1 Einleitung

Obwohl der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg vielfach belegt wurde und bereits die Ergebnisse der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000 auf systematische Länderunterschiede in den Übergangs- und Beteiligungsquoten sowie im Ausmaß der sozialen Segregation verweisen, bleiben die zunehmende Vielgestaltigkeit des deutschen Schulwesens sowie Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen in der empirischen Bildungsforschung mehrheitlich nach wie vor nahezu unberücksichtigt. Das gilt insbesondere für länderspezifisch variierende Regularien zum Schulübertritt in die Sekundarstufe I. Das gemeinhin bekannte System aus Grund-, Haupt-, Realschule und dem Gymnasium wurde in jüngster Zeit vielerorts reformiert. Bildungsgänge der Sekundarstufe wurden abgeschafft, zusammengelegt oder zumindest mit neuem Namen versehen. Mit Ausnahme der relativen Beständigkeit von Gymnasien sind (zumindest auf den ersten Blick) kaum noch Gemeinsamkeiten zwischen den (Sekundar-)Schulsystemen der Länder erkennbar.

Vor dem Hintergrund immer neuer Bildungsreformbemühungen, deren Ziel nicht zuletzt im Abbau von Ungleichheiten beim Bildungserwerb begründet liegt, wird deutlich, dass ungleichheitssoziologische Studien die Berücksichtigung institutionell-struktureller Rahmenbedingungen erfordern. In der Literatur werden vereinzelt zwar Länderunterschiede thematisiert, allerdings erfolgt deren Einbezug wenig differenziert, etwa indem nur sehr einfache und statische Kategorisierungen (bspw. Bayern und Baden-Württemberg vs. übrige Bundesländer oder alte vs. neue Bundesländer) verwendet werden, sodass die institutionellen Zusammenhänge undifferenziert bleiben. Ausgehend von der Annahme, dass die Gestaltung der Über- und Eingangsphase beim Wechsel in die Sekundarstufe I primäre und sekundäre Herkunftseffekte moderiert, beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit der Bedeutung von Unterschieden in den institutionellen Strukturen des Bildungswesens für den Bildungserfolg im Allgemeinen sowie für soziale Bildungsungleichheiten im Speziellen. Dabei sind zwei Aspekte von übergeordnetem Interesse. Es stellt sich die Frage, ob sich aus der Vielfalt der Schulsysteme bestimmte Schulstrukturen ausmachen lassen, die in Bezug auf Durchlässigkeit und Chancengleichheit zu bevorzugen sind. Die Arbeit soll außerdem einen Beitrag dazu leisten, wie man Unterschiede und Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen trotz mangelhafter Datenlage differenzierter als bisher geschehen berücksichtigen kann. Dazu werden im Anschluss an theoretische Überlegungen und bisherige empirische Befunde (Abschn. 2) zunächst ausgewählte Strukturmerkmale herausgearbeitet, durch die sich einzelne Schulsysteme unterscheiden lassen. In einem zweiten Schritt wird dann versucht, die Vielfalt der Länderunterschiede auf Basis schulgesetzlicher Bestimmungen zu systematisieren (Abschn. 3). Diese Übersicht dient als Grundlage, um mit Daten des sozio-ökonomischen Panels den Einfluss unterschiedlicher Schulstrukturen und Übertrittsbestimmungen auf den Bildungserfolg zu prüfen. Analyseebene sind demnach nicht die Bildungssysteme einzelner Bundesländer im Rahmen eines gezielten Ländervergleichs, sondern die jeweiligen institutionellen Strukturen zum Zeitpunkt des Schulübertritts. Eine Beschreibung der Daten und Operationalisierungen erfolgt in Abschn. 4. Die Ergebnisse der empirischen Analysen zum Einfluss von Unterschieden bei der institutionellen Leistungsdifferenzierung und in der Ausprägung der Übergangsregularien auf die Bildungschancen werden in Abschn. 5 dargestellt und anschließend diskutiert (Abschn. 6).

2 Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand: Schulwesen und sozialschichtspezifisch variierender Bildungserfolg

Für die Erklärung und Analyse von ungleichen Bildungschancen hat Boudon (1974) mit der Unterscheidung von primären und sekundären Herkunftseffekten einen Meilenstein gesetzt. Demzufolge lassen sich Übergangsprozesse und damit verbundene sozialstrukturelle Ungleichheiten beim Bildungszugang auf zwei wesentliche Aspekte zurückführen, namentlich auf schichtspezifisch variierende Leistungsunterschiede (primärer Effekt) und auf den von Leistungsunterschieden unabhängigen Einfluss der sozialen Herkunft auf das Entscheidungsverhalten (sekundärer Effekt). Um die zentralen Mechanismen und Prozesse der Bildungsentscheidung in ein theoretisches Konzept einzubetten, haben sich in Anlehnung an Boudon (1974) verschiedene Rational-Choice-Modelle etabliert, die sich bei der Erklärung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Übergangsverhalten vornehmlich auf die sekundären Effekte konzentrieren. Grundsätzlich wird argumentiert, dass Eltern in Abhängigkeit der Schichtzugehörigkeit auch bei gleichen Leistungen der Kinder typische Kosten-Nutzen-Kalkulationen anstellen, die im Wesentlichen auf der subjektiv eingeschätzten Erfolgswahrscheinlichkeit und dem Bildungsnutzen basieren. Dem Motiv des Statuserhalts kommt eine zentrale Bedeutung zu, wonach das vordergründige Ziel von Familien darin besteht, einen sozialen Abstieg zu vermeiden. Weiter wird angenommen, dass der Statuserhalt unabhängig von der Schichtzugehörigkeit als gleichermaßen wichtig erachtet wird und die Sicherung der sozialen Position in Abhängigkeit der eigenen sozialen Herkunft dann mit mehr oder weniger anspruchsvollen Bildungsabschlüssen gelingt (vgl. Breen und Goldthorpe 1997; Erikson und Jonsson 1996; Esser 1999; für einen Überblick auch Kristen 1999). In diesem Zusammenhang wird auch der Einfluss institutioneller Modalitäten auf den Bildungserfolg diskutiert, da Bildungsentscheidungen vor dem Hintergrund der jeweiligen Rahmenbedingungen getroffen werden. In der Literatur wird für Deutschland vor allem die bundeslandspezifische Ausgestaltung der Grundschulempfehlung betont. Und nicht zuletzt durch die Schulstrukturdebatte in Hamburg, wo die Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre verlängert werden sollte, ist auch die Frage nach dem „richtigen“ Zeitpunkt der institutionellen Leistungsdifferenzierung wieder stärker in den öffentlichen Fokus gerückt.Footnote 1 Gemäß der Terminologie von Rational Choice lassen sich Unterschiede im Aufbau des Schulwesens und in den Modalitäten bei der Wahl des Bildungswegs als Opportunitäten oder Restriktionen verstehen. Bildungssysteme tragen folglich zur Reduktion oder Verstärkung von (sozialer) Bildungsungleichheit bei, da „die rechtlichen Regelungen [den Rahmen beschreiben], innerhalb dessen Kosten- und Nutzenabwägungen stattfinden und in dem die endgültige Bildungsentscheidung getroffen wird“ (Gresch et al. 2009, S. 234).

Susanne von Below (2002) hat erstmals eine detaillierte Untersuchung des Zusammenhangs von konkreten Unterschieden in den Schulsystemen und dem individuellen Bildungserfolg unternommen. Mit Daten des Mikrozensus prüft von Below den Einfluss der Bildungssysteme auf die Bildungsbeteiligung von Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren. Anhand von ausgewählten Strukturmerkmalen, Inhalten und Kontrollelementen hat sie eine Typologie von Bildungssystemen entwickelt, welche in den empirischen Analysen einander gegenüber gestellt werden. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es in allen Bildungssystemen soziale Ungleichheiten gibt, diese sich aber grundlegend zwischen den verschiedenen Typen unterscheiden, wobei sowohl die vorhandene Regelung von Strukturen als auch von Inhalten für soziale Ungleichheiten bedeutsam ist. Die Analysen beschränken sich allerdings auf Unterschiede zwischen den neuen Bundesländern (Stand 1997) und sind vor dem Hintergrund zahlreicher Bildungsreformen und dem einhergehenden Wandel des Schulsystems nicht mehr aktuell. Dennoch bestätigen sie die Annahme, dass (soziale) Bildungsungleichheiten durch schulstrukturelle Besonderheiten moderiert werden. Die Mehrheit der bisherigen Untersuchungen zu Schulformeffekten beschränkt sich allerdings auf stärker verallgemeinerte Analysen zum Einfluss von Länderunterschieden auf die Bildungschancen auf Basis von bundesweiten Daten (vgl. Artelt et al. 2001; Baumert et al. 2002; Lohmann und Groh-Samberg 2010; Neugebauer 2010) oder auf solchen von einzelnen Bundesländern (vgl. Dollmann 2011). Abgrenzungen oder Gruppierungen werden (mit Ausnahme einer Studie von Gresch et al. 2009 und einer aktuellen Studie von Jähnen und Helbig 2015; dazu auch Füssel et al. 2010) mehrheitlich auf Länder- oder regionaler Ebene vorgenommen, ohne dass Einzelheiten oder Merkmale der länderspezifisch unterschiedlichen Bildungssysteme in deren Entwicklung explizit berücksichtigt werden. Im Folgenden wird zunächst auf die theoretische und empirische Bedeutung ausgewählter schulstruktureller Besonderheiten für den Bildungserfolg eingegangen.

2.1 Die Bedeutung der Dauer der gemeinsamen Beschulung

Die Frage nach der angemessenen Dauer der gemeinsamen Beschulung ist nicht neu, sie wird aber nach wie vor strittig diskutiert. Um die Aufmerksamkeit auf schulformbezogene Schulumwelten für die kognitive Entwicklung zu lenken, haben Baumert und Köller (1998) vorgeschlagen, Schulformen als differenzielle Lern- und Entwicklungsmilieus zu betrachten (vgl. auch Baumert et al. 2007). Dem zugrunde liegt die Annahme, dass die Leistungsentwicklung an den verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I unterschiedlich verläuft, da sich das Leistungs- und Sozialniveau zwischen verschiedenen Schulformen deutlich unterscheidet, weil die soziale und kognitive Zusammensetzung der Schülerschaft innerhalb von Schulformen relativ homogen ist (vgl. Szczesny und Watermann 2011) und daher „die Übergangsauslese zu den weiterführenden Schulen am Ende der Grundschulzeit [..] zu leistungsmäßig, aber auch sozial sehr unterschiedlich zusammengesetzten Schülerschaften an den Sekundarschulformen“ (Baumert und Köller 1998, S. 16) führt.

Einerseits wird argumentiert, dass eine begabungsgerechte Förderung und ein maximales Lernergebnis für alle Schüler nur durch die frühe Schaffung eines homogenen Lernumfeldes gewährleistet werden kann, obwohl eine „differenzielle Förderwirkung grundständiger Gymnasialangebote“ bisher nicht nachgewiesen werden konnte (vgl. Baumert et al. 2009). Andererseits bietet ein heterogenes Lernumfeld im Sinne eines leistungsfähigen Lernmilieus mehr Raum für den Ausgleich unterschiedlicher Ausgangsbedingungen, die weder das Elternhaus noch einseitige schulische Entwicklungsmilieus zu kompensieren vermögen (vgl. Klafki 2001; Baumert et al. 2003). Demnach sollte sich eine längere gemeinsame Beschulung positiv auf die Leistungsentwicklung von leistungsschwachen Schülern auswirken, ohne dass leistungsstarke Schüler darunter leiden. Die postulierten Zusammenhänge rekurrieren jeweils auf die (analytische) Unterscheidung zwischen primären und sekundären Effekten sowie auf deren relative Bedeutung für Bildungsentscheidungen. Uneinigkeit besteht vorwiegend darin, ob und vor allem wie sich unterschiedliche Selektionszeitpunkte auf die Leistungsentwicklung von Schülern auswirken. Im Fokus stehen damit zunächst die primären Herkunftseffekte und die Frage nach dem Potenzial und der Reichweite der Grundschule diese ungleichen Ausgangsbedingungen, vermittelt über Unterschiede in der familialen Ressourcenausstattung, durch das Prinzip des gemeinsamen Lernens und einem dadurch leistungsfähigeren Leistungsmilieu zu beeinflussen. Denn obwohl auch die Beurteilungen seitens der Lehrer nicht frei von Schichteneffekten sind (vgl. Ditton und Krüsken 2006; Schneider 2011; Wiese 1982), sind die Schulnoten der Kinder für die Lehrer sicherlich die wichtigste Orientierungsgröße (vgl. Ditton et al. 2005). Und auch für die Eltern gelten sie als wesentlicher Bestimmungsfaktor subjektiver und objektiver Erfolgserwartungen. Da sich primäre und sekundäre Herkunftseffekte gegenseitig bedingen, sollten dann auch schichtspezifische Ausprägungen der Erfolgswahrscheinlichkeit durch die unterschiedlichen Zeithorizonte beeinflusst werden. Kurz: Es „wird angenommen, dass sich primäre Effekte des Herkunftsstatus […] vermittelt über die Ausprägung der Erfolgserwartungen auf die Bildungsentscheidung auswirken“ (Stocké 2008, S. 5523). Hinsichtlich der Einflussmöglichkeit bildungspolitischer Maßnahmen mit dem Ziel der Ungleichheitsreduktion, stellt sich an dieser Stelle auch die Frage nach der relativen Wichtigkeit von primären und sekundären Effekten bei der Erklärung von Bildungsentscheidungen. National wie international ist der Forschungsstand eher spärlich, die für Deutschland vorliegenden Untersuchungen kommen je nach Operationalisierung, Methode und verwendeten Daten zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Müller-Benedict (2007) kommt zu dem Ergebnis, dass primäre und sekundäre Effekte in etwa von gleicher Bedeutung sind, bei Neugebauer (2010) verantworten primäre Effekte etwa 40 % der Ungleichheit am Übergang auf das Gymnasium und bei Stocké (2007a, 2008) variiert der Anteil sekundärer Effekte zwischen 30 und gut 80 %. Fest steht aber, dass beiden Effekten eine wichtige Rolle bei der Erklärung von Bildungsungleichheiten zukommt. Da primäre und sekundäre Effekte nicht unabhängig voneinander operieren, kann davon ausgegangen werden, dass Unterschiede in der Dauer der gemeinsamen Beschulung (und der sich daraus ergebenden Leistungsentwicklung) einen Einfluss auf soziale Disparitäten haben. Weil aber „eine Vielzahl von […] Wirkmechanismen denkbar ist […]“ (Wößmann 2008, S. 509), sind die Konsequenzen unterschiedlicher Selektionszeitpunkte aus theoretischer Sicht umstritten und „[es handelt] sich bei den Auswirkungen der schulischen Selektion letztlich um eine empirische Frage“ (Wößmann 2008, S. 509).

Die wenigen Ergebnisse der Forschung zur Frage der adäquaten Dauer der gemeinsamen Beschulung sind nicht ganz eindeutig. Es gibt zwar eine ganze Reihe an Untersuchungen, die belegen, dass es an den verschiedenen Schulformen der Sekundarschule zu differenziellen Lernverläufen kommt (vgl. Baumert et al. 2009), andererseits finden sich auch Studien, die zeigen, dass diese „Effekte in Abhängigkeit von Schulstufe, Unterrichtsfach und Auswertungsmethode [variieren]“ (Baumert et al. 2009, S. 193). Darüber hinaus muss im Rahmen dieser Analysen offen bleiben, inwieweit „die Befunde einer institutionellen Leistungsdifferenzierung auch auf eine frühe Programmdifferenzierung in der kritischen Phase zum Ende der Grundschulzeit übertragbar sind […] (ebd.). Als im Jahr 2008 der Abschlussbericht der Berliner ELEMENT-Studie veröffentlicht wurde, erreichte die Schulstrukturdebatte um die Dauer der Grundschule und die frühe Sortierung auf die verschiedenen Sekundarschulformen einen neuen Höhepunkt. Beim Vergleich der Leistungen von Kindern in den Jahrgangsstufen vier bis sechs kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass eine sechsjährige Grundschule bereits am Ende der vierten Klasse bestehende Leistungsunterschiede nicht kompensieren kann und Schüler, die eine solche Grundschule besuchen, am Ende der sechsten Klasse nicht einmal das Kompetenzniveau erreicht haben, das Kinder mit frühen Übergängen auf das Gymnasium bereits bis zum Ende der vierten Klasse hatten. Den negativen Effekt der sechsjährigen Grundschule führen die Autoren u. a. auf ein weniger anspruchsvolles Lern- und Entwicklungsmilieu gegenüber grundständigen Gymnasialklassen zurück (vgl. Lehmann und Lenkeit 2008). Die Studie wurde allerdings vielfach kritisiert, weil methodische Mängel und Grenzen nicht ausreichend aufgezeigt wurden, sodass zumindest die (öffentliche) Darstellung der Ergebnisse irreführend war. Durch die zeitgleichen Verhandlungen über die mögliche Verlängerung der Grundschulzeit in Hamburg wurden die Befunde zum Politikum und (zu Unrecht) als grundlegendes Argument gegen die geplante Schulreform angeführt. So können Baumert und Kollegen (2009) die Befunde nicht replizieren. Ebenfalls mit den Daten der ELEMENT-Studie kommt die Forschergruppe zu dem Ergebnis, dass „im Vergleich zur Grundschule […] kein differenzieller Fördereffekt des zweijährigen Besuchs eines grundständigen Gymnasiums auf die Lesekompetenz nachweisbar [ist]“ (Baumert et al 2009, S. 206). Während Lehmann und Lenkeit das Kompetenzniveau fokussiert haben, um ihre Erwartungen zu bestätigen, analysieren Baumert et al. den Leistungszuwachs, um zu zeigen, dass die „Entwicklungskurven von Spitzenschülern […] in der Grundschule und in der Unterstufe des grundständigen Gymnasiums parallel [verlaufen]“ (Baumert et al 2009, S. 211 f). Einen positiven Effekt einer sechsjährigen Grundschule für den Ausgleich sozialer Disparitäten können aber auch letztere nicht nachweisen.

Neumann und Ziegenspeck (1979) vergleichen die Bildungsbeteiligung verschiedener Sozialschichten vor und nach der Einführung der schulformunabhängigen Orientierungsstufe (im Folgenden OS) in Niedersachsen und kommen zu dem Schluss, dass „die Einführung der Orientierungsstufe […] zu einer Verbesserung der Chancengleichheit [beiträgt] […]“ (Neumann und Ziegenspeck 1979, S. 164). Da die Untersuchung erhebliche methodische Mängel aufweist, muss deren empirische Aussagekraft allerdings angezweifelt werden (vgl. hierzu auch Schuchart 2003, S. 405, 2006, S. 126 ff). Eckes und Haenisch (1979) können mit Daten für Rheinland-Pfalz keine kompensierende Förderwirkung der schulformübergreifenden OS finden. Zu dem Ergebnis, dass „die Orientierungsstufe die Bedingungen für eine sichere Schulformzuweisung und den Ausgleich von sozialer Benachteiligung beim Übergang auf die Schulformen der Sekundarstufe nicht in der intendierten Weise zu schaffen vermag“ (Schuchart 2006, S. 254, auch 2003) kommt auch Claudia Schuchart mit Daten von niedersächsischen Schülern.

Die vorstehenden Untersuchungen stammen überwiegend aus den 1980er Jahren und sind als Einzelfallstudien angelegt oder beschränken sich auf Modellversuche. Darüber hinaus wurden sie zeitgleich zur parallel verlaufenden Bildungsexpansion durchgeführt, sodass fraglich ist, inwieweit sich die Ergebnisse von den mit der Einführung der OS intendierten Fördermaßnahmen trennen lassen. Dagegen verweisen internationale Vergleichsstudien eindeutig auf den negativen Zusammenhang einer frühen Leistungsselektion und dem Ausmaß an sozialer Ungleichheit (z. B. Wößmann 2007, 2008). Je früher die Schüler auf unterschiedliche Bildungsgänge aufgeteilt werden, desto größer ist die Leistungsvarianz im Gesamtsystem und desto stärker wird der spätere Bildungserfolg vom familialen Hintergrund determiniert. Dagegen lassen sich auf Basis der vorhandenen Datenlage keine belastbaren Aussagen treffen, die eine bessere Förderung durch die frühe Leistungsdifferenzierung bestätigen. Gleichzeitig gibt es keine Hinweise dafür, dass eine spätere Selektion mit einem geringeren Leistungsniveau einhergeht (vgl. Wößmann 2008).Footnote 2 Beim Blick auf die breite international vergleichende Literatur zum Einfluss unterschiedlicher Schulstrukturen, muss die unterschiedliche Bedeutung verschiedener Begrifflichkeiten, wie Tracking, Ability Grouping oder Streaming berücksichtigt werden. So lassen sich zwar zahlreiche weitere Länder identifizieren, die ebenfalls stark selektive Schulsysteme haben, allerdings findet die erste Selektionsentscheidung mehrheitlich erst im Alter von 15 Jahren oder später statt (vgl. Buchmann und Park 2009, S. 246, für eine ausführliche Übersicht auch Brunello und Checchi 2006, S. 45). Dagegen ist im amerikanischen Raum in diesem Zusammenhang überwiegend die schulische Platzierung innerhalb eines „Gemeinschaftsschulsystems“ mit lediglich getrenntem Kurssystem gemeint (vgl. ebd., auch Hoffer 1992). Wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, so zeigt sich mehrheitlich, dass sich soziale Ungleichheiten durch die frühe Selektion verstärken. Im Hinblick auf Testleistungen finden sich zwar einerseits Belege, dass herkunftsbedingte Unterschiede in der Leseleistung durch eine frühe Selektion abgebaut werden (vgl. Brunello und Checchi 2006; Figlio und Page 2002). Andere Autoren kommen dagegen zu dem Ergebnis, dass sich das mittlere Leistungsniveau in einzelnen Fächern durch ein frühes Tracking verbessert (vgl. Hanushek und Wößmann 2006). Werden dagegen die Bildungsergebnisse anstelle von Testleistungen betrachtet, herrscht weitestgehend Übereinstimmung, dass familiale Herkunftseinflüsse in früh selektierenden Ländern verstärkt werden (vgl. Hanushek und Wößmann 2006; für einen Überblick Brunello und Checchi 2006).Footnote 3

2.2 Herkunftsspezifische Bildungsentscheidung in Abhängigkeit des Empfehlungsstatus des Grundschulgutachtens

Im Zuge schulpolitischer Maßnahmen hat sich in Deutschland ein Übergangsverfahren mit „Gewaltenteilung“ etabliert (vgl. Jürgens 1989a, S. 397), in dem die Entscheidungspflicht der Schule der Freigabe des Elternwillens gegenübersteht. Wenngleich die Trennung von primären und sekundären Effekten vor allem analytischer Natur ist und in der Entscheidungssituation alle relevanten Faktoren berücksichtigt werden, definiert der Grad der individuellen Wahlfreiheit in der Logik von Rational Choice den zur Verfügung stehenden Möglichkeitsspielraum zur Realisierung priorisierter Bildungsentscheidungen und zielt damit vor allem auf eine entsprechend variierende Bedeutung sekundärer Effekte. Theoretisch wie empirisch wird mehrheitlich davon ausgegangen, dass soziale Disparitäten in der Bildungsbeteiligung durch einen bindenden Empfehlungsstatus abgebaut werden. Denn den grundlegenden Annahmen der Rational-Choice-Theorie zufolge sind Familien vordergründig daran interessiert, ihre soziale Position zu halten. Bildungsentscheidungen orientieren sich demzufolge maßgeblich am Motiv des Statuserhalts. Zwar wurde vielfach belegt, dass Eltern ihre Kinder vorwiegend an den von den Lehrern empfohlenen Schulformen anmelden. Korrekturen nach oben werden nur selten vorgenommen (auch weil Eltern mehrheitlich die zum Statuserhalt nötige Empfehlung erhalten), aber die Wahrscheinlichkeit einer Höheranmeldung ist für Angehörige oberer Schichten signifikant erhöht gegenüber den bildungsfernen Schichten, insbesondere wenn nach oben abweichende Bildungsübergänge mit zusätzlichen Kosten verbunden sind (vgl. Bellenberg 2012a; Bos und Lintorf 2007; Ditton und Krüsken 2006; Gresch et al. 2009; Lohmann und Groh-Samberg 2010; Schauenberg 2007). Durch eine unverbindliche Grundschulempfehlung wird also auch bei gleichen Leistungen der Kinder das ungleiche Entscheidungsverhalten zwischen den Sozialschichten forciert, weil sich die herkunftsbedingte Bildungsungleichheit über zwei Mechanismen reproduzieren kann: (Bildungsferne) Eltern können stets Schulanmeldungen tätigen, die unter den Lehrerempfehlungen angesetzt sind. Daneben besteht aber die Möglichkeit, den gewünschten Übergang auch dann mühelos zu realisieren, wenn Eltern mit ihren Aspirationen über der Empfehlung liegen. Da sich Lehrer deutlich stärker an den Leistungen der Kinder orientieren als Eltern, sollte eine verbindliche und allgemeingültige Übergangsregelung auf Basis von stärker leistungsorientierten (objektiven) Kriterien die schichtspezifisch übersteigerten Bildungswünsche von statushohen Familien also korrigieren und sekundäre Herkunftseffekte abfedern. Lediglich vereinzelt wird darauf verwiesen, dass Schulsysteme mit erleichterten Übergangsmöglichkeiten zu einem Rückgang sozialer Selektivitäten beigetragen haben (vgl. Schimpl-Neimanns 2000). Der kurze Verweis, dass die Freigabe des Elternwillens der ebenfalls selektiven Empfehlungspraxis der Lehrer entgegenwirkt, greift aber zu kurz, u. a. weil „Schichteneffekte“ seitens der Lehrer nachweislich geringer ausfallen, als familiale Herkunftseffekte.Footnote 4

Gresch et al. (2009) haben erstmals eine detaillierte empirische Überprüfung dieser Zusammenhänge unternommen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass sich der Herkunftseffekt in Bundesländern mit freiem Elternwillen erwartungsgemäß noch verstärkt und Eltern aus privilegierten Verhältnissen ihre Kinder häufiger auch ohne entsprechende Empfehlung am Gymnasium anmelden. Die Annahme, dass Schüler ohne Empfehlung für das Gymnasium stärker von der Freigabe des Elternwillens profitieren, wenn sie aus Elternhäusern mit hohem Bildungsniveau kommen, kann im Rahmen der Analysen von Gresch et al. (2009) allerdings nicht ausnahmslos bestätigt werden. Denn „auch wenn sich ein statistisch bedeutsamer differenzieller Herkunftseffekt nur in den Bundesländern ohne bindende Empfehlung nachweisen lässt, ist die Differenz dieses Effekts zwischen Ländern mit bindenden und nicht bindenden Empfehlungen nicht statistisch bedeutsam […]“ (Gresch et al. 2009, S. 250). Auch in der Untersuchung von Neugebauer (2010), der mit Daten des DJI-Kinderpanels zu dem Ergebnis kommt, dass „der Entscheidungsprozess […] in Ländern mit verbindlicher GSE [Grundschulempfehlung, Anm. d. A.] meritokratischer [ist]“ (Neugebauer 2010, S. 208), muss aufgrund der Datenlage offen bleiben, inwieweit sich die relative Bedeutung von sekundären Effekten zwischen Ländern mit verbindlichem und unverbindlichem Empfehlungsstatus signifikant unterscheidet (vgl. Neugebauer 2010, S. 208.). Mit Daten aus Nordrhein-Westfalen vergleicht Dollmann (2011) das Übergangsverhalten vor und nach der Einführung eines verbindlichen Übergangsverfahrens. Seine Ergebnisse stützen den Befund, dass der Einfluss von Herkunftseffekten durch ein bindendes Lehrergutachten reduziert wird, insbesondere bei bildungsaffinen Familien, deren Kinder allenfalls mittelmäßige Leistungen aufweisen. Die Befunde lassen sich allerdings nicht immer zufallskritisch absichern. Im Rahmen eines Vergleichs von Deutschland und Italien untersuchen Bratti et al. (2012) den Einfluss von Strukturen des Bildungssystems auf den Bildungserfolg. Die Autoren kommen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Herkunftseffekte mit zunehmender Rigidität des Schulsystems an Bedeutung verlieren. Innerdeutsche Unterschiede werden lediglich im Rahmen eines Vergleichs von Bayern und Baden-Württemberg vs. übrige Länder berücksichtigt. Demgegenüber kann eine aktuelle Untersuchung zum Einfluss schulrechtlicher Reformen zwischen den Bundesländern die bisherigen Befunde nicht ausnahmslos bestätigen. Die Berechnungen zum Einfluss der Bindekraft von Empfehlungen in Abhängigkeit der Sozialschicht auf den Gymnasialübergang basieren auf Daten des Mikrozensus und berücksichtigen vier Reformzeitpunkte zwischen den Schuljahren 1978 und 2009. Für Niedersachen und Rheinland-Pfalz wurde die Abschaffung bindender Empfehlungen, für Nordrhein-Westfalen und Brandenburg deren Einführung betrachtet. Entgegen ihren Erwartungen können die Autoren für die höheren Bildungsgruppen keinen stärkeren Anstieg in den Gymnasialquoten nach der Abschaffung von bindenden Grundschulempfehlungen nachweisen. Darüber hinaus verweisen die Befunde auf einen Anstieg in der Gymnasialpartizipation bei den weniger privilegierten Bildungsgruppen im Zuge der Einführung verbindlicher Empfehlungen. Die Annahme einer zunehmenden sozialen Ungleichheit durch die Abschaffung bindender Empfehlungen oder eines entsprechenden Rückgangs durch deren Einführung konnte nicht bestätigt werden (vgl. Jähnen und Helbig 2015).

3 Systematisierung von Unterschieden in den Bildungssystemen: Gestaltung der Übergangs- und Eingangsphase beim Übergang in die Sekundarstufe I

Die Struktur des Bildungswesens konstituiert also „Regelungen, die Entscheidungsmöglichkeiten und ihre Grenzen definieren“ (vgl. Hillmert 2005, S. 178). Um die Bedeutung von institutionellen Unterschieden für den Bildungserfolg einer gezielten empirischen Überprüfung unterziehen zu können, werden nachfolgend aus der Perspektive des „Gesamtsystems Schule“ heraus exemplarische Strukturmerkmale fokussiert, die sich dann über die Bundesländer hinweg im Zeitverlauf systematisieren lassen.

Um die Gestaltung der Über- und Eingangsphase über die Länder hinweg systematisieren zu können, werden relevante Aspekte im Aufbau des Schulsystems und in den Übergangsmodalitäten unter die beiden Merkmale Dauer der gemeinsamen Beschulung und Empfehlungsstatus der Grundschulempfehlung subsumiert. Auf Grundlage der jeweiligen Schulgesetze der Länder von 1985 bis 2010 sowie den zugehörigen Verordnungen und Erlassen wurden die Ausprägungen dieser beiden Aspekte über die Zeit rekonstruiert. Die Rekonstruktion schulgesetzlicher Regelungen hat sich als problematisch erwiesen, da im Zeitverlauf unzählige Verordnungen, Änderungsgesetze und Neufassungen erlassen wurden, die mitunter nur aus den nachfolgenden Dokumenten hervorgehen und diese auch nicht immer verfügbar sind. Notwendigerweise wurde die Gestaltung der Übergangs- und Eingangsphase zwischen einzelnen Jahren teilweise nur erschlossen, wenn Dokumente nicht zugänglich waren und sich der Wortlaut von relevanten Paragrafen zwischen den Jahren nicht verändert hat. Es wird nicht der Anspruch verfolgt, alle Schulsysteme der BRD in ihrer Gesamtheit nachzuzeichnen. Vielmehr liegt das Bestreben darin, ausgewählte Aspekte anhand von schulgesetzlichen Bestimmungen im Verlauf abzubilden und auf diese Weise Bedingungen zu beschreiben, unter denen der Schulübertritt vollzogen wurde und denen die Bundesländer im Rahmen einer langfristigen Perspektive zugeordnet werden können. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die Entwicklungen bei der Dauer der gemeinsamen Beschulung und über Veränderungen beim Empfehlungsstatus der Grundschulempfehlung in den Ländern der Bundesrepublik zwischen 1985 und 2010.

Abb. 1:
figure 1

Dauer der gemeinsamen Beschulung und Empfehlungsstatus von 1985 bis 2010

3.1 Dauer der gemeinsamen Beschulung

Allen Bildungssystemen in Deutschland gemein ist der gegliederte Aufbau des Schulwesens: Auf eine für alle Kinder verpflichtende Grundschule folgen verschiedene weiterführende Bildungsgänge. Das Prinzip des gemeinsamen Lernens in den ersten Schuljahren war in allen Bundesländern schon immer obligatorisch. Die schulgesetzlich festgelegte Grundschulzeit beträgt vier oder sechs Jahre. Grundschulen in Berlin und Brandenburg umfassten immer schon die Klassen 1 bis 6 (vgl. Abb. 1). Dagegen hält die Mehrzahl der Bundesländer an einer vierjährigen Grundschule fest. Zwar gibt es vereinzelt immer wieder Bestrebungen, die Grundschulzeit um ein bis zwei Jahre zu verlängern, aber bisher scheiterten entsprechende Reformversuche stets, zuletzt in Hamburg (Juli 2010) und im Saarland (September 2010).

Um einen Kompromiss zwischen den Befürwortern des klassischen dreigliedrigen Schulsystems und denen einer integrierten Sekundarstufe zu schaffen, wurde bereits in den 1970er Jahren im Rahmen von Schulversuchen vor dem Hintergrund eines umfassenden Bildungsgesamtplanes die OS eingeführt. Allerdings stand hier nicht mehr nur die Länge der Grundschulzeit im Vordergrund, sondern die Organisation der ersten beiden Schuljahre der Sekundarstufe (vgl. Ziegenspeck 2000, S. 66). Es sollten konkrete im Strukturplan formulierte Ziele verwirklicht werden, wie die Erhöhung des prognostischen Werts der Grundschulempfehlung, die Vermeidung einer frühzeitigen Festlegung auf bestimmte Bildungsgänge oder der Abbau sozialer und regionaler Bildungsunterschiede (vgl. Ziegenspeck 2000, S. 48 ff; Jürgens 1989b). Allerdings wurde auch die Errichtung und Gestaltung einer OS auf Landesebene gesteuert, sodass die „Orientierungsstufe […] zu einem Sammelbegriff unterschiedlicher bildungspolitischer Intentionen geworden ist“ (Ziegenspeck 2000, S. 58). Eine einheitliche Konzeption hat sich wegen des unverbindlichen Charakters des Strukturplans nicht durchgesetzt und in der Praxis wurden OS in der Mehrzahl der Bundesländer bereits seit ihrer Einführung schulformabhängig geführt. Während die wenigen Länder mit ursprünglich schulformunabhängigen OS diese inzwischen wieder abgeschafft haben, werden die 5. und 6. Klasse heute nur noch in Mecklenburg-Vorpommern (seit 2005/06) selbstständig geführt.

Eine schulformunabhängig geführte OS ist eine eigene Schulform für die Klassen 5 und 6, in der die Schüler auch nach der vierten Klasse noch gemeinsam unterrichtet werden. Wie bei der sechsjährigen Grundschule wird die endgültige (leistungsdifferenzierende) Schulformwahl um zwei Jahre verschoben. Dagegen ist die schulformabhängige OS den weiterführenden Schulformen innerhalb des gegliederten Schulsystems organisatorisch zugeordnet und Schüler werden nach der Grundschule auf die weiterführenden Schulen selektiert. Mit Blick auf die ursprünglich angedachte Konzeption hat der Begriff OS eher „symbolischen Charakter“, der auf die prinzipielle Durchlässigkeit eines Schulsystems hinweisen soll, in dem mit Beginn der 5. Klasse lediglich eine Vorstrukturierung erfolgt. Weil Abschulungen (Verlassen der gewählten Schulform im Falle der erstmaligen Nichtversetzung) i. d. R zunächst nicht vorgesehen sind, sondern die Entscheidung über den Verbleib auf der gewählten Schulform oder über einen möglichen Wechsel erst am Ende der 6. Klasse „neu verhandelt“ wird, kann dieser Einmündungsphase aber zumindest im weiteren Sinne eine gewisse Orientierungsfunktion zugesprochen werden. Die OS lässt sich hier als „Schonraum“ (Klassenwiederholungen sind nicht vorgesehen), als „Bewährungsphase“ (spätere Abschulungen, wenn Leistungen nicht ausreichen) oder als „Aufstiegsmöglichkeit“ (leistungsunabhängiger Aufstieg zum Gymnasium nur bis Klasse 6) verstehen (vgl. Bellenberg 2012b, S. 39).

Der gegliederte Aufbau des deutschen Bildungswesens mit den diversen Schulstruktur-Varianten der Sekundarstufe I ist heute im Detail kaum noch zu überblicken. Die bereits im 18. Jahrhundert eingeführte Dreigliedrigkeit des Schulsystems (vgl. Weegen et al. 2002, S. 112), hat sich im Zuge zahlreicher Reformbemühungen stark gewandelt. Die traditionelle Schulstruktur, der ein hohes Ungleichheitspotenzial zugeschrieben wird, besteht aus drei hierarchisch einander zugeordneten Schulformen, denen die Kinder leistungsdifferenziert zugewiesen werden (sollen). Daneben haben sich Organisationskonzepte entwickelt, die zusätzlich eine Kombination aus Haupt- und Realschulen und/oder Gesamtschulen als neue Schulformen eingeführt haben (erweiterte Dreigliedrigkeit). Gegenüber den eigenständigen Haupt- und Realschulen sowie den Gymnasien sind diese integrierten Schulformen aber zahlenmäßig (noch) unterlegen. In jüngster Zeit geht der Trend vermehrt hin zur Zweigliedrigkeit, Haupt- und Realschüler werden hier in parallel laufenden Zweigen gemeinsam unterrichtet.Footnote 5 In den neuen Bundesländern gibt es schon lange keine eigenständigen Haupt- und Realschulen mehr und in anderen Bundesländern, insbesondere in den Stadtstaaten, entwickelt sich die Hauptschule mehr und mehr zur Restschule (vgl. Münch 2002, S. 115), sodass Haupt- und Realschulen inzwischen zusammengelegt werden und neben dem Gymnasium nur noch eine weitere Schulform angeboten wird. In der erweiterten Form werden zusätzlich Gesamtschulen geführt, die alle drei Schulformen integrieren. Außerdem sollen die neu eingeführten Schulformen mancherorts auch als Alternative zum Gymnasium geführt werden, die alle Schulabschlüsse bis zum Abitur anbieten.

Über die Länder hinweg lassen sich bei der Dauer der gemeinsamen Beschulung im Zeitverlauf drei Ausprägungen unterscheiden („vier Jahre gemeinsame Beschulung“, „sechs Jahre gemeinsame Beschulung“ und „teilweise gemeinsame Beschulung in Klasse 5 und 6“). Diese ergeben sich einerseits aus der Dauer der Grundschulzeit. Von Bedeutung ist außerdem die Gestaltung der Über- und Eingangsphase der Sekundarstufe I. Denn in Ländern mit schulformunabhängiger OS erfolgt die Selektion auf die weiterführenden Schulzweige für alle Schüler ebenfalls erst nach der 6. Klasse. Neben einer generellen vier- oder sechsjährigen gemeinsamen Beschulung lässt sich eine dritte Kategorie identifizieren, die unmittelbar an das Angebot der zur Verfügung stehenden Schulformen und die Wahl der weiterführenden Schule gekoppelt ist. Die „teilweise gemeinsame Beschulung in Klasse 5 und 6“ umfasst Länder mit zweigliedrigen Schulsystemen, die neben dem Gymnasium nur noch eine weitere Schulform führen.Footnote 6 D. h. nur Schüler, die nach der Grundschule nicht auf das Gymnasium wechseln, werden hier in verbundenen Haupt- und Realschulen zunächst weiter gemeinsam beschult. Nach Klasse 6 werden die Schüler dann gemäß ihres Leistungsniveaus getrennt unterrichtet. In zweigliedrigen Schulsystemen bilden die Klassen 5 und 6 der Haupt- und Realschulen im Rahmen einer Beobachtungsstufe also eine „pädagogische Einheit“, der Zeitpunkt der Schulformwahlentscheidung (Gymnasium oder kein Gymnasium) unterscheidet sich in diesen Ländern aber nicht von denen mit dreigliedrigem Schulsystem.Footnote 7

3.2 Empfehlungsstatus der Grundschulempfehlung

Bereits im Jahr 1960 hat die Kultusministerkonferenz mit ihrer Empfehlung „Übergänge von einer Schulart in die andere“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 08./09.12.1960 i. d. Fassung vom 23.03.1966) vereinbart, dass „das natürliche Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder […] bei der Wahl des Bildungsweges beachtet werden [muss]“ (KMK 2006, S. 5). Aber auch „[…] Eignung, Neigung und Wille des Kindes […]“ (KMK 2006, S. 5) sollen Grundlage der Entscheidung für den weiteren Bildungsgang sein. In allen Ländern ist die Empfehlung für die weiterführenden Schularten also ein Eignungsgutachten auf Basis einheitlich geltender Grundsätze, welches neben schulischen Leistungen und der allgemeinen Entwicklung des Kindes auch die Erwartungen und Wünsche der Eltern berücksichtigt. Diese sogenannten „einheitlichen Standards“ werden allerdings nicht konkret definiert, sodass es auch hier Abweichungen gibt. Selbst wenn primär der Notendurchschnitt einzelner Fächer für die Empfehlung ausschlaggebend ist, sind weder die zu berücksichtigenden Fächer noch die Notengrenzen einheitlich geregelt. Die Aufnahmebedingungen sind in den Schulgesetzen der Länder verankert und je nach Länderrecht bestehen substanzielle Unterschiede bei der Verbindlichkeit und Reichweite des Grundschulgutachtens. In Abhängigkeit des Stellenwerts der Grundschulempfehlung variieren demzufolge die individuellen Zugangschancen zu den höheren Schulformen der Sekundarstufe I. Beim Empfehlungsstatus der Grundschulempfehlung lassen sich ebenfalls drei Ausprägungen unterscheiden, die Wahl und Wechsel des weiterführenden Bildungswegs rahmen.

Gilt das „freie Elternwahlrecht“, dient das Lehrergutachten im Falle divergierender Schulformwünsche von Eltern und Lehrern lediglich als Hilfestellung und die endgültige Entscheidung für die weiterführende Schulform kann unabhängig von der erteilten Empfehlung erfolgen. Dagegen ist zumindest der Wechsel auf eine höhere als die empfohlene Schulform in Schulsystemen mit verbindlicher Grundschulempfehlung nicht ohne weiteres durchsetzbar, vielmehr gilt die Schulformempfehlung in Ländern mit „Lehrerentscheidung“ als notwendige Voraussetzung für den Wechsel auf die Realschule oder das Gymnasium. Schüler, die ohne entsprechende Empfehlung auf einer höheren Schule angemeldet werden, müssen sich i. d. R einer Aufnahmeprüfung oder einem mehrtägigen Probeunterricht unterziehen, deren erfolgreiches Bestehen als Zugangsvoraussetzung gilt (in Ausnahmefällen sogar bei entsprechender Grundschulempfehlung). Die Ablehnung der Grundschulempfehlung zugunsten einer niedrigeren als der empfohlenen Schulform ist unproblematisch.

Neben dem Zugang wird auch der Verbleib auf der gewählten Schulform geregelt. Insbesondere, wenn der Zugang zu den höheren Schulformen nicht an ein entsprechendes Lehrergutachten gebunden ist, gibt es vielfach Vorschriften, die sich im Sinne eines „eingeschränkten Elternwahlrechts“ interpretieren lassen, weil die Fortsetzung der Schullaufbahn am Gymnasium eine adäquate (Leistungs-)Entwicklung voraussetzt. Der vorerst freie Übergang auf höhere Schulformen ist dann an eine Probezeit geknüpft (bis zu einem Schuljahr), die über den weiteren Verbleib auf der gewählten Schulform entscheidet.Footnote 8 Schüler können also nach dem ersten Schulhalbjahr oder Schuljahr „abgeschult“ oder querversetzt werden, wenn die Leistungsentwicklung kein erfolgreiches Durchlaufen der gewählten Schulform erwarten lässt. Das Elternwahlrecht wird demnach „eingeschränkt“, weil Klassenwiederholungen direkt im Anschluss an den ersten Bildungsübergang in diesen Ländern explizit nicht vorgesehen sind, sondern das Kind die gewählte Schulform gegebenenfalls verlassen muss.

3.3 Zusammenfassung und Hypothesen: Strukturelle Flexibilität und soziale Ungleichheit als Ausdruck schul(polit)ischer Rahmenbedingungen

Da die Länder der BRD über die sogenannte „Bildungshoheit“ verfügen, variiert die strukturelle Ausgestaltung der Schulsysteme in den einzelnen Bundesländern mitunter erheblich. Die nachfolgenden Analysen gehen der Frage nach, „inwieweit die Annahme einer unmittelbaren Relevanz institutioneller Strukturen des Bildungssystems für Ausmaß und Formen sozialer Ungleichheiten plausibel ist und sich empirisch stützen lässt“ (vgl. Hillmert 2007, S. 71). Insgesamt verweisen die theoretischen Überlegungen sowie die empirischen Befunde auf einen positiven Einfluss einer längeren gemeinsamen Beschulung, weil die Leistungsvarianz insgesamt kleiner wird und der spätere Bildungserfolg weniger vom familialen Hintergrund determiniert wird (Hypothese H 1). Falls eine Verschiebung des Selektionszeitpunktes in der postulierten Richtung wirkt, sollten insbesondere Kinder aus bildungsfernen Familien von einem späteren Selektionszeitpunkt profitieren, weil herkunftsbedingte Leistungsnachteile (primäre Effekte) abgemildert werden und folglich die Erfolgswahrscheinlichkeit zunimmt, sodass die „voreilige“ Selektion auf Haupt- und Realschulen (für Eltern und Lehrer) im Sinne der Wirkungsweise sekundärer Effekte weniger selbstverständlich wird (Hypothese H 2). Ob diese Annahmen auch für (zweigliedrige) Schulsysteme plausibel sind, die eine Verlängerung der gemeinsamen Beschulung (mindestens) in den Klassen 5 und 6 nur für Kinder vorsehen, die nach der Grundschule nicht auf das Gymnasium übergehen, ist bislang unklar. International vergleichende Studien verweisen zwar auf einen positiven Zusammenhang zwischen weniger stark differenzierenden Schulsystemen und dem Ausmaß sozialer Ungleichheit (vgl. Montt 2010; Pfeffer 2008; Wößmann 2007). Da sich der Zeitpunkt der Entscheidung für oder gegen das Gymnasium aber letztlich nicht von Ländern mit vierjähriger Grundschule unterscheidet, ist eher zu vermuten, dass sich hier hinsichtlich des Gymnasialbesuchs keine substanziellen Vorteile nachweisen lassen.

Vor dem Hintergrund der (theoretischen) Bedeutsamkeit des Statuserhaltmotivs und der bisherigen Forschung zum Einfluss von Unterschieden in den elterlichen Partizipationsrechten an der Übergangsentscheidung ist zu erwarten, dass sekundäre Herkunftseffekte weniger stark durchschlagen, wenn der Elternwille institutionell restringiert wird (Hypothese H 3). Inwieweit das eingeschränkte Elternwahlrecht eine geeignete Alternative darstellt, weil sowohl übersteigerte Elternaspirationen als auch sozial selektive Lehrerurteile nachträglich korrigiert werden können, ist bislang eine offene Frage. Gegenüber einer vollständigen Öffnung des gegliederten Schulsystems bei freiem Elternwahlrecht ohne regulative Elemente, die immer auch mit einer „Öffnung für [eine] soziale gegliederte Nutzung des flexibleren Systems [einhergeht]“ (Cortina 2003, S. 139) und durch die Möglichkeit, die diagnostische Qualität der ursprünglichen Empfehlung im Rahmen einer bis zu einjährigen Probezeit zu validieren, könnte die Einschränkung elterlicher Partizipationsrechte ebenfalls in einer Abnahme von sekundären Herkunftseinflüssen resultieren. Der wesentliche Unterschied zu Schulsystemen mit freiem Elternwahlrecht besteht darin, dass Bildungsentscheidungen gegebenenfalls im Nachhinein institutionell (in Form von Abschulungen) korrigiert werden. D. h. die Möglichkeit der Klassenwiederholung ist zunächst nicht vorgesehen und mögliche soziale Selektivitäten (seitens der Eltern und Lehrer) würden reduziert, weil der Übergang zum Gymnasium anfänglich zwar nicht institutionell beschränkt wird, die Beibehaltung (übersteigerter) elterlicher Bildungsaspirationen langfristig aber entsprechende Leistungen voraussetzt. Einschränkend ist an dieser Stelle zu bemerken, dass nachfolgend nicht der Übergang, sondern die schulische Platzierung im Alter von 15 Jahren untersucht wird. Diese kann lediglich als Indikator verstanden werden, ob Schüler es (dauerhaft) geschafft haben, sich auf dem Gymnasium zu halten (auch spätere Schulformwechsel auf das Gymnasium sind nicht auszuschließen).

4 Datenbasis und Operationalisierungen

Datengrundlage für die folgenden Analysen ist das Sozio-ökonomische Panel (SOEP), eine seit 1984 in Deutschland durchgeführte Haushaltspanelstudie. Darüber hinaus werden Informationen zu den schulstrukturellen Unterschieden gemäß den Ausführungen aus Abschn. 3 auf Basis der in den Ländern jeweils geltenden schulgesetzlichen Bestimmungen für diesen Zeitraum herangezogen. Analysen zum Zusammenhang zwischen Bildungssystem und sozialer Ungleichheit stehen vor der Herausforderung, dass es bisher keine länderübergreifenden Längsschnittdaten gibt, die soziale Ungleichheiten abbilden und darüber hinaus differenziert Angaben über schulstrukturelle Besonderheiten erheben. Aus diesem Grund wurde dieser Aspekt mit Hilfe der jeweiligen Schulgesetze der Länder operationalisiert. Das SOEP bietet den Vorteil, dass deutschlandweit alle erwachsenen Mitglieder der teilnehmenden Haushalte jährlich zu verschiedenen Lebensbereichen, wie Einkommen, Erwerbstätigkeit oder Bildung, befragt werden. Für Kinder unter 17 Jahren werden die Informationen über die Befragung eines erwachsenen Haushaltsmitglieds erfasst, sodass auch für alle im Haushalt lebenden Kinder Daten für eine detaillierte Rekonstruktion des Übergangs von der Grundschule in die Sekundarschule sowie für deren weiteren Bildungsverlauf vorliegen. Daneben gibt das SOEP Auskunft darüber, in welchem Bundesland die Befragten wohnen. Geht man davon aus, dass der Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe I innerhalb eines Bundeslandes vollzogen wird, lassen sich über die Angaben zum Übergangszeitpunkt sowie zur Wohnregion die Bedingungen des Schulübertritts generieren. Die Untersuchungsgruppe umfasst also nur Personen, für die Angaben zum Übergangsjahr sowie zur Wohnregion vorliegen; fehlenden Angaben zum Übergangsjahr wurden mithilfe des Geburtsjahres imputiert. Da es für den Besuch von Schulen, die nicht dem zwei- oder dreigliedrigen System zuzuordnen sind, keine institutionell bedingten Zugangsbeschränkungen gibt, werden Schüler, die Gesamt-, Sonder- oder Förderschulen besuchen sowie Schüler aus Ostdeutschland, die den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I vor 1991 gemacht haben, aus den Analysen ausgeschlossen, sodass schließlich Daten von 5630 Personen vorliegen. Um den über den Gesamteffekt der sozialen Herkunft hinausgehenden Einfluss der Schulsysteme auf den Bildungserfolg zu überprüfen, werden außerdem nur Personen berücksichtigt, die eine Empfehlung für die Haupt- oder Realschule oder das Gymnasium bekommen haben (N = 2286). Diese Information dient alternativ als Proxy für die Schulleistungen am Ende der Grundschule, da die Schulnoten der Kinder im SOEP erst seit dem Jahr 2000 und nur retrospektiv erhoben werden. Allerdings werden hier lediglich die Noten aus dem letzten Zeugnis erfasst, sodass diese Informationen zur Kontrolle der Kompetenzen nicht tauglich sind.

Die abhängige Variable ist die schulische Platzierung im Alter von 15 Jahren, damit auch bei dem Besuch einer sechsjährigen Grundschule oder einer schulformunabhängigen Orientierungsstufe die erste Bildungsentscheidung mindestens 2 Jahre zurückliegt. Da das Gymnasium die einzige Schulform ist, die unverändert in allen Bundesländern existiert, wird die Wahrscheinlichkeit betrachtet, im Alter von 15 Jahren das Gymnasium zu besuchen (Referenzkategorie: kein Gymnasium).

Bei den beiden Strukturmerkmalen „Dauer der gemeinsamen Beschulung“ und „Empfehlungsstatus der Grundschulempfehlung“ werden gemäß den Ausführungen der Abschn. 3.1 und 3.2 jeweils drei Ausprägungen unterschieden (vgl. auch Abb. 1).Footnote 9 Bei Veränderungen im schulstrukturellen Angebot, wurden zusätzlich Informationen zum Geburtsjahr herangezogen, um auf die individuellen Übergangsbedingungen schließen zu können. Dieses Vorgehen erlaubt es, auch Personen zu berücksichtigen, deren Bildungsübergang nicht direkt im SOEP beobachtet wurde. Beispielsweise wurden Kinder aus Niedersachsen, die vor 1994 geboren wurden, der Kategorie „sechsjährige gemeinsame Beschulung“ zugeordnet, da 2004 die schulformunabhängige OS abgeschafft wurde. Geht man davon aus, dass der Übergang im traditionellen dreigliedrigen System üblicherweise im Alter von 10 Jahren stattfindet, sind erst die Geburtskohorten ab 1994 von der Reform betroffen.

Der sozioökonomische Status konstituiert neben den Strukturmerkmalen (und in Interaktion damit) eine weitere zentrale interessierende Variable. Als Maß für den sozio-ökomischen Status des Elternhauses wird der International Socio-Economic Index of Occupational Status verwendet (ISEI), um prüfen zu können, inwieweit sich die Vermutung differenzieller Herkunftseffekte in Abhängigkeit schulstruktureller Unterschiede bestätigen lässt. Verwendet wurden jeweils die ersten validen Werte von Vater und Mutter (höchster Wert). Für eine bessere Interpretierbarkeit der Interaktionseffekte wurde der HISEI am Mittelwert zentriert, sodass sich die Schulsystemeffekte (Haupteffekte) in Modellen, die zusätzlich Interaktionen enthalten, auf die Gruppe derjenigen Schüler beziehen, die einen mittleren HISEI aufweisen. Neben den genannten Unterschieden gibt es natürlich weitere Aspekte (Lehrpläne, Stadt-Land-Unterschiede, Anzahl der jeweiligen Schulformen etc.), die den Bildungserfolg beeinflussen. Um zu vermeiden, dass die möglicherweise zwischen den Ländern und über die Zeit variierende generelle Chance auf den Besuch eines Gymnasiums die Effekte der institutionellen Strukturen verzerrt, wurden den SOEP-Daten zusätzlich Informationen zum prozentualen jährlichen Anteil an Gymnasiasten auf Bundeslandebene zugespielt. Als Datenbasis wurden die Schulstatistiken der einzelnen Länder herangezogen, die regelmäßig von den statistischen Landesämtern und dem statistischen Bundesamt veröffentlicht werden (vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 11). Aus der Anzahl der Schüler nach Schularten insgesamt wurden für jedes Jahr die prozentualen Anteile an Gymnasiasten an allen Schülern berechnet und in allen Modellen kontrolliert.

Als Kontrollvariablen gehen Angaben zur Einkommenslage der Eltern ein. Berücksichtigt wird das mittlere Haushaltsäquivalenzeinkommen, als die Kinder zwischen 9 und 13 Jahren alt waren. Daneben gehen weitere Variable ein, von denen ein Einfluss auf den Bildungserfolg angenommen wird. So konnte gezeigt werden, dass der Bildungserfolg durch das Vorhandensein von Geschwistern oder durch die Geschwisterreihe negativ beeinflusst wird, weil begrenzte familiale Bildungsressourcen auf mehrere Kinder verteilt werden müssen und insbesondere später geborene Kinder einen entsprechenden Nachteil haben (vgl. Schulze und Preisendörfer 2013). Bei der Geschwisterfolge wird zwischen den Kategorien „Einzelkind“, „1. Kind von mehreren Kindern“, „2. Kind von mehreren Kindern“ und „mindestens 3. Kind von mehreren Kindern“ unterschieden. Außerdem wird in allen Modellen für den Migrationsstatus, das Geschlecht und das Jahr des Übergangs kontrolliert. Eine Verteilung über die Modellvariablen findet sich im Online-Anhang in Tab. A2.Footnote 10

5 Ergebnisse

Die Analyse des Einflusses schulstruktureller Unterschiede auf die Chance, mit 15 Jahren ein Gymnasium zu besuchen, erfolgte mittels (genesteter) binärer Regressionsmodelle. Da diese auch vom Ausmaß unbeobachteter Heterogenität beeinflusst werden, sind sie weder innerhalb noch zwischen Modellen vergleichbar (vgl. Mood 2010; Best und Wolf 2012; auch Auspurg und Hinz 2011). Darüber hinaus beeinflusst die Hinzunahme zusätzlicher (Mediator-) Variablen in logistischen Regressionen nicht nur die Effektstärke sondern auch die Skalierung der jeweiligen Parameter. Entsprechend können Veränderungen sowohl durch zusätzliche Kontrollvariablen (Konfundierung) als auch maßstabsbedingt (Re-Skalierung) auftreten, sodass sich keine Aussagen über Größe und Stärke der Effekte treffen lassen (vgl. Breen et al. 2013; Karlson et al. 2012; Kohler et al. 2011). Daher basieren die nachfolgenden Berechnungen auf dem Korrekturverfahren nach Karlson et al. (2012) (KHB-Methode). Indem die Varianz der Fehlerterme normiert und dadurch sichergestellt wird, dass die Koeffizienten über die Modelle hinweg eine identische Skalierung aufweisen, lassen sich diese Effekte zwischen (genesteten) Modellen vergleichen und Aussagen darüber treffen, inwieweit Veränderungen von Effekten auf zusätzliche Kontrollvariablen zurückgehen. Gemäß der formal korrekten Interpretation beziehen sich Aussagen auf die Zu- oder Abnahme der logarithmierten Odds auf den Besuch des Gymnasiums im Alter von 15 Jahren. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird nachfolgend von der sich entsprechend verändernden Chance für den Besuch des Gymnasiums gesprochen. Da Angaben über die erhaltene Grundschulempfehlung, die als Indikator für das Kompetenzniveau zur Kontrolle primärer Effekte dienen, erst seit 2001 erfasst werden, beziehen sich die nachfolgenden Analysen zunächst auf die Übergangskohorten von 1993 bis 2007 (N = 2286). Berichtet werden logarithmierte Odds, ausgewählte Zusammenhänge werden zusätzlich mittels Conditional Effect Plots abgebildet. In den Grafiken sind nicht die mittelwertzentrierten Werte für den HISEI abgetragen, sondern die ursprünglich gemessenen Einheiten (ISEI-Spanne von 16–90). Dies ändert nichts am Verlauf der Geraden, erleichtert aber Lesbarkeit und Interpretation. Mit dem Stata-Befehl pwcompare lässt sich die statistische Bedeutsamkeit von Unterschieden in den jeweiligen vorhergesagten Übergangswahrscheinlichkeiten berechnen (vgl. Stata 2011, S. 1553 ff).

5.1 Dauer der gemeinsamen Beschulung

In Tab. 1 sind zunächst die Ergebnisse für die Dauer der gemeinsamen Beschulung (M1 bis M3) ausgegeben. Auf Individualebene bestätigen sich in allen Modellen die bekannten Einflussfaktoren von sozio-ökonomischem Status, Geschlecht, Geschwisterfolge sowie Migrationshintergrund. Für die institutionellen Rahmenbedingungen zum Zeitpunkt des Übergangs zeigt sich auch unter Kontrolle der sozialen Herkunft ein signifikanter Effekt der gemeinsamen Beschulungsdauer auf die Chance, mit 15 Jahren ein Gymnasium zu besuchen (M1). Gemäß Hypothese H 1 profitieren Schüler von einer längeren gemeinsamen Beschulung, insofern diese für alle Schüler obligatorisch ist (1,07***).Footnote 11 Für Schüler aus Ländern, deren Schulsystem es vorsieht, dass sie im Anschluss an die vierjährige Grundschule entweder direkt auf das Gymnasium übergehen oder (zunächst) in parallel laufenden Haupt- und Realschulzweigen weiter gemeinsam beschult werden, reduziert sich die Chance im Alter von 15 Jahren ein Gymnasium zu besuchen, die Unterschiede gegenüber der Referenzgruppe sind allerdings nicht signifikant.

Tab. 1: Besuch des Gymnasiums im Alter von 15 Jahren (binäre logistische Regression; KHB-Methode). Quelle: SOEP v29, eigene Berechnungen.

Da Kinder aus den unteren Sozialschichten i. d. R ein geringeres Leistungspotenzial aufweisen, wird in Modell 2 zusätzlich für die erhaltene Grundschulempfehlung kontrolliert. Die Effekte der Grundschulempfehlung sind erwartungsgemäß und hochsignifikant. Die Schulformeffekte verringern sich zwar, bleiben aber auch unter Einbezug des Leistungsindikators bestehen. Während der Haupteffekt für die sechsjährige gemeinsame Beschulung auch unter Kontrolle der Übergangsempfehlung signifikant positiv bleibt, ist der Effekt für die bedingt gemeinsame Beschulung zwar negativ, allerdings nicht signifikant. Offenbar gelingt es der übergreifenden sechsjährigen gemeinsamen Beschulung besser, die Bildungschancen nachhaltig positiv zu beeinflussen, als dies bei verbundenen Haupt- und Realschulen der Fall zu sein scheint. Die frühe Selektion nach nur 4 Jahren scheint sich demgegenüber auch unter Kontrolle der Leistungen hinderlich auf den Besuch des Gymnasiums auszuwirken sowohl in zwei- als auch in dreigliedrigen Systemen. Auf der Aggregatebene hat der Anteil der Gymnasiasten zum Zeitpunkt des Übergangs keinen signifikanten Einfluss mehr. Vermutlich verläuft die Entwicklung zwischen der (zunehmenden) Vergabe von Gymnasialempfehlungen und den Übergängen auf das Gymnasium im Rahmen der Bildungsexpansion weitestgehend parallel, sodass die erteilten Grundschulempfehlungen das Übergangsniveau im Sinne einer „Angebotsrestriktion“ auffängt.

Um zu prüfen, ob der Effekt des schulischen Angebots in Abhängigkeit des sozio-ökonomischen Status variiert, wurden in Modell 3 zusätzlich Interaktionseffekte mit der sozialen Herkunft unter Kontrolle der Grundschulempfehlung als Leistungsindikator spezifiziert, die dann im Wesentlichen als sekundäre Effekte interpretiert werden können. Richtung und Stärke der Haupteffekte für die sechsjährige Grundschule sowie den Bildungshintergrund unterscheiden sich gegenüber Modell 2 nicht. In später selektierenden Schulsystemen steigt die Chance, das Gymnasium zu besuchen signifikant (0,55***), relativ zur Referenzgruppe. Die Vorzeichen der (nicht signifikanten) Interaktionseffekte verweisen darauf, dass die Chance, das Gymnasium zu besuchen, in Ländern mit sechsjähriger Grundschule mit zunehmendem HISEI weniger stark zunimmt. Abbildung 2 verdeutlicht diese Zusammenhänge auf Basis von Modell 3 grafisch. Während sich die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten für den Besuch eines Gymnasiums zwischen Schulsystemen mit einer vierjährigen sowie einer teilweise längeren Beschulung nicht unterscheiden, lassen sich für die unteren und mittleren Statusgruppen signifikante Vorteile einer sechsjährigen gemeinsamen Beschulung nachweisen (Hypothese H 2). Diese Vorteile marginalisieren sich aber mit zunehmendem Sozialstatus, sodass die Wahrscheinlichkeiten für den Besuch des Gymnasiums in den obersten Herkunftsgruppen in Abhängigkeit der schulstrukturell bedingten gemeinsamen Beschulungsdauer und unter Kontrolle der primären Effekte keine signifikanten Unterschiede mehr aufweisen.

Abb. 2:
figure 2

Selektionszeitpunkt und Besuch des Gymnasiums in Abhängigkeit der sozialen Herkunft

5.2 Empfehlungsstatus des Grundschulgutachtens

Neben den Strukturen des Schulangebots unterscheiden sich die Länder auch in den jeweiligen Übergangsmodalitäten, die Zugang und Verbleib auf der gewählten Schulform regulieren. In Tab. 2 sind die Befunde für den Besuch des Gymnasiums im Alter von 15 Jahren in Abhängigkeit des Empfehlungsstatus zum Zeitpunkt des Übergangs in die Sekundarstufe I dargestellt (M1 bis M3). Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass der Besuch des Gymnasiums mit zunehmender elterlicher Entscheidungsfreiheit erleichtert wird. Bestehen zum Zeitpunkt des Schulübertritts keine oder nur eingeschränkte institutionelle Übergangsbarrieren, haben Kinder erwartungsgemäß eine zunehmende Chance, das Gymnasium zu besuchen (0,79***/1,24***, „Gesamteffekt“ der sozialen Herkunft). Modell 2 zeigt, dass der Empfehlungsstatus auch unter Berücksichtigung der Übergangsempfehlung einen Einfluss auf den Gymnasialbesuch hat, der durch weniger restriktive Übergangsregularien wahrscheinlicher wird. D. h. kontrolliert man für die erhaltene Empfehlung, steigt die Chance das Gymnasium zu besuchen, wenn der Elternwille (bedingt) frei ist relativ zu Ländern mit Lehrerwillen (0,64***/1,19***). Außerdem steigt die Chance für den Besuch des Gymnasiums erwartungsgemäß mit zunehmendem HISEI (0,04***). Diese Befunde wurden auch in anderen Untersuchungen mehrfach nachgewiesen (vgl. Dollmann 2011; Gresch et al. 2009; Maaz et al. 2008).

Tab. 2: Besuch des Gymnasiums im Alter von 15 Jahren (binäre logistische Regression; KHB-Methode). Quelle: SOEP v29, eigene Berechnungen.

Um zu prüfen, inwieweit durch die Lockerung der elterlichen Entscheidungsfreiheit sekundäre Effekte in den Vordergrund rücken und Bildungsentscheidungen sozial selektiver werden (vgl. Dollmann 2011; Neugebauer 2010), wurden in Modell 3 Interaktionseffekte zwischen dem Empfehlungsstatus und der sozialen Herkunft berücksichtigt (Hypothese H 3). Generell erhöht sich mit zunehmendem elterlichem Status die Chance auf den Besuch des Gymnasiums, ebenso wie mit weniger restriktiven Übergangsregularien. Es zeigt sich, dass die Bildungschancen in Ländern mit Lehrerwille über die soziale Herkunft hinweg stärker steigen als in Ländern mit (bedingt) freiem Elternwillen, sodass der Einfluss des Übergangskontexts unter Kontrolle der Übergangsempfehlung mit zunehmendem elterlichem Sozialstatus marginal wird. In Abb. 3 sind die Zusammenhänge auf Basis von Modell 3 grafisch dargestellt.

Abb. 3:
figure 3

Bedeutung des Empfehlungsstatus für den Besuch des Gymnasiums

In Ländern mit eingeschränktem und freiem Elternwahlrecht steigen die Chancen für den Besuch des Gymnasiums über die soziale Herkunft hinweg zwar weniger stark an als in Ländern mit Lehrerentscheidung, allerdings unterscheiden sich die Wahrscheinlichkeitsverläufe hinsichtlich des jeweiligen Ausgangsniveaus. Innerhalb der mittleren Statusgruppen sind diese Gruppenunterschiede signifikant. Die Wahrscheinlichkeit für den Besuch des Gymnasiums von Kindern aus Ländern ohne Elternwahlrecht ist über alle Statusgruppen hinweg signifikant geringer als diejenige von Kindern mit eingeschränktem Wahlrecht. Dagegen lassen sich innerhalb der obersten Statusgruppen keine signifikanten Nachteile eines verbindlichen Empfehlungskontexts gegenüber der freien Elternentscheidung finden. Mit Ausnahme der Untersuchung von Jähnen und Helbig (2015) sind die Befunde sowohl aus theoretischer Sicht als auch mit Blick auf die bisherige Forschung kontraintuitiv, da zu erwarten war, dass sekundäre Herkunftseffekte stärker durchschlagen, wenn der Elternwille nicht institutionell reguliert wird. Offenbar werden durch ein verbindliches Lehrerurteil vor allem bildungsferne Kinder vom Besuch des Gymnasiums „abgelenkt“, wohingegen es bei den obersten Statusgruppen kaum noch signifikante Unterschiede in Abhängigkeit des Empfehlungsstatus gibt. In einem verbindlichen Übergangskontext mag es zwar schwieriger sein, die (zu) hohen Bildungsaspirationen durchzusetzen, aber offenbar ist auch ein verbindliches Lehrerurteil nur bedingt in der Lage, den Schulerfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Bei der Interpretation der Ergebnisse sollte berücksichtigt werden, dass die Lehrerentscheidung faktisch nur sehr selten (nach oben) korrigiert wird, selbst wenn Kinder den obersten Statusgruppen angehören (vgl. Ditton und Krüsken 2006; Schauenberg 2007; Stocké 2007b). Außerdem gibt es empirische Belege, dass die Entscheidungspraxis der Lehrer liberaler ausfällt, wenn die Empfehlungen bindend sind (vgl. Gresch et al. 2009; Pohlmann 2008). Wenn in Ländern mit restriktiveren Übergangsregelungen häufiger Empfehlungen für das Gymnasium ausgesprochen werden, dann wird letztlich auch eine schichtspezifische Korrektur der Schullaufbahnempfehlung durch die verbesserte Anpassung zwischen elterlichen Bildungsaspirationen und institutionellen Vorgaben unwahrscheinlicher. Das kann erklären helfen, warum nach den vorliegenden Ergebnissen der Empfehlungsstatus für statushöhere Familien nicht ins Gewicht fällt.

5.3 Dauer der gemeinsamen Beschulung und Empfehlungsstatus

Da der divergierende Verbindlichkeitsgrad des Grundschulgutachtens und die ungleichen Strukturen des Schulangebots miteinander korrelieren, wurden diese schließlich zusammen in einem Modell geschätzt, um zu prüfen, ob diese Faktoren jeweils auch einen eigenständigen und voneinander unabhängigen Einfluss auf die Chance des Gymnasiumbesuchs haben.

In der ersten Spalte von Tab. 3 (M1) sind zunächst die Ergebnisse für die jeweiligen Haupteffekte ausgegeben. Die Befunde sind im Wesentlichen mit den vorstehenden Analysen vergleichbar. Signifikante Effekte finden sich für die sechsjährige gemeinsame Beschulung sowie für das (eingeschränkte) Elternwahlrecht. Unter Kontrolle Grundschulempfehlung (M2) verliert die Dauer der gemeinsamen Beschulung allerdings an statistisch bedeutsamer Erklärungskraft, wenngleich sich die Richtung der Koeffizienten für die übergreifende sechsjährige Beschulung nicht verändert. In den Analysen, die jeweils nur einen der beiden schulstrukturellen Aspekte berücksichtigt haben, nahm die Chance, im Alter von 15 Jahren das Gymnasium zu besuchen, für Schüler aus Bundesländern mit Schulsystemen, in denen die gemeinsame Beschulung nur für Kinder fortgeführt wird, die nach der vierten Klasse nicht auf das Gymnasium übergehen ab, relativ zur Referenzgruppe, allerdings war der Unterschied nicht signifikant. Kontrolliert man zusätzlich für den Empfehlungsstatus findet sich ein positiver Effekt, der sich aber ebenfalls nicht zufallskritisch absichern lässt. Für den Empfehlungsstatus bleiben die Koeffizienten der Haupteffekte signifikant positiv.

Tab. 3: Besuch des Gymnasiums im Alter von 15 Jahren (binäre logistische Regression; KHB-Methode). Quelle: SOEP v29, eigene Berechnungen.

Der gemeinsame Test der Haupt- und Interaktionseffekte (M3) bestätigt den bereits berichteten Befund, dass sowohl in Schulsystemen mit (un)eingeschränktem Entscheidungsrecht als auch in solchen mit einer (teilweisen) Verlängerung der gemeinsamen Beschulung, die Chance steigt mit 15 Jahren das Gymnasium zu besuchen. Insbesondere Kinder aus statusniedrigen Elternhäusern profitieren von diesen Rahmenbedingungen. Insgesamt verweisen die Befunde auf voneinander unabhängige, additiv wirkende Schulformeffekte, die schichtspezifisch variieren und auch den unterschiedlichen Strukturen des Schulangebots geschuldet sind. Die Verschiebung des endgültigen Selektionszeitpunktes wirkt sich nachhaltig auf den Bildungsverlauf aus und besonders Kindern aus bildungsfernen Familien kommt eine mehr als vierjährige gemeinsame Beschulung zugute, wohingegen Kinder aus privilegierten Elternhäusern darunter nicht zu leiden scheinen. Bei zweigliedrigen Schulsystemen bleibt die „Unantastbarkeit“ des Gymnasiums aber weitestgehend erhalten. Die Vermutung, dass länderspezifische Unterschiede im Ausmaß der sozialen Segregation möglicherweise durch divergierende Übergangsregularien moderiert sind, kann mit den vorliegenden Daten grundsätzlich bestätigt werden. Können Eltern frei über den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder entscheiden, lässt sich auch unter Kontrolle der Leistungen insgesamt eine zunehmende Chance für den Besuch eines Gymnasiums beobachten, ein zusätzlicher Herkunftseffekt zeigt sich für die unteren und mittleren Statusgruppen. Dagegen verliert der Einfluss des Empfehlungsstatus mit zunehmendem sozio-ökonomischem Status an Bedeutung.

5.4 Weitere Berechnungen und Validierung der Ergebnisse

Um die Informationen des SOEP in seiner Gesamtheit zu nutzen, wurden zusätzliche Analysen auf Basis der Übergangskohorten von 1984 bis 2007 (N = 5630) durchgeführt (Online-Anhang, Tab. A3 bis A5). Da Leistungsunterschiede zum Ende der vierten Klasse nicht separat berücksichtigt werden können, beziehen sich die Schätzungen ausschließlich auf den Gesamteffekt der sozialen Herkunft und sollen Auskunft darüber geben, inwieweit die Ergebnisse über die Stichproben hinweg robust sind.

Vergleicht man die Vorzeichen der Koeffizienten beider Stichproben zeigt sich, dass die Ergebnisse der Herkunftseffekte und der schulstrukturellen Effekte über die Modelle hinweg weitestgehend robust sind. Demnach gibt es hier auch über die Zeit keine größeren Veränderungen, sofern man für den Anteil an Gymnasiasten als Indikator für die Bildungsexpansion kontrolliert. Aufgrund der größeren Fallzahl zeigen sich mehr signifikante Effekte bei den Interaktionen, die jedoch grundsätzlich in dieselbe Richtung weisen wie auf Basis des kleineren Samples.

6 Diskussion

Die Bedeutung institutioneller Rahmenbedingungen für den Bildungserfolg wurde bislang verhältnismäßig wenig thematisiert. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die vorhandene Datenlage die zunehmende und kaum noch zu überblickende Vielgestaltigkeit des deutschen Schulsystems nur noch unzureichend beschreibt. Um das Phänomen persistierender Bildungsungleichheiten besser erklären zu können, wird die Bildungsforschung langfristig nicht umhin kommen, die unterschiedlichen institutionell-strukturellen Rahmenbedingungen differenzierter zu berücksichtigen als bisher geschehen.Footnote 12 Das Ziel der vorliegenden Arbeit war in erster Linie aufzuzeigen, dass Selektivität und Durchlässigkeit durch verschiedene bildungspolitische Steuerungsinstrumente beeinflusst werden. Dazu wurden verschiedene ausgewählte Strukturmerkmale durch die sich die Schulsysteme unterscheiden herausgearbeitet und im Zeitverlauf über die Bundesländer hinweg systematisiert. Soziale Ungleichheit gibt es zwar in allen Bildungssystemen, allerdings geben die Ergebnisse erste Hinweise darauf, dass bestimmte Strukturen mit Blick auf Durchlässigkeit und Chancengleichheit zu bevorzugen sind. Lassen sich nun die verschiedenen Schulsysteme hinsichtlich ihres Potenzials evaluieren, die Chancengleichheit zu erhöhen?

Die Befunde zum Empfehlungsstatus decken sich nur teilweise mit bisherigen Befunden. Können Eltern (bedingt) frei über den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder entscheiden, ist die Chance höher, dass die Kinder mit 15 Jahren das Gymnasium besuchen. Außerdem steigt die Chance für den Besuch des Gymnasiums erwartungsgemäß mit zunehmendem Sozialstatus. Entgegen den theoretischen Erwartungen sprechen die Analysen dafür, dass Ungleichheiten beim Zugang zu höheren Schulformen durch die Freigabe des Elternwillens abgebaut oder zumindest nicht verstärkt werden: Eltern aus oberen Herkunftsklassen scheinen zwar ein großes Interesse daran zu haben, einen sozialen Abstieg zu vermeiden und ihre Kinder, wenn nötig, auch gegen die Empfehlungen der Lehrer auf das Gymnasium zu schicken. Allerdings haben Kinder aus bildungsfernen Familien die geringste Wahrscheinlichkeit für den Besuch des Gymnasiums, wenn das Lehrerurteil verbindlich ist, wohingegen sie von weniger strikten Übergangsbedingungen profitieren. Zweifelsohne widerspricht dieser Befund zunächst den grundlegenden Rational-Choice-theoretischen Annahmen zur Formation elterlicher Bildungsentscheidungen, wonach Familien mit geringem sozioökonomischem Status tendenziell weniger anspruchsvolle Bildungsabschlüsse für ihre Kinder anstreben. Folgt man dieser Logik, sollten sich Unterschiede im Grad der Verbindlichkeit bei bildungsfernen Familien kaum bemerkbar machen, weil der Übergang auf das Gymnasium ohnehin nicht angestrebt wird, weder mit noch ohne entsprechende Empfehlung. Neben herkunftsbedingten Leistungsunterschieden, werden diese reduzierten Bildungsaspirationen insbesondere auf das Motiv des Statuserhalts zurückgeführt. Zwar besuchen Kinder mit niedrigerer sozialer Herkunft insgesamt häufiger Haupt- und Realschulen, selbst wenn sie eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten haben. Letztlich basieren aber zumindest die theoretischen Vorhersagen zu schichtspezifischen Übergangsentscheidungen auf einer durchaus erklärungsbedürftigen Annahme (vgl. Rogge und Groh-Samberg 2015). Denn das Statuserhaltmotiv als zentrales Erklärungsmoment lässt offen, warum auch untere Sozialschichten lediglich einen Statuserhalt anstreben, obwohl damit eine „erhebliche Einschränkung ihrer Lebenschancen verbunden ist“ (Rogge und Groh-Samberg 2015, S. 31). Eine Untersuchung von Stocké (2007b) liefert darüber hinaus Belege, dass der Erklärungsbeitrag des Statuserhaltmotiv insgesamt eher zu vernachlässigen ist. Das Konstrukt des Statuserhalts kann also weder theoretisch noch empirisch durchweg überzeugen. Stattdessen deuten die vorliegenden Ergebnisse darauf hin, dass das Statuserhaltmotiv zwar für die oberen Sozialschichten überzeugend ist, für die unteren und mittleren Herkunftsgruppen kann der Wunsch nach dem Erhalt des eigenen Status aber nicht zwingend als gegeben vorausgesetzt werden (für ausführliche Kritik vgl. Rogge und Groh-Samberg 2015). Die Ergebnisse stehen also nur dann in einem Widerspruch zu den theoretischen Vorhersagen, wenn das zugrunde liegende Motiv des Statuserhalts in der gemeinhin postulierten Richtung wirkt. Anders formuliert kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Motiv des Statuserhalts für die unteren Schichten überschätzt wird oder ihre Bildungsaspirationen unterschätzt werden. Einem entsprechend modifizierten Verständnis von rationalen Entscheidungstheorien folgend, sollten Unterschiede im Verbindlichkeitsgrad der Grundschulempfehlung dann auch für untere und mittlere Sozialschichten relevant werden. Die konkurrierende These, dass bildungsferne Eltern nicht zwangsläufig einen Statuserhalt anstreben, sondern mitunter auch an einer Statusverbesserung interessiert sind, lässt sich mit den vorliegenden Daten zwar nicht prüfen, erscheint aber als Ansatzpunkt für eine potenzielle Erklärung nicht unplausibel. Denn institutionell erleichterte Übergangsmöglichkeiten würden dann auch bei den unteren Sozialschichten die Realisierung ambitionierter Bildungsaspirationen begünstigen. Überdies gewinnen höhere Bildungsabschlüsse im Zuge der Bildungsexpansion möglicherweise auch für die unteren Schichten an Bedeutung, da zunehmend auch Abiturienten Ausbildungsberufe wählen, sodass der Statuserhalt mit einem Hauptschulabschluss nicht mehr unbedingt gewährleistet ist. Umgekehrt lassen sich die obersten Statusgruppen auch durch ein verbindliches Lehrergutachten nicht davon abhalten, ihre hohen Bildungsaspirationen durchzusetzen und soziale Herkunftseffekte können durch den verbindlichen Empfehlungsstatus nicht ausgehebelt werden. Dieser Effekt wird in Ländern mit freiem Elternwillen aber nicht zusätzlich verstärkt. Offenbar scheint der Übergangskontext bei Familien mit hohem sozioökonomischem Status generell an Bedeutung zu verlieren. Aus theoretischer Sicht ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass bildungsnahe Eltern die Lehrer in ihrer Empfehlung beeinflussen, etwa indem sie häufiger den Kontakt zu ihnen suchen, um die gewünschte Empfehlung zu bekommen, insbesondere wenn diese bindend ist. Möglicherweise investieren sie auch vermehrt und frühzeitig in die schulischen Leistungen der Kinder, sodass „sekundäre Effekte in primäre Effekte „konvertiert“ [würden]“ (Neugebauer 2010, S. 210). Auch Jähnen und Helbig (2015) kommen zu dem Ergebnis, dass soziale Ungleichheiten durch eine unverbindliche Grundschulempfehlung nicht verstärkt werden und bildungsferne Gruppen sogar davon profitieren können. Es wird vermutet, dass „die Bindekraft von Empfehlungen mit anderen schulrechtlichen Regelungen in Zusammenhang steht […], die für die unterschiedliche soziale Selektivität in den Bundesländern verantwortlich ist“ (Jähnen und Helbig 2015, S. 565). Auch die in Abhängigkeit der geltenden Reformen variierende Empfehlungspraxis der Lehrer wird als mögliche Erklärung für die unerwarteten Befunde herangezogen (Jähnen und Helbig 2015).

Da Bildungsentscheidungen sowohl seitens der Lehrer als auch der Eltern unter Unsicherheit getroffen werden, sind regulative Elemente aber theoretisch wie empirisch bedeutsam. Außerdem werden einer Untersuchung von Dollmann (2011) zufolge, „leistungsstarke Kinder aus bildungsfernen Schichten eher zum Gymnasium hingezogen, obwohl in einem verbindlichen Kontext eine Abweichung von der Bildungsentscheidung nach „unten“ weiterhin problemlos möglich wäre (Dollmann 2011, S. 612). Ob die Einschränkung des Elternwillens möglicherweise einen geeigneten Kompromiss darstellt, muss mit passenderen Daten geprüft werden. Weil sich die Ablehnung der Grundschulempfehlung zugunsten des Übergangs auf das Gymnasium nachweislich auszahlt (vgl. Lohmann und Groh-Samberg 2010; Tiedemann und Billmann-Mahecha 2010), könnte durch diese Maßnahme eine verbesserte Ressourcen-Ausschöpfung erzielt werden, ohne die soziale Strukturiertheit in der Bildungsbeteiligung zu verstärken.

Neben Unterschieden in der Empfehlungspraxis werden Bildungsungleichheiten in der Sekundarstufe I aber auch durch die Strukturen des schulischen Angebots beeinflusst. Mit Blick auf die sechsjährige Grundschule konnte ein positiver Einfluss einer längeren gemeinsamen Beschulung festgestellt werden, wenn diese für alle Kinder obligatorisch ist. Dagegen unterscheiden sich zweizügige Schulsysteme mit Blick auf den Übergang auf das Gymnasium in ihrer Durchlässigkeit offenbar kaum von dreigliedrigen Schulsystemen. Tendenziell können die Ergebnisse im Sinne einer Befürwortung von (integrativen) Gesamtschulen sowie einer Verschiebung des Selektionszeitpunktes interpretiert werden, wenngleich hier noch differenziertere Analysen erforderlich sind. Zielführend kann das aber nur sein, wenn die Aufgliederung zu einem späteren Zeitpunkt übergreifend umgesetzt wird und das Gymnasium seine dominante Position als Krone des Auslese-Schulsystems verliert. Solange sich in den zweizügigen oder auch den erweiterten dreizügigen Schulsystemen die Differenzierungsmaßnahmen der traditionellen Schulformen widerspiegeln, werden entsprechende Schulreformen das Problem der engen Koppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg kaum abmildern können. Da auch Grundschulempfehlungen (schichtspezifisch) verzerrt sind (vgl. Bellenberg 2012a; Ditton 1992; Wiese 1982) und den Bildungserfolg zwar gut, aber nicht ausnahmslos erklären, wäre ein Vergleich der Leistungsentwicklung über die Zeit zwischen Kindern, die unterschiedliche Schulformen besucht haben, wünschenswert, um mögliche Schulformeffekte im Detail beurteilen und die Annahme, dass ein heterogenes Lernumfeld sich förderlich auf die Kompetenzentwicklung von leistungsschwächeren Kindern auswirkt, prüfen zu können. Fest steht aber, dass sich Strukturunterschiede auf den Bildungserfolg auswirken. Eine spätere Sortierung scheint die Bildungschancen mitunter zu verbessern, Nachteile einer (teilweise) längeren gemeinsamen Beschulung lassen die vorliegenden Befunde nicht erkennen.

Mit Blick auf die bildungspolitische Praxis, lassen sich die Ergebnisse dahingehend interpretieren, dass Herkunftseffekte nach wie vor von übergeordneter Bedeutung sind und Schulreformen grundsätzlich immer nur einen Teil der Ungleichheiten reduzieren können. Entsprechende Maßnahmen sollten aber einerseits das Zusammenspiel von primären und sekundären Effekten berücksichtigen und auch die Wechselseitigkeit zwischen Schule und Elternhaus einzubeziehen. Um dem Problem persistierender sozialer Ungleichheiten gerecht zu werden, sollte außerdem die inhaltliche und pädagogische Gestaltung der Schule nicht außer Acht gelassen werden, damit bildungspolitische Bemühungen nicht übereilt, konzeptlos und beliebig wirken. Denn neben den betrachteten Unterschieden sind weitere länderspezifischen Besonderheiten von Bedeutung. So spielen etwa Aspekte der Unterrichts- und Lehrplangestaltung eine wesentliche Rolle für den Bildungserfolg. Die isolierte Fokussierung auf primäre oder sekundäre Herkunftseffekte kann kaum zielführend sein, wenn sich die Reformen im Wesentlichen auf die Umgestaltung rein formaler Äußerlichkeiten beschränken.

Bei der Interpretation der Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass mit den zugrunde liegenden Daten lediglich eine grobe Zuordnung von Schülern zu verschiedenen Schulsystemen vorgenommen werden, ohne dass etwa „Mischformen“ oder die Dauer des Bestehens eines Schulsystems berücksichtigt werden konnten. Außerdem lassen sich die vorliegenden Befunde nicht von zusätzlichen, parallel eingeführten institutionellen Veränderungen trennen. Dennoch verweist der vorliegende Beitrag auf einen substanziellen Einfluss institutioneller Rahmenbedingungen, denen insgesamt mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Mit den Daten des NEPS könnten sich entsprechende Fragestellungen zukünftig besser beantworten lassen, da sowohl das Bundesland des Schulbesuchs als auch die genaue Schulform (inklusive Orientierungsstufen und gegebenenfalls Schulzweigen bei Gesamtschulen) und die Leistungsentwicklung detailliert erfasst werden.