1. Einleitung

Die Schichtung einer Gesellschaft ergibt sich aus den Unterschieden zwischen Gruppen in der Verfügung über Ressourcen, die in einer Gesellschaft als wichtig gelten. Zu den zentralen Ressourcen, die in modernen Gesellschaften als wichtig erachtet werden, gehören u. a. das Einkommen und das Vermögen, die Machtbefugnisse von Personen und das Prestige, das Menschen in den Augen der Anderen genießen. Die Unterschiede in der Verfügung über diese Ressourcen beeinflussen wiederum entscheidend die Lebenschancen, die Menschen innerhalb der Gesellschaft haben. Als Oberschicht oder dominierende Klasse einer Gesellschaft bezeichnet man diejenigen Personen und Gruppen, die über eine außergewöhnlich gute Ausstattung an zentralen Ressourcen verfügen und insofern in der Klassenstruktur einer Gesellschaft „oben“ positioniert sind. Im Zentrum des Artikels steht eine Analyse der kulturellen Oberschicht. Der Kulturbegriff hat sowohl im Alltagssprachgebrauch als auch in der wissenschaftlichen Kommunikation eine Vielzahl von Bedeutungen (Gerhards 1989; Perpeet 1984). Ich bezeichne hier mit Kultur den gesellschaftlichen Bereich, der sich auf Kunstaktivitäten im weitesten Sinne bezieht. Auch für diesen Bereich und den hinter diesen Aktivitäten lagernden ästhetischen Präferenzen hat die soziologische Literatur gezeigt, dass er geschichtet ist. Vor allem die Arbeiten von Pierre Bourdieu und die von ihm wesentlich mitinitiierte Lebensstilforschung haben nachgewiesen, dass Fragen der Kunst Klassenfragen darstellen. Der Besuch von Konzerten, Museen der bildenden Kunst und Ballettaufführungen sind Ausdruck eines so genannten legitimen Geschmacks, von Aktivitäten also, die in einer Gesellschaft hohes Ansehen genießen. Der Besuch von Konzerten der Volksmusik, das Lesen von Groschenromanen und der Klatschspalten der Illustrierten oder das Aufhängen von Bildern mit Sonnenuntergangsmotiven sind Ausdruck eines einfachen Geschmacks und können für sich nicht oder im geringeren Maße den Anspruch gesellschaftlicher Achtung reklamieren. Der in den Kunstpraktiken der Menschen zum Ausdruck kommende Geschmack ist nun keine „harte“ Ressource wie das Einkommen und das Vermögen; der gesellschaftliche Wert der Kunst besteht für seine Nutzer in seinem symbolischen Wert, in der Anerkennung also, die man mit einer bestimmten Kunstpraxis in den Augen der anderen Gesellschaftsmitglieder genießt und mit der man sich gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft abgrenzen kann. Als kulturelle Oberschicht oder als kulturell dominierende Klasse wird hier entsprechend diejenige Gruppe einer Gesellschaft bezeichnet, die sich in ihren kulturellen Praktiken an dem legitimen Geschmack, an der Hochkultur einer Gesellschaft, orientiert.

Nun ist die Verfügung über die Ressourcen des legitimen Geschmacks nicht unabhängig von der Verfügung über die anderen Ressourcen, die in einer Gesellschaft als wichtig erachtet werden. Pierre Bourdieu (1982) hat in seiner richtungweisenden Arbeit „Die feinen Unterschiede“, in der er die französische Gesellschaft der 1960er- und 1970er- Jahre analysiert hat, einen engen Zusammenhang zwischen der Ressourcenausstattung der Menschen und ihrer Klassenlage einerseits und ihren Lebensstilen andererseits nachgewiesen. Die Stärke des Zusammenhangs zwischen Klassenlage und Lebensstilorientierung ist dabei in der Literatur aber überaus umstritten (vgl. zusammenfassend Rössel 2005; Otte 2005). Manche Autoren gehen davon aus, dass der Zusammenhang zwischen der Klassenlage und den Lebensstilen gerade in sich zunehmend individualisierenden Gesellschaften eher schwach ausgeprägt ist, andere Autoren vermuten einen eher engen Zusammenhang zwischen Klassen und Lebensstilen. Die meisten Lebensstilstudien sind allerdings auf die Analyse einer nationalstaatlich definierten Gesellschaft begrenzt (vgl. z. B. Bourdieu 1982; Blasius/Winkler 1989; Schulze 1992; Spellerberg 1996; Hartmann 1999; Otte 2004). Vergleichende Analysen des Zusammenhangs von Klassenlage und (Hoch)Kulturorientierung sind eher selten zu finden.Footnote 1 Die nationalstaatliche Begrenzung der meisten Studien ermöglicht es, entsprechend nicht zu prüfen, ob der Zusammenhang zwischen der Klassenlage und der Lebensstilorientierung nicht von den jeweiligen Kontexten einer Gesellschaft abhängig ist.

Ich werde im Folgenden die Hochkulturorientierung der Bürger in den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union vergleichend untersuchen. Die Tatsache, dass in einer Eurobarometerbefragung Anfang 2007 die Intensität kultureller Aktivitäten abgefragt wurde, bildet eine gute Möglichkeit, dieser Fragestellung nachzugehen. Das erste Ziel der Untersuchung ist es, die Intensität der Kulturnutzung in 27 Ländern der Europäischen Union vergleichend zu beschreiben. Die Ergebnisse werden zeigen, dass die Intensität der Nutzung des hochkulturellen Angebots in allen Ländern sehr gering ist und sich insofern ein einheitliches Muster zeigt, sich aber zugleich Unterschiede zwischen den Ländern und innerhalb der Länder zeigen. Das zweite Ziel der Untersuchung besteht darin, die Unterschiede in der Nutzung der Hochkulturorientierung zu erklären. Dazu werde ich auf das Erklärungskonzept von Pierre Bourdieu zurückgreifen und dieses um das Konzept der kulturellen Gelegenheitsstruktur ergänzen. Das erste Kapitel ist entsprechend der Explikation der Bourdieu’schen Theorie gewidmet, das zweite Kapitel dann den empirischen Analysen.

2. Kapitalien, Klassenlage und der legitime Geschmack der Hochkulturorientierung

Seit Max Webers terminologischer Unterscheidung zwischen Klasse und Stand bzw. ökonomischen Lagen und Lebensstilen (Weber 1972: 538) ist die Frage, in welchem Maße eine Verfügung über die „harten Ressourcen“ die Lebensstilorientierung der Menschen und deren ästhetische Orientierung prägen auf der Tagesordnung sozialwissenschaftlicher Klassen- und Schichtungsanalysen. Seit den 1980er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat diese Analyse des Zusammenhangs zwischen der Kulturorientierung der Bürger und der Klassenstruktur einer Gesellschaft eine deutliche Konjunktur erfahren. Dabei lassen sich zwei Positionen unterscheiden (vgl. Gerhards/Rössel 2002; Katz-Gerro 2002). Tak Wing Chan und John H. Goldthorpe (2007) haben jüngst die erste Argumentationslinie als „the individualization argument“ die zweite als „the homology argument“ bezeichnet.Footnote 2

Individualisierungstheoretiker vertreten die These, dass die Zugehörigkeit zu sozioökonomischen Schichten oder Klassen die Lebensstile, Mentalitäten und das Handeln von Menschen in gegenwärtigen Gesellschaften nur noch schwach prägen (Beck 1986; Schulze 1992; Lüdtke 1989; Hörning/Michailow 1990). In der Literatur werden vor allem zwei Gründe für die Annahme einer Abkoppelung der lebensweltlichen Mentalitäten und Muster des sozialen Handelns von Schichten und Klassen genannt: Erstens hat die allgemeine Wohlstandssteigerung, die Vergrößerung der Freizeit und eine gewaltige Explosion von marktvermittelten Angeboten dazu geführt, dass die einzelnen Menschen in höherem Maße ihr eigenes Leben nach ihren jeweiligen Wünschen gestalten können (Pierenkemper 1987; Beck 1986; Hradil 1987, 2001; Lüdtke 1989; Schulze 1992, 2001). Konzepte wie Klasse und Schicht, die vor allem auf die Ausstattung von Individuen und Haushalten mit bestimmten Ressourcen abzielen, seien daher nicht mehr adäquat für die Erfassung gegenwärtiger Strukturen sozialer Ungleichheit. Neben dieser Verbreiterung der materiellen Möglichkeiten hat in modernen Gesellschaften zweitens ein Wertewandel stattgefunden, in dem Pflichtwerte und materialistische Orientierungen teilweise durch Werte der Selbstverwirklichung und der individuellen Freiheit verdrängt worden sind (Inglehart 1989; Klages 1984). Damit stehen den Individuen nicht nur in materieller Hinsicht mehr Optionen offen, sondern sie sind auch unabhängiger von normativen Beschränkungen und klassenspezifischen Traditionen geworden.

Empirisch ist die These der Abnahme der Erklärungskraft von Klassen- und Schichtkonzepten überaus umstritten (Uttitz 1985; Mayer 1989; Müller 1998; Konietzka 1995; Georg 1998; Hartmann 1999; Zerger 2000; Gebesmair 2001; Otte 2005, 2008; Rössel 2005). Vor allem Pierre Bourdieu behauptet in seinen Arbeiten, dass die Verfügung über Ressourcen und die Klassenlage die Lebensstile der Menschen (weiterhin) in hohem Maße prägen. Gerade bezüglich der Kunstpräferenzen, die selbst Teil eines umfassenderen Lebensstils sind, geht Bourdieu davon aus, dass die Kunstvorlieben in hohem Maße durch die Klassenlage geprägt werden. Bourdieu ist der klassische Vertreter dieser „Homologiethese“ (Chan/Goldthorpe 2007). Ob und in welchem Maße die „Homologie“- oder die „Individualisierungsthese“ richtig ist, ist letztendlich eine empirische Frage.

Ich werde den Theorierahmen Bourdieus als Bezugspunkt für die empirischen Analysen benutzen und dann prüfen, in welchem Maße man einen hochkulturellen Lebensstil mit Hilfe der Bourdieu’schen Annahmen erklären kann. Die Individualisierungsthese bildet in meiner Untersuchung gleichsam die Nullhypothese, empirisch prüfe ich allein die Homologiethese. Wenn es keinen oder nur einen schwachen Zusammenhang zwischen der Klassenlage und dem praktizierten Lebensstil gibt, dann wäre die Homologiethese falsifiziert und die Nullhypothese bestätigt. Dies würde inhaltlich bedeuten, dass man die Varianz in der Praktizierung eines hochkulturellen Lebensstils nicht auf sozialstrukturelle Merkmale, sondern auf individuelle Merkmale, die hier nicht genauer spezifiziert werden können, zurückführen kann.

Ich werde im Folgenden die Grundzüge der Bourdie'schen Theorie kurz erläutern. Bourdieus Analysen des „kulturellen Feldes“ beziehen sich einerseits auf die Produzentenseite von Kultur, in denen er vor allem am Beispiel der Literatur den Prozess der Ausdifferenzierung, Schließung und internen Stratifizierung eines hochkulturellen literarischen Feldes historisch nachzeichnet (vgl. vor allem Bourdieu 1999; Jurt 1995; s. a. Anheier et al. 1995). Sie beziehen sich andererseits auf die Rezipientenseite von Kultur, in denen er die Aneignung von Kunst als Distinktionsmittel der Oberschichten beschreibt.Footnote 3 Für den Kontext meiner empirischen Analysen sind allein die Arbeiten, die sich auf die Rezipientenseite beziehen, von Relevanz; und hier orientiere ich mich in erster Linie an der klassischen Arbeit „Die feinen Unterschiede“. Ich erhebe also nicht den Anspruch einer Gesamtdarstellung der Bourdieu’schen Theorie (eine gute Zusammenfassung der Theorie findet sich z. B. bei Müller 1986; Fröhlich 1994; Krais/Gebauer 2002; Beckert-Zieglschmid 2005; Barlösius 2006).

a) Kapitalien: Die Klassenstruktur einer Gesellschaft ergibt sich durch die Unterschiede in der Verfügung über relevante Ressourcen. Die relevanten Ressourcen werden von Bourdieu als Kapitalien bezeichnet. Er unterscheidet bekanntlich drei Kapitalien.Footnote 4 Das ökonomische Kapital umfasst das Einkommen und das Vermögen einer Person. Die Lebensqualität und die Konsummöglichkeiten von Personen hängen entscheidend von der Höhe des ökonomischen Kapitals ab. Das soziale Kapital bezeichnet die Ressource, die Personen aus Beziehungsnetzwerken und Gruppenzugehörigkeiten schlagen können. Je größer das Beziehungsnetzwerk einer Person und je mehr materielles und kulturelles Kapital die anderen Netzwerkmitglieder besitzen, desto höher ist das soziale Kapital einer Person. Das soziale Kapital kann zur Erwirtschaftung von neuen Beziehungen und zum Erwerb der anderen Kapitalien genutzt werden (Bourdieu 1983: 190 f.).

Das kulturelle Kapital ist selbst in drei Unterformen differenziert. Das institutionalisierte kulturelle Kapitel umfasst die Bildung bzw. die Bildungszertifikate, die eine Person durch die Bildungsinstitutionen einer Gesellschaft verliehen bekommen hat. Die Bildungsabschlüsse sichern den Personen den Zugang zu bestimmten Berufen und dadurch den Zugang zu einem bestimmten Einkommen und zu sozialen Netzwerken. Das objektivierte kulturelle Kapital manifestiert sich in Form des Besitzes von Büchern und Gemälden, von kulturellen Artefakten also.

Das besondere Augenmerk widmet Bourdieu der Analyse des inkorporierten kulturellen Kapitals. Darunter versteht er die Fähigkeit von Menschen, ästhetische Kriterien zur Beurteilung von „Dingen“ anzuwenden; diese ästhetische Kompetenz steuert die Freizeitaktivitäten von Menschen und prägt ihren Lebensstil. Das inkorporierte kulturelle Kapital wird vor allem aber durch die Familie vermittelt. Seine Vermittlung dauert lange, bedarf der beständigen und frühen Sozialisation und ist, einmal erworben, fest in die Person eingeschrieben: „Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der Person wird, zum Habitus geworden ist; aus ‚Haben‘ ist ‚Sein‘ geworden“ (Bourdieu 1983: 187). Zu den Praktiken der Vermittlung von inkorporiertem kulturellem Kapital gehört das Lesen von Büchern, das Erlernen eines Musikinstruments, der Besuch von Ausstellungen etc. Die Schule verstärkt die durch die familiäre soziale Herkunft festgelegte unterschiedliche Ausstattung von Kindern mit inkorporiertem kulturellem Kapital, weil sie sich in ihrem Bildungskanon an den Präferenzen der oberen Klassen orientiert. Unterschiede, die beim Eintritt in die Schule bereits beistehen, werden so durch das Ausbildungssystem verstärkt.

Im Prozess der kontinuierlichen familiären Vermittlung der kulturellen Praktiken, die durch die Schule verstärkt werden, werden ästhetische Vorlieben ausgebildet, die dann den Geschmack einer Person ausmachen und ihre Freizeitaktivitäten steuern, wie z. B. die Vorliebe für bestimme Lebensmittel, Musikstile, Bilder, Sportaktivitäten, Zeitungen und Zeitschriften etc. Ich komme auf das für die Fragestellung des Artikels wichtige Verhältnis zwischen inkorporiertem kulturellem Kapital, Geschmack, Habitus, Kunstorientierung und Lebensstilen gleich nochmals genauer zurück.Footnote 5

b) Klassenstruktur: Die Klassenstruktur einer Gesellschaft ergibt sich aus der Aggregation der Kapitalien, über die Personen verfügen, und der Zuordnung der Personen mit der gleichen Kapitalausstattung zu ein und derselben Klasse. Der Begriff Kapitalausstattung ist durch zwei Unterdimensionen spezifiziert: Das Kapitalvolumen bezeichnet die Summe aller Kapitalsorten (ökonomisches, soziales und die drei Formen des kulturellen Kapitals). Orientiert am Volumen des Kapitals, über das Personen verfügen, kann man sie entlang einer vertikalen Achse in der Klassenstruktur positionieren. Bourdieu unterscheidet hier drei Klassen, die sich im Niveau des Kapitalvolumens voneinander unterscheiden: die Oberklasse, die Mittelklasse und die Unterklasse.

Von dem Kapitalvolumen unterscheidet Bourdieu die Kapitalzusammensetzung bzw. die Kapitalstruktur. Mit Kapitalstruktur wird das Mischungsverhältnis der verschiedenen Kapitalien bezeichnet. Bei der Bestimmung der Kapitalstruktur berücksichtigt Bourdieu in seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“, ohne dies näher zu begründen, allein das ökonomische und das kulturelle und vernachlässigt das soziale Kapital. Die Zusammensetzung aus kulturellem und ökonomischem Kapital konstituiert eine horizontale Achse des zweidimensionalen Klassenschemas. Innerhalb der drei Klassen (Ober-, Mittel- und Unterklasse) sind die Klassenfraktionen platziert, die durch eine unterschiedliche Zusammensetzung von kulturellem und ökonomischem Kapital gekennzeichnet sind.

Die Klassen und die Klassenfraktionen werden von Bourdieu nicht nur abstrakt benannt, sondern mit der Angabe von konkreten Berufspositionen zumindest exemplarisch genauer bezeichnet. Dies ist für die empirische Analyse wichtig, weil der Datensatz es ermöglicht, auf die erhobenen Berufspositionen zurückzugreifen. In der Oberklasse gibt es eine Klassenfraktion mit viel kulturellem Kapital und eine Gruppe mit wenig kulturellem Kapital. Das Besitzbürgertum, bestehend vor allem aus den Selbständigen, verfügt über hohes ökonomisches und im Verhältnis dazu über wenig kulturelles Kapital. Beim Bildungsbürgertum liegt ein umgekehrtes Verhältnis vor: hier dominiert das kulturelle Kapital vor dem ökonomischen. Zum Bildungsbürgertum zählt Bourdieu vor allem die Professoren und die anderen akademischen Berufe. Die Mittelklasse oder das Kleinbürgertum besteht aus den Inhabern mittlerer Berufspositionen, vor allem aus den mittleren Angestellten. Das Kleinbürgertum ist intern weiter differenziert: das absteigende Kleinbürgertum besitzt wenig oder weniger werdendes ökonomisches und kulturelles Kapital; über ein mittleres Volumen der beiden Kapitalsorten kann das exekutive Kleinbürgertum verfügen und als Komplementärklasse zur neuen Bourgeoisie existiert, entsprechend mit mittlerem Kapitalvolumen ausgestattet, das neue Kleinbürgertum. Die Unterklasse bzw. die Arbeiter- und Bauernschaft wird von Bourdieu nicht weiter in Klassenfraktionen differenziert. Zur Arbeiterschaft gehören die gering gebildeten und manuell tätigen Berufe.

c) Geschmack, Kunstpräferenzen und Lebensstile: Die Ausstattung von Personen mit Kapitalien und die sich daraus ergebende Positionierung innerhalb der Klassen und der Klassenfraktionen beeinflussen entscheidend die Ausbildung des Geschmacks und der ästhetischen Präferenzen der Menschen. Geschmack ist nach Bourdieu nichts Natürliches oder Angeborenes. Geschmack im Sinne einer ästhetischen Kompetenz ist eine erworbene Fähigkeit zur Dechiffrierung von Symbolen, zum Beispiel zur Interpretation von Kunstwerken. Da der Geschmack klassenspezifisch ist, unterscheidet Bourdieu unterschiedliche Geschmäcker. Der Luxusgeschmack der Oberklasse basiert auf der Erfahrung einer guten ökonomischen Absicherung. Er ist durch Stilisierung gekennzeichnet. Stilisierung bedeutet eine Verleugnung der Funktion von Objekten und eine Betonung ihrer Form sowie der Qualität. Der Luxusgeschmack der Oberklasse wird von Bourdieu zugleich als der legitime Geschmack bezeichnet. Er allein genießt in einer Gesellschaft Anerkennung. Der Notwendigkeitsgeschmack der Unterklasse ist hingegen Resultat des Angepasstsein an Notlagen und Zwänge (Bourdieu 1982: 288 ff.). Der Notwendigkeitsgeschmack zeichnet sich durch eine Präferenz für die „Substanz“ aus, für Quantität statt für Qualität. Im Vordergrund steht die Befriedigung von körperlichen Bedürfnissen.Footnote 6

Der Geschmack richtet sich auf unterschiedliche Objekte in der Welt: auf die Auswahl der Wohnungseinrichtung, des Urlaubsorts, das Essen, die Kleidung und eben auch auf die Kunst, die die Menschen präferieren. Kunstpräferenzen, die hier im Fokus der Analyse stehen, sind also Teil des Geschmacks. Klassische Konzerte, Theater, Ballet, bildende Kunst etc. setzen auf der Rezipientenseite die Fähigkeit der Dechiffrierung der angebotenen Kunstobjekte voraus. Diese Fähigkeit ist in der Oberklasse mit ihrer spezifischen Geschmacksorientierung auf der Basis ihrer Kapitalzusammensetzung besser ausgeprägt als in der Unterklasse. Der legitime Geschmack der Oberklasse manifestiert sich in der Fähigkeit des Einordnens des Gesehenen in den Verweisungszusammenhang der Kunst. In Anlehnung an die Arbeiten von Erwin Panofsky unterscheidet Bourdieu verschiedene Sinnschichten eines Kunstwerks (Bourdieu 1997). Er macht deutlich, dass und wie die Wahrnehmung und Entschlüsselung von Kunst an die Fähigkeit des Betrachters gebunden ist, den der Kunst immanenten Code zu dechiffrieren. Zwar ist es möglich, die expressiven Bedeutungen eines Kunstwerks ohne sonderliche Vorkenntnisse zu entschlüsseln; die tiefere Bedeutung eines Kunstwerks existiert aber nur für denjenigen, der über die Kompetenz verfügt, diese Bedeutungen zu entschlüsseln. Die spezifische Kompetenz der Entschlüsselung besteht darin, die Merkmale eines Kunstwerks innerhalb des Horizonts der verwendeten stilistischen Möglichkeiten der jeweiligen Kunstsparte zu klassifizieren und die Verweisungszusammenhänge eines Kunstwerks auf andere Kunstwerke und Stile wahrnehmen zu können. Genau diese Klassifikationskompetenz ist sozial unterschiedlich verteilt. Die Oberklasse und hier vor allem die Fraktion, die über einen hohen Anteil an kulturellem Kapital verfügt, ist dazu besonders in der Lage.

Der unmittelbare Zugang zu den Bedeutungsgehalten der Kunstwelt ist hingegen Bestandteil des Notwendigkeitsgeschmacks: einfache Rhythmen, Melodien und Harmonien im Bereich der Musik; die Welt mimetisch und zugleich verschönernd spiegelnde Bilder im Bereich der bildenden Kunst etc. Bourdieu ist nicht sehr präzise in der Beschreibung des Notwendigkeitsgeschmacks. Er konzentriert sich vor allem auf die Analyse des legitimen Geschmacks und benutzt den zweiten Typus als Kontrasttypus.

Während mit Geschmack das verinnerlichte Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster bezeichnet wird, versteht man unter Lebensstil das charakteristische Muster des faktischen Handelns von Menschen; die Lebensstile sind also dem Bereich der Praxis zuzuordnen, sie sind praktizierte Ästhetik, die sich im Kauf von bestimmten Gütern, dem Besuch von bestimmten Veranstaltungen etc. manifestieren. In der empirischen Analyse, in der der Besuch von kulturellen Veranstaltungen untersucht wird, werden also Lebensstile in dem hier definierten Sinne analysiert. Ähnlich wie der Geschmack sind auch die Lebensstile, so Bourdieu, klassenspezifisch differenziert. Den für die Oberklasse typischen Lebensstil bezeichnet er als „distinguiert“, den der Unterschicht u. a. als „proletarisch“ (Bourdieu 1982: 292) und den der Mittelklasse als „prätentiös“.

Der Geschmack und der Raum der Lebensstile sind dem Raum der Klassenlagen strukturell analog aufgebaut. Bourdieu spricht an dieser Stelle von einer Homologie der Räume (1982: 286). Damit ist gemeint, dass die Klassenstruktur und die hinter der Klassenstruktur lagernden Kapitalien den Geschmack und darüber vermittelt die Lebensstile prägen. Zugleich zementieren die klassenspezifischen Lebensstile die Klassenstruktur, insofern die Klassenstruktur nur dadurch gesellschaftlich sichtbar wird, wenn die Unterschiede auch symbolisch übersetzt werden und sich in beobachtbaren Lebensstilen manifestieren. Vor allem die Oberschichten grenzen sich mit ihrem Lebensstil von den Mittel- und Unterschichten ab, reklamieren für sich den legitimen Geschmack und bringen diesen durch ihre Freizeitpraktiken auch deutlich zum Ausdruck.

Ob und in welchem Maße die Annahme der Homologie der Räume empirisch richtig ist, soll im folgenden Kapitel empirisch untersucht werden.

3. Hochkultureller Lebensstil, seine Verbreitung unter den Bürgern Europas und ein Versuch der Erklärung

Empirische Grundlage der folgenden Ausführungen bildet eine Auswertung des Eurobarometers 67.1 von 2007 zum Thema „European Cultural Values“.Footnote 7 Die Stichproben für die Länder belaufen sich auf ca. 1000 Befragte, Ausnahmen bilden Malta, Zypern und Luxemburg mit jeweils ca. 500 Befragten. Die Stichproben sind repräsentativ für die jeweilige, über 15-jährige Bevölkerung. Wie bei allen Sekundäranalysen von Datensätzen gibt es auch in der hier durchgeführten Analyse das Problem, dass die Fragestellung und die theoretischen Konstrukte, die operationalisiert werden, nicht die Leitfragen derer waren, die den Fragebogen entworfen haben. Insofern handelt es sich bei manchen benutzten Indikatoren um eine eher grobe Messung der theoretischen Konstrukte.

3.1 Hochkultureller Lebensstil in den Ländern der EU

Die Befragten wurden u. a. gefragt, ob und wie häufig sie verschiedene kulturelle Aktivitäten in den letzten zwölf Monaten unternommen haben. Es wurden insgesamt zehn verschiedene Aktivitäten abgefragt. Zu den Tätigkeiten, nach denen gefragt wurde, gehört u. a. der Besuch von Ballet-, Tanz- oder Opernaufführungen, der Kinobesuch, der Besuch von Galerien, der Besuch von Sportveranstaltungen etc. Die Fragen konnten jeweils mit Hilfe von vier Kategorien beantwortet werden: „keinmal in den letzten 12 Monaten“, „1-2 zweimal“, „3-5 mal“ und „mehr als 5 mal“.

In einem ersten Schritt habe ich mit Hilfe einer Korrelations- und Faktorenanalyse geprüft, ob es zwischen den verschiedenen Aktivitäten einen korrelativen Zusammenhang gibt. Folgende Aktivitäten weisen eine relativ hohe Korrelation miteinander auf:

  • der Besuch von Ballet- und Opernaufführungen

  • der Besuch von Konzerten

  • der Besuch des Theaters

  • der Besuch von Museen und Galerien

Die Existenz eines solchen Zusammenhangs lässt auf die Existenz eines kohärenten Lebensstils schließen. Dieser ist ja, wie im letzten Kapitel erläutert wurde, definiert als ein Bündel von Freizeitaktivitäten, das als Verhaltenssyndrom zusammengehört und durch eine einheitliche Geschmacksorientierung, die sich gleichsam im Inneren der Subjekte befindet und hier nicht direkt gemessen werden kann, gesteuert wird.

Ich habe entsprechend aus den vier Aktivitäten eine additive Skala gebildet und bezeichne diese Skala als „Hochkultureller bzw. distinguierter Lebensstil“. Cronbachs Alpha der Skala beträgt 0,72, die Reliabilität der Skala ist damit akzeptabel. Da jedes der vier Items mit vier Skalenpunkten abgefragt wurde, reicht die neu gebildete Skala von 0 bis 12. Befragte, die den Wert 0 erhalten, haben im letzten Jahr keine der vier Hochkulturaktivitäten unternommen, Befragte, die den Wert 12 erhalten, haben in allen vier Bereichen im letzten Jahr jeweils mehr als fünfmal an dieser Aktivität teilgenommen.

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich allein auf die Analyse dieses hochkulturellen Lebensstils; die anderen von Bourdieu beschriebenen Lebensstile lassen sich mit den Daten nicht operationalisieren. Da der legitime Geschmack und der sich aus ihm ergebende distinguierte Lebensstil aber derjenige ist, der in einer Gesellschaft die höchste Anerkennung findet und zum Teil von den anderen Lebensstilen als Bezugspunkt der Orientierung und Nacheiferung dient, beziehen sich die hier durchgeführten Analysen auf den dominanten Lebensstil einer Gesellschaft.

Eine weitere Begrenzung der Reichweite der Analyse muss erwähnt werden. Die Bourdieưsche Beschreibung des hochkulturellen Lebenstils ist feindifferenzierter als die Fragen, die ich sekundäranalytisch hier auswerten kann. Während Bourdieu sich bei der Beschreibung vor allem der Kunstaktivitäten auf ganz konkrete Symphonien, Komponisten, Gemälde und Theaterstücke bezieht, messen die hier benutzten Indikatoren allein die Partizipation an hochkulturellen Einrichtungen, ohne dass die konkreten inhaltlichen Angebote, die die Befragten wahrgenommen haben, operationalisiert wurden. Insofern liefern die Analysen eher eine grobe Beschreibung der Hochkulturorientierung der Bürger.

Abbildung 1 gibt die Mittelwerte der gebildeten Skala für die 27 Länder der EU wieder. Zusätzlich wurden die Länder zu drei Aggregatskategorien zusammengefasst: „EU-15“ bezeichnet die sogenannten alten Mitgliedsländer der EU, „Beitritt I“ die zehn Staaten, die im Zuge der Osterweiterung 2004 beigetreten sind und „Beitritt II“ umfasst Bulgarien und Rumänien, welche 2007 in die Europäische Union aufgenommen wurden.

Abb. 1
figure 1

Hochkultureller Lebensstil in den 27 Ländern der EU (Mittelwerte; N = 26 359)

1. Der Mittelwert der Skala „Hochkultureller Lebensstil“ für alle 27 Länder liegt bei 1,88 und dies bei einer Skala, die von 0 bis (zu) 12 reicht. Die Verteilung der Mittelwerte ist rechtsschief, was inhaltlich bedeutet, dass der hochkulturelle Lebensstil in der Bevölkerung der 27 Länder nicht weit verbreitet ist. Dabei muss man zusätzlich davon ausgehen, dass die Häufigkeit der Partizipation an hochkulturellen Veranstaltungen auf der Basis einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage deutlich überschätzt wird. Karl-Heinz Reuband (2007) hat jüngst eine Bevölkerungsumfrage mit einer Besucherumfrage des Opernpublikums verglichen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass, gemessen an der Zahl verkaufter Karten, die Häufigkeit des Opernbesuchs durch die Bevölkerungsbefragung überschätzt wird. Diese Überschätzung geht auf soziale Erwünschtheitseffekte zurück und betrifft vor allem die schlechter gebildeten Personen.

Es gehört zu den konstitutiven Merkmalen von Eliten und von elitären Lebensstilen, dass sie gerade nicht von einer breiteren Bevölkerung praktiziert werden; dies scheint für alle hier untersuchten Länder auch zu gelten. Die Distinktion des eigenen Lebensstils in Abgrenzung zum Massengeschmack ist ein konstitutives Merkmal der Eliten in den 27 Ländern.

2. Zugleich zeigen sich Unterschiede zwischen den Ländern. Die Niederländer mit einem Mittelwert von 3,3 sind am stärksten hochkulturorientiert. Sieht man einmal von den Niederlanden ab, die in gewisser Weise einen Ausreißer darstellen, dann ist die Varianz zwischen den restlichen 26 Ländern nicht sonderlich stark ausgeprägt. Sie beträgt 1,9 Skalen-Punkte, geführt von Dänemark mit einem Wert von 2,9 und abgeschlossen von Portugal mit einem Wert von 1,0.

3. Die bestehende Varianz zwischen diesen Ländern ist nicht einfach zu interpretieren. Vergleicht man zuerst die drei Aggregatskategorien miteinander, dann sieht man, dass ein hochkultureller Lebensstil in den EU-15-Ländern weiter verbreitet ist als in den Ländern der ersten und der zweiten Osterweiterung. Allerdings ist der Blick auf die Aggregatskategorien eher irreführend, weil die Varianz innerhalb der Ländergruppen doch beträchtlich ist. Estland und Lettland, Mitglieder der ersten Beitrittsrunde, haben höhere Werte als die meisten der EU-15-Länder; Portugal, Griechenland und auch Italien, alles EU-15-Länder, sind hingegen im unteren Drittel der Abbildung platziert. Auffallend ist, dass die Hochkulturorientierung in den eher nordisch-protestantischen Ländern weiter verbreitet ist als in den südlichen, katholischen und christlich-orthodoxen Ländern. Dies mag aber eine „Scheinkorrelation“ sein, denn es gibt zumindest keine plausible Ad-hoc-Hypothese, warum Religion einen Effekt auf das Ausmaß des hochkulturellen Lebensstils haben sollte. Ich gehe im Folgenden die Frage nach der Erklärung der Praktizierung eines hochkulturellen Lebensstils systematischer an, indem ich mich zuerst an der Bourdieu’schen Theorie orientiere und diese dann um weitere Erklärungsfaktoren ergänze.

3.2 Klassen- und Gelegenheitsstruktur als Erklärungsfaktoren für einen hochkulturellen Lebensstil

3.2.1 Operationalisierung der Bourdieu’schen Theorie

Wie in Kapitel 2 erläutert, geht Bourdieu von der These aus, dass die Klassenstruktur und die hinter der Klassenstruktur lagernden Kapitalien den Geschmack und darüber vermittelt die Lebensstile prägen. Genau dieser Zusammenhang soll mit Hilfe der Eurobarometerdaten geprüft werden. Die genaue Operationalisierung der erläuterten Variablen findet man im Anhang.

a) Institutionalisiertes kulturelles Kapital: Das institutionalisierte kulturelle Kapitel umfasst die Bildung bzw. die Bildungszertifikate, die eine Person durch die Bildungsinstitutionen einer Gesellschaft verliehen bekommen hat. Bildungsabschlüsse in 27 Ländern mit unterschiedlichen Bildungssystemen zu erheben, so dass die Bildungszertifikate miteinander vergleichbar sind, ist nicht einfach. Der Eurobarometer enthält aber eine Variable, die einen Vergleich der Bildungszertifikate trotz der Unterschiede in den Bildungssystemen ermöglicht. Die Interviewten wurden gefragt, wie alt sie waren, als sie ihre Ausbildung beendet haben. Je älter ein Befragter zum Zeitpunkt der Beendigung seiner Ausbildung ist, desto höher ist sein Bildungsabschluss und desto höher ist sein institutionalisiertes kulturelles Kapital. Bourdieu geht davon aus, dass das institutionalisierte kulturelle Kapital einen positiven Einfluss auf den hochkulturellen Lebensstil hat, da sich der in der Schule vermittelte Bildungskanon an den ästhetischen Präferenzen des Bildungsbürgertums und damit an der Hochkultur orientiert.

b) Inkorporiertes kulturelles Kapital: Darunter versteht Bourdieu die vor allem durch die familiäre Sozialisation vermittelte Fähigkeit, ästhetische Kriterien zur Beurteilung von Objekten anzuwenden. Die Inkorporierung dieser Kapitalform bedarf der frühen und dauerhaften Sozialisation. Zu den Praktiken der Vermittlung von inkorporiertem kulturellem Kapital, das vor allem für die Kunstrezeption nötig ist, gehört das Erlernen eines Musikinstruments und die aktive Teilhabe an anderen Kunstpraktiken. Der Datensatz des Eurobarometers bietet zwar nicht die Möglichkeit, die ästhetische Urteilskraft der Befragten zu operationalisieren, wohl aber die Praktiken, die laut Bourdieu zur Ausbildung dieser Urteilskraft beitragen. Die Interviewten wurden nach der Ausübung von unterschiedlichen künstlerischen Aktivitäten gefragt. Aus den Antworten auf drei dieser Fragen (Musikinstrument spielen, Theater spielen, etwas schreiben) wurde eine neue Variable gebildet. Ich benutze diese Variable als annäherungsweise Messung des inkorporierten kulturellen Kapitals der Befragten. Eine direkte Messung der Kompetenzen zur ästhetischen Beurteilung steht leider nicht zur Verfügung. Ich gehe nicht nur davon aus, dass das inkorporierte kulturelle Kapital einen positiven Einfluss auf den hochkulturellen Lebensstil hat, sondern dass dieser Einfluss besonders stark ist, da Bourdieu den hochkulturellen Lebensstil vor allem auf die Verfügung über inkorporiertes kulturelles Kapital zurückführt.

c) Klassenlagen/Klassenfraktionen und Berufsposition: Der Datensatz enhält keine Einkommens- und Vermögensfragen, so dass eine Operationalisierung des ökonomischen Kapitals unmittelbar nicht möglich ist. Die Interviewten wurden aber nach ihrer Berufsposition befragt. Die Berufspositionen werden von Bourdieu, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, zur Beschreibung der Klassen und Klassenfraktionen benutzt. Wenn Interviewte zum Zeitpunkt der Befragung nicht erwerbstätig waren – sei es, weil sie zu diesem Zeitpunkt im Haushalt tätig, verrentet oder arbeitslos waren – dann wurden sie nach ihrer früheren Berufsposition gefragt. In einem ersten Schritt wurden die Anworten auf die aktuelle und die frühere Berufsposition miteinander fusioniert. Aus den verschiedenen Kategorien wurden dann folgende Berufsgruppen gebildet:

  • Angestellte oder selbständige „Professionals“: Darunter fallen Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte, Hochschullehrer etc.

  • Höhere und mittlere Leitungskräfte: Darunter fallen Direktoren und Manager, Abteilungsleiter, Techniker, Lehrer etc.

  • Selbständige: Erfasst werden hier Geschäfts- und Firmenbesitzer, selbständige Handwerker etc.

  • Mittlere Angestellte und Facharbeiter.

  • Ungelernte Arbeiter und Angestellte.

Für die Regressionsanalysen wurde aus diesen Berufsgruppen jeweils eine dichotome Variable gebildet. Die ungelernten Arbeiter bilden die Referenzgruppe für die Analysen. Ich gehe erstens davon aus, dass alle Berufsgruppen im Vergleich zu der Referenzgruppe der ungelernten Arbeiter und Angestellten, die Bourdieu dem Proletariat zuordnet, im stärkeren Maße einem hochkulturellen Lebensstil nachgehen. Ich vermute zweitens, dass die Mittelklasse der Angestellten im geringeren Maße hochkulturorientiert ist als die Selbständigen, die Leitungskräfte und die Professionals. Schließlich kann man vermuten, dass es eine Differenz gibt zwischen den Professionals und den Leitungskräften auf der einen Seite und den Selbständigen auf der anderen. Alle drei Gruppen gehören zur Oberschicht, bilden aber zwei unterschiedliche Fraktionen innerhalb der Oberklasse. Die Selbständigen sind diejenigen, die über viel ökonomisches Kapital, aber über relativ wenig kulturelles Kapital verfügen.Footnote 8 Für die anderen beiden Gruppen gilt die umgekehrte Kapitalstruktur. Entsprechend vermute ich, dass die Selbständigen im Vergleich zu den Professionals und den Leitungskräften im schwächeren Maße hochkulturorientiert sind.

3.2.2 Ergänzung der Bourdieuschen Theorie: Die Gelegenheitsstruktur zur Realisierung eines hochkulturellen Lebensstils

Bourdieu und mit ihm fast alle anderen Sozialwissenschaftler, die sich in der Erklärung von Lebensstilen versuchen, beziehen sich in erster Linie auf die sozialstrukturelle Lagerung der Nachfrager nach Hochkultur, vernachlässigen aber die Bedeutung der Angebotsseite von Hochkultur. Auf die Relevanz von Restriktionen und Gelegenheitsstrukturen hat vor allem Jörg Rössel in seinen neueren Arbeiten hingewiesen (2004, 2005, 2006). Rössel bettet seine „plurale Sozialstrukturanalyse“ in ein allgemeines Modell der Erklärung ein und unterscheidet systematisch zwischen Präferenzen einerseits und Restriktionen andererseits, die jeweils einen Einfluss auf die Praxis kultureller Handlungen haben. Personen können zum Beispiel eine Präferenz für das Hören von symphonischer Musik oder den Besuch von Opernaufführungen haben, sie können diese Präferenz aber nicht oder nur mit hohen Investitionen realisieren, wenn sich in ihrer Nähe kein Theater oder kein Opernhaus befindet. Ich greife den Gedanken, dass man bei der Erklärung von Lebensstilen die jeweiligen Restriktionen berücksichtigen sollte, auf und unterscheide zwischen drei unterschiedlichen Restriktionen. Damit kann man auch die oben beschriebenen Länderunterschiede im Ausmaß der Praktizierung eines hochkulturellen Lebensstils besser erklären.

a) Kulturelle Infrastruktur der Länder: Die untersuchten 27 Länder unterscheiden sich im Ausmaß, in dem sie eine hochkulturelle Infrastruktur entwickelt haben. Diese Infrastruktur manifestiert sich in der Anzahl der Theater, Opernhäuser, Orchester, Museen etc. Leider liegen keine Informationen über die Infrastruktur der Institutionen der Hochkultur für die 27 Länder vor. Für den Bereich der Opern haben wir diese selbst erhoben (s. u.), für die gesamte kulturelle Infrastruktur sind aber entsprechende Daten nicht verfügbar. Verfügbar sind allerdings Informationen über den Anteil der Erwerbspersonen, die im kulturellen Sektor tätig sind. Die Daten basieren auf Erhebungen des „EU LabourForce Survey“.Footnote 9 Ich gehe davon aus, dass die Höhe des Anteils der Erwerbspersonen im Kultursektor eine einigermaßen geeignete Größe ist, um die hochkulturelle Infrastruktur eines Landes zu operationalisieren. Die folgende Abbildung gibt den prozentualen Anteil der Erwerbspersonen im kulturellen Sektor im Verhältnis zu allen Erwerbspersonen für die 27 Länder wieder. Den höchsten Wert erreicht die Niederlande mit 3,8 Prozent, den niedrigsten Wert Rumänien, wo 1,1 Prozent der Erwerbspersonen im Kultursektor beschäftigt sind. Berechnet man den Korrelationskoeffizienten zwischen dem Mittelwert der Hochkulturorientierung der Länder (Tabelle 1 ) und dem Anteil der Erwerbspersonen im Kultursektor, dann erhält man einen Wert von 0,787 (p < 0,001).

Tabelle 1 Erklärung eines hochkulturellen Lebensstils (logistische Regressionen)
Abb. 2
figure 2

Prozentualer Anteil der Erwerbspersonen im Kultursektor in 27 Ländern der EU

Ausgehend von der Hypothese, dass die Stärke der kulturellen Infrastruktur eines Landes sich positiv auf die Hochkulturaktivitäten der Bürger auswirkt, wurde die Erwerbsquote im Kultursektor als unabhängige Variable mit in die Regressionsanalysen aufgenommen. Die kulturelle Infrastruktur stellt eine Gelegenheitsstruktur dar, die es ermöglicht, dass sich hochkulturelle Präferenzen auch realisieren können. Dass das Entwicklungsniveau der kulturellen Infrastruktur eines Landes wiederum von dem Modernisierungsniveau einer Gesellschaft abhängt, kann man vermuten, ist aber nicht Gegenstand der empirischen Prüfung.

b) Kulturelle Infrastruktur innerhalb der Länder: Auch innerhalb der Länder ist das kulturelle Angebot nicht gleichmäßig auf alle Orte verteilt. Theater, Opernhäuser und Orchester befinden sich vor allem in Städten und in Ballungsregionen und sind deutlich seltener in ländlichen Regionen anzutreffen. Für Menschen, die in Städten leben, dürfte es entsprechend leichter sein, ihre hochkulturellen Präferenzen zu realisieren, als für Menschen, die auf dem Lande wohnen. Diese müssen höhere Kosten in Kauf nehmen, wenn sie ins Theater, ins Konzert oder in die Oper gehen wollen. Die Kausalität von Wohnort und Lebensstil könnte allerdings auch anders herum verlaufen. Personen, die keinen hochkulturellen Lebensstil präferieren, ziehen eher auf das Land, die Hochkultur orientierten Menschen eher in die Stadt. Unsere Daten erlauben uns leider nicht, die Kausalitätsrichtung des angenommenen Zusammenhangs zu überprüfen. Tally Katz-Gerro (2002) und Jörg Rössel (2004) finden in ihren Analysen heraus, dass die räumliche Entfernung des Wohnsitzes von den kulturellen Veranstaltungsorten einen relevanten Einfluss auf die kulturelle Partizipation der Bürger hat. Zur Operationalisierung der regionalen Unterschiede wurde folgende Variable in die Analyse aufgenommen. Die Interviewten wurden nach der Größe des Wohnorts, in dem sie leben, gefragt. Sie konnten zur Beantwortung der Frage auf folgende Antwortalternativen zurückgreifen: „in einer ländlichen Region oder in einem Dorf“, „in einer kleinen oder mittelgroßen Stadt“ und „in einer Großstadt“. Ich gehe davon aus, dass die Größe des Wohnorts eines Befragten sich positiv auf die Häufigkeit, mit der er einen hochkulturellen Lebensstil praktizieren kann, auswirkt.

c) Persönliche Restriktionen der Befragten: Schließlich kann man unterstellen, dass auch die Restriktionen, die für die Individuen aufgrund der jeweiligen individuellen Lebenssituation gelten, sich auf die Realisierung von hochkulturellen Aktivitäten auswirken. Personen, die z. B. nicht gut an das Verkehrsnetz angeschlossen sind, abends, nachts oder am Wochenende arbeiten (müssen), zu einem Zeitpunkt also, an dem die meisten Kulturveranstaltungen stattfinden, werden an diesen seltener partizipieren als Personen, für die diese Bedingungen nicht gelten. Der Datensatz enthält nur eine Frage, die man als Messung einer Restriktion der Lebenssituation, die die Realisierung eines hochkulturellen Lebensstils beeinflussen kann, benutzen kann. Die Interviewten wurden gefragt, ob und wie viele Kinder sie haben und in welchem Alter diese sind. Wir gehen davon aus, dass Personen, die kleine Kinder haben – gemessen durch die Frage „Anzahl der Kinder unter 10 Jahren“ – stärker an den Haushalt gebunden sind und entsprechend seltener an außerhäuslichen kulturellen Aktivitäten teilnehmen können.

Damit sind alle erklärenden Variablen und deren erwartete Effekte auf die abhängige Variable „Hochkultureller Lebensstil“ erläutert, so dass man prüfen kann, ob sich die vermuteten Zusammenhänge auch empirisch bestätigen.

3.2.3 Empirische Prüfung der Hypothesen

Da die Variable „Hochkultureller Lebensstil“, die aus der Addition der vier Items gebildet wurde, rechtsschief verteilt ist, wurde diese für die mulitvariate Analyse dichotomisiert. Diejenigen Befragten, die in den letzten zwölf Monaten an einer der hochkulturellen Aktivitäten teilgenommen haben (gleichgültig wie häufig), bekommen den Wert 1, diejenigen, für die dies nicht gilt, bekommen den Wert 0. Neben den logistischen Regressionen habe ich auch lineare Regressionsanalysen mit der additiven Skala der vier Items als abhängige Variable durchgeführt. Die Ergebnisse der logistischen und der linearen Regressionsanalysen sind nahezu identisch. Ich konzentriere mich im Folgenden allein auf die Darstellung und Interpretation der logistischen Regressionsanalysen. Eine weitere methodische Vorbemerkung ist nötig. Eine der unabhängigen Variablen (Anteil der Erwerbspersonen im Dienstleistungssektor) ist eine Makrovariable, die auf der Länderebene erhoben wurde, bei allen anderen Variablen handelt es sich um Mikrovariablen, die auf der Individualebene erhoben wurden. Diese Datenstruktur macht es an sich notwendig, eine Mehrebenenanalyse durchzuführen. Diese wurde auch in einem ersten Schritt durchgeführt (Ergebnisse werden hier nicht ausgewiesen). Die Berechnungen zeigen, dass der Intraklassen-Koeffizient im „Random-Intercept-Only-Model“ (Nullmodell ohne unabhängige Variablen) nur 0,077 beträgt; die Restvarianz in Höhe von 92,3 Prozent erklärt sich folglich über Individualunterschiede. Die Makrovariable „Erwerbsquote im Kultursektor“ kann also einen maximalen Anteil von 7,7 Prozent an der Gesamtvarianz erklären, wenn sie die gesamte Varianz auf der Kontextebene erklären würde. Dieser sehr geringe Anteil möglicher aufgeklärter Varianz durch die einzige Makrovariable in dem Modell legitimiert es, auf eine detailliertere Mehrebenenanalyse zu verzichten und sich auf die einfacher zu interpretierenden Befunde einer logistischen Regression zu konzentrieren.

Tabelle 1 enthält vier verschiedene logistische Regressionsanalysen.Footnote 10

1. In einem ersten Schritt wurde die Berufsposition der Befragten mit in die Analyse aufgenommen. Es bestätigt sich die Erwartung, dass alle Berufsgruppen im Vergleich zu der Referenzgruppe der ungelernten Arbeiter und Angestellten im stärkeren Maße einem hochkulturellen Lebensstil folgen. Vergleicht man die Berufsgruppen untereinander, dann sieht man, dass die Mittelklasse der Angestellten im geringeren Maße hochkulturorientiert ist als die drei Gruppen der Oberklasse (Leitungskräfte, Professionals, Selbständige); auch dies entspricht der Bourdieu’schen Hypothese. Weiterhin zeigt sich eine Differenz zwischen den Professionals und den Leitungskräften auf der einen Seite und den Selbständigen auf der anderen Seite. Dies deutet darauf hin, dass die beiden Gruppen zwei Fraktionen innerhalb der Oberklasse bilden. Die Selbständigen sind diejenigen, die über viel ökonomisches, aber über relativ wenig kulturelles Kapital verfügen; sie pflegen im Vergleich zu der Hochkulturfraktion im geringeren Maße einen hochkulturellen Lebensstil.

2. Im zweiten und dritten Modell wurde zusätzlich das kulturelle Kapital der Befragten in Betracht gezogen. Berücksichtigt man das institutionalisierte kulturelle Kapital in Form von Bildung, verbessert sich die Erklärungsleistung des Modells von 7 Prozent auf 17 Prozent. Berücksichtigt man zusätzlich das inkorporierte kulturelle Kapital, verbessert man die Vorhersage eines hochkulturellen Lebensstils nochmals um ca. 3 Prozent und erhält ein R2 von 0,20. Wie die Vorzeichen der Koeffizienten zeigen, gehen die Effekte der beiden Variablen in die richtige (oder vermutete) Richtung: Je höher die Bildung des Befragten und je höher sein inkorporiertes kulturelles Kapital, desto stärker ist er in seinen kulturellen Aktivitäten hochkulturorientiert.

Insgesamt haben sich durch die Analysen die Bourdieu’schen Annahmen also sehr gut bewährt. Der Raum der Lebensstile wird entscheidend bestimmt durch den der Klassen und Klassenfraktionen und durch die Kapitalien, über die Personen verfügen.

3. Ich bin weiterhin von der Vermutung ausgegangen, dass man bei der Erklärung von Lebensstilen zusätzlich die Gelegenheitsstrukturen berücksichtigen muss, unter denen sich Lebensstile realisieren lassen. Wir hatten gesehen, dass sich die 27 Länder in dem Ausmaß unterscheiden, in dem sie eine hochkulturelle Infrastruktur entwickelt haben. Auch innerhalb der Länder ist das kulturelle Angebot nicht gleichmäßig auf alle Orte verteilt; die städtische Bevölkerung ist, so die Annahme, in der Realisierung ihrer hochkulturellen Präferenz gegenüber der ländlichen Bevölkerung deutlich bevorteilt. Schließlich gehe ich davon aus, dass Personen, die kleine Kinder haben und damit stärker an den Haushalt gebunden sind, seltener an außerhäuslichen kulturellen Aktivitäten teilnehmen können. Im Modell 4 werden diese Hypothesen überprüft. Alle Annahmen werden bestätigt, der Wert für „Kinder im Haushalt“ ist allerdings nicht signifikant. Die Erklärungsleistung des Gesamtmodells erhöht sich nochmals um 4 Prozent.Footnote 11

4. Die für 27 Länder gemeinsam durchgeführten Regressionsanalysen wurden für alle Länder separat berechnet, um zu prüfen, ob die analysierten Zusammenhänge auch für die einzelnen Länder gelten oder ob es Länder gibt, in denen die Klassenlage, die Kapitalien und die Gelegenheitsstrukturen die Hochkulturorientierung nicht erklären können. Das Ergebnis ist eindeutig: Es gibt kein Land, in dem die Wirkungsrichtung der im Gesamtmodell signifikanten Variablen umgekehrt verläuft als theoretisch angenommen. Zwar wirken einige unabhängige Variablen in manchen Ländern in die erwartete Richtung, die Effekte sind aber nicht signifikant. Dies gilt vor allem für die Berufsgruppe der mittleren Angestellten bzw. Facharbeiter in Bezug auf die Referenzgruppe der Arbeiter und in zwei Fällen für den Urbanitätsgrad. Schließlich unterscheiden sich die Länder im Grad der erreichten aufgeklärten Varianz. In drei Ländern liegt die aufgeklärte Varianz bei über 30 Prozent, in elf Ländern zwischen 20 Prozent und 30 Prozent und in dreizehn Ländern zwischen 10 Prozent und 20 Prozent.

5. Auf die Frage der Länderunterschiede und deren Erklärung möchte ich nochmals separat eingehen. Die Mehrebenenanalyse hat gezeigt, dass der Intraklassen-Koeffizient im Random-Intercept-Only-Modell 7,7 Prozent beträgt; die Restvarianz in Höhe von 92,3 Prozent geht auf Individualunterschiede zurück. Die in Abb. 1 dargestellten Unterschiede zwischen den 27 Ländern kommen in erster Linie also dadurch zustande, dass die Klassenstruktur und die durchschnittliche Kapitalienausstattung der Menschen für die Länder unterschiedlich ausfallen. Die Niederlande und Dänemark, in denen die hochkulturelle Elite am größten ist, sind zum Beispiel auch die beiden Länder, in denen die Bevölkerung am besten mit institutionalisiertem und inkorporiertem kulturellem Kapital ausgestattet ist. Dieses Niveau der Bildung und der Verfügung über inkorporiertes kulturelles Kapital „produziert“ gleichsam eine kulturelle Elite, die zusätzlich durch eine hochkulturelle Infrastruktur gefördert wird. Genau diese Faktoren erklären die Unterschiede im Ausmaß, mit dem die Bevölkerungen der Länder einen hochkulturellen Lebensstil praktizieren.

Die analysierten Daten erlauben allerdings keine Aussage zu der Frage, ob die Eliten denn in den verschiedenen Ländern dieselben Kunstprodukte und Inhalte konsumieren, da in der Eurobarometerbefragung allein nach der Partizipationsfrequenz von kulturellen Institutionen gefragt wurde. Erste Hinweise auf die Inhalte, die in den verschiedenen Kulturinstitutionen angeboten werden, erhält man, wenn man die Ergebnisse einer anderen Studie berücksichtigt. Wir haben für die Spielzeiten 2002/2003 und 2003/2004 die Programme der über das Internet zugänglichen Opernhäuser weltweit erhoben.Footnote 12 Die folgenden Ausführungen beziehen sich allein auf die Länder, die auch Mitglied in der EU sind. 50 Prozent der Opern, die in den beiden Jahren in den europäischen Ländern gespielt wurden, verteilen sich auf nur wenige Komponisten: Verdi, Mozart, Puccini, Rossini, Wagner und Bizet. Tabelle 2 gibt die Verteilung der vier am häufigsten gespielten Komponisten pro Land wieder.

Tabelle 2 Die vier am häufigsten gespielten Komponisten in 22 Ländern der EU

Beschreibung der Variablen

Variable

Ausprä-gungen

Beschreibung

Datenquelle

Angestellte/selbstständige Professionals,

Höhere/mittlere Leitungskräfte,

Selbstständige,

Mittlere Angestellte und Facharbeiter

0-1

Dummyvariablen gebildet aus derzeitiger und früherer Beschäftigung; Kodierung 0 „nein“ 1 „ja“. Referenzkategorie: Ungelernte Arbeiter und Angestellte

EB 67.1

Bildung

0-65

Alter bei Ausbildungsende; Kodierung 0 „noch studierend“, 98 „Keine (Vollzeit)Ausbildung, 99 „Weiß nicht“

Operationalisierung: Kategorie 0,98 und 99 = Missing.

EB 67.1

Inkorporiertes kulturelles Kapital

0-1

Dummy-Variable gebildet aus 3 Variablen: Ausübung folgender künstlerischer Tätigkeiten in den vergangenen 12 Monaten. 1) Ein Musikinstrument gespielt. 2) In einem Theaterstück mitgespielt. 3) Etwas geschrieben; Kodierung: 0 „keine der Tätigkeiten ausgeübt“, 1 „mind. eine der Tätigkeiten ausgeübt“.

EB 67.1

 

 

 

 

Anteil der Erwerbsquote im Kultursektor

1,1-3,8

Generierte Variable

EU Labour- Force Survey

Urbanitätsgrad/ Größe des Wohnorts

1-3

Kodierung: 1 „In einer ländlichen Region oder in einem Dorf“, 2 „In einer kleinen oder mittelgroßen Stadt“, 3 „In einer Großstadt“, 4 „Weiß nicht“.

Operationalisierung: Kategorie 4 = Missing.

EB 67.1

Kinder im Haushalt

0-10

Anzahl der unter 10-jährigen Kinder im Haushalt; Kodierung: 0 „keine Kinder unter 10 Jahren“ bis 10 „zehn Kinder unter 10 Jahren“

EB 67.1

Schaut man sich Verteilung pro Land an, dann sieht man, dass das Opernangebot in allen Ländern sehr ähnlich ist. Verdi und Mozart gehören in fast allen Ländern zur Spitzengruppe, Puccini, Rossini und Wagner stehen in sehr vielen Opernhäuser Europas dauerhaft auf dem Spielplan. Die Kultureliten in Europa haben also nicht nur eine ähnliche sozialstrukturelle Basis, sie konsumieren, zumindest was die Opern anbelangt, auch ganz ähnliche Kunstprodukte. Dies gilt nicht nur für den Opernmarkt, sondern auch für den Bereich der Konzerte, wie wir mit einem anderen Datensatz nachweisen können; auch hier findet man eine hohe Standardisierung des Angebots. Die häufig der Populärkultur nachgesagte globalisierte Standardisierung und Uniformierung ist auch ein Merkmal des sich distinguiert gebenden Geschmacks der kulturellen Elite.

4. Zusammenfassung

Als kulturell dominierende Klasse kann man diejenige Gruppe einer Gesellschaft bezeichnen, die sich in ihren kulturellen Praktiken an dem legitimen Geschmack einer Gesellschaft, an der Hochkultur orientiert. Auf der Basis einer Auswertung einer Eurobarometerbefragung habe ich in einem ersten Schritt die Intensität der Hochkulturnutzung in 27 Ländern der Europäischen Union vergleichend beschrieben. Die Ergebnisse zeigen, dass der Besuch von Ballet- und Opernaufführungen, von Konzerten, Theatern, Museen und Galerien zusammen ein Verhaltenssyndrom bilden, so dass man in der Tat von einem kohärenten Lebensstil sprechen kann. Die Analysen zeigen weiterhin, dass die Intensität der Nutzung des hochkulturellen Angebots in allen Ländern recht gering ist. Der Mittelwert der Skala „Hochkultureller Lebensstil“ liegt bei 1,88 und dies bei einer Skala, die von 0 bis (zu) 12 reicht. Zugleich zeigen sich aber Unterschiede zwischen den Ländern und innerhalb der Länder.

In einem zweiten Schritt wurde versucht, die Unterschiede in der Praktizierung eines hochkulturellen Lebensstils zu erklären. Seit Max Webers terminologischer Unterscheidung zwischen Klasse und Stand bzw. ökonomischer Lage und Lebensstil ist die Frage, in welchem Maße eine Verfügung über die „harten Ressourcen“ die ästhetischen Präferenzen und die Lebensstilorientierung der Menschen prägen, eine strittige Frage sozialwissenschaftlicher Analysen. Manche Autoren gehen davon aus, dass der Zusammenhang zwischen der Klassenlage und den Lebensstilen gerade in gegenwärtigen Gesellschaften eher schwach ausgeprägt ist, andere Autoren vermuten einen eher engen Zusammenhang. Die durchgeführten Kausalanalysen stützen die These der Homologie von Klassenlage und Lebensstil. Das institutionalisierte und inkorporierte kulturelle Kapital des Befragten und seine Berufsposition können einen hochkulturellen Lebensstil gut erklären. Alle aus der Bourdieu’schen Theorie abgeleiteten Hypothesen werden empirisch bestätigt. Dies gilt für alle 27 Länder gleichermaßen; dieses Ergebnis spricht deutlich gegen die Individual6isierungsthese, die von einem geringen Effekt sozialstruktureller Faktoren auf die Lebensstilorientierung von Menschen ausgeht.

Bourdieu und viele andere Sozialwissenschaftler, die sich in der Erklärung von Lebensstilen versuchen, beziehen sich in erster Linie auf die sozialstrukturelle Lagerung der Nachfrager nach Hochkultur, vernachlässigen aber die Bedeutung der Angebotsseite von Hochkultur. Hochkulturelle Präferenzen lassen sich nur mit hohen Investitionen realisieren, wenn sich in der Nähe kein Theater, kein Opernhaus, kein Museum etc. befindet. Und in der Tat zeigen die Analysen, dass die hochkulturelle Infrastruktur eines Landes und die Tatsache, dass ein Befragter in der Stadt oder auf dem Land wohnt, die hochkulturelle Partizipation beeinflusst. Die Klassenlage und die damit verbundenen Kapitalien im Zusammenspiel mit den Gelegenheitsstrukturen können die Ausbildung einer kulturellen Oberschicht insgesamt relativ gut erklären und dies für alle Länder gleichermaßen.

Während die Rekrutierung anderer gesellschaftlicher Eliten (Wirtschaftseliten, politischer und admininstrativer Eliten) im hohen Maße von den nationalen Institutionen, den politischen Regimen und der jeweiligen nationalen Geschichte abhängig ist (vgl. Kaelble 2007: 153 ff.; Hartmann 2007), scheint dies für die kulturell dominierende Klasse nicht zu gelten. Die jeweilige Sozialstruktur eines Landes ist die wichtigste Determinante für die Ausbildung eines hochkulturellen Lebensstils. Verwerfungen und Umbrüche in der Zusammensetzung der Elite, die nach Regimeumbrüchen (in Deutschland z. B. nach 1945 und nach 1989) zu beobachten sind, lassen die kulturell(e) dominierende Klasse entsprechend weitgehend unberührt.

Zugleich ist die Zugehörigkeit zur kulturellen Oberschicht nicht folgenlos für die Zugangsmöglichkeiten zu anderen Eliten; das hochkulturelle Kapital lässt sich durchaus in andere Kapitalien transferieren. Michael Hartmann und Johannes Kopp (2001) können in ihrer Studie über Wirtschaftseliten zeigen, dass die Chancen, eine Führungsposition in der Wirtschaft zu erreichen, für die Promovierten, die aus dem gehobenen oder dem Großbürgertum stammen, um 50 bis 100 Prozent größer ist als für Promovierte aus der Arbeiterklasse oder den Mittelschichten. Die Autoren vermuten, dass der Zugang zur Topetage der Wirtschaftselite deutlich begünstigt wird, wenn die Personen einen hochkulturellen Lebensstil praktizieren, entsprechend die in den „besseren Kreisen“ geltenden „Dress- und Benimm-Codes“ beherrschen, souverän auftreten und sich bewegen, kenntnisreich über Kunst diskutieren können und sich so gegenüber den Aufsteigerschichten, die zwar über die gleichen Bildungsabschlüsse, aber gerade nicht über das entsprechende inkorporierte Kapital verfügen, abgrenzen (vgl. Hartmann/Kopp 2001: 458). Insofern trägt ein hochkultureller Lebensstil auch zu einer ständischen Schließung von Wirtschaftseliten mit bei.