1 Einleitung

Die meisten europäischen Gesellschaften haben in den vergangenen 60 Jahren einen bemerkenswerten Modernisierungsprozess durchlaufen. Das durchschnittliche Niveau an Bildung, Einkommen und existenzieller Sicherheit hat in nahezu allen europäischen Ländern stark zugenommen. Westliche Gesellschaften zeichnen sich heute durch einen hohen Lebensstandard und eine fast explosionsartige Vermehrung marktvermittelter Konsum- und Erlebnisangebote aus. Ulrich Beck (1986) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Fahrstuhl-Effekt“, bei dem das Wohlfahrtsniveau einer Gesellschaft um eine Etage nach oben gefahren wurde. Diese allgemeine Wohlstandssteigerung machte es immer mehr Personen möglich, sich am Massenkonsum und an der Massenkultur zu beteiligen. An die Stelle klassen- und schichtspezifischer Lebensführungsmuster sind nun, wie häufig argumentiert wird, Konsum- und Lebensstile getreten, die „bei aller demonstrativer Unterschiedlichkeit die klassenkulturellen Attribute abgelegt haben“ (Beck 1986, S. 125). In verschiedenen Zeitdiagnosen wird angesichts dieser historisch einmaligen Zunahme des allgemeinen Wohlfahrtsniveaus ein epochaler gesellschaftlicher Wandel konstatiert: die klassenbasierte Industriegesellschaft verändert sich hin zu einer postindustriellen, individualisierten Konsum-, Erlebnis- und Überflussgesellschaft und aus der „einfachen“ Moderne wird zunehmend eine „reflexive“ oder „flüchtige“ moderne Welt (vgl. Bauman 2000; Beck 1986; Bell 1975; Galbraith 1958; Giddens 1991; Schulze 1992).

Mit diesem Wandel verändern sich auch die Handlungs- und Bewertungskriterien der Menschen. In der postindustriellen Konsum- und Erlebnisgesellschaft wird es zunehmend zur kulturellen Norm, das Leben zu genießen und sich wohl zu fühlen.Footnote 1 „Erlebe dein Leben“ lautet Gerhard Schulze (1992) zufolge der kategorische Imperativ unserer Zeit. Dies führt dazu, dass Menschen jene Handlungsoptionen vermehrt wählen, von denen sie eine Steigerung ihres Wohlbefindens erwarten und ihren Blick verstärkt nach innen richten, auf das eigene Erleben und Fühlen, um ihr Leben zu bewerten. Ob die Menschen mit ihrem Leben zufrieden sind oder nicht, wird deshalb in einer Konsum- und Erlebnisgesellschaft in stärkerem Maße durch die erlebten Emotionen definiert.

Der Aufsatz will einen empirischen Beitrag zu dieser Gesellschaftsdiagnose leisten. Zuerst werden wir jene Aspekte des gesellschaftlichen Wandels herausarbeiten, die eine veränderte Bedeutung von Emotionen als Handlungs- und Bewertungskriterien begründen. Im Fokus steht die individualisierte Erlebnisgesellschaft, wie sie von Schulze (1992) beschrieben wurde. Unsere Darstellung lehnt sich in vielen Punkten an die grundlegende Arbeit von Schulze an, bezieht darüber hinaus aber auch andere zeitdiagnostische Beiträge und empirische Forschungsbefunde mit ein. Aus diesem theoretischen Rahmen werden wir unsere forschungsleitende Hypothese entwickeln: Emotionen wirken sich umso stärker auf die Lebenszufriedenheit einer Person aus, je eher die Gesellschaft, in der diese Person lebt, einer postindustriellen Konsum- und Erlebnisgesellschaft ähnelt. Danach geben wir einen Überblick über die Lebenszufriedenheitsforschung. Wir zeigen, dass das Konzept eines „guten Lebens“ ein Stück weit sozial konstruiert ist und diskutieren den Forschungsstand zum Einfluss von Emotionen auf die Lebenszufriedenheit. Anschließend prüfen wir unsere Hypothese anhand von 23 europäischen Ländern mit Daten des European Social Survey. Dabei zeigt sich, dass Emotionen tatsächlich größeren Einfluss auf die Lebenszufriedenheit haben, wenn ein Land eine stärker ausgeprägte Erlebniskultur besitzt. Zum Schluss werden wir in einem vierten Schritt die Konsequenzen und Implikationen unserer Befunde aufzeigen.

2 Emotionen in der Konsum- und Erlebnisgesellschaft

Im Folgenden begründen wir in Anlehnung an die grundlegende Arbeit von Gerhard Schulze (1992), dass Emotionen in der Erlebnisgesellschaft an Bedeutung gewinnen. Wir werden zunächst argumentieren, dass die zunehmende Erlebnis- und Konsumorientierung dazu führt, dass Menschen stärker erlebnisrational handeln, also an der Maximierung von Genuss und Vergnügen interessiert sind. Anschließend erläutern wir, dass die Erlebnisgesellschaft die Menschen zu einer verstärkten Selbstreflexion zwingt, bei der sie ihre Emotionen aufmerksam beobachten und als Bewertungskriterien für ihre Lebenszufriedenheit heranziehen.

2.1 Vordringen von Erlebniskonsum und Erlebnisrationalität

Kennzeichen von Konsum- und Erlebnisgesellschaften ist die schnelle Verfügbarkeit einer schier unüberschaubaren Menge von Gütern und Dienstleistungen und von Konsum- und Handlungsoptionen für die Gesellschaftsmitglieder. Nie gibt es nur eine Offerte, sondern die Akteure stehen ständig vor der Wahl, sich zwischen unzähligen Produkten, Produktvariationen und Dienstleistungsangeboten zu entscheiden. Zugleich existiert eine hohe Nachfragekapazität bei den Mitgliedern der Gesellschaft. Der allgemein gestiegene Wohlstand ermöglicht es vielen Menschen, sich bei Konsumentscheidungen nicht mehr vornehmlich am Notwendigen orientieren zu müssen. Viele Menschen geben aktuell nur einen Bruchteil ihres Einkommens für überlebensnotwendige Produkte aus, ihnen steht also ein hoher Einkommensanteil für zusätzlichen Konsum zur Verfügung. Es steigen einerseits die Handlungsmöglichkeiten, andererseits wächst gleichzeitig der Orientierungsbedarf. Es werden zunehmend Kriterien benötigt, anhand derer eine Auswahl zwischen den explodierenden Konsum- und Erlebnisangeboten möglich wird.

Um sich zwischen den zahllosen Optionen entscheiden zu können, rückt, so Schulze, zunehmend der ästhetische, expressive und emotionale Nutzen in den Vordergrund, den man sich vom Konsum eines Produktes verspricht. Während der Konsum in Gesellschaften mit knappen Ressourcen einer „Überlebensorientierung“ folgte, handeln Menschen in einer Konsumgesellschaft nach einer „Erlebnisrationalität“ (Schulze 1992, S. 40 ff.). Nicht der Gebrauchswert eines Produktes, sondern dessen vermutete oder angepriesene Erlebnisqualität bildet den Bezugspunkt für Konsumentscheidungen. Diese Erlebnisrationalität durchzieht die gesamte Lebensführung einer Person, angefangen von der Freizeitgestaltung, über kulturellen Konsum, aber auch, angeheizt durch die Werbeindustrie, beim Konsum von alltäglichen Produkten. Überall werden jene Angebote gewählt oder es wird sich jenen „alltagsästhetischen Episoden“ wie Kinobesuch, Einkaufsbummel, Nahrungsaufnahme, Sportaktivitäten, Fernsehsendungen usw. ausgesetzt, von denen man ein Maximum an positivem Erlebnis, also an Vergnügen, Wohlbefinden, schönen Emotionen usw. erwartet. Erlebnisrationalität wird zum dominanten Handlungsmodus, um sich in der schillernden Konsum- und Freizeitwelt zu orientieren. Die gemeinsame Klammer, die die Menschen in einer individualisierten, pluralisierten Erlebnisgesellschaft trotz aller Unterschiede verbindet, ist demnach ihre Suche nach einem als schön empfundenen Leben und die gezielte Orientierung ihres Handelns am eigenen Wohlbefinden.

Ein Anzeichen für solch eine Erlebnisorientierung ist die Zunahme des Angebots sowie des Konsums von kulturellen Produkten wie Musik, Filmen und Unterhaltungssendungen sowie der Ausübung erlebnisorientierter Freizeitaktivitäten wie Sport, Wellness oder Reisen. Während beim Konsum von Produkten des alltäglichen Bedarfs die Erlebnisqualität des Produkts ein wichtiger, oft impliziter Nebenaspekt ist, dient die Nutzung von Kultur- und Freizeitangeboten in der Regel explizit und hauptsächlich dem Ziel, schöne Erfahrungen zu sammeln oder positive Emotionen zu erleben. Aktivitäten wie Fernsehen, Sport oder Theaterbesuche haben vornehmlich den Sinn, im eigenen Innenleben eine bestimmte Wirkung zu evozieren. Ein wesentliches Motiv des Musikkonsums liegt beispielsweise darin, in die Gefühle und Stimmungen einzutauchen, die durch die Musik ausgelöst werden (Rössel 2009). Sportveranstaltungen werden vor allem deshalb besucht, weil die Ungewissheit über den Ausgang des sportlichen Wettstreits mit einer positiv empfundenen Erregung einhergeht und zwar insbesondere dann, wenn man mit einem Sportler, einer Sportlerin oder einer Mannschaft mitfiebert (Elias und Dunning 2003). Eine ganze Wellness-Ökonomie lebt von der Sehnsucht nach Entspannung, Ruhe, Verwöhnt-Werden und innerer Harmonie (Chalupa 2001; Nahrstedt 2008). Schließlich wird neuerdings ein „Trend zur Eventisierung“ konstatiert (Betz et al. 2011): Musik-, Film-, oder Sportfestivals, Stadtteilfeste, Straßenumzüge, Museumsnächte oder Erotikmessen versprechen ihren Besuchern das besondere Erlebnis, die kollektive Erfahrung des Außergewöhnlichen. Man kann solche „Events“ natürlich auch bewusst meiden und vielleicht größeren Gefallen daran finden, alleine spazieren zu gehen oder zu Hause ein Buch zu lesen. Erlebnisorientierung kann sich ebenso gut in der Suche nach Ruhe wie in der Suche nach Abwechslung ausdrücken. Entscheidend ist, dass erlebnisorientierte Menschen versuchen, „die Umstände so zu manipulieren, daß man darauf in einer Weise reagiert, die man selbst als schön reflektiert“ (Schulze 1992, S. 35).

Ein weiteres Anzeichen für die verstärkte Erlebnisorientierung ist der enorme Aufstieg der Werbeindustrie, die selbst den Konsum von alltäglichen Produkten zunehmend mit Erlebnisqualitäten verknüpft. Sie versucht, das Verlangen nach bestimmten Produkten zu stimulieren, indem sie unter anderem suggeriert, mit dem Konsum eines Produkts würden sich positive Erlebnisse und Emotionen einstellen. Werden beliebige Markennamen und Produkte immer wieder mit emotionalen Reizen verknüpft, so erhält das Produkt, wie die Konsumforschung belegt hat, in den Augen des Adressaten letztlich einen bestimmten emotionalen Erlebnisgehalt (Kroeber-Riehl 1979). Dieser Prozess wird als emotionale Konditionierung bezeichnet. Selbst Produkte wie Nahrungsmittel, Schuhe oder Seife werden auf diese Weise emotional „aufgeladen“, sodass sich Konsumenten einen Erlebniswert vom Kauf des Produkts versprechen. Ein Konsument ist erst dann in der Lage, sich beispielsweise für eine ganz bestimmte Seife zu entscheiden, wenn er sich, so Schulze (1992, S. 59), „auf erlebnisorientierte Zusatzqualitäten einlässt, mit denen sich die Produkte hervortun – wilde Frische, cremige Zartheit, erotische Formgebung, Naturbelassenheit.“ Man kauft dann bestimmte Kleidung, Nahrungsmittel, Möbel usw., um etwas zu erleben und um sich wohl zu fühlen. Die Werbeindustrie bedient dieses Bedürfnis der Menschen nach positiven Erlebnissen und Emotionen immer wieder neu (McCracken 1986). Dabei werden zugleich „alte“ Produkte in ihrer kulturellen Bedeutung entwertet, sobald „neue“ Produktvarianten verfügbar sind. Insofern ist das Glücksversprechen der Konsumgesellschaft nie von Dauer. Positive Emotionen, die mit dem Konsum eines Produktes verbunden werden, verflüchtigen sich, sobald ein Folgeprodukt erhältlich ist, das als neuer, besser, schöner usw. inszeniert und wahrgenommen wird (Schulze 1992, S. 63 ff.). Die Konsumgesellschaft verschafft also immer nur eine punktuelle, kurzlebige Befriedigung. Sie basiert im Wesentlichen auf der „Irrationalität der Konsumenten“ und setzt fortwährend auf „das Ansprechen konsumistischer Emotionen, nicht auf die Kultivierung der Vernunft“ (Bauman 2009, S. 65).Footnote 2 Das gilt im Übrigen, auch für den Einkauf selbst, der zum Erlebnis gemacht werden soll. Ritzer (2000, S. 236) spricht von einer „derzeitig stattfindenden Fusion von Konsum und Unterhaltung“, die darauf abzielt, den Konsum so vergnüglich wie möglich zu gestalten.

Diese Entwicklungen, der zunehmende Konsum von Kulturgütern, die erlebnisorientierte Freizeitgestaltung und der Aufstieg der Werbeindustrie, die versucht, alltägliche Produkte mit Erlebnisqualität zu verknüpfen, weisen auf eine zunehmende Erlebnisorientierung der Akteure hin, deren Handlungs- und Konsumentscheidungen sich vor allem an der Steigerung von positiven Emotionen, Wohlbefinden und Vergnügen orientieren.

2.2 Zunehmende Bedeutung von Emotionen als Bewertungskriterien für das eigene Leben

Mit der Explosion der Konsum- und Erlebnisangebote verändert sich aber auch das Verhältnis des Individuums zu sich selbst. Während es in einer Gesellschaft mit relativ knappen Ressourcen primär darum geht, die existenziellen Grundbedürfnisse zu erfüllen, kreisen die Wertorientierungen in postindustriellen Gesellschaften stärker um Themen wie Autonomie, Selbstverwirklichung und Wohlbefinden (Inglehart 1989; Inglehart und Welzel 2005; Klages 1984). Sich selbst zu verwirklichen, authentisch zu leben und das Leben zu genießen, sind zentrale Lebensziele in diesen Gesellschaften. Glücklich zu sein, wird mehr und mehr zu einer kulturellen Norm. In einer von Glücks- und Erlebnisversprechen durchtränkten Konsumkultur wird es zu einem kulturellen Normalitätsmuster, glücklich sein und sich gut fühlen zu sollen. Unglücklichsein wird dem gegenüber zur „sündhafte(n) Abweichung von der Norm“; unglückliche Menschen würden gar „als vollwertige Gesellschaftsmitglieder disqualifiziert“ (Bauman 2009, S. 61). Glück, Wohlbefinden und Selbsterfüllung sind die zentralen kulturellen Werte, die eine Konsum- und Erlebnisgesellschaft kennzeichnen und die von den Gesellschaftsmitgliedern am stärksten wertgeschätzt werden.

Wie genau diese Ziele erreicht werden können, bleibt allerdings diffus. Für das persönliche Glück und die eigene Selbstverwirklichung gibt es kein Standardrezept. Entsprechend vielfältig sind die Wege, auf denen Menschen ihre Selbstentfaltung verfolgen und ihr Wohlbefinden hegen und pflegen. Sie können alle möglichen Aktivitäten umfassen: Weiterbildung, Wellnessurlaub, das Lesen von Ratgebern, Meditation, Tai Chi, kreatives Schreiben, Bergexpeditionen oder Marathonläufe. Ob die gewählten Aktivitäten aber den beabsichtigten Zweck erfüllen, ist keineswegs gewiss und treibt Individuen in eine verstärkte Selbstbespiegelung: Beck (1986) beschreibt eine ansteigende Selbstreflexivität als einen zentralen Aspekt der „reflexiven Moderne“. Menschen sind demnach ständig im Zwiegespräch mit sich selbst. Ihre Gedanken kreisen dauerhaft um die Frage, ob sie die vorhandenen Möglichkeiten optimal genutzt haben. Emotionen werden für die Bewertung des eigenen Lebens zu einem wichtigen Gradmesser: Um Entscheidungen und Erfahrungen im Rückblick als „schön“ und „lohnend“ beurteilen zu können, wird es, wie wiederum Schulze (1992) herausarbeitet, immer wichtiger, wie sich das Erlebte angefühlt hat.

Da traditionelle äußere Kriterien für Lebenssinn und Lebensglück, Pflichterfüllung, Leben nach religiösen Geboten, viele Kinder haben, das Überleben der Nächsten sichern usw., an Legitimität verloren haben, müssen sich individualisierte Menschen stärker auf sich selbst und auf ihre „Innenwelt“ beziehen. Selbstverwirklichungswerte und Glücksorientierung führen nahezu unweigerlich zu einer ständigen Kontrolle des eigenen Befindens, um zu prüfen, ob durch die getroffenen Handlungs- und Konsumentscheidungen jene subjektiven Prozesse ausgelöst wurden, die man sich von ihnen erhofft hat. Egal ob man eine Urlaubsreise plant, ein Buch liest oder ins Kino geht, immer steht hinter den getroffenen Entscheidungen die Hoffnung auf Genuss, verstanden als „psychophysischer Zustand positiver Valenz“ (Schulze 1992, S. 105). Genuss hat immer eine sinnliche, leibliche Komponente, die sich als körperliches Erleben, Spüren und Erfühlen ausdrückt. Was „schön“ ist, „wissen wir umso genauer, je klarer unsere körperlichen Reaktionen auf diese Wahrnehmungen sind“ (Schulze 1992, S. 106).Footnote 3 Die erlebten Emotionen werden so zu einem wichtigen Beurteilungskriterium der Zielerreichung und sie sind, so die These, auch für die Bewertung des eigenen Lebens von hoher Relevanz.

2.3 Leitende Fragestellung der Untersuchung

Aufgrund der bisherigen Überlegungen ist zu vermuten, dass Emotionen wichtiger für Handlungen, Entscheidungen oder Bewertungen werden, je weiter sich eine Gesellschaft dem Idealtypus der hier beschriebenen Erlebnis- und Konsumgesellschaft angleicht. Diese leitende Annahme bietet unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten für die empirische Forschung. In diesem Beitrag werden wir eine Möglichkeit untersuchen: den Einfluss von Emotionen auf die Bewertung des eigenen Lebens. Theoretisch sollte es in der Erlebnisgesellschaft zunehmend „normal“ sein, das eigene Leben daran zu messen, wie gut man sich fühlt. Emotionen müssten sich also stärker auf die Lebenszufriedenheit auswirken. Unsere zentrale Hypothese lautet deshalb:

H:

Emotionen wirken sich stärker auf die Lebenszufriedenheit einer Person aus, je eher die Gesellschaft, in der diese Person lebt, der hier vorgestellten Konsum- und Erlebnisgesellschaft ähnelt.

3 Befunde der Lebenszufriedenheitsforschung

Bevor wir diese Hypothese in einer komparativen Analyse überprüfen, geben wir einen kurzen Überblick über die Lebenszufriedenheitsforschung. Wir diskutieren zuerst, welche kognitiven Informationen für die Bewertung des Lebens herangezogen werden und anschließend, welche Relevanz Emotionen für die Lebenszufriedenheit besitzen. Der Forschungsüberblick verdeutlicht zudem, dass das Konzept eines „guten Lebens“ ein Stück weit sozial konstruiert ist und der Einfluss, den verschiedene Determinanten auf die Lebenszufriedenheit haben, zwischen verschiedenen Gesellschaften variieren kann.

3.1 Kognitive Informationen als Determinanten der Lebenszufriedenheit

In der Literatur herrscht weitgehend Einigkeit, dass die Bestimmung der eigenen Lebenszufriedenheit durch einen komplexen kognitiven Prozess erfolgt (Diener et al. 1999; Schimmack 2008). Für die Einschätzung des eigenen Lebens werden repräsentative Informationen über das eigene Leben gesammelt, bewertet und in ein Gesamturteil, die Lebenszufriedenheit, integriert (Schwarz und Strack 1991, 1999). Bei diesen Informationen handelt es sich vor allem um kognitive Informationen über die aktuellen eigenen Lebensbedingungen und Lebensereignisse (Headey et al. 1984; Headey und Wearing 1989; Allardt 1993; Frey und Stutzer 2002). Diese kognitiven Informationen werden bewertet, wobei die Bewertung von multiplen internen und externen Vergleichsstandards sowie von der persönlichkeitsbedingten Sichtweise auf die eigenen Lebensbedingungen und Lebensereignisse abhängt (Michalos 1985; Lucas und Diener 2009).

Welche spezifischen Informationen eine Person als repräsentativ für ihr Leben interpretiert und daher in die Kalkulation ihrer Lebenszufriedenheit einbezieht und vor allem inwieweit sich Personen bezüglich der Auswahl oder der Gewichtung der Informationen unterscheiden, ist strittig. Zum einen können zahlreiche Studien zeigen, dass bestimmte Lebensbedingungen von nahezu allen Menschen als zufriedenheitsrelevant erachtetet werden. So zeigt Delhey (2010) in einer Studie, in der Personen aus 28 europäischen Ländern nach den Determinanten ihrer Lebenszufriedenheit befragt wurden, dass Gesundheit, ein hinreichendes Einkommen und familiäre Geborgenheit nahezu überall als sehr relevant für die Lebenszufriedenheit eingeschätzt werden. Und Diener et al. (2000) können mit Daten des World Values Survey für 42 Länder zeigen, dass eine feste Partnerschaft nahezu überall positiv mit der Lebenszufriedenheit zusammenhängt. Dieser universelle Einfluss, den viele Lebensbedingungen auf die Lebenszufriedenheit haben, lässt sich insbesondere durch ihren Beitrag zur Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse erklären (vgl. Maslow 1943; Diener 1984).

Zum anderen gibt es aber auch zahlreiche Befunde, die zeigen, dass sowohl individuelle als auch kollektive Unterschiede bezüglich der Gewichtung der lebenszufriedenheitsrelevanten Informationen existieren (vgl. Diener et al. 1999; Oishi et al. 1999). Es wird betont, dass die Gewichtung der verschiedenen Determinanten der Lebenszufriedenheit insbesondere von ökonomischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängt. So können Delhey (2010) sowie Welzel und Inglehart (2010) unabhängig voneinander zeigen, dass der Einfluss von persönlicher Autonomie auf die Lebenszufriedenheit in stärker modernisierten Gesellschaften höher ausfällt als in weniger modernisierten Gesellschaften. Böhnke und Kohler (2010) finden heraus, dass der Einfluss von Einkommen auf die Lebenszufriedenheit mit dem Wohlstand der Gesellschaft sinkt, während das Zusammenleben mit einem Partner an Bedeutung zunimmt. Und die Ergebnisse einer Studie von Jagodzinski (2010) weisen darauf hin, dass die Lebenszufriedenheit von Asiaten stärker von kulturellen Faktoren wie der Religiosität oder dem Nationalstolz des Landes beeinflusst wird als die Lebenszufriedenheit von Europäern. Diese Befunde werden in allen Studien ähnlich erklärt: Die Gesellschaft, in der Menschen leben, beeinflusst die Relevanz, die bestimmte Informationen typischerweise für die Kalkulation der individuellen Lebenszufriedenheit besitzen.

3.2 Der Einfluss von Emotionen auf die Lebenszufriedenheit

Neben diesen kognitiven Informationen können aber auch affektive Informationen in die Beurteilung des eigenen Lebens einfließen (Schwarz 2011). Unter affektiven Informationen werden insbesondere Stimmungen und EmotionenFootnote 4 verstanden. Studien legen nun nahe, dass aktuelle und zeitlich zurückliegende Emotionen in allen Gesellschaften einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit haben. Emotionen wie Ärger, Angst, Schuld, Sorge und Eifersucht senken die Lebenszufriedenheit und Emotionen wie Freude, Stolz, Heiterkeit und Liebe erhöhen die Lebenszufriedenheit (vgl. Pilcher 1998; Schimmack et al. 2002a, 2002b; Kuppens et al. 2008; Rojas und Veenhoven 2013).Footnote 5 Die Mehrzahl der vorliegenden Studien untersucht jedoch nicht den Einfluss einzelner Emotionen auf die Lebenszufriedenheit, sondern den Einfluss verschiedener positiver Emotionen und verschiedener negativer Emotionen, die sie jeweils in einem Index zusammenfassen. Es zeigt sich: Positive Emotionen erhöhen die Lebenszufriedenheit, während negative Emotionen die Lebenszufriedenheit senken. Kuppens et al. (2008, S. 66) schlussfolgern daher, dass der Einfluss von Emotionen auf die Lebenszufriedenheit ebenfalls universell ist: „positive and negative emotions might be universally viewed as desirable and undesirable“.

Allerdings gibt es insbesondere drei Studien, die nachweisen können, dass auch die Relevanz von Emotionen für die Lebenszufriedenheit zwischen Gesellschaften variiert. Zum einen untersuchen Suh et al. (1998), welchen Einfluss Emotionen auf die Lebenszufriedenheit in unterschiedlichen Ländern haben. Sie stützen sich auf Daten des World Values Survey (WVS) 1990 sowie auf eine internationale Befragung von College-Studenten aus dem Jahr 1995. Für jedes der einbezogenen Länder berechnen sie eine Korrelation zwischen der „hedonic balance“, der Differenz aus den erlebten positiven und negativen Emotionen, und der Lebenszufriedenheit, wobei sich die dokumentierten Korrelationskoeffizienten im Hinblick auf ihre Stärke unterscheiden. In einigen Ländern liegen sie bei 0,20 (z. B. in Indien), in anderen Ländern über 0,50 (z. B. in Finnland und Westdeutschland). Diese Länderunterschiede interpretieren Suh et al. im Rekurs auf das Individualismus-Kollektivismus-Konzept, das zur Messung kultureller Unterschiede von Hofstede (1991) und Triandis (1995) in die Diskussion eingebracht wurde. Dabei zeigt sich, dass der Einfluss von Emotionen in individualistischen Ländern deutlich höher als in kollektivistischen Ländern ist. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen auch Schimmack et al. (2002b), die den Einfluss der „hedonic balance“ auf die Lebenszufriedenheit in fünf Ländern (USA, Deutschland, Japan, Mexiko, Ghana) untersuchen. Sie können zeigen, dass die Kultur des Landes, ebenfalls gemessen durch den Individualismusgrad der Gesellschaft nach Hofstede und Triandis, den Einfluss der „hedonic balance“ auf die Bewertung des Lebens moderiert. Im Vergleich dieser fünf Länder ist zu erkennen, dass die Bedeutung der Emotionen für die Lebenszufriedenheit in Ländern mit einer individualistischen Kultur zunimmt. Und schließlich untersuchen Kuppens et al. (2008) den Zusammenhang zwischen Emotionen und Lebenszufriedenheit auf Basis des International College Surveys 2001. Sie unterscheiden zwischen dem Einfluss von positiven und negativen Emotionen. Zudem ziehen sie zwei verschiedene Messungen von Kultur heran. Zum einen ordnen sie ihre Länder abermals entlang der Individualismus-Kollektivismus-Dimension. Zum anderen verwenden sie eine Wertedimension von Inglehart, nämlich die auf Länderebene ermittelten postmaterialistischen Selbstverwirklichungswerte (self-expression values). Ihre Befunde zeigen, dass: „negative emotional experiences were more negatively related to life satisfaction in individualistic than in collectivistic nations, and positive emotional experiences had a larger positive relationship with life satisfaction in nations that stress self-expression than in nations that value survival“ (Kuppens et al. 2008, S. 66). So können auch Kuppens et al. belegen, dass der Einfluss von Emotionen auf die Lebenszufriedenheit von kulturellen Makrofaktoren moderiert wird.

Alle drei Studien weisen unserer Meinung nach allerdings einige Probleme auf:

  1. 1.

    Auf der theoretischen Ebene bleibt Erklärungsbedarf, weshalb in individualistischen Kulturen gerade Emotionen so wichtig für die eigene Zufriedenheit werden sollen. Schließlich kann man sich auch eine individualistische Gesellschaft rational handelnder Egoisten vorstellen, die ihren Emotionen wenig Beachtung schenken. In der zuletzt zitierten Studie von Kuppens et al. (2008) fragt man sich zudem, warum sich der Einfluss von positiven Emotionen auf die Lebenszufriedenheit mit dem Postmaterialismusniveau der Gesellschaft, der Einfluss von negativen Emotionen hingegen mit dem Individualismusgrad einer Gesellschaft vergrößern soll.Footnote 6 Unserer Ansicht nach ist der theoretische Bezug auf das Konzept der Erlebnisorientierung viel geeigneter, die zunehmende Bedeutung von Emotionen zu begründen.

  2. 2.

    Alle drei Studien basieren, bis auf eine Teilanalyse der ersten Studie, auf homogenen Samples, die ausschließlich Universitätsstudenten beinhalten. Inwieweit diese Ergebnisse also auf die ganze Gesellschaft übertragen werden können, bleibt ungewiss.

  3. 3.

    Darüber hinaus sind die gefundenen Zusammenhänge keineswegs empirisch so deutlich, wie die Ergebnisse zunächst anzeigen. Würde man bei der Berechnung der Zusammenhänge beispielsweise nur die europäischen Länder berücksichtigen, würden sich die gefundenen Makro-Zusammenhänge deutlich abschwächen. Weder die Individualismus-Kollektivismus-Dimension noch die postmaterialistischen Selbstverwirklichungswerte eignen sich besonders gut, um Unterschiede zwischen europäischen Ländern zu erklären, da viele europäische Länder relativ ähnliche Werte auf diesen Dimensionen haben.

  4. 4.

    Schließlich gibt es einige kollektivistische Länder und Regionen wie Singapur, Taiwan oder Hongkong, in denen der Effekt von Emotionen auf die Lebenszufriedenheit entgegen der Erwartung sehr stark ausfällt (vgl. Suh et al. 1998, S. 487). Hier scheint sich also das Individualismus-Kollektivismus-Konzept nicht optimal für die Erklärung des Zusammenhangs zwischen Emotionen und Lebenszufriedenheit zu eignen. Folgt man dagegen unserer Argumentation, ließen sich diese „Ausreißer“ möglicherweise besser erklären. Singapur, Taiwan und Hongkong mögen zwar kollektivistisch sein, zugleich handelt es sich bei diesen Ländern aber um weit fortgeschrittene Konsum- und Erlebnisgesellschaften, was gut zu dem starken Effekt passt, den Emotionen auf die Lebenszufriedenheit in diesen Ländern haben.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Menschen für ihre Lebenszufriedenheitseinschätzung sowohl kognitive Informationen über Lebensbedingungen und Lebensereignisse heranziehen als auch affektive Informationen in Form von aktuellen Emotionen und Stimmungen (Mikro-Ebene). Wie die länder- und kulturvergleichende Forschung aber zeigt, variiert die Stärke, mit der einzelne Faktoren die Lebenszufriedenheit beeinflussen, systematisch mit ökonomischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft (Makro-Ebene). In modernisierten, wohlhabenden Ländern oder in individualistischen Kulturen gewinnen Merkmale wie persönliche Autonomie oder Wohlbefinden an Bedeutung, die in weniger modernisierten Ländern oder kollektivistischen Kulturen eine geringere Relevanz haben. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen moderieren also den Einfluss, den einzelne (kognitive und affektive) Faktoren für die Bewertung des Lebens haben. Sie fungieren als Filter, die definieren, welche Einflüsse typischerweise von Menschen als wichtiger und welche als weniger wichtig für die eigene Zufriedenheit wahrgenommen werden (vgl. auch Delhey 2004; Li und Bond 2010; Rojas und Veenhoven 2013). In unserer empirischen Analyse steht nun einen spezifischer Makrofaktor im Mittelpunkt, den wir im Anschluss an Gerhard Schulze als Erlebniskultur bezeichnen. Wir hatten argumentiert, dass Emotionen in der Erlebnisgesellschaft als Kriterium für die Lebenszufriedenheit immer wichtiger werden. Die empirische Analyse prüft diese Annahme nun im Vergleich europäischer Länder.

4 Zur Untersuchung

4.1 Design der Analyse

Die im Theorieabschnitt beschriebene individualisierte Konsum- und Erlebnisgesellschaft ist ein Idealtyp. Wir gehen dementsprechend nicht davon aus, dass eine solche Gesellschaft heute in Reinform existiert, wohl aber, dass es Länder gibt, die diesem Idealtyp sehr nahe kommen, während andere Länder diesem Idealtyp weniger gut entsprechen. Die folgende Analyse basiert auf 23 europäischen Ländern, die sich darin unterscheiden, inwieweit sie dem beschriebenen Idealtypus ähneln.Footnote 7

Unsere Hypothese vermutet einen zunehmenden Einfluss der erlebten Emotionen auf die Bewertung des eigenen Lebens, je ähnlicher ein Land dem Idealtyp der Erlebnisgesellschaft ist. Um diese Annahme zu testen, schätzen wir ein Mehrebenenmodell mit der abhängigen Variable Lebenszufriedenheit. Auf der Individualebene werden wir als Erklärungsgrößen die erlebten positiven und negativen Emotionen einbeziehen. Zudem berücksichtigen wir zahlreiche Lebenszufriedenheitsdeterminanten, die aus der Literatur bekannt sind. Auf diese Weise können wir den spezifischen Einfluss von positiven und negativen Emotionen weitestgehend unverzerrt ermitteln. Auf der Länderebene müssen wir das Konstrukt „Erlebniskultur“ operationalisieren und in die Analyse mit einbeziehen. Unsere Hypothese postuliert nun zwei Cross-Level-Interaktionen zwischen der „Erlebniskultur“ auf der Länderebene und den positiven oder negativen Emotionen auf Individualebene. Zeigen diese Cross-Level-Interaktionen einen signifikant positiven Einfluss im Falle der positiven Emotionen und einen signifikant negativen Einfluss im Falle der negativen Emotionen an, können wir unsere Annahme als bestätigt ansehen.

4.2 Daten und Indikatoren

Unsere Analyse stützt sich auf die dritte Welle des European Social Survey (ESS), die 2006 erhoben wurde. Der ESS beinhaltet die meisten europäischen Länder. Ein Schwerpunktthema des ESS 2006 war die Lebenszufriedenheit.

  1. 1.

    Als abhängige Variable benutzen wir eine Standardfrage zur Messung der Lebenszufriedenheit einer Person. Im ESS wurde die Frage gestellt: „Wie zufrieden sind Sie, alles in allem, mit ihrem Leben?“ Die Befragten konnten ihre Antwort zwischen 0 = „äußerst unzufrieden“ bis 10 = „äußerst zufrieden“ abstufen.

  2. 2.

    Um die erlebten positiven und negativen Emotionen zu ermitteln, wurden die Personen befragt, wie oft sie in der letzen Woche verschiedene Gefühle erlebt hatten. Aus den Häufigkeiten, mit denen die Befragten a) glücklich waren, b) das Leben genossen haben, c) viel Energie hatten und d) ruhig und gelassen waren, bilden wir einen Index der positiven Emotionen. Als negative Emotionen fassen wir die Häufigkeiten zusammen, mit denen sie sich a) deprimiert oder niedergeschlagen, b) einsam und c) traurig gefühlt haben sowie d) ängstlich waren. Beide Skalen können Werte zwischen 1 und 4 annehmen, wobei der Wert 1 für eine Person steht, die die genannten Emotionen „nie oder fast nie“ erlebt hat, während 4 eine Person beschreibt, die diese Emotionen „immer oder fast immer“ erlebte.

  3. 3.

    Als Kontrollvariablen enthalten die Modelle: Alter, Alter quadriert, Geschlecht, Bildung (in Jahren), Familienstand, Arbeitslosigkeit, die Zufriedenheit mit dem materiellen Lebensstandard, den subjektiven Gesundheitszustand und das generalisierte Vertrauen (siehe auch Tab. 3, im Anhang). Alle Merkmale haben sich in früheren Arbeiten bei der Erklärung von Unterschieden in der Lebenszufriedenheit bewährt. Aus Platzgründen verzichten wir an dieser Stelle aber auf eine dezidierte Diskussion ihrer Wirkungen.

  4. 4.

    Auf der Länderebene müssen wir das Konstrukt „Erlebniskultur“ operationalisieren, um einschätzen zu können, inwieweit ein Land dem Idealtyp der Erlebnisgesellschaft ähnelt. Wie im Theorieabschnitt erläutert, hat die Gesellschaft, die wir im Blick haben, zwei Facetten: Sie zeichnet sich zum einen durch einen stark ausgebauten Erlebnismarkt und zum anderen durch ausgeprägte, erlebnisorientierte Konsummuster aus. Wir greifen deshalb auf drei Indikatoren zurück, die diese Aspekte einer Erlebniskultur abbilden: a) Die jährlichen Konsumausgaben pro Kopf (kaufkraftbereinigt) bilden die Gesamtmenge aller Güter und Dienstleistungen ab, die von Privathaushalten konsumiert werden. b) Der explizit erlebnisorientierte Konsum lässt sich über den Anteil an den gesamten privaten Konsumausgaben messen, der für Freizeit und Kultur ausgegeben wird, also beispielsweise für Konzert- und Theaterbesuche, Bücher und Musikinstrumente, aber auch für technisches Equipment wie Fernsehgeräte, DVD-Player, Videokameras und ähnliche Geräte. c) Der Anteil der Erwerbspersonen, die im Kultur- und Mediensektor arbeiten, ist schließlich ein guter Indikator für die (erlebnis-) kulturelle Infrastruktur, die in einem Land existiert (vgl. bereits Gerhards 2008). Diese Angebotsstruktur ist eine Voraussetzung dafür, dass die Menschen ihre Präferenzen nach „schönen Erlebnissen“ mit geringem Aufwand realisieren können. Diese drei Indikatoren haben wir zu einem Indexwert zusammengefasst, den wir folgend als „Erlebniskultur“ bezeichnen. Wir haben diesen Index so für die hier einbezogenen Länder normiert, dass er einen Wertebereich von 0 bis 1 aufweist.

Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Indikatoren und den Index. Wie zu erkennen ist, weist Norwegen den höchsten Wert bei der „Erlebniskultur“ auf und erhält den Indexwert 1. Es folgen Dänemark (0,88), Großbritannien (0,86) und Deutschland (0,82). Am unteren Ende der Länderrangfolge liegen mit der Ukraine (0,00), Russland (0,19) und Bulgarien (0,23) jene Länder, die dem Idealtypus der Konsum- und Erlebnisgesellschaft am wenigsten entsprechen.

Tab. 1 Überblick über die Indikatoren der Erlebnisorientierung in 23 Ländern

5 Ergebnisse

Die Ergebnisse des Mehrebenenmodells sind in Tab. 2 dokumentiert. Bevor wir zum Einfluss der Emotionen auf die Lebenszufriedenheit kommen, blicken wir zunächst auf den Makro-Indikator, den Index für die Erlebniskultur eines Landes: Der Einfluss der Erlebniskultur ist signifikant und positiv. Die durchschnittliche Lebenszufriedenheit von Personen aus einem Land, das am ehesten dem Idealtyp der Erlebnisgesellschaft entspricht und Personen aus einem Land, das diesem Idealtyp am wenigsten ähnelt, differiert um 0,70 Skalenpunkte. Angesichts der 11-stufigen Lebenszufriedenheitsskala ist das ein eher geringer Unterschied. Es bleibt aber festzuhalten: Menschen, die in einer Gesellschaft mit stark ausgeprägter Erlebniskultur leben, sind im Vergleich zu Personen in weniger erlebnisorientierten Ländern etwas zufriedener mit ihrem Leben.

Tab. 2 Mehrebenenmodell zur Erklärung der Lebenszufriedenheit

Kommen wir nun zu unserer eigentlichen Frage, dem Einfluss von Emotionen auf die Lebenszufriedenheit. Sowohl positive Emotionen als auch negative Emotionen wirken sich erwartungsgemäß signifikant auf die Lebenszufriedenheit aus. Personen, die häufig von positiven Emotionen berichten, sind zufriedener mit ihrem Leben als Personen, die angegeben haben, so gut wie nie positive Emotionen zu erleben. Negative Emotionen führen hingegen zu einer geringeren Lebenszufriedenheit. Der Unterschied auf der Zufriedenheitsskala zwischen einer Person, die nur positive und fast nie negative Emotionen erlebt und einer Person, die nur negative und fast nie positive Emotionen erlebt, würde, ceteris paribus, bei rund 2,1 Skalenpunkten liegen. Diesen Unterschied, der sich aus den Haupteffekten ergibt, können wir in jedem Land erwarten, also selbst in den Ländern, die nicht dem Typus der postmodernen Erlebnisgesellschaft entsprechen. Darüber hinaus zeigen die Befunde, dass der Einfluss von Emotionen in Erlebnisgesellschaften, so wie wir vermutet haben, ansteigt. Die signifikanten Cross-Level-Interaktionen belegen dies: Je stärker die erlebniskulturelle Orientierung in einem Land ausgeprägt ist, desto stärker schlagen sich die erlebten positiven und negativen Emotionen auf die Lebenszufriedenheit nieder. In dem Land, für das der höchste Grad an Erlebnisorientierung ausgewiesen wird (Norwegen; Indexwert 1,0), ist der Einfluss der erlebten Emotionen deutlich größer als in dem Land, das unserem Index zufolge am wenigsten erlebnisorientiert ist (Ukraine; Indexwert 0,0). In Norwegen würden Personen, die ausnahmslos positive Emotionen angeben, auf der Lebenszufriedenheitsskala um etwa 3,4 Skalenpunkte über dem Lebenszufriedenheitsniveau der Personen liegen, die nur negative Emotionen berichten (Haupteffekt + Cross-Level-Effekt), während sich Personen in der Ukraine maximal um 2,1 Skalenpunkte unterscheiden würden (nur Haupteffekt). Die Differenz zeigt, wie wichtig es für Menschen in einer Konsum- und Erlebnisgesellschaft ist, sich gut zu fühlen und wie eng sie ihre Lebenszufriedenheit an ihre Emotionen koppeln.

Um diese Cross-Level-Interaktionen noch besser zu veranschaulichen, haben wir für jedes Land ein länderspezifisches Regressionsmodell berechnet, das (selbstverständlich) nur die Variablen beinhaltet, die auf der Individualebene liegen. Die Effekte der positiven und negativen Emotionen auf die Lebenszufriedenheit, die sich in den einzelnen Regressionen ergeben, haben wir im Anhang für alle 23 Länder dokumentiert (Tab. 4). Was uns hier interessiert, ist der Betrag der standardisierten Regressionsgewichte (β). Wir haben den Betrag der Regressionskoeffizienten für positive und für negative Emotionen addiert und in Abb. 1 auf der y-Achse abgetragen. Dieser Kennwert gibt an, wie stark die Lebenszufriedenheit unter Kontrolle aller anderen Einflussgrößen von den erlebten positiven und negativen Emotionen abhängt. Die x-Achse gibt die erlebniskulturelle Orientierung des jeweiligen Landes an. Wie man deutlich erkennen kann, variiert der standardisierte Emotionseffekt aus den länderspezifischen Regressionsmodellen mit dem Ausmaß, in dem ein Land dem Idealtyp der postmodernen Erlebnisgesellschaft entspricht: Je stärker die Erlebnisorientierung einer Gesellschaft ausgeprägt ist, desto größer ist der Einfluss, den Emotionen auf die Lebenszufriedenheit haben. In Norwegen ist der gemeinsame Effekt der positiven und negativen Emotionen am größten. Der Betrag der standardisierten Regressionsgewichte liegt in diesen Ländern bei 0,48, die Lebenszufriedenheit einer Person ist hier am engsten an die Emotionen gekoppelt. Aber auch in Finnland, den Niederlanden und Dänemark hängt die Lebenszufriedenheit stark von den erlebten Emotionen ab. Alle diese Länder besitzen zudem eine sehr stark ausgeprägte Erlebnisorientierung gemäß unserem Index. Anders sieht es in Estland, der Ukraine oder Russland aus, die eher am Ende der Länderrangfolge bei der Erlebnisorientierung rangieren: Hier liegt der Betrag der standardisierten Effekte insgesamt bei 0,11 bis 0,16; das heißt Emotionen haben in diesen Ländern nur einen schwachen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit. Der in der Abbildung dargestellte Zusammenhang ist mit r = 0,72 sehr stark ausgeprägt und hoch signifikant.Footnote 8

Abb. 1
figure 1

Gesellschaftliche Erlebnisorientierung und der Einfluss der erlebten positiven und negativen Emotionen auf die Lebenszufriedenheit in 23 europäischen Ländern

6 Fazit

Eine Reihe von neueren Forschungsarbeiten zeigen, dass sich die Determinanten der Lebenszufriedenheit zwischen verschiedenen Gesellschaften insbesondere in ihrer Einflussstärke systematisch unterscheiden (Delhey 2010; Kuppens et al. 2008; Schimmack et al. 2002b; Suh et al. 1998; Welzel und Inglehart 2010). In postindustriellen Ländern verlieren die Einkommenszufriedenheit und der materielle Wohlstand ihre herausragende Bedeutung für die Lebenszufriedenheit, während zugleich persönliche Autonomie, das Vorhandensein von kreativen Mitgestaltungsmöglichkeiten und das Erleben von positiven Emotionen an Bedeutung gewinnen. Wir haben ebenfalls im Rekurs auf die „Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard Schulze argumentiert, dass Wohlbefinden und positive Emotionen für Menschen in individualisierten Konsum- und Erlebnisgesellschaften wichtiger werden: Menschen handeln dann zum einen verstärkt erlebnisrational. Sie wählen jene Handlungsalternativen, von denen sie glauben, dass sie hierdurch in sich selbst ein Maximum an positiven Stimmungen und Emotionen evozieren können. Und zum anderen nutzen sie die eigenen Gefühle zunehmend als Bewertungskriterium für das Gelingen ihres Lebens. Eine solche zunehmende Emotionsorientierung bei der Bewertung des eigenen Lebens haben wir empirisch im Ländervergleich untersucht. Wie die Befunde unserer Analyse erkennen lassen, wird unsere Hypothese unterstützt. In Erlebnisgesellschaften verschiebt sich die „Formel“ für Lebenszufriedenheit: Wer sich gut fühlt, also häufig positive Emotionen und selten negative Emotionen erlebt, ist mit dem Leben zufriedener. Lebenszufriedenheit speist sich in der Erlebnisgesellschaft weniger aus einer Reflexion über das im bisherigen Leben Erreichte, sondern erhält stattdessen eine starke hedonistische Tönung. Lebenszufriedenheit wird zunehmend gleichgesetzt mit Wohlbefinden und angenehmen Emotionen.

Ausgehend von dieser Befundlage lassen sich nun einige Konsequenzen aufzeigen und Bewertungen vornehmen:

  1. 1.

    Zunächst ist anzunehmen, dass sich die Identität erlebnisorientierter Menschen in der Tat zunehmend über innere Zustände, wie Stimmungen und Emotionen, definiert. Dieser Gedanke ist nicht neu: Bereits in älteren Arbeiten wird theoretisch argumentiert, dass sich mit fortschreitender Modernisierung das „impulsive Selbst“ (Turner 1976) einer Person stärker in den Vordergrund schiebt, weil gesellschaftliche Normen und Regeln an Verbindlichkeit verlieren und zwangsläufig die Selbstbindung der Akteure an diese Normen sowie die einhergehenden Impulskontrolle nachlässt. Das „impulsive Selbst“ übernimmt also das Kommando. Postmoderne Menschen würden insofern in stärkerem Maße emotionsgesteuert handeln, sie würden aufmerksamer auf ihre Emotionen achten, vermehrt ihre Gefühle kommunizieren und in ihrer Selbstbeschreibung würden sie eher immanente Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Lebenslust, Neugier, Authentizität u.ä. betonen (zsfd. bereits Gerhards 1989).

  2. 2.

    Dieser Trend lässt sich unterschiedlich bewerten: In der optimistischen Lesart der Befunde, werden die Menschen in der Erlebnisgesellschaft zufriedener, weil sie nicht nur ihr Bedürfnis nach existenzieller Sicherheit, sondern auch viele „höhere“ Bedürfnisse nach Selbstentfaltung, ästhetischem Genuss oder intellektueller Anregung unmittelbar befriedigen können. Als Folge davon stellt sich bei vielen Menschen ein hohes Niveau an positiven Emotionen sowie ein niedriges Niveau an negativen Emotionen ein. Diese Annahme wird unterstützt durch weiterführende, hier aber nicht dargestellte Analysen, die zeigen, dass in stärker erlebnisorientierten Gesellschaften das durchschnittliche Niveau an positiven Emotionen leicht ansteigt, während negative Emotionen deutlich zurückgehen. In der fortgeschrittenen Moderne, so könnte man daraus schließen, sind die Menschen also tatsächlich häufiger positiv gestimmt, womit dann auch eine leicht höhere Lebenszufriedenheit einhergeht. In der pessimistischen Lesart werden die Menschen auf der Suche nach dem erhofften Wohlbefinden zum Spielball von Konsum und Kommerz. Sie werden empfänglich für die seichten Vergnügungen des Erlebnismarktes und die flüchtigen Versprechen der Werbung, die immer neue und inzwischen wohl weitestgehend artifizielle Bedürfnisse weckt und bedient. Nicht zuletzt dürfte auch die Angst vor Langeweile dem Erlebniskonsum immer wieder neue Nahrung geben, denn Erlebniskonsumenten haben sich, schreibt Schulze (1992, S. 543), inzwischen „wie Medikamentenabhängige“ an die „tägliche Ration psychophysischer Stimulation“ gewöhnt, weshalb es beim Erlebniskonsum nun zunehmend darum gehe, ein „Absinken des habitualisierten Niveaus an Erlebnissen“ zu vermeiden.

  3. 3.

    Welcher Lesart auch immer man den Vorzug einräumt, feststeht, dass Menschen in individualisierten Erlebnisgesellschaften ihre Emotionen bei der Bewertung ihres Lebens stärker berücksichtigen. Was möglicherweise abhanden kommt, ist eine andere Form von Zufriedenheit, die darin besteht, das eigene Leben als Sinnzusammenhang zu begreifen und nicht nur als Aneinanderreihung von glücklichen Momenten (vgl. Ryan und Deci 2001). Lebenszufriedenheit bezieht sich demnach auf die rückblickende, grundsätzliche Bewertung des eigenen Lebens als sinnvoll, kohärent und nützlich. Diese langfristige (Sinn-) Perspektive haben Menschen in der Erlebnisgesellschaft aber offenbar immer weniger im Kopf, wenn man sie nach ihrer Lebenszufriedenheit fragt.