, die von Betroffenen berücksichtigt werden sollten. Für die Befragten hat es sich bewährt, individuelle Strategien für die jeweiligen Anforderungen zu finden. Ganz besonders wichtig hervorzuheben ist dabei, dass eine Strategie für eine Person gut funktionieren kann, während eine andere Person eine komplett andere Strategie benötigt.

Wie auch die Arbeitswelt, befinden sich auch soziale Strukturen im Wandel. Es ist schon lange bekannt, dass Handlungsspielraum von Menschen meist positiv und bereichernd erlebt wird (Hackman und Oldham 1975). Dass zunehmende Zeit‑, Orts- und Handlungsspielräume zunächst bei einigen Personen zu Irritation oder Ablehnung führen, mag daran liegen, dass sie erst lernen müssen, damit umzugehen. Das bedeutet zwar für die oder den Einzelnen selbst Verantwortung zu übernehmen, verspricht jedoch in vielen Fällen eine lohnende und motivierende Investition zu sein.