1 Thesen und Analysekonzept

Zu Krisentendenzen moderner Demokratien ist vielfältig und kontrovers publiziert worden (z. B. Weidenfeld 1996; Assheuer und Perger 2000; Gourd und Noetzel 2001; Offe 2003; Brodocz et al. 2008). Seit einiger Zeit wird diese krisenhafte Entwicklung von Sozialwissenschaftlern unter dem Etikett der „Postdemokratie“ diskutiert (Crouch 2004; Jörke 2006, 2010; Richter 2006; Hennig 2010). In diesem Kontext betrachten wir, welche Gefährdungen demokratischer Einstellungen in der Bevölkerung vor dem Hintergrund des verschobenen Verhältnisses von globalem Kapital und nationalstaatlicher Demokratie entstehen.

Wir gehen von zwei Thesen aus: Auf der analytischen Ebene nehmen wir an, dass sich im Zuge der Kontrollverschiebung zwischen globalem Kapital und nationalstaatlich demokratischer Politik ein autoritärer Kapitalismus (Heitmeyer 2001) durchsetzen konnte. Daraus folgen, so unsere zweite, empirisch zu prüfende These, zwei gesellschaftliche Entwicklungen, die wir erstens als Demokratieentleerung und zweitens als Ökonomisierung des Sozialen bezeichnen, die sich beide auf die Einstellungen in der Bevölkerung im Hinblick auf die Gefährdung demokratischer Einstellungsmuster auswirken, wozu wir auch die Akzeptanz der Gleichwertigkeit von Menschen zählen. Wir untersuchen im Folgenden jene gesellschaftlichen Bedingungen, die die Akzeptanz von Gleichwertigkeit gefährden und die Dynamiken, die Teile der viel geforderten Zivilgesellschaft eher zu Unterstützern von Ideologien der Ungleichwertigkeit als zu Hoffnungsträgern für die Demokratie werden lassen. Bei solchen Ideologien der Ungleichwertigkeit, die sich empirisch in vielfältiger Weise in abwertenden Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen in der Bevölkerung erkennen lassen (vgl. Heitmeyer 2002), stellt sich die Frage in welchem gesellschaftlichen Klima solche Einstellungen gedeihen können.

Es ergeben sich somit zwei Analysepfade, um die Auswirkungen der Kontrollverschiebungen, die wir im Hinblick auf die Gefährdung demokratischer Einstellungsmuster verfolgen (vgl. Abb. 1), zu untersuchen:

Abb. 1
figure 1

Zwei Analysepfade zu den Folgen von Kontrollverschiebungen. (Die Pfeile symbolisieren den Argumentationsverlauf, während die Beziehungen auf der Ebene 1 argumentativ gestützt werden, können wir für die Ebenen 2 und 3 empirische Analysen liefern)

Der eine Pfad nimmt seinen Ausgangspunkt vom Kontrollverlust nationalstaatlicher Politik, und untersucht, wie die Demokratieentleerung und die daraus folgenden Desintegrationsrisiken zu politischer Entfremdung und Misstrauen gegenüber politischen Eliten führt, und welche Auswirkungen das auf rechtspopulistische Orientierungen hat. Der andere Pfad nimmt seinen Ausgangspunkt vom Kontrollgewinn des globalen Kapitals und untersucht, wie die Ökonomisierung des Sozialen zu Desintegrationsbedrohungen und deren subjektiver Verarbeitung als ökonomistische Einstellungen zur Abwertung nicht-wettbewerbsfähiger Personengruppen führt. Beide Pfade gefährden auf ihre je eigene Weise die Entwicklung und den Bestand an demokratischen Einstellungen.

2 Neoliberale Globalisierung und autoritärer Kapitalismus: Kontrollverschiebung

Als Ausgangspunkt unserer Überlegungen verfolgen wir eine Entwicklung in den westlichen Demokratien, die sich im Zuge neoliberaler Globalisierung als Verschiebung des Kontrollverhältnisses demokratisch legitimierter nationalstaatlicher Politikentscheidungen gegenüber Marktentscheidungen ergeben hat. Dies ist vielfach, wenn auch mit unterschiedlichen Folgerungen, beschrieben (vgl. z. B. Zürn 1998, S. 14 ff.; Sassen 1999, S. 448; Heitmeyer 2001, S. 506; Hirsch 2002, S. 106; Jörke 2010, S. 17; Mayntz und Streeck 2010, S. 157) und als Bedrohung der nationalstaatlich verfassten Demokratie gedeutet worden (vgl. v. a. Guéhenno 1996, optimistischer Held 2002, S. 122).

Zwar liegt politische Herrschaft noch immer in den Händen des Nationalstaats, auf die inhaltliche Ausgestaltung politischer Entscheidungen ist der parlamentarische (und damit der demokratische) Zugriff jedoch zunehmend verwehrt. Hier gewinnen internationale Institutionen an Entscheidungsmacht (durch internationale Vereinbarungen) und private Unternehmen an Organisationsmacht (z. B. im Zuge der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen). So wandelt sich der Nationalstaat zum „Herrschaftsmanager“ (vgl. Genschel und Zangl 2008). Obwohl der Staat immer weniger autonom entscheidet und stattdessen in immer mehr Fällen zum Ausführungsorgan von supranationalen Entscheidungen wird, hat er unverändert die volle Legitimationslast gegenüber seinen Bürgern zu tragen (ebd.).

Entscheidend sind daher aus unserer Perspektive jene Legitimationsprobleme der nationalstaatlichen Demokratie, die sich aus der Globalisierung der Waren- und Finanzmärkte ergeben. Es sind hier nicht nur vertraglich abgetretene Entscheidungskompetenzen von Bedeutung als vielmehr auch Entscheidungen auf nationalstaatlicher Ebene, die sich an den Interessen global (oder zumindest multinational) aktiver Kapitaleigner ausrichten. „Unternehmen und Vermögenseigner sind nicht nur in der Lage, glaubhafter denn je mit ‚exit‘ zu drohen, sondern sie können diese Drohung indirekt auch nutzen, um ihre ‚Voice‘-Option innerhalb der Nationalstaaten wieder zu stärken“ (Deutschmann 2005, S. 326). Darin zeigt sich ein Kontrollgewinn global agierender Konzerne gegenüber der nationalstaatlich-demokratischen Politik.

In Anlehnung an Leibfried und Pierson (2000, S. 269) können de facto und de jure oder indirekte und direkte Einschränkungen nationalstaatlicher Autonomie und Souveränität unterschieden werden.Footnote 1 Indirekte Verluste nationalstaatlicher Autonomie entstehen durch immer weniger an nationale Standorte gebundene Unternehmen, die auf globalisierten Finanz- und Warenmärkten operieren und dadurch größere Unabhängigkeit bei der Auswahl von konkreten Standorten gewinnen. Sie sind dementsprechend auch weniger bereit, sich mit nationaler Politik zu arrangieren.

Direkte, vertragsrechtlich bindende Souveränitätsverluste des Nationalstaats ergeben sich aus supranationalen Vereinbarungen etwa aus den Waren- und Dienstleistungsabkommen innerhalb der WTO, oder für notleidende Staaten aus mit Sanktionen verbundenen Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF, die von den Regierungen der betroffenen Nationen umgesetzt und unterzeichnet werden müssen (Sassen 1999, S. 455 ff.). Insofern ist die teilweise Aufgabe der Souveränität vom Nationalstaat durch nationale und demokratisch legitimierte Regierungen selbst induziert und vollzogen.Footnote 2

Die Institutionen einer nationalstaatlich verfassten repräsentativen Demokratie erleiden aufgrund dieser (Selbst-)Bindungen einen drastischen Kontrollverlust, während die international agierenden Unternehmen einen immensen Kontrollgewinn über Finanzströme, Arbeitsplätze und entsprechende Prekaritätsschübe etc. haben. Ein so ausgestatteter Kapitalismus entwickelt aufgrund seines Machtzuwachses autoritäre Züge weil er seine Maxime unabhängig von nationalstaatlichen Politiken durchsetzen kann. Damit beschädigt er, so unsere These, auf der politischen Ebene die Qualität der Demokratie und auf der gesellschaftlichen Ebene die Qualität des Sozialen.

2.1 Kontrollverluste nationalstaatlicher Politik: Demokratieentleerung

In Übereinstimmung mit der zeitdiagnostischen These von der „Postdemokratie“ (Crouch 2008) gehen wir davon aus, dass demokratische Verfahren zwar formal intakt bleiben, aber einen Substanzverlust erleiden, den wir als Demokratieentleerung Footnote 3 bezeichnen (vgl. Heitmeyer 2001). Es können mehrere Entwicklungslinien umrissen werden, die eine Entleerung der Demokratie befördern und an denen verschiedene Akteursgruppen beteiligt sind. Im Zuge der Kontrollverschiebungen zugunsten von international agierenden Unternehmen und zulasten der übrigen an demokratisch legitimierten Entscheidungen beteiligten Gruppen zeigt sich erstens eine Demokratieermäßigung darin, dass Funktionäre der Kapitalseite darauf drängen, demokratische Entscheidungsverfahren „effizienter“ zu machen und damit zu umgehen oder dass Politik Entscheidungen an „Fachbeiräte“ delegiert. Dabei findet „eine stärkere Entkopplung der Exekutive von der breiten politischen Willensbildung, überhaupt eine Ermäßigung jener demokratischen Prinzipien, die das Legitimationsniveau zu hoch schrauben“ (Habermas 1982, S. 1025) statt. Politische Entscheidungen erscheinen verstärkt an den Interessen ökonomisch starker Gruppierungen ausgerichtet und der Einfluss der übrigen Bevölkerung schwindet. Crouch (2008, S. 13) spricht in diesem Zusammenhang von einer Konstellation, die für vordemokratische Zeiten typisch ist und das „egalitäre Projekt“ (sowohl im Sinne politischer Gleichheit als auch gleicher Teilhabe auf der sozialstrukturellen Ebene)Footnote 4 gefährdet. Die aufgrund von Steuerausfällen im Zuge der Einführung von Niedriglohnsektoren und gleichzeitiger Senkung der Steuern für Unternehmen verminderten Staatseinnahmen führen zu Einschnitten in das soziale Netz. Der Abbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze und Einschränkungen von Arbeitnehmerrechten (wie etwa dem Kündigungsschutz) führten in Deutschland vor allem im Jahr 2004 zu Verunsicherungen und Protesten in der Bevölkerung.Footnote 5 Wenn Regierungen einem solchen Szenario der Verunsicherung und Konflikthaftigkeit nun mit einer Einschränkung von Freiheitsrechten durch den Ausbau von Kontrolle (wie etwa zunehmende Überwachung durch Kameras an öffentlichen Plätzen, Vorratsdatenspeicherung) begegnen, so ist eine Demokratieaushöhlung sichtbar.

Dabei dienen verschiedene Bedrohungskonstruktionen der Legitimation solcher Maßnahmen, die sowohl als Bedrohung von Außen (internationaler Terrorismus, Schurkenstaaten) als auch gesellschaftsintern (Extremisten, Unterschicht, Migranten) ausgemacht werden (Geis 2008, S. 174). Neben der Demonstration von Handlungsfähigkeit des Staats durch die Erweiterung der Befugnisse der Exekutive (Krause 2008, S. 157) stellt sich dies als Versuch dar, eine innergesellschaftliche Gemeinschaftlichkeit durch die Konstruktion eines „bedrohlichen Anderen“ (wieder-) herzustellen (Geis 2008, S. 175 f.).

Für politische Eliten wandelt sich die Perspektive auf die Bevölkerung, so dass diese vielfach weniger als verbindlicher Souverän wahrgenommen wird denn als schwer zu beherrschende uninformierte Masse, die durch einen Mangel an Verständnis für Notwendigkeiten ausgezeichnet ist. Von der Bevölkerung abgekoppelte politische Eliten, die sich vermehrt in Unternehmens- und Finanzkreisen bewegen und fast nur noch aus den oberen gesellschaftlichen Schichten rekrutiert werden (vgl. Best 2003, S. 384), entwickeln einen für Elitenkreise typischen Habitus und einen Mangel an Unrechts- und Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Bevölkerung, der seinen Ausdruck in Parteispendenskandalen, Korruption und verdecktem Lobbyismus findet und als Demokratiemissachtung politischer Eliten bezeichnet werden kann.

Schließlich zeigen sich Ermüdungserscheinungen in der politischen Aktivität vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen. Einerseits werden sie begünstigt durch die schwache Wirkung von Kritik und Protest, die mit der Schwächung antagonistischer kollektiver politischer Akteure (wie z. B. der Gewerkschaften) und der Fragmentierung von Protesten (Neidhardt und Rucht 2001, S. 36, 51) einhergeht. Andererseits zeigen sich größere Bevölkerungsteile infolge einer vornehmlich am Unterhaltungswert orientierten Darstellung von Politik in den Medien tatsächlich wenig umfassend informiert (Crouch 2008, S. 67 f.; Meyer 2008, S. 15). Wir bezeichnen diese Entwicklung als Demokratievernachlässigung. Aus diesen Entwicklungen wachsen schließlich in der Bevölkerung erhebliche Demokratiezweifel, wenn es um die Funktionsfähigkeit und Lösungskompetenz von Krisen durch die verfügbaren demokratischen Prozesse geht.

2.2 Kontrollgewinne des Kapitals: Ökonomisierung des Sozialen

Der aufgrund des Machtgewinns der global agierenden Unternehmen entstandene Anpassungsdruck trifft neben der politischen auch die soziale Sphäre. Nicht nur politische Entscheidungen richten sich zunehmend an von Privatunternehmer- oder Privatbankenseite diktierten Erfordernissen aus, auch die Sphäre des Sozialen gerät dann unter Druck, wenn sie politisch nicht geschützt werden kann. Ökonomische Logiken dringen in alle gesellschaftlichen Bereiche vor, daher kann man mit Hirschman (1986) von einem Wandel von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft sprechen. Jürgen Habermas konstatierte bereits im Rahmen seiner Konzeption einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“, dass die „ökonomischen und (¼) administrativen Imperative (¼) immer weitere Lebensbereiche monetarisieren und bürokratisieren, immer weitere Beziehungen in Waren und in Objekte der Verwaltung verwandeln“ (Habermas 1982, S. 1032).

Messner und Rosenfeld (2001, S. 70 ff.) beschreiben drei Mechanismen, die eine Verdrängung von nicht-ökonomischen Logiken aus den gesellschaftlichen Institutionen animieren. Erstens zeige sich eine Abwertung nicht-ökonomischer institutioneller Funktionen, wenn schon in der Schule die normierte Leistung stärker bewertet wird und die Weiterentwicklung der Persönlichkeit in den Hintergrund gerät oder soziale Beziehungen vermehrt zugunsten von beruflichem Erfolg zurückgestellt werden. Zweitens bestehe die Anpassung der nicht-ökonomischen Institutionen an ökonomische Anforderungen darin, dass sie selbst nach ökonomischen Prinzipien strukturiert werden, wenn z. B. das Familienleben aufgrund von gestiegener beruflicher Mobilität (Ruppenthal und Lück 2009) entsprechend ökonomischer Notwendigkeiten geregelt werden muss. Drittens werde eine Durchdringung nicht-ökonomischer Institutionen mit ökonomischen Normen deutlich, wenn z. B. sozialstaatliche Transferzahlungen an Bedürftige vermehrt an die Aktivierung zur Leistung gekoppelt werden (Dingeldey 2007) oder quantifizierende Bewertungsmaßstäbe im Wissenschaftssektor an Relevanz gewinnen (Anzahl der Publikationen, Drittmittelquoten).

Ökonomisierung erfasst also mehrere gesellschaftliche Sphären, die sich immer weniger an den ihnen jeweils eigenen Maximen orientieren. Dies gilt für die Sphäre des Politischen, des Wissens aber auch und vielleicht am tiefgreifendsten für die Sphäre des Sozialen. Denn hier zeigt sich ein besonders großer Kontrast zwischen ökonomischen Logiken der Nützlichkeit, Effizienz, Verwertbarkeit etc. und den der sozialen Sphäre (Familie, Freundschaften, Bekanntschaften, Gruppenzugehörigkeiten) eigenen Umgangsformen wie Bindung, Verpflichtungsgefühle, Zugehörigkeit und Empathie (vgl. dazu Tönnies [1887] 1979, kritisch zur Idealisierung der Gemeinschaft: Plessner [1924] 2002).

3 Übersetzungen: Soziale Desintegration und die Folgen für demokratische Einstellungen

Bei der Diagnose einer Demokratieentleerung und einer Ökonomisierung des Sozialen handelt es sich zunächst um eine Beschreibung gesellschaftlicher Zustände. Um zu verstehen, warum diese Trends demokratische Einstellungen in der Bevölkerung gefährden können, muss der Einfluss auf die individuelle Ebene dargestellt werden. Für die Übersetzung von der Makro- auf die Mikroebene lässt sich die Theorie Sozialer Desintegration (Anhut und Heitmeyer 2000, 2005) verwenden, weil sie eine Analysefolie bietet, vor deren Hintergrund der Transfer gesellschaftspolitischer Entwicklungen in individuelle Deutungen und Einstellungsmuster erklärbar wird.

Ob demokratische Einstellungen entstehen und gesichert werden können, hängt, so unsere These, wesentlich von der Qualität gesellschaftlicher Integration ab. Integration bedeutet aus der Perspektive der Theorie Sozialer Desintegration, dass drei spezifische Problemstellungen in befriedigender Weise gelöst werden müssen (vgl. Anhut und Heitmeyer 2000):

Die erste Ebene der Integration, die sozialstrukturelle Dimension, betrifft die Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft. Diese wird im Regelfall durch ausreichende Zugänge zu Arbeits-, Wohnungs- und Konsummärkten sichergestellt. Zugleich ergibt sich im Idealfall auf der subjektiven Ebene eine Entsprechung in Form einer Zufriedenheit mit der beruflichen und sozialen Position, die mit positionaler Anerkennung einhergehen sollte. Auf der zweiten Ebene der Integration, der institutionellen Dimension, geht es um die Sicherstellung des Ausgleichs konfligierender Interessen, wobei basale, die moralische Gleichwertigkeit des (politischen) Kontrahenten anerkennende, demokratische Prinzipien eingehalten werden müssen, die von den Beteiligten als fair und gerecht bewertet werden. Auf der subjektiven Ebene der Integration ist hier die moralische Anerkennung als gleichberechtigter Bürger, dessen Stimme im demokratischen System wahrgenommen oder ignoriert wird, relevant. In der gemeinschaftlichen Dimension schließlich geht es um soziale Zugehörigkeit und Herstellung emotionaler bzw. expressiver Beziehungen zwischen Personen zum Zwecke von Sinnstiftung und Selbstverwirklichung. Hier kommen unter Umständen erhebliche Zuwendungs- und Unterstützungsleistungen ins Spiel. Auf der subjektiven Ebene ist emotionaler Rückhalt durch andere vonnöten, um Sinnkrisen, Orientierungslosigkeit, eine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls oder Wertediffusion und Identitätskrisen zu vermeiden.

Der Desintegrationsansatz thematisiert die Herstellung sozialer Integration auf freiwilliger Basis, die in modernen Gesellschaften charakteristischerweise über Formen des Interessenausgleichs, der sozialen Anerkennung und Konsensbildung erfolgt bzw. erfolgen kann. Gelingt soziale Integration, dann ist auch freiwillige Akzeptanz demokratischer Normen erwartbar, d. h. auch die Akzeptanz des Grundsatzes der Gleichwertigkeit.

Unsere Prognose ist nun, dass diese Integrationsbestimmungen unter den Bedingungen eines autoritären Kapitalismus (Heitmeyer 2001) nicht mehr gewährleistet werden können und es daher zu verstärkten Integrationsdefiziten kommt. Diese Integrationsdefizite werden zunächst die sozialstrukturelle Dimension betreffen, weil sich die Kontrollverschiebung zugunsten des Kapitals zunächst auf die Teilhabechancen in diesem Bereich auswirkt und sich etwa in einem erhöhten Druck auf den Arbeitsmarkt, im Abbau sozialer Sicherung und in der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse äußert. Sie setzen sich dann aber unter den Bedingungen von Demokratieentleerung und Ökonomisierung des Sozialen in der institutionellen bzw. sozio-emotionalen Dimension fort.

  1. a.

    Für die Übersetzung der Demokratieentleerung (2.1) über die sozialstrukturelle Desintegration (3.) hin zur institutionellen Desintegration in Form von politischer Entfremdung und Misstrauen gegenüber politischen Eliten (3.1) kann der Prozess wie folgt umrissen werden: Prekarisierung von Lohnarbeit, Mobilitätszwang und die Drohkulisse der Arbeitslosigkeit werden durch einen Machtverlust der Arbeitnehmerseite möglich und sind Folge einer Demokratieermäßigung, die eine an Standortkonkurrenz orientierte Politik und folglich die Ausrichtung der Politik an ökonomischen Interessen kennzeichnet. Eine solche Konstellation bedeutet zugleich einen Zuwachs an sozialer Desintegration in der sozialstrukturellen Dimension, da dies erhebliche Verunsicherungen über Verdienstmöglichkeiten, drohende Armut und den Verbleib im Arbeitsleben impliziert. Freilich betrifft diese Entwicklung nicht alle Schichten der Bevölkerung, die Gefährdungen reichen aber bis in die Mitte der Gesellschaft und treffen besonders die unteren beiden Einkommensquintile (Böhnke 2009, S. 18). Wenn von politischer Seite in dieser Konstellation eher mit SanktionenFootnote 6 und der Zunahme von bürokratischen Kontrollelementen (im Sinne einer Demokratieaushöhlung) reagiert wird, als mit dem verstärkten Schutz von Arbeitsrechten und sozialen Rechten, dann zeugt dies von einer weiteren Verunsicherung der politischen Elite und ist wiederum geeignet, das Vertrauen in ihre politischen Fähigkeiten abzubauen. Zusätzlich tragen diese Eliten dann durch Demokratiemissachtung aktiv zur Misstrauensbildung bei, wenn sie etwa Parteispenden nicht offen legen und dem Lobbyismus Tür und Tor öffnen. Denn damit leisten sie dem Eindruck Vorschub, dass die Interessen der Normalbürger hinter denen bestimmter Interessen (-gruppen) zurückstehen. Verstärkt wird diese politische Entfremdung der Normalbürger durch die Erfolglosigkeit von kollektivem politischen Handeln machtschwächerer Gruppen bzw. dem Fehlen politischer Kollektive, die den machtschwächeren Gruppen eine Stimme geben könnten (Demokratievernachlässigung). Das, was wir Demokratieentleerung nennen, äußert sich also subjektiv als politische Entfremdung und Misstrauen in politische Eliten. Verunsicherungen über die persönliche Einbindung auf der sozialstrukturellen Dimension und die Verfehlungen politischen Handelns im Hinblick auf die lebensweltlichen Freiräume von Personen verringern die am Ergebnis orientierte LegitimationFootnote 7 der Demokratie. In der Bevölkerung kommt es zu Misstrauen in politische Eliten, in deren Leistungs- und Problemlösungsfähigkeit. Gleichzeitig erscheint aber auch die durch allgemeine Wahlen zustande kommende Legitimation gefährdet. Denn die einseitige Ausrichtung der Politik an partikularen Interessen bei weitgehender Vernachlässigung der Interessen größerer Bevölkerungsteile stellt die politische Gleichheit in Frage und muss vor allem bei den von der Vernachlässigung betroffenen Bürgern politische Entfremdung im Sinne eines Gefühls politischer Ungleichbehandlung oder auch Machtlosigkeit forcieren. Es handelt sich um ein Problem der institutionellen Dimension von Desintegration, ihr Wesen besteht darin, dass die Grundsätze politischer Gleichheit und fairer Verteilung nicht mehr erfüllt werden.

  2. b.

    Wie überträgt sich die Ökonomisierung des Sozialen (2.2) als sozialstrukturelle Desintegrationsbelastung (3.) in ökonomistische Einstellungen (3.2)? Aufgrund gefährdeter oder prekärer Teilhabe in der sozialstrukturellen Dimension gewinnt Konkurrenz als Verhaltensmaxime an Bedeutung, weil sie im Hinblick auf Statussicherung oder Statusmaximierung Erfolg zu versprechen scheint, während Kooperation an Bedeutung verliert. Im Gefüge der globalen Standortkonkurrenz, die zu stark begrenzten fiskalischen Spielräumen und der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen führt, entzieht der Rückbau sozialstaatlicher Absicherung und die Ausweitung prekärer Beschäftigung der Kooperativität in der sozialen Sphäre ihre Grundlagen. Zum Schutze der eigenen Positionierung und ausreichenden Teilhabe wird eine Unterwerfung der Subjekte unter die Anforderungen der ökonomischen Sphäre unabdinglich. „Was auf der kollektiven Ebene Standortsicherung heißt, erscheint in der Perspektive der Individuen als Kampf um die Werterhaltung der Person“ (Rosa 2006, S. 82). Für die gemeinschaftliche Dimension folgt daraus eine Entwertung, weil die Erfordernisse dieser Dimension (emotionale Bindung, Loyalität, Empathie) von den Erfordernissen der sozialstrukturellen Integration überwölbt werden. Die Maxime der Orientierung am Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzip dringt mehr und mehr auch in nicht-ökonomische Sphären vor und verdrängt die gemeinschaftliche Integrationsdimension. Wenngleich die Orientierung an ökonomischen Prinzipien auch in nicht-ökonomischen Institutionen den Individuen zunächst um der Erhaltung sozialstruktureller Integration Willen, von Außen, also von den ökonomischen Rahmenbedingungen aufgezwungen oder zumindest nahe gelegt wird, kann man davon ausgehen, dass sich solche Wertorientierungen verstetigen und Teil der individuellen und sozialen Identität werden. Ist dies der Fall, so sprechen wir von ökonomistischen Einstellungen, die durch eine Bewertung der nicht-ökonomischen Institutionen nach ökonomischen Urteilskriterien gekennzeichnet sind.

3.1 Politische Entfremdung und Misstrauen gegenüber politischen Eliten

In den 90er Jahren zeigten sich in den westlichen Demokratien sinkende Demokratiezufriedenheit und Vertrauensverluste in die politische Führung (vgl. z. B. Fuchs 1998; Klingemann 1999; Putnam et al. 2000; Geißel 2004b). Unsere Überlegungen haben gezeigt, wie die Demokratieentleerung durch Desintegration in politische Entfremdung und Misstrauen gegenüber politischen Eliten mündet. Demokratische Einstellungen sind nicht einfach als vorpolitische Eigenschaften von Bürgern zu verstehen, sondern sind in hohem Maße abhängig von der Qualität demokratischer Politik (vgl. Richter 2004). Sie stehen mit der konkreten Ausgestaltung von Demokratien durch die Subjekte in Verbindung und sind zugleich abhängig von „institutionellen Ermutigungseffekten“ (Dubiel 1996, S. 87), ihre Entstehung ist deshalb nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Strukturen zu verstehen.

Politische Entfremdung kann bestimmt werden als ein Zustand des Auseinanderfallens von Anspruch und Realität (Fischer und Kohr 1980, S. 42). Die Wahrnehmung politischer Machtlosigkeit wird bei Fischer und Kohr (1970, S. 80) als Hauptbestandteil politischer Entfremdung bezeichnet. Dabei geht es um die Wahrnehmung, dass das eigene politische Handeln keine Wirkung zeigt.Footnote 8 Politische Machtlosigkeit bezieht sich auf die Teilhabe-Seite der Legitimation, also auf die Frage nach den fehlenden Einflussmöglichkeiten der Bürger.

Die Legitimation durch Teilhabe betrifft die Frage ob politische Entscheidungen aus den „authentischen Präferenzen der Mitglieder einer Gemeinschaft abgeleitet werden“ (Scharpf 1999b, S. 16). In unserem Fall ist anzunehmen, dass sich das Gefühl politischer Machtlosigkeit vor allem bei solchen Personen zeigt, deren Interessen im Zuge der Dominanz mächtigerer ökonomischer Interessen vernachlässigt wurden. Es ist die politische Entfremdung, die sich in den Subjekten als Gefühl politischer Machtlosigkeit zeigt, die bedingt, dass Personen von ihren Partizipationsrechten keinen Gebrauch mehr machen, sich also gewissermaßen von der Demokratie verabschieden.

Nach Jörke (2006) kommt es auch aus der Perspektive eines sehr geringen normativen Anspruchs an die Demokratie (der „realistischen“ Demokratietheorie Schumpeters) im Zuge der „Postdemokratie“ zu Defiziten hinsichtlich der Verwirklichung politischer Gleichheit. Im Übrigen ist auch empirisch vielfach gezeigt worden, dass sozialstrukturell desintegrierte Bevölkerungsgruppen ihre Partizipationsrechte seltener in Anspruch nehmen (Schäfer 2009; Klein und Heitmeyer 2010).

Legitimation durch Performanz betrifft die Qualität von Politikergebnissen, die das politische System bzw. die politischen Eliten erbringen, also die „Fähigkeit zur Lösung von Problemen“ (Scharpf 1999b, S. 20). Auf der Einstellungsebene geht es hier um Vertrauen der Bevölkerung in die Leistungsfähigkeit der Demokratie und die Problemlösungskompetenzen politischer Eliten. Bürger sind darauf angewiesen, ihr Vertrauen in politische Eliten neben Versprechungen und Ankündigungen an bisherigen politischen Erfolgen zu bemessen, d. h. an Veränderungen, die sich hinsichtlich ihrer eigenen Teilhabechancen und Desintegrationsrisiken bemerkbar machen. Weichen politische Eliten ohne nachvollziehbare Gründe von ihren Ankündigungen ab, befördern sie den Eindruck von Missachtung, ja von Lüge und Intransparenz und wenn sie gleichzeitig unsolidarische politische Entscheidungen implementieren, dann kommen den machtschwächeren Bürgern die Gründe für Vertrauen abhanden.

Die Deutung von politischem Misstrauen und Unzufriedenheit mit der Demokratie ist höchst unterschiedlich. Während einige Autoren dies als evaluative Haltung wacher Bürger interpretieren (z. B. Norris 1999; Geißel 2004a), gehen wir in Übereinstimmung mit Schaal (2008) und Schäfer (2009) davon aus, dass hinter dieser Entwicklung eine tiefgreifende politische Resignation und Apathie größerer Bevölkerungsteile steckt. Wichtige Hinweise darauf liefert uns der Umstand, dass Misstrauen, Unzufriedenheit mit der Demokratie und politische Entfremdung vor allem bei sozio-ökonomisch Benachteiligten zu finden sind und sich in geringer Partizipationsbereitschaft niederschlagen. Die aus dieser Perspektive antizipierten Folgen sind erheblich. Gelingt es nicht, diese Personengruppen politisch zu re-integrieren, dann haben solche politischen Gruppierungen gute Chancen auf Zustimmung, die Misstrauen und politische Entfremdung instrumentalisieren können, insbesondere also Gruppierungen, die im rechtspopulistischen Spektrum zu finden sind. Von mehr oder weniger charismatischen Führerpersönlichkeiten wird hier versucht, Sympathien zu gewinnen und über sogenannte „Volksnähe“ soll den von den politischen Eliten vernachlässigten Bürgern signalisiert werden, dass speziell ihre Interessen Berücksichtigung erfahren. In mehreren europäischen Ländern erwies sich die Strategie dieser Gruppen bereits als erfolgreich (vgl. Perger 2010). Wie sehr politische Entfremdung und Misstrauen gegenüber politischen Eliten ein rechtspopulistisches Meinungspotential in der Bevölkerung und insbesondere in den unteren Soziallagen befördern, zeigen auch unsere folgenden empirischen Analysen in Kap. 4.1

3.2 Ökonomistische Einstellungen und bindungslose Flexibilität

Die Auswirkungen einer Ökonomisierung der Gesellschaft auf die Subjekte, deren Selbstkonzept und Sozialleben, beschrieb Sennett bereits 1998. Durch den Anpassungsdruck in der ökonomischen Sphäre verändern sich die Subjekte und deren Sozialleben. So werden, das ist als schlagendes Beispiel genannt, vor dem Hintergrund von Existenzängsten bereits Medikamente von Gesunden konsumiert, um die Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Es wird soziale Zeit für Familie und Freundschaften zugunsten von Arbeitszeit eingeschränkt oder es werden soziale Kontakte gezielt und berechnend geknüpft. Diese Formen instrumentellen Denkens verselbständigen sich in gewisser Weise zu ökonomischen Verhaltensimperativen, die als Bewertungsmaßstab auf andere Sphären ausstrahlen, die gewissermaßen nur sekundär betroffen sind, und das Konkurrenzprinzip setzt sich im Kampf um Anerkennung auch in diesen Sphären fort. „Als Ausdruck des ‚Marktwerts‘ eines Individuums erscheinen dabei eben nicht nur der ökonomische Kurswert, sondern etwa auch der eingenommene Rang im Kampf um Bildungsabschlüsse und attraktive Intimpartner, um das hochwertigere Freundesnetz oder den größeren Schulerfolg der Kinder“ (Rosa 2006, S. 99).

Die der ökonomischen Sphäre eigenen Anforderungen (Flexibilität, Effizienz, Innovation, Mobilität) gehen zu Lasten der Langfristigkeit biographischer Planung und Vertiefung sozialer Bindungen. Ungewissheit und Instabilität wird zum Normalzustand. „‚Nichts Langfristiges‘ ist ein verhängnisvolles Rezept für die Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung“ (Sennett 2000, S. 27–28). Dieses Gefüge beschreibt auch Offe (2001, S. 270) als problematisch für die Ausbildung horizontalen Vertrauens der Bürger untereinander. Stattdessen besteht die Gefahr, dass „kategoriales“ Vertrauen, welches an exklusive Gruppenidentitäten gebunden ist und deshalb die Problematik des möglichen Ausschlusses von Nicht-Mitgliedern mitbringt, an Bedeutung gewinnt (ebd., S. 271 ff.).

Noch entscheidender für die Frage der Akzeptanz von Gleichwertigkeit ist jedoch, dass der normativ neutral daherkommende Maßstab der Leistung im Wettbewerb eine Abwertung bestimmter Personengruppen mit sich führt. „Weil der Schwache, Langsame, Unkreative, Unattraktive im freien und fairen Wettbewerb unterliegt, erfährt er ‚gerechte‘ soziale Missachtung und Geringschätzung im Sinne der Leistungsgerechtigkeit des Wettbewerbs“ (Rosa 2006, S. 98, Herv. i. O.).Footnote 9

Daran anknüpfend fragen wir im empirischen Teil (4.2), inwieweit marktförmige Imperative wie Effizienz, Nützlichkeit, Verwertbarkeit, Funktionsfähigkeit und Rentabilität das Denken der Menschen bestimmen und als Bewertungskriterien in der sozialen Sphäre herangezogen werden. Einerseits kann man erwarten, dass die Verstetigung solcher Einstellungen bei jenen Personengruppen geballt auftritt, die innerhalb der ökonomischen Sphäre ständig mit betriebswirtschaftlichen Berechnungen und Beurteilungen zu tun haben. Unter Vorstandsvorsitzenden, Managern aber auch Filialleitern und Unternehmern sollten ökonomistische Einstellungen dann gehäuft auftreten. Allerdings findet sich in diesen meist ökonomisch abgesicherten Personenkreisen nicht die beschriebene Desintegrationsgefährdung in der sozialstrukturellen Dimension und insofern ein geringerer Zwang zur Übernahme ökonomistischer Einstellungen. Das Hauptziel der empirischen Analyse besteht darin, die Zusammenhänge von ökonomistischen Einstellungen und flexibler Bindungslosigkeit mit der Abwertung von Gruppen herauszufinden, die aus der Perspektive marktwirtschaftlicher Kalkulationen als „nutzlos“ oder „überflüssig“ gelten. Solche Zuschreibungen dürften insbesondere Personen ohne festen Wohnsitz und langzeitarbeitslose Personen treffen, da diese keinen ökonomischen Mehrwert erwirtschaften. In den Fokus solcher Abwertungen geraten aber auch Migranten, die aufgrund der mangelhaften Förder- und Integrationspolitik schlechte Bildungschancen haben, häufiger mit Arbeitslosigkeit konfrontiert sind und dann im Hinblick auf volkswirtschaftliche Kalkulationen als „Nutznießer“ statt „Nutzenbringer“ betrachtet werden.

4 Empirische Ergebnisse

Unsere empirischen Analysen verlaufen entlang der zwei vorgestellten Analysepfade (Abb. 1). Als Ausgangspunkt wählen wir in beiden Fällen die soziale Desintegration in der sozialstrukturellen Dimension, die wir empirisch über einen Index aus Pro-Kopf-Einkommen, Bildungsabschluss und Berufsprestige ermitteln (Soziallage). Die empirischen Modelle behandeln im Unterschied zu dem analytischen Modell also nur die individuelle Ebene. Die Datengrundlage unserer Analysen sind repräsentative Befragungen,Footnote 10 die in den Jahren 2002–2009 im Rahmen des Projekts Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld durchgeführt wurden. Da es sich um repräsentative Stichproben für die Bundesrepublik Deutschland handelt, kann die empirische Überprüfung der Hypothesen unsere Argumentation nur exemplarisch stützen.

4.1 Ergebnisse zum ersten Analysepfad: Sozialstrukturelle Desintegration, politische Entfremdung, Misstrauen gegenüber politischen Eliten und rechtspopulistische Orientierungen

Es lässt sich empirisch zeigen, dass Misstrauen in politische Eliten und politische Entfremdung im Sinne des Gefühls politischer Machtlosigkeit in Deutschland weit verbreitet sind. Fast dreiviertel der Befragten sind der Meinung, dass Politiker bestehende Gesetze zu ihrem eigenen Vorteil umgehen und über 80 % meinen, dass Politiker sich mehr Rechte herausnehmen als normale Bürger (vgl. Tab. 1). Den Aussagen zur politischen Machtlosigkeit, die in hohem Maße negativ mit Partizipationsbereitschaft korreliert ist, stimmen die Befragten in etwas geringerem Umfang zu. Es wird jedoch deutlich, dass knapp die Hälfte der Befragten der Meinung ist, dass politisches Engagement sinnlos sei und zwei Drittel meinen, dass sie keinen Einfluss auf das Regierungshandeln hätten.

Tab. 1 Ausmaße politischer Entfremdung und Misstrauen gegenüber politischen Eliten, Zustimmung in Prozent GMF Befragung 2009

Ein Blick auf die Entwicklung dieser Einstellungen (Abb. 2 und 3) verdeutlicht zunächst, dass Misstrauen gegenüber politischen Eliten und politische Machtlosigkeit in den unteren sozialen Lagen (unterstes und zweites Quintil) weiter verbreitet sind als in den oberen Lagen (viertes und oberstes Quintil). Hinsichtlich der politischen Machtlosigkeit zeigt sich in den unteren beiden Quintilen ein Anstieg, besonders im zweiten Quintil hat das Gefühl der Machtlosigkeit zugenommen. Dies ist insofern bezeichnend, als dass sich in dieser Soziallage viele Arbeiter und eher gering qualifizierte Angestellte finden, deren politische Repräsentation infolge der skizzierten Demokratieentleerung schwindet. Im mittleren dritten Quintil und im vierten Quintil hat sich das Ausmaß an wahrgenommener politischer Machtlosigkeit zwischen 2002 und 2009 hingegen kaum verändert und auch im obersten Quintil zeigt sich erst 2009 ein leichter Anstieg des Gefühls politischer Machtlosigkeit (der mit den in dieser Gruppe wohl am ehesten spürbaren Auswirkungen der Finanzkrise in Verbindung stehen könnte), die Werte liegen aber immer noch deutlich unter denen der unteren Quintile.

Abb. 2
figure 2

Entwicklung der Wahrnehmung politischer Machtlosigkeit nach Soziallage, Mittelwerte (1–4), kumulierte GMF-Befragungen

Abb. 3
figure 3

Entwicklung des Misstrauens in politische Eliten nach Soziallage, Mittelwerte (1–4), kumulierte GMF-Befragungen

Insgesamt ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass sich die Soziallagen im Hinblick auf die empfundene politische Machtlosigkeit auseinander entwickeln. Waren die Mittelwerte der beiden unteren, des mittleren und des vierten Quintils im Jahre 2002 noch annähernd gleich, so zeigen sich im Jahre 2009 viel größere Differenzen. Das Gefühl der politischen Machtlosigkeit zeigt sich also in verstärktem Maße als Problem der unteren Soziallagen.

Die Entwicklung des Misstrauens in politische Eliten zeigt ebenfalls eine Auseinanderentwicklung der Quintile. Auch hier sind zum ersten Erhebungszeitpunkt die Mittelwerte der ersten vier Quintile annähernd gleich, wobei das oberste Quintil, wie auch im Fall der Wahrnehmung politischer Machtlosigkeit von Beginn an weniger betroffen ist. Dann entwickeln sich die Werte auseinander. Während für das mittlere und die beiden oberen Quintile ein Rückgang des Misstrauens sichtbar wird, bleibt das Misstrauen im zweiten Quintil auf hohem Niveau annähernd gleich. Im untersten Quintil ist nach einem leichten Anstieg des Misstrauens im Jahre 2006 nun ein Rückgang zu beobachten, die Werte liegen aber immer noch deutlich höher als in den oberen Soziallagen.

Wenn politische Entfremdung und Misstrauen in politische Eliten in den unteren Soziallagen mit autoritären Einstellungen zusammentreffen und zudem häufiger bei den sich selbst politisch rechts einstufenden Personen vorkommen (vgl. Klein und Heitmeyer 2010), dann ist die Gefahr, dass politische Enttäuschung in rechtspopulistische Einstellungsmuster umschlägt, hoch. Die Entwicklung der Mittelwerte rechtspopulistischer Orientierungen nach Soziallage zeigt, dass auch hier die unteren Quintile in höherem Maße gefährdet sind (Abb. 4). Zudem wird hier ebenfalls die Tendenz sichtbar, dass sich die Soziallagen auseinander entwickeln. Mit Blick auf das Jahr 2009 ist von besonderem Interesse, dass politische Entfremdung, Misstrauen gegenüber politischen Eliten und rechtspopulistische Orientierungen im abstiegsbedrohten zweiten Quintil noch häufiger vorkommen, als in der untersten Soziallage.

Abb. 4
figure 4

Entwicklung rechtspopulistischer Einstellungen nach Soziallage, Mittelwerte (1–4), kumulierte GMF-Befragungen

Im Strukturgleichungsmodell können wir den Zusammenhang zwischen Soziallage, politischer Entfremdung und Misstrauen mit rechtspopulistischen Orientierungen bestätigen (Abb. 5)Footnote 11 , Footnote 12. Je höher die Soziallage, desto geringer ist das Ausmaß wahrgenommener politischer Machtlosigkeit und das Misstrauen gegenüber politischen Eliten. Sowohl das Misstrauen als auch die wahrgenommene politische Machtlosigkeit begünstigen rechtspopulistische Einstellungsmuster. Personen aus der unteren Soziallage bilden also auch deshalb rechtspopulistische Einstellungen aus, weil sie sich politisch machtlos fühlen und den politischen Eliten nicht mehr vertrauen. Die Soziallage hat im Modell allerdings einen zusätzlichen direkten Einfluss auf rechtspopulistische Einstellungen, der über Faktoren vermittelt wird, die im Modell nicht berücksichtigt wurden, wie etwa Autoritarismus, und geringere Empathie.

Abb. 5
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Strukturgleichungsmodell zum Einfluss der objektiven sozialen Lage und politischer Entfremdung/politischem Misstrauen auf Rechtspopulismus im Strukturgleichungsmodell

Als Quelle demokratischer Einstellungen im Sinne der Akzeptanz von Gleichwertigkeit können wir also eine gelungene Integration in der sozialstrukturellen und der institutionellen Dimension benennen, die unter anderem auch dadurch erreicht wird, dass demokratische Entscheidungsprozesse und Grundwerte nicht umgangen werden. Die Prozess- und Erfolgsqualität der Demokratie erzeugt auch demokratische Einstellungen. Erweist sich die Realität der Demokratie aber zunehmend als mit Korruption durchsetzt und hinsichtlich der Interessen großer Bevölkerungsteile wenig responsiv, dann ist auch damit zu rechnen, dass sich Bürger von der Demokratie abkehren und rechtspopulistischen Orientierungen zuwenden. Tatsächlich können wir zeigen, dass rechtspopulistische Einstellungen besonders in den unteren, aber tendenziell in allen Soziallagen verbreitet sind (Abb. 4).

Wenn die Spannungen zwischen internationalem Wettbewerb, sozialer Integration und demokratisch-freiheitlicher Gesellschaftsordnung nicht überwunden werden können, kommen die autoritären Entwicklungen „wahrscheinlich durch den Haupteingang“ (Dahrendorf 1996, S. 1065; zit. n. Heitmeyer und Mansel 2003).

4.2 Ergebnisse zum zweiten Analysepfad: Sozialstrukturelle Desintegration, ökonomistische Einstellungen und die Abwertung von „Nutzlosen“ und „Überflüssigen“

Für die empirische Analyse unterscheiden wir zwei Einstellungskonstrukte, die die Ökonomisierung des Sozialen in den Einstellungen der Menschen repräsentieren.

Zum einen beleuchten wir, wie sehr das Verhältnis zu anderen Menschen im sozialen Nahraum mit ökonomischen Kriterien bewertet wird. Wir bezeichnen dieses Einstellungskonstrukt als Grad der „bindungslosen Flexibilität“. Damit erfassen wir berechnende Einstellungen zur Relevanz von Beziehungen und Kontakten. Zum anderen erfassen wir Einstellungen, die sich auf die Beurteilung von Menschen und Moral unter Effizienz- und Nützlichkeitskriterien beziehen. Dieses Konstrukt nennen wir „ökonomistische Einstellungen“.

Wir konnten bereits zeigen, dass ökonomistische Einstellungen in den unteren sozialen Lagen weiter verbreitet sind (Klein und Heitmeyer 2009; Heitmeyer und Endrikat 2008). Dies stützt unsere Annahme, dass diese Personen unter einem größeren Zwang stehen, ihr Leben an ökonomischen Imperativen auszurichten, weil ihre prekäre Lage einen ständigen Kampf um Verbesserung derselben bedeutet. Es ist allerdings durchaus möglich, dass sich unter ökonomischen Eliten ebenso ökonomistische Einstellungen finden, die weniger mit prekärer Lage in Zusammenhang stehen als mit habitualisierten Bewertungsmaßstäben. Auf der Basis einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung lassen sich dazu allerdings keine empirischen Aussagen treffen.

Ein knappes Drittel der Befragten stimmt Aussagen zu, die ökonomistische Einstellungen verraten (Tab. 2). Die Forderung nach weniger Rücksicht und Nachsicht gegenüber menschlichen Fehlern sowie eine Beurteilung von Menschen rein nach ihrem ökonomischen Nutzen ist also durchaus verbreitet. Den Aussagen, die Einstellungen zur bindungslosen Flexibilität verraten und sich auf die persönliche Anwendung ökonomischen Denkens im sozialen Nahraum beziehen, wird jedoch häufiger zugestimmt. So geben über sechzig Prozent der Befragten an, dass sie den Nutzen von Kontakten abschätzen und über vierzig Prozent meinen, dass es wichtigere Dinge als Beziehungen zu anderen gäbe.

Tab. 2 Ausmaße ökonomistischer Einstellungen und bindungsloser Flexibilität, Zustimmung in Prozent, GMF Befragung 2008

Ein Blick auf die Entwicklung der Einstellungen zur bindungslosen Flexibilität in den Soziallagen zeigt, dass ein instrumentelles Verhältnis zu sozialen Beziehungen in den unteren beiden, aber auch im mittleren Quintil weiter verbreitet ist als in den oberen Quintilen (Abb. 6). In der untersten Soziallage ist ein deutlicher Anstieg zu beobachten, während das zweite und mittlere Quintil keine signifikanten Veränderungen aufweisen und die oberen beiden Quintile im Jahre 2008 ebenfalls ein ähnlich hohes Ausmaß an Zustimmung zu Aussagen über bindungslose Flexibilität wie bereits im Jahr 2002 zeigen.

Abb. 6
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Entwicklung bindungsloser Flexibilität nach Soziallage, Mittelwerte (1–4), kumulierte GMF-Befragungen

Über die Entwicklung von ökonomistischen Einstellungen können wir kaum Aussagen treffen, da sie erstmals im Jahr 2007 erhoben wurden. Bis zum Jahr 2009 zeigt sich insgesamt ein Rückgang ökonomistischer Einstellungen, der auf das unterste und die beiden oberen Quintile zurückgeht, während im zweiten und mittleren Quintil das Ausmaß ökonomistischer Einstellungen stabil bleibt.

Ob die Annahme zutrifft, dass die Ökonomisierung des Sozialen über die Internalisierung ökonomistischer Einstellungen und die wachsende Zustimmung zu Aussagen über flexible Bindungslosigkeit Auswirkungen auf schwache Gruppen hat, die im Sinne ökonomischer Kosten-Nutzen-Kalkulationen als „überflüssig“ oder „nutzlos“ gelten, zeigt das folgende Strukturgleichungsmodell (Abb. 7)Footnote 13.

Abb. 7
figure 7

Strukturgleichungsmodell (vereinfachte Darstellung) zum Einfluss der objektiven sozialen Lage und ökonomistischer Einstellungen sowie flexibler Bindungslosigkeit auf abwertende Einstellungen gegenüber als „nutzlos“ etikettierten Gruppen

Zunächst ist auch hier zu sehen, dass ökonomistische Einstellungen und flexible Bindungslosigkeit in den unteren Soziallagen gehäuft auftreten. Weiterhin zeigt das Modell, dass ökonomistische Einstellungen eng mit abwertenden Einstellungen gegenüber Langzeitarbeitslosen, Obdachlosen und fremdenfeindlichen Einstellungen in Verbindung stehen. Die Regressionskoeffizienten sind hoch, was auf einen starken Zusammenhang hindeutet. Die flexible Bindungslosigkeit erklärt hingegen in deutlich geringerem Ausmaß fremdenfeindliche Einstellungen und die Abwertung langzeitarbeitsloser Personen. Die Forderung nach einer gesellschaftlichen Ausrichtung an ökonomischen Prinzipien ist also von größerer Bedeutung für die Akzeptanz von Gleichwertigkeit als die Präferenz für ökonomistische Prinzipien im persönlichen sozialen Umfeld. Der Einfluss der Soziallage auf abwertende Einstellungen gegenüber Obdachlosen wird vollständig vermittelt, d. h. Personen aus unteren Soziallagen werten Obdachlose nur deshalb stärker ab, weil sie ökonomistische Einstellungen haben. Auch feindselige Haltungen gegenüber Migranten und Langzeitarbeitslosen lassen sich über ökonomistische Einstellungen erklären, hier bleibt allerdings ein direkter Effekt der Soziallage bestehen, der vermutlich über andere, hier nicht berücksichtigte Faktoren vermittelt wird.

Es zeigt sich, dass instrumentelle Orientierungen im sozialen Nahraum und besonders die Forderung nach ökonomistischen Maßstäben im gesellschaftlichen Bereich die Akzeptanz von Gleichwertigkeit beschädigt, also Ideologien der Ungleichwertigkeit fördert (vgl. auch Heitmeyer und Endrikat 2008). Die dadurch in den Fokus der Abwertung geratenen Gruppen – wie Langzeitarbeitslose – sind prinzipiell „offen“, deshalb steigt für potentiell Zugehörige der Druck, sich von diesen abzugrenzen, um nicht selbst zum Ziel von Abwertung zu werden.

5 Schlussbetrachtung: Gefahren für demokratische Einstellungen

Das Grundmuster der Analyse von Gefahren für demokratische Einstellungen in der Bevölkerung basiert auf der These einer Kontrollverschiebung zwischen nationalstaatlicher Politik und globalem Kapital. Der Regulierungsverlust nationalstaatlicher Politik und das Desinteresse des globalen Kapitals an gesellschaftlicher Integration wirken negativ zusammen, wie die empirischen Ergebnisse zu den vorgestellten Analysepfaden zeigen. Rechtspopulistische Orientierungen und die Abwertung von Nutzlosen stellen zwei gravierende Gefahren für demokratische Einstellungen in der Bevölkerung dar. Dies gilt zumal in Zeiten von Krisen, wenn die Kernnormen sozialen Zusammenhalts wie Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität von weiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr als realisierbar angesehen werden (Heitmeyer 2010) und wenn die Unzufriedenheit in der Bevölkerung kein politisches Ventil findet (Klein und Heitmeyer 2010). Erkennbar ist eher eine politische Apathie, die kaum Ansätze einer demokratischen Repolitisierung eröffnet.

Auch die Entkopplung der Sphäre des Sozialen von ökonomischen Zwängen, etwa durch ein Grundeinkommen, verspricht letztlich wenig Optimismus. Zwar könnte dies einen Beitrag zur Repolitisierung leisten, weil z. B. betriebliche Anliegen angstfreier kollektiv verfolgt werden könnten. Es ist aber nicht klar, wie dadurch die Einflusslosigkeit nationalstaatlich-demokratischer Entscheidungsorgane „umgedreht“ werden soll. Diese ist aber der Ausgangspunkt politischer Entfremdung und ökonomistischer Denkweisen, die den Bestand demokratischer Mentalitäten gefährden.