1 Einleitung

Die Digitalisierung unserer beruflichen Umwelt und unseres Alltags schreitet unaufhörlich voran und scheint sich zu beschleunigen. Die permanente Interaktion mit technischen Geräten wird zur Normalität, da die Geräte und darauf aufbauende Services durch den Einsatz von immer besserer Software uns scheinbar immer besser verstehen.

Grundsätzlich lassen sich in der derzeitigen Digitalisierung drei Mega-Trends beobachten: Internet of Things, Blockchain und Artificial Intelligence. Alle drei Trends begegnen uns direkt oder indirekt im Alltag und haben zunehmende Bedeutung für die Personalbeschaffung im Allgemeinen und die berufliche Eignungsdiagnostik im Speziellen. Internet of Things umfasst die „Ausrüstung“ sämtlicher Lebensbereiche mit Sensorik, die es ermöglicht, riesige Mengen an Nutzerdaten zu generieren, die für diagnostische Zwecke verwendet werden können (Big Data). Die Blockchain oder allgemeiner: Public Ledgers, wird zwar derzeit in der Öffentlichkeit in der Regel nur im Zusammenhang mit Bitcoins und anderen CryptoCurrencies erwähnt, stellt als Technologie aber eine neue Form dar, mit der personenbezogene Daten nicht nur ausfallsicher, sondern auch verfälschungssicher und vollständig privat kontrolliert werden können. Artificial Intelligence ist die Technologie, die sich Internet of Things und Blockchain zu Nutze machen kann und die es uns ermöglicht, neue Technologien menschlicher zu machen, indem sie die Interaktion von Mensch und Maschine in Alltag und beruflichem Kontext optimiert. Bevor wir uns die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Recruiting ansehen, werden wir zunächst einige Begriffe definieren, die im Kontext der Digitalisierung häufig fallen und die Relevanz für das Recruiting im digitalen Zeitalter haben.

2 Begriffe im digitalen Recruiting – Worüber reden wir?

Für Artificial Intelligence (AI) oder Künstliche Intelligenz gibt es verschiedene Definitions-Ansätze, je nachdem, aus welcher Perspektive man sie betrachtet (Russell und Norvig 2010). Bei allen geht es im Endeffekt jedoch darum, eine Maschine zu menschlichem Denken, Entscheiden und Handeln zu befähigen.

Zentral ist hierfür das sog. Machine Learning. Dieses bezeichnet ein Set von Methoden, mit denen Muster in Daten entdeckt und anschließend zur Vorhersage künftiger Ereignisse verwendet werden können (Murphy 2012). Hierbei lassen sich im Wesentlichen supervised und unsupervised learning unterscheiden (Murphy 2012). Beim supervised learning geht es darum zu lernen, einen Satz von Inputs einem Satz von Outputs zuzuordnen (Murphy 2012). Letzten Endes handelt es sich hierbei vielfach um nicht mehr als Regressionsmodelle, jedoch ist es im Machine Learning möglich, wesentlich mehr Variablen in die Analyse einzubeziehen als bei der klassischen Methode (Morelli et al. 2017). Darüber hinaus lassen sich auch komplexe nicht-lineare Zusammenhänge erkennen. Beim unsupervised learning dagegen erhält die Maschine lediglich ein Set von Inputs mit der Aufgabe, interessante Muster eigenständig zu entdecken (Murphy 2012). Noch einen Schritt weiter geht das sog. Deep Learning: Es versucht, den Lernprozess so zu replizieren, wie er im menschlichen Gehirn abläuft: auf verschiedenen Abstraktionsebenen (Murphy 2012). Dafür können beispielsweise künstliche neuronale Netzwerke verwendet werden (Schmidhuber 2015). Direkt damit verwandt ist der Begriff des Cognitive Computing (CC). CC bezieht sich auf Systeme, die nicht explizit programmiert werden müssen, sondern durch Interaktionen mit anderen und Erfahrungen aus ihrer Umwelt lernen und auf dieser Basis schlussfolgern (Kelly 2015).

Im Alltag begegnen wir AI häufig in Form des sog. Natural Language Processing (NLP). Es bezeichnet die Verwendung von Computern zu Verständnis und Manipulation von geschriebener oder gesprochener Sprache zur Ausführung bestimmter Aufgaben (Chowdhury 2003). Eine solche Aufgabe kann sein, die Frage eines Kunden am Telefon oder im Chat zu beantworten. Eine der Herausforderungen liegt darin, dass für ein zu erfassendes Konzept (z. B. Führung) oftmals zahlreiche verschiedene Wörter verwendet werden können (z. B. Führungskraft, Manager; sog. Synonymie) und andererseits oftmals das gleiche Wort unterschiedliche Bedeutungen haben kann (z. B. Organisation im Sinne eines Unternehmens oder im Sinne von etwas organisieren; sog. Polysemie; Dumais 2004). Dem sog. Text Mining kommt hier entscheidende Bedeutung zu. Text Mining wird definiert als die Extraktion von Bedeutung aus unstrukturierten textbasierten Daten (Chowdhury 2003). Um semantische Verbindungen zwischen verschiedenen Wörtern herzustellen, werden Netzwerke verwendet, in welchen Wörter in verschiedenen Knoten angeordnet sind, welche ihrerseits bestimmte Relationen zueinander haben. Ein Beispiel für ein solches Netzwerk ist das WordNet der Universität Princeton (https://wordnet.princeton.edu/). Für verschiedene europäische Sprachen gibt es das EuroWordNet (http://projects.illc.uva.nl/EuroWordNet/).

Im Zuge des Einsatzes von AI-Technologien kommt dem sog. Application Programming Interface (API) eine große Bedeutung zu. Dabei handelt es sich um eine Schnittstelle zwischen zwei verschiedenen Softwares, mit Hilfe welcher zwei verschiedene Anwendungen Daten austauschen können (Simmons 2016). APIs ermöglichen es beispielsweise, sich mit Facebook oder Google auf der Seite einer dritten Partei (z. B. SurveyMonkey) einzuloggen. Im Kontext des Recruiting bedeutet dies, dass Anbieter von Recruiting-Lösungen auf die Systeme verschiedener Spezialisten zugreifen können und somit nicht alle Module der Recruiting-Lösung selbst erforschen und programmieren müssen.

Wie und wo findet sich das im Recruiting wieder? Dafür bietet es sich an, die Entwicklung von Recruiting und Assessment von der Vergangenheit über die Gegenwart bis zu den Trends von morgen zu betrachten (siehe Abb. 1). Bei dieser Betrachtung sei vorweggeschickt, dass Technologie stets nur als Mittel zum Zweck dient. Der Zweck des Assessments in der beruflichen Eignungsdiagnostik ist die Vorhersage von Berufserfolg mittels einer möglichst effizienten und präzisen Messung bei maximaler Akzeptanz durch die Teilnehmer. Hieraus ergeben sich objektivierte Gütekriterien, um die Qualität der Messung zu beurteilen, die gemäß der sich verändernden Komplexität des Messvorgangs durch die voranschreitende Digitalisierung erweitert werden müssen.

Abb. 1
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Die Evolution des Assessment

3 Assessment in der Vergangenheit – Wo kommen wir her?

In der Vergangenheit war das Recruiting Papier-Bleistift-basiert (und ist es in vielen Fällen noch bis heute): Bewerbungsunterlagen wurden per Post verschickt, Persönlichkeit, Fähigkeiten und weitere Attribute wurden mittels Papier-Bleistift-Test in Testungen vor Ort erhoben. Das Screening der Bewerbungsunterlagen war zeitaufwändig und – im Vergleich zu Verfahren wie Tests oder Assessment Centern – nicht sehr valide (Schmidt und Hunter 1998; Schmidt 2016). Hinzu kommt das Problem des Bias, erzeugt beispielsweise durch Bewerbungsfotos (Schuler und Berger 1979; Watkins und Johnston 2000), Namen (Kaas und Manger 2010) oder andere Merkmale wie Lücken im Lebenslauf (Frank und Kanning 2014). Darüber hinaus war das Nachverfolgen der Bewerbungen schwierig, mussten doch Stapel von Papier per Hand sortiert werden.

Bei den unterschiedlichen Assessmentmethoden nehmen Interviews eine besondere Position ein. Das Interview ist aus Bewerbersicht das populärste Instrumentarium zur Berufsauswahl (Hausknecht et al. 2004). Jedoch ist dies durch das mit Interviews zu erreichende Messniveau kaum begründbar und die prognostische Validität von Interviews wird von Laien überschätzt. Dennoch hat das Interview eine besondere Bedeutung, denn es hat hohe Akzeptanz bei Teilnehmern und Anwendern (Kersting 2018) und erfüllt durch die direkte Kommunikation auch Funktionen des Personalmarketings. Deshalb widmen wir der Entwicklung des Interviews besondere Aufmerksamkeit (siehe Abb. 2).

Abb. 2
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Interviews gestern, heute und morgen

Fähigkeitstests haben seit jeher die besten Gütekriterien (Schmidt und Hunter 1998; Schmidt 2016). Falls Tests eingesetzt wurden, so konnte die Testung früher aber erst im zweiten Auswahlschritt erfolgen, da man die Bewerber zu einem Termin vor Ort einladen musste, was Zeit und Geld kostete. Die Bearbeitung insbesondere abstrakt-logischer Verfahren wird von den Bewerbern tendenziell eher als belastend bei gleichzeitig geringer Augenscheinvalidität empfunden (Kersting 2008), was einer der Gründe für die vergleichsweise geringe Akzeptanz dieser Art der Verfahren durch die Bewerber sein könnte (Schuler et al. 2007). Hinzu kam die fehleranfällige Auswertung per Schablone.

Besserung versprachen die ersten computerbasierten Tests (CBT). Die Auswertung erfolgte automatisch und damit wesentlich schneller und weniger fehleranfällig als zuvor. Auch erlaubte CBT adaptives Testen, d. h. in Abhängigkeit des Antwortverhaltens eines Teilnehmers die Präsentation der jeweils passenden Schwierigkeitskategorie (Kubinger 2009).

Große Diskussionen entstanden seinerzeit zu der Frage der Äquivalenz von CBT mit Papier-Bleistift-Tests. Bezüglich Persönlichkeits-Fragebögen ergaben Studien, dass die beiden Formate bezüglich Reliabilität und Validität äquivalent sind (Bosnjak 1997; Hertel et al. 2003; Knapp und Kirk 2003; Stanton 1998; Truell 2003). Bezüglich Fähigkeitstests ist die Äquivalenz dann gegeben, wenn bei der Übertragung auf den Computer bestimmte Design-Standards eingehalten werden (Coyne et al. 2005; Mead und Drasgow 1993; Wilhelm und McKnight 2002).

Die Gütekriterien, die zur Beurteilung des traditionellen Assessments angewendet werden, sind gemäß Testtheorie Objektivität, Reliabilität und Validität, also die Unabhängigkeit des Ergebnisses vom Administrator, die Zuverlässigkeit der Messung und das Ausmaß, in dem gemessen wird, was beabsichtigt wurde zu messen. Die Akzeptanz durch die Teilnehmer wurde traditionell komplett vernachlässigt und meist – irrtümlich, wie wir inzwischen wissen – als gegeben vorausgesetzt.

4 Assessment in der Gegenwart – Wo stehen wir?

CBT war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Online Assessment, also der Messung von Eignung über das Internet, gewöhnlich für einen bestimmten Job (Konradt und Sarges 2003). Dabei gibt es nach der Klassifikation der Internationalen Testkommission (ITC) anhand des Ausmaßes der Kontrolle vier verschiedene Modi der Administration (ITC 2005). Zwei davon erlauben dem Teilnehmer, die Verfahren von einem beliebigen Ort aus zu bearbeiten: „open mode“, bei welchem es weder eine Authentifizierung der Kandidaten gibt noch eine Aufsichtsperson; „controlled mode“, bei dem zwar ebenfalls keine Aufsichtsperson anwesend ist, jedoch nur bestimmte Kandidaten Zugang zu den Verfahren erhalten. Die anderen beiden Modi finden unter Aufsicht statt: „supervised mode“, bei welchem eine Aufsichtsperson anwesend ist, die Kandidaten einloggt und sicherstellt, dass die Verfahren ordnungsgemäß bearbeitet werden; „managed mode“, bei welchem die Aufsichtsperson ein besonderes Training durchlaufen hat und die Umgebung hoch standardisiert und kontrolliert ist.

Online Assessment bietet Vorteile, welche über die des Papier-Bleistift-Tests hinausgehen. Mittels Online Assessment ist es möglich, Kandidaten schnell und kostengünstig sowie unabhängig von Zeit- und geografischer Zone zu erreichen (Tuten et al. 2002). Auch hier ist adaptives Testen möglich (Kubinger 2009). Somit wird das Online Assessment effizient und zudem kann es dem rekrutierenden Unternehmen ein High-Tech-Image verschaffen (Lievens und Burke 2011). Durchführungs‑, Auswertungs- und Interpretationsobjektivität kann zudem als gegeben angesehen werden (Kubinger 2009). Darüber hinaus lassen sich die Ergebnisse nahtlos in ein Bewerbermanagement-System integrieren, was die Nachverfolgung der Bewerbungen erheblich erleichtert (Obeidat 2012). Beim Scoring von Tests gibt es auch bereits erste Ansätze zum Einsatz von AI: Bei einem Online-Kreativitätstest wird das Rating eines trainierten Experten nachgebildet, welches zuvor anhand vordefinierter Kriterienkataloge zu erfolgen hatte (Lochner et al. im Druck).

Dem stehen jedoch auch einige Nachteile des Online Assessment gegenüber, welche überwiegend aus der Tatsache resultieren, dass die Administration ohne Aufsicht erfolgt. So lässt sich beispielsweise die Identität der Kandidaten nur schwer bis gar nicht feststellen und es eröffnen sich weitere Möglichkeiten des Betrugs, die Sicherheit der Testitems ist nur schwer zu garantieren, und es kann Hard- und Softwareprobleme geben, welche das Testergebnis beeinflussen (Tippins et al. 2006). Studien haben jedoch ergeben, dass beim Online Assessment die Betrugsquote verschwindend gering ist (Kantrowitz und Dainis 2014). Häufig wird ein ganzer Pool von Testaufgaben eingesetzt, aus dem bei jeder Durchführung verschiedene Aufgaben gezogen werden, oder die Aufgaben werden „on the fly“, also während der Testdurchführung generiert; das macht die eingesetzten Verfahren verfälschungssicher, da Musterlösungen, die eventuell kursieren, nicht weiterhelfen (Klinck 2002).

Mit dem Online Assessment ergeben sich aber auch neue Herausforderungen für die Güte des Messvorgangs. Bei den Teilnehmern gibt es einen sehr deutlichen Trend, verstärkt mobile Endgeräte wie Smartphones und Tablets zu verwenden. Um keine Brüche in den Bewerbungsprozessen und damit Akzeptanzprobleme zu erzeugen, sollte dieser Trend von den rekrutierenden Firmen unterstützt werden. Damit einher geht die Anforderung, die Durchführung von Online Assessments nahtlos in Systeme für das Bewerbermanagement zu integrieren. Trotz der Einbindung und der Verwendung unterschiedlicher Geräte muss sichergestellt werden, dass das Online Assessment und damit der Messvorgang für die Teilnehmer unabhängig von der technischen Ausstattung ist, die für die Durchführung verwendet wird (ITC 2005). Das entsprechende Gütekriterium ist die Geräteunabhängigkeit. Mit diesem Gütekriterium wird mittels empirischer Überprüfung dargelegt, inwieweit die Ergebnisse eines Tests unabhängig von der Art des verwendeten Geräts und der Qualität der Online-Anbindung ist.

Bei der Durchführung des Online Assessments muss auch sichergestellt werden, dass Teilnehmer keinen Vorteil durch Hilfsmittel erlangen, die nicht erlaubt sind, da dies schwer in einem unüberwachten Setting zu kontrollieren ist (ITC 2005). Dieser Umstand muss bei der Konstruktion der Instrumente für das Online Assessment berücksichtigt werden. Das entsprechende Gütekriterium ist die Verfälschungssicherheit (ITC 2005). Mit diesem Gütekriterium wird mittels empirischer Überprüfung dargelegt, inwieweit die Ergebnisse eines Tests unabhängig von gezielten Täuschungsversuchen durch Teilnehmer im unüberwachten Setting sind.

Sowohl die Verwendung eigener Geräte als auch die Durchführung des Online Assessments zu einer beliebigen Zeit erhöhen die Akzeptanz bei den Teilnehmern, erhöhen aber auch in erheblichem Maße die Effizienz des gesamten Prozesses. Um die Akzeptanz durch die Teilnehmer weiter zu erhöhen, werden Online Assessments gezielt durch Eigenschaften angereichert, die man aus Video-Games kennt. Dieser Vorgang wird als Gamification bezeichnet (Warszta und Siemsen 2017). Dabei darf auf keinen Fall der Eindruck bei Teilnehmern erweckt werden, bei einem Online Assessment handele es sich um ein Spiel oder es würde gar ein Spiel für die Auswahlentscheidung verwendet werden. Per Definition handelt sich nicht mehr um ein Spiel, wenn von dem Ergebnis eines Spiels weitreichende Konsequenzen zu erwarten sind (high-stake Situation).

Für das traditionelle Interview ergeben sich durch die Verknüpfung mit den technischen Möglichkeiten des Online Assessments völlig neue Anwendungen. Bei einem asynchronen Video-Interview stellt der Recruiter die Fragen des Interviews in textlicher oder filmischer Form. Der Teilnehmer sieht diese Fragen zu einem beliebigen Zeitpunkt auf seinem jeweiligen Endgerät und nimmt sich bei der Beantwortung der Fragen mit der eingebauten Kamera auf. Der Recruiter beurteilt die Antworten zeitversetzt auf definierten Kriterien. Mittels asynchroner Video-Interviews lassen sich große Mengen an Interviews effizient durchführen und durch einen organisierten Prozess objektiviert beurteilen. Zudem ist das Video-Interview auch immer eine Form der Authentifizierung des jeweiligen Teilnehmers, da der Recruiter den jeweiligen Teilnehmer sehen kann. Aus der Kombination von asynchronen Video-Interviews und Online Assessment ergibt sich ein neuer Durchführungsmodus: das „remote proctoring“ (Kolowich 2013). Beim remote proctoring läuft während des Online Assessments die Kamera für das Video-Interview. Dies macht eine überwachte Durchführung aus der Ferne möglich, was wiederum die Verfälschungssicherheit erhöht.

5 Assessment in der Zukunft – Wo gehen wir hin?

Mit der Verknüpfung von asynchronen Video-Interviews und Online Assessment stehen wir bereits am Übergang zur Zukunft. Mit dem kombinierten Einsatz von AI ergeben sich vielversprechende weitere Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten lassen sich auch in die generellen Einsatzmöglichkeiten von AI im Unternehmenskontext einordnen.

5.1 Wo wird AI aktuell im Unternehmenskontext eingesetzt?

Im Rahmen einer Befragung untersuchten Davenport und Ronanki (2018), in welchen Bereichen Unternehmen derzeit AI einsetzen und welche Rolle sie dort spielt. Das Ergebnis war, dass AI im Wesentlichen in drei Bereichen eingesetzt wird: (1) Automatisierung von Routine- und datenintensiven administrativen Tätigkeiten, beispielsweise der automatische Abgleich von Emails oder Call-Center-Daten mit vorhandenen Informationen in einer Kundendatenbank; (2) Durchführung komplexer statistischer Analysen, beispielsweise Mustererkennung, um vorherzusagen, was Kunden voraussichtlich kaufen werden; (3) sprach- oder bildbasierte Interaktion mit Kunden oder Mitarbeitern, beispielsweise Chatbots, also Maschinen, die mit Kunden chatten.

5.2 Warum AI im Recruiting?

Wie oben bereits ausgeführt, lässt sich AI für die Optimierung von Prozessen verwenden (Davenport und Ronanki 2018). Beispielsweise entwickelten Faliagka und Kollegen (2012) einen Algorithmus, welcher Bewerberdaten auf LinkedIn basierend auf vorab festgelegten Kriterien analysiert und die Kandidaten in eine Rangordnung bringt, so dass dies nicht manuell erfolgen muss. Derartige Prozessoptimierungen ermöglichen es, dass HR weniger administrative Aufgaben bearbeiten muss und damit mehr Zeit für eher strategische Aufgaben hat (BPM und AT Kearney 2016).

Da mit Hilfe von AI und Machine Learning, Deep Learning und Natural Language Processing, wie oben aufgeführt, Mustererkennung in komplexen und vor allem unstrukturierten Daten möglich wird, eröffnen sich auch neue Möglichkeiten der Auswertung von Big Data (Davenport und Ronanki 2018). So lassen sich beispielsweise Daten aus sozialen Netzwerken analysieren: Kosinski et al. (2013) zogen mit Hilfe von Facebook Likes treffgenaue Rückschlüsse auf Persönlichkeit, Einstellungen und demografische Daten von Personen.

5.3 Einsatzgebiete von AI im Recruiting

Betrachtet man den Recruiting-Prozess Schritt für Schritt, so gibt es verschiedene Einsatzmöglichkeiten von AI. Zunächst gibt es Möglichkeiten bei der Ansprache (potenzieller) Bewerber, beim Erstkontakt, sodann bei den verschiedenen Auswahlschritten.

5.3.1 Active Sourcing

In Zeiten des Fachkräftemangels sind Unternehmen mehr und mehr darauf angewiesen, mögliche Kandidaten für offene Stellen direkt anzusprechen. Derzeit werden häufig Profile in sozialen Netzwerken nach bestimmten Kriterien durchsucht, teilweise noch manuell. Im Marketing wird dagegen bereits seit langer Zeit die sog. Psychografie eingesetzt, eine quantitative Methode, bei der Konsumenten anhand psychologischer Attribute beschrieben werden (Wells 1975) und sodann gezielt Produktwerbung erhalten. So lag beispielsweise in einer Reihe von Studien von Völker und van Treeck (2018) die User-Conversion (Umwandlung eines Interessenten in einen potenziellen Kunden) bei gezieltem Targeting basierend auf der individuellen Bedürfnisstruktur (welche aus der Browser-Historie ermittelt worden war) um über 400 % höher als bei der Standard-Werbung. Ein vergleichbares Vorgehen ist im Active Sourcing möglich: Für Internet-Nutzer wird anhand ihres Klick-Verhaltens ein Profil erstellt und dann können passende Job-Anzeigen eingeblendet werden.

5.3.2 Chatbots

Eine weitere Einsatzmöglichkeit von AI im Recruiting ist in Form von sog. Chatbots (Davenport und Ronanki 2018). Der Kandidat stellt seine Frage und erhält unmittelbar eine Antwort, rund um die Uhr und an jedem Tag der Woche. Zudem vermitteln Chatbots das Gefühl einer echten Interaktion. Beispiele für derartige Chatbots finden sich bei Allianz Careers (Allianz 2018) und bei Sixt (Sixt 2017). Mit beiden Chatbots wird über den Facebook Messenger gechattet.

5.3.3 Automatische Analyse von Lebensläufen und Anschreiben

Eine Studie von Campion und Kollegen (2016) befasste sich mit der Frage, ob ein automatisches Scoring von Lebensläufen reliable und valide Ergebnisse erzeugt. Basis dieser Analysen ist das oben beschriebene NLP. Sie legten sechs verschiedene Kompetenzen fest, welche menschliche Rater bewerteten und für welche sie auch die Maschine trainierten. Dabei erwiesen sich die Ratings der Maschine als genauso reliabel wie die der menschlichen Rater. Damit lässt sich sagen, dass die Bewertung von Lebensläufen mit Hilfe von Machine Learning und Text Mining, also mit Hilfe von AI, möglich ist und reliable und valide Ergebnisse erzeugt.

Zu der Frage, ob sich aus Anschreiben valide Vorhersagen auf den Berufserfolg machen lassen, liegen derzeit keine Ergebnisse vor. Hierzu gibt es jedoch auch für das klassische Screening der Bewerbungsunterlagen durch menschliche Entscheider bisher keine Befunde (Kanning 2016). Allerdings haben Studien gezeigt, dass von Maschinen mit Hilfe von NLP erzeugte Bewertungen von standardisierten Essays bedeutsam mit den Bewertungen trainierter menschlicher Auswerter korrelieren (Landauer et al. 2003; Powers et al. 2000). Daher dürfte davon auszugehen sein, dass auch bei der Auswertung von Anschreiben eine hohe Übereinstimmung zwischen Maschine und Mensch zustande kommt. Die Frage ist allerdings, inwieweit Unternehmen künftig überhaupt noch Anschreiben verlangen, planen doch Unternehmen wie die Deutsche Bahn bereits jetzt die Abschaffung des Anschreibens (Rövekamp 2018).

5.3.4 Automatische Auswertung von Video-Interviews

Zusätzlich zur Analyse von Anschreiben und Lebensläufen kann NLP auch zum automatischen Scoring von Video-Interviews verwendet werden. Hierzu sind beim aktuellen Stand der Technik zwei oder mehr Schritte erforderlich. Zunächst muss die gesprochene in geschriebene Sprache transkribiert werden. In einem zweiten Schritt erfolgt dann die Analyse der Sprache auf Basis der gleichen Prinzipien wie oben bereits beschrieben. Hier gibt es bereits einige Services, die Cognitive Computing über APIs anbieten, mit deren Hilfe also gesprochene in geschriebene Sprache transkribiert und dann im Hinblick auf verschiedene Merkmale analysiert werden kann. Zu ihnen gehören IBM Watson (https://www.ibm.com/watson/products-services/), Microsoft Azure (https://azure.microsoft.com/de-de/services/cognitive-services/), Amazon Web Services (https://aws.amazon.com/de/machine-learning/?nc2=h_l3_ai) oder Google Cloud Platform (https://cloud.google.com/products/machine-learning/). Watson beispielsweise ermittelt die Big Five Faktoren sowie jeweils sechs Facetten der Faktoren (Costa und McCrae 1992; Norman 1963) und gibt für die Analyse jeweils die Reliabilität mit aus. Für eine reliable Aussage werden hierbei mindestens 3500 Wörter gebraucht (Mahmud 2015).

5.3.5 Automatisches Scoring von Online Assessments

Das automatische Scoring von Online Assessments ist, wie oben beschrieben, bereits heute Praxis. Mit den Möglichkeiten, welche das Machine Learning bietet, können jedoch umfangreichere Datensätze analysiert werden. Zudem lassen sich zusammen mit strukturierten Daten auch unstrukturierte Daten analysieren, beispielsweise gesprochene und geschriebene Sprache wie oben bereits beschrieben. Auch lassen sich die sog. Paradaten mit auswerten, also Prozessdaten, die bei der Bearbeitung eines Assessments entstehen, beispielsweise Antwortzeiten oder Klicks (Stieger und Reips 2010). So lassen sich durch Bearbeitungszeit pro Item oder Klicks beim Verwenden einer visuellen Analogskala Rückschlüsse auf sozial erwünschtes Antwortverhalten ziehen (Preuß und Lochner 2015).

5.4 Chancen und Nutzen

Nach Davenport und Ronanki (2018) bietet die Nutzung von AI eine Reihe von Vorteilen: So können Produkte und Services verbessert werden, beispielsweise durch schnelleres Reagieren wie es durch Chatbots möglich wird, oder es können neue Produkte und Services entwickelt werden. Zudem kann sich durch die Kombination verschiedener Datenquellen (strukturierte und unstrukturierte Daten, Mensch und Maschine) auch die Qualität von Entscheidungen verbessern. Schließlich können Routineaufgaben von der Maschine übernommen werden, was den Menschen mehr Raum für Kreativität und Strategie lässt.

5.5 Probleme und Risiken

Davenport und Ronanki (2018) weisen auch auf die Probleme und Risiken hin, welche der Einsatz von AI mit sich bringt. Einige sind technischer Art: So sind einige Technologien noch nicht ausgereift, gleichzeitig sind häufig hohe Kosten mit der Einführung von AI verbunden. Zudem gibt es Probleme bei der Integration mit existierenden Prozessen und Systemen und nicht zuletzt zu wenige Experten, die sich gut mit der Technologie auskennen. Hinzu kommt mangelndes Verständnis der Manager (siehe hierzu auch Deller et al. 2017).

Gerade vor dem Hintergrund der noch nicht ausgereiften Technologien ist es daher wichtig, dass bei Analysen die durch die AI erzielten Ergebnisse von einem Experten auf Plausibilität geprüft werden (Morelli et al. 2017): Die Maschine wird die bestmögliche Vorhersage anstreben und hierfür unter Umständen Modelle überspezifizieren, so dass diese nicht mehr generalisierbar sind, oder Variablen in die Analyse einbeziehen, die nicht betrachtet werden sollten (z. B. Geschlecht oder Ethnie).

5.6 Wie kann die Einführung aussehen?

Für eine erfolgreiche Integration von AI ins Recruiting sind zunächst zwei weitere Gütekriterien erforderlich, Transparenz und Kontrollierbarkeit. Die Kombination von Online Assessment mit asynchronen Video-Interviews und die automatische Auswertung mittels AI ergibt ein automatisiertes Assessment. Es automatisiert ganze Entscheidungsketten, die vormals von Recruitern getroffen wurden, aber weiterhin von Recruitern kontrolliert und verantwortet werden müssen. Auch wenn die Entscheidungskette automatisiert abläuft, muss sie dennoch transparent sein; es muss also erklärbar sein, welcher Algorithmus der Entscheidung zugrunde liegt. Das Gütekriterium der Transparenz hat dabei zwei Aspekte. Zum einen bedarf es für die Akzeptanz seitens der Teilnehmer maximale Transparenz bezüglich des gesamten Prozesses, also was warum gemessen wird. Zum anderen ist Transparenz gemäß Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zwingend erforderlich, wenn eine Entscheidung legal in Frage gestellt wird, um erklären zu können, wie die automatische Entscheidung nachvollziehbar zustande gekommen ist. Ein Verweis auf eine Black-Box wird dann nicht hinreichend sein, weshalb Transparenz beim Design des Gesamtprozesses bereits berücksichtigt werden muss (Kuang 2017).

Hand in Hand mit dem Gütekriterium der Transparenz geht das Gütekriterium der Kontrollierbarkeit. Kontrollierbarkeit ist dann gegeben, wenn jeder Schritt der Automatisierung eingesehen und im Bedarfsfall ohne Verzögerung mittels manueller Intervention durch einen Menschen geändert werden kann. Zudem setzt die Kontrollierbarkeit voraus, dass die Ausrichtung der Automatisierung nicht ausschließlich auf maschinellem Lernen zurückliegender Ereignisse basiert, sondern durch strategische Einsicht menschlicher Experten vorgegeben werden kann.

Bei der Einführung sind jedoch auch die Menschen, welche die Einführung betrifft, einzubeziehen. Wie Deller und Kollegen (2017) bereits feststellten, traut HR den digitalen Recruiting-Methoden nicht und es fehlt an den notwendigen digitalen Kompetenzen. Die Autoren stellen jedoch auch heraus, dass der Einstieg ins Thema notwendig und sinnvoll ist, da sich digitale Zusammenarbeit und flexibles Arbeiten mehr und mehr verbreiten und die Digitalisierung zudem HR auf dem Weg zum strategischen Partner unterstützt. Wie also kann eine Einführung aussehen?

In diesem Zusammenhang wird schnell der Ruf nach Weiterbildung in Bezug auf digitale Kompetenzen laut. Dieser ist sicherlich angebracht, greift jedoch zu kurz. Die Digitalisierung ist ein umfassender Wandel, der so umfassend wie ein Change Prozess behandelt werden sollte. Zu diesem Schluss kommen auch Davenport und Ronanki (2018). Zu einem Change Prozess gehören beispielsweise die Vermittlung einer Vision, wie digitalisierte HR-Arbeit aussehen kann, und die Sichtbarmachung kurzfristiger Erfolge, um die Vorzüge aufzuzeigen und zum Weitermachen zu motivieren. Dazu gehört aber auch der Umgang mit Ängsten wie beispielsweise der vor dem Arbeitsplatzverlust aufgrund des Einsatzes von Maschinen. Digitale Kompetenzen sind in dem ganzen Prozess wichtig. Jedoch greifen auch viele der Konzepte von digitalen Kompetenzen zu kurz: Abgefragt wird Wissen um und Einsatz von aktuell verfügbaren digitalen Tools, doch bei der sich schnell wandelnden Technologie sollten eher Methodenkompetenzen beim Lernen und Umgang mit Neuem oder ähnliches erfasst werden.

6 Fazit

Die Digitalisierung erfasst alle Lebensbereiche und ergibt neue Möglichkeiten für Recruiting und Assessment. Berufliche Eignungsdiagnostik wird ungleich komplexer, aber dank Automatisierung auch viel leichter zugänglich. Die Digitalisierung verändert in erheblicher Weise die Anforderungen von Jobs, diese Veränderung muss die berufliche Eignungsdiagnostik mindestens nachvollziehen, kann aber aus dem HR-Bereich auch eigene Impulse für den digitalen Wandel setzen. Das Ziel der beruflichen Eignungsdiagnostik bleibt auch beim automatisierten Assessment die Vorhersage von Berufserfolg. Berufserfolg wird aber zunehmend bestimmt sein durch die Fähigkeiten von Menschen, mit künstlich intelligenten Maschinen hoch funktionale Einheiten zu bilden. Recruiter werden durch automatisiertes Assessment also keineswegs überflüssig. Recruiter werden effizienter, produktiver und erfolgreicher werden.

Jedoch sind an dieser Stelle auch ethische Gesichtspunkte zu beachten: Wo viele Daten vorhanden sind, können sie auch unsachgemäß oder missbräuchlich verwendet werden, was das Vertrauen der Nutzer in die Technologie untergraben dürfte (z. B. Chamorro-Premuzic 2018). Um dies zu vermeiden, ist sowohl Sachverstand (Welche Informationen sind notwendig für eine valide Vorhersage des Berufserfolgs?) als auch die Einhaltung der bereits erwähnten Gütekriterien Transparenz und Kontrollierbarkeit unerlässlich. Aus diesem Grund wird der Job von Recruitern nicht nur effizienter, produktiver und erfolgreicher, sondern auch komplexer und verantwortungsvoller, weil sie durch ihre Interventionen hoch komplexe, AI-getriebene Prozesse kontrollieren werden.