Die Wirtschaftsinformatik steht heute am Wendepunkt: die zunehmende Durchdringung aller Lebensbereiche mit Informations- und Telekommunikationstechnologie (ITK) führt zu einer Veränderung der gesamten ITK-Landschaft, die den Menschen in der digitalen Welt – den so genannten digitalen Nutzer – in den Mittelpunkt stellt. Das Ineinanderfließen von Mensch und Maschine macht eine neue Betrachtung von Wertschöpfungsketten, Prozessen, Methoden und Strukturen in der Wirtschaftsinformatik unerlässlich. Im vorliegenden Beitrag wird dieses komplexe soziotechnische Phänomen diskutiert und das neue Forschungsfeld „User, Use & Utility Research“ anhand von drei ausgewählten Themenschwerpunkten vorgestellt.

1 Einleitung

Die Wirtschaftsinformatik steht heute am Wendepunkt. Die zunehmende Durchdringung aller Lebensbereiche mit Informations- und Telekommunikationssystemen (ITK) stellt den Menschen in der digitalen Welt in den Mittelpunkt der zukünftigen Betrachtung (Benioff 2012, S. 185–202). Dieser Mensch, bezeichnet als der „digitale Nutzer“ (engl. „digital user“), ist jedermann, der Handlungen in der digitalen Welt durchführt und dadurch Daten hinterlässt oder sich vorhandene Daten zu Nutze macht. Der Wechsel zwischen digitaler und physischer Welt wird vom digitalen Nutzer meist nicht mehr wahrgenommen, da die Grenzen zwischen den beiden Welten immer mehr verschwimmen (Kagermann et al. 2012). Der Kreis der digitalen Nutzer reicht vom wenig versierten Menschen, der bei alltäglichen Fragen Hilfe im Internet sucht, über die vielen Benutzer von sozialen Netzwerken, diejenigen, die im Internet Geschäfte abwickeln, bis hin zu denjenigen, die fast jeden Aspekt ihres Lebens mithilfe von ITK bestreiten. Es ist zu beobachten, dass die digitale Welt einen zunehmend größeren Anteil im Leben des digitalen Nutzers ausmacht (Meeker und Wu 2013) und dieser den Wandel maßgeblich vorantreibt.

Für die Wirtschaftsinformatik bedeutet diese Entwicklung eine radikale Neudefinition, wie Informationssysteme geplant, entwickelt und betrieben werden, sowohl im Business-to-Customer- (B2C) als auch Business-to-Business- (B2B) Umfeld (Iivari und Iivari 2011, S. 139). Als komplexes soziotechnisches Phänomen hat diese Entwicklung weitreichende Bedeutung und berührt Geschäftsmodelle, Dienstleistungen, Produkte und Prozesse. Neuartige, nutzerzentrierte Analyse-, Entwurfs-, Konstruktions- und Managementansätze eröffnen neue Möglichkeiten für die Gestaltung und den Einsatz von Informationssystemen (Liang und Tinniru 2006). Dieses Prinzip wird beispielsweise bei der digitalen Unterstützung von Servicetechnikern während der Reparatur von Maschinen, bei der Verwendung von Fahrerassistenzsystemen in Fahrzeugen oder bei Geschäftsmodellen für intelligentes Mobilitätsmanagement (z. B. Car2GoFootnote 1) angewendet. Weiteres Potenzial bietet die Nutzung von Wissen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie dem Design, dem Ingenieurswesen, der Informatik, der Psychologie und der Betriebswirtschaftslehre. Dies schafft die Möglichkeit, ITK noch weiter auf menschliche Bedürfnisse auszurichten und den digitalen Nutzer in die Entwicklung von Informationssystemen einzubinden.

Im folgenden Abschnitt wird „User, Use & Utility Research“ – also die Erforschung des digitalen Nutzers – als neues Forschungsfeld der Wirtschaftsinformatik vorgestellt und in die bestehende Forschungslandschaft eingeordnet. Anschließend werden in Abschn. 3 die daraus entstehenden Themenfelder anhand konkret anwendbarer Forschungsfragen und mit Hilfe von Beispielen abgeleitet und beschrieben. In Abschn. 4 werden die forschungsmethodischen Implikationen diskutiert und Abschn. 5 fasst die zentralen Aussagen zusammen.

2 User, Use & Utility Research als Forschungsfeld der Wirtschaftsinformatik

Das Paradigma der Kundenzentrierung erscheint mit Blick auf die Geschichte der Informatik und Betriebswirtschaftslehre als altbekanntes Thema. Unter dem Stichwort „Human-Centered Design“ sind zahlreiche Publikationen in der Informatik zu finden, die den Nutzer aus Sicht der Informatik analysieren und Konzepte dazu ableiten (z. B. Gasson 2003; Iivari et al. 2010, S. 109–117; Lamb und Kling 2003; Venkatesh et al. 2012, S. 159). Die Betriebswirtschaftslehre bearbeitet insbesondere im Marketing das Themenfeld „Kundenorientierung“ seit Jahrzehnten, u. a. durch Wissenschaftler wie Meffert et al. (2011), Backhaus und Voeth (2011) oder Homburg und Krohmer (2003). Im Vordergrund stehen vorrangig Fragestellungen der Kundenbindung und -interaktion. In der Wirtschaftsinformatik existieren darüber hinaus Forschungsarbeiten, die sich primär mit dem Nutzer aus Perspektive von Informationssystemen und Organisationen befassen, u. a. von Brenner und Kolbe (1994), Mayer et al. (2012) oder Nussbaumer et al. (2012).

Das Forschungsfeld User, Use & Utility Research fordert ein Um- und Weiterdenken, indem der digitale Nutzer, dessen Daten, sein Nutzungsverhalten und der wahrgenommene Nutzen selbst als Betrachtungsgegenstand gewählt und daraus Konsequenzen für ITK-Strategien, ITK-Prozesse und Informationssysteme sowie das ITK-Management abgeleitet werden. Unternehmen wie AppleFootnote 2 und Amazon,Footnote 3 aber auch junge Unternehmen wie ParkatmyHouse,Footnote 4 zopa,Footnote 5 MyTaxiFootnote 6 oder gumroadFootnote 7 zeigen, dass sich Märkte durch konsequent auf den digitalen Nutzer ausgerichtete Informationstechnologie verändern und die damit verbundenen Geschäftsmodelle erneuern. Wesentlicher Bestandteil ist die Verschiebung des Fokus von einem standardisierten Leistungsangebot hin zu einem situationsabhängig angepassten Leistungsbündel für den digitalen Nutzer (Berkovich et al. 2012, S. 261–271; Leimeister 2012). Im Mittelpunkt stehen sowohl die Einbindung von Informationstechnologien in fast sämtliche Gegenstände des Alltags und die elektronische Vernetzung dieser untereinander (Fleisch 2010), als auch eine intelligente Individualisierung von Produkten, Dienstleistungen (Services) und Prozessen (Gummesson 2008, S. 15–17). Dadurch sind auf spezifische Nutzungssituationen angepasste Lösungen in einer nie dagewesenen Fülle möglich. Im Ergebnis führt dies zu einer Veränderung der Interaktion zwischen digitalen Nutzern und Unternehmen (Sheth et al. 2000, S. 55–66).

Die Wertschöpfungskette selbst wird neu konfiguriert. Während bisher der Nutzer an deren Ende stand, kehrt sich die Reihenfolge in Zukunft um. Der Nutzer mit seinen Daten, die er im digitalen Raum direkt und indirekt hinterlässt – z. B. über soziale Netzwerke oder über sein Verhalten – bildet den Ausgangspunkt für Innovationen in Produkten und Dienstleistungen (Foss et al. 2011, S. 980–999). Es kommt zu einer Umkehrung des „Vektors der Kommunikation“ – nicht mehr vom Wirtschaftsunternehmen über die Vertriebskanäle zum Kunden und Markt, sondern vom digitalen Nutzer zum Unternehmen. Damit wird und ist der digitale Nutzer Treiber dieser Entwicklung. Dies erfordert ein fundamentales Umdenken, da der Nutzer nicht mehr passiver Konsument von fertigen Produkten ist, sondern Ausgangspunkt und aktiver Bestandteil der gesamten Innovations-, Entwicklungs-, Management- und teilweise sogar der Produktionsprozesse wird (Kagermann und Österle 2006). Das von der Deutschen Bundesregierung erst kürzlich erschienene Strategiepapier „Industrie 4.0“ benennt diese Entwicklung klar (Kagermann et al. 2012).

Um den Einfluss des digitalen Nutzers auf die Informationstechnologie und deren Managementsysteme zu verstehen, ist es notwendig, den digitalen Nutzer mit seinen Bedürfnissen und Verhaltensweisen zu analysieren, sowie die Mechanismen seiner Einflussnahme auf die ITK-Landschaft zu kennen. Dadurch eröffnet sich das Forschungsgebiet des „User, Use & Utility Research“, mit der Aufgabe, Konzepte, Methoden und Theorien aus dem neu gewonnenen Blickwinkel des digitalen Nutzers zu erarbeiten sowie dessen Einfluss auf die Gestaltung und den Betrieb von Informationssystemen aufzuzeigen. Abbildung  1 zeigt die Verankerung des Forschungsgebiets als Gestaltungsperspektive in der Wirtschaftsinformatik,Footnote 8 die auf den Gestaltungsebenen Strategie, Prozesse, Systeme (Österle 1995) sichtbar wird und mit allen Branchen und Funktionen (z. B. Marketing oder Produktion) verknüpft ist. Konsequenterweise ist die Betrachtung des digitalen Nutzers unter Einbeziehung aller dieser Forschungsbereiche zu bearbeiten, um wissenschaftlich fundierte und weiterverwendbare Erkenntnisse liefern zu können.

Abb. 1
figure 1

Forschungsfeld „User, Use & Utility Research“ im Kontext der Wirtschaftsinformatik

Als Ausgangspunkt für das Forschungsfeld steht folgende Fragestellung im Vordergrund:

Wer ist der digitale Nutzer und welche Veränderungen auf den Ebenen Strategie, Prozesse und Systeme sowie auf das Management von ITK in Organisationen und privaten Haushalten werden durch die „neue Macht“ des digitalen Nutzers ausgelöst?

3 Themenschwerpunkte im Forschungsfeld User, Use & Utility Research

Zur Ableitung der Themenschwerpunkte wurde ein pluralistisches Forschungsdesign angewendet (Wilde und Hess 2007). Grundlage für die durchgeführte Analyse bildeten 50 Gespräche mit ITK-Führungskräften (überwiegend CIOs aus DAX-100-Unternehmen, 08/2012 bis 11/2012) und mit Akademikern und Praktikern im Silicon Valley (10/2012 bis 02/2013). Begleitet wurden diese Gespräche von Experten mit ausgewiesener Fachexpertise in den Schwerpunkten Wirtschaftsinformatik, Informatik, Ingenieurs- und Neurowissenschaften.

Auf Grundlage der Hauptfragestellung in Abschn. 2 wurden entlang der Gestaltungsebenen „Strategie“, „Prozesse“ und „Systeme“ (s. Abb.  1 ) drei Themenschwerpunkte mit konkreten Forschungsfragen abgeleitet. Die Themenschwerpunkte sind:

  1. (1)

    Geschäftsmodelle und Daten in der digitalen Welt

  2. (2)

    Prozesse und Strukturen für den digitalen Nutzer

  3. (3)

    Systeme, Software, ITK-Infrastruktur

Jeder dieser drei Themenschwerpunkte adressiert grundlegende Herausforderungen der Wirtschaftsinformatik – sowohl in theoretischen und methodischen Aspekten als auch in der Gestaltung von Informationssystemen.

3.1 Strategien, Geschäftsmodelle und Daten in der digitalen Welt

Die Digitalisierung ganzer Branchen ist zu beobachten. Geschäftsmodelle, die vor kurzer Zeit noch auf der Basis von physischen Produkten bestanden, verändern sich in digitale Geschäftsmodelle. Paradebeispiel ist die Medienbranche. Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung stehen vor der Herausforderung, ihre Leserschaft über elektronische Kanäle zu bedienen. Diese Entwicklungen betreffen auch den Handel, die Finanzdienstleistungsbranche; selbst die produzierende Industrie ist betroffen. Hinter den „Smart x“-Initiativen wie „Smart Globalized World“, „Smart Grids“ oder „Smart Factory“ steht eine massive Digitalisierung von Industrien und damit verbunden der Weg in eine Produkt-Service-Ökonomie. Der Wandel erfordert die Neugestaltung von Geschäftsmodellen auf Basis von hauptsächlich digitalen Services (Vargo und Lusch 2008; Chesbrough 2006; Bharadwaj et al. 2013). Folgende Forschungsfragen stellen sich: Welche Geschäftsmodelltypen unterstützen den Nutzer im digitalen Zeitalter in Haushalten? Welche Design Prinzipien gelten? Welche Mehrwerte von digitalen Geschäftsmodellen können aus Perspektive des Nutzers identifiziert werden? Wie erfahren digitale Nutzer das Angebot von digitalen Services? Wie beeinflussen digitale Technologien Geschäftsmodelle der Zukunft? El Sawy und Pereira (2013) zeigen auf, dass mit Hilfe von Taxonomien, Referenzmodellen oder dynamischen Modellen diese Fragestellungen in Angriff genommen werden können. Neben zahlreichen weiteren Geschäftsmodelltypen könnten vor allem derer zwei wissenschaftliche Potenziale bieten: datenorientierte Geschäftsmodelle und Micro-Businesses.

Datenorientierte Geschäftsmodelle: Ziel der datenorientierten Geschäftsmodelle ist es, relevante Daten digitaler Nutzer zu sammeln und diese auszuwerten, um anschließend passende Dienstleistungen anzubieten (Mayer und Schaper 2010). Mit Hilfe von Nutzergruppenvergleichen und weiteren Algorithmen erhoffen sich Unternehmen, die Kaufwahrscheinlichkeit vorherzusagen und durch gezielte Empfehlungen den Verkaufsprozess vorteilhaft zu beeinflussen (Meckel 2011). Junge Unternehmen, die in diese digitale Ökonomie „hineingeboren“ sind, werden auf dieser Grundlage bisher unbekannte Geschäftsmodelle generieren (McAfee und Brynjolfsson 2012). Durch die rasant zunehmende Verbreitung von Sensoren in mobilen Endgeräten und anderen Maschinen sowie deren Verknüpfung miteinander erweitert sich die Datenlage stetig. In Zukunft werden noch mehr Daten über sämtliche Lebenssituationen des digitalen Nutzers gesammelt und ihre Verhaltensweisen in Echtzeit ausgewertet werden können (Bharadwaj et al. 2013).

Die wissenschaftliche Analyse setzt jedoch voraus, dass der digitale Nutzer als Handlungssubjekt analysiert und nicht als reines Auswertungsobjekt verstanden wird. Unserem Verständnis nach kann nur die Wirtschaftsinformatik als Wissenschaft zwischen Informatik und Betriebswirtschaftslehre diese Aufgabe leisten. Die Auseinandersetzung mit Daten und dem digitalen Nutzer führt zu folgenden Fragen: Warum und wann teilen Nutzer ihre Daten mit Unternehmen, Haushalten und weiteren Nutzern? Welche ökonomisch nutzbaren Effekte entstehen aus der Interaktion mit Dienstleistungen? Wie kann das „Daten-Ökosystem“ des digitalen Nutzers effizient und effektiv für die Gestaltung von neuen Geschäftsmodellen, Produkten und Dienstleistungen genutzt werden? Wie bewerten Nutzer im Umgang mit datenorientierten Geschäftsmodellen die Sicherheit und den Schutz von Daten? Welchen Einfluss haben soziale Medien auf das Wachstum von datenorientierten Geschäftsmodellen? Gerade in Bezug auf die erste Fragestellung stehen der Wirtschaftsinformatik Methoden der Ethnographie bereit, die den digitalen Nutzer als Individuum in seinem natürlichen Umfeld beobachten und analysieren, um letztlich auf dieser Datenbasis neue Theorien zu bilden (vgl. Grounded Theory) oder um zu testende Hypothesen aufstellen zu können.

Aufkommen von Micro-Businesses: Neben den Veränderungen in angestammten Industrien entstehen so genannte „Micro-Businesses“: Unternehmen, die unter minimalem Personal- und Finanzmitteleinsatz Produkte und Dienstleistungen ausschließlich über das Internet anbieten. Der effiziente Zusammenschluss zu Anbieternetzwerken liegt nahe. Aus diesen digitalen Strukturen heraus können umfangreiche und komplexe Leistungsbündel erbracht werden, die der digitale Nutzer autark zusammensetzt, etwa durch Integratoren wie zum Beispiel Zapier.Footnote 9 Zwei relevante Forschungsfragen in diesem Kontext sind: Wie modellieren und gestalten digitale Nutzer ihre individuellen Netzwerke von Services? Was für Hilfsmittel könnten digitalen Nutzern bei der Gestaltung von individuellen Servicenetzwerken helfen? Außerdem ist uns Forschung zu Geschäftsmodellen der Individualisierung und Spezialisierung, die durch Digitalisierung ermöglicht werden, nicht bekannt, wenngleich die Wirtschaftsinformatik einen beachtlichen Beitrag leisten kann – beispielsweise durch Übertragung von Arbeiten aus dem Bereich der digitalen Marktplätze. Forschungsfragen zu diesem Themenkomplex wären: Welchen Grad an Individualisierung und Kontextsensitivität müssen Geschäftsmodelle in Zukunft erreichen, um den Kundenanforderungen gerecht zu werden? Wie gestalten sich Marktnetzwerke zur Unterstützung des Prozesses von digitalen Nutzern?

3.2 Prozesse und Strukturen für den digitalen Nutzer

Die Gestaltung von Prozessen und Strukturen in Unternehmen ist traditionell eine der Stärken der Wirtschaftsinformatik (Hammer und Champy 1994; Becker und Schütte 2004; Scheer 1998). Auch mit der Fragestellung nach den Einflüssen der Orientierung am Menschen auf die Gestaltung von Prozessen haben sich Wissenschaftler wie Ives und Learmonth (1984) beschäftigt und den Nutzer als Bestandteil in Modellierungssprachen berücksichtigt. Dennoch ist eine weitere Bearbeitung des Themenfeldes unerlässlich. Mit Blick auf die Leistungs-, Innovations- und Entwicklungsprozesse eines Unternehmens ergeben sich durch das Einbeziehen des digitalen Nutzers neue Potenziale; darüber hinaus beginnen digitale Nutzer vermehrt, ihre eigenen Prozesse und Prozesslandschaften selbst zu gestalten.

Leistungsprozesse in Unternehmen: Die Wirtschaftsinformatik darf sich dabei nicht auf den Nutzer selbst beschränken, sondern muss sich auch mit dessen Einfluss auf Prozessabläufe in Unternehmen auseinandersetzen (Palfrey und Gasser 2008). Konkrete Vorschläge für Forschungsvorhaben lassen sich bereits unter dem Stichwort „Co-Modellierung“ finden: der bidirektionalen Modellierung der physischen und virtuellen Welt, bei der der Mensch als Ausgangspunkt für die Formulierung von Anforderungen dient (Kagermann et al. 2012). Der Wirtschaftsinformatik als Integrationsdisziplin bieten sich hier gute Forschungsmöglichkeiten; Forschungsfragen wären u. a.: Wie gestalten sich Leistungsprozesse in Unternehmen bei einer zunehmenden Integration des digitalen Nutzers? Welche Anforderungen haben digitale Nutzer an Leistungsprozesse von Unternehmen? Wie sollte die Leistungsfähigkeit dieser Prozesse gemessen und bewertet werden? Die Änderung der Perspektive bedeutet, den Nutzer und seinen Kontext mit geeigneten Instrumenten aktiv in das Design und die Erstellung von Leistungsprozessen einzubeziehen. Daraus resultiert die Fragestellung: Wie können Nutzer in die Erstellung von Leistungsprozessen eingebunden werden?

Auch durch den digitalen Nutzer als Mitarbeiter in Unternehmen werden Leistungsprozesse verändert. Erstmals sind Mitarbeiter, deren Aufgaben primär auf Wissen fußen („Knowledge Worker“), durch Kombination von Cloud Computing und mobilen Endgeräten befähigt, ihrer Arbeit weitgehend unabhängig von ihrem geographischen Standort nachzukommen (Petrie 2010). Die Daten und notwendigen Arbeitswerkzeuge sind prinzipiell überall verfügbar. Die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben verschwimmt zunehmend und einige Unternehmen haben den festen Arbeitsplatz zugunsten einer mobilen Belegschaft bereits zur Ausnahme gemacht. Ein technologischer Treiber dieser Entwicklung ist privat und dienstlich genutzte ITK – auch Consumerization genannt (Harris et al. 2012). Dadurch entstehen mittelbar und unmittelbar Einflüsse auf die Arbeitsleistung, aber auch auf die zeitliche Verteilung der Arbeitslast und dem daraus entstehenden Stress (Niehaves et al. 2013). Die Wirtschaftsinformatik mit ihrer starken Verankerung in der Modellierung von Prozessen kann durch Erweiterung des Methodenportfolios – zum Beispiel durch „Need Finding“ (Patnaik und Becker 2010) – neue Erkenntnisse bei Nutzern generieren, um mit Hilfe von Technologie z. B. lernförderliche Arbeitsstrukturen und – organisationen aufzubauen (Kagermann et al. 2012). Folgende Fragen stellen vielversprechende Startpunkte zur Forschung dar: Welche Anforderungen stellen digitale Nutzer an Leistungsprozesse in Unternehmen als Mitarbeiter? Welche Faktoren spielen bei der Gestaltung von Leistungserstellungsprozessen unter Berücksichtigung der digitalen Nutzer (als Mitarbeiter) in Unternehmen eine Rolle? Wie können Erkenntnisse der Organisationstheorie auf flexible Arbeitsstrukturen angewendet werden?

Mit der Veränderung von Leistungsprozessen ist die Strukturierung von Organisationen ebenso zu hinterfragen. Unternehmenshierarchien weichen zunehmend flexibleren Arbeitsstrukturen. Unternehmen wie Google zeigen, wie selbstorganisierende Teams zusammengesetzt werden und die Gestaltung von Arbeitsräumen die Leistungsfähigkeit von Teams beeinflussen kann (Allen und Henn 2006). Die Wirtschaftsinformatik mit ihrer betriebswirtschaftlichen und technologischen Kompetenz kann dabei gemeinsam mit Psychologen, Soziologen und Architekten die Gestaltung von Arbeitsumgebungen unterstützen, indem sie konkrete Anforderungen der Nutzer formuliert und mit Hilfe digitaler Werkzeuge umsetzt. Dabei stellen sich beispielweise die Fragen: Wie sind Organisationen und Arbeitsumgebungen auf die Bedürfnisse von digitalen Nutzern anzupassen? Wie erleben Nutzer neue Arbeitsumgebungen auf Basis einer hohen Digitalisierung im Arbeitsalltag? Welche Nutzungsformen werden durch Nutzergruppen bevorzugt und was kann für das Nutzungsverhalten abgeleitet werden? Forschungsarbeiten aus dem Themenbereich Telearbeit ließen sich z. B. durch eine explizite Betrachtung des digitalen Nutzers anreichern.

Innovations- und Entwicklungsprozesse: Den Innovations- und Entwicklungsprozessen von Softwaresystemen kommt neben den Leistungsprozessen eine besondere Rolle zu. Etablierte Entwurfsmethoden sind das V-Modell, der Unified Rational Process oder die agile Entwicklungsmethode „SCRUM“ (Boehm und Turner 2004). Die dazu existierende Forschung, etwa im Feld „Agile Information Systems“, konzentrierte sich maßgeblich auf das Entwicklerteam in Projekten (Weiyin et al. 2011, S. 246). Weil Informationstechnologie näher an den Nutzer gerückt ist und Software in klassisch hardwaregetriebene Produkte wie Waschmaschinen, Stromzähler, Bohrmaschinen zunehmend integriert wird (Embedded Systems), besteht in der Praxis und Wissenschaft Änderungsbedarf an der Art und Weise, wie Innovations- und Entwicklungsprojekte durchzuführen sind.

Im Bereich der Informatik und dem Design gibt es bereits Erfahrungen, wie der digitale Nutzer mittels User-Centered-Design in Gestaltungsprozesse integriert werden kann, die sich die Wirtschaftsinformatik zunutze machen könnte. Gerade die frühzeitige Antizipation von Kundenbedürfnissen und deren Umsetzung in neue softwarebasierte Lösungen ist entscheidend für den zukünftigen Markterfolg vieler Unternehmen (Von Hippel 2009). Forschungsergebnisse von Meinel und Leifer (2010) zeigen, dass Methoden wie beispielsweise „Design Thinking“ auch in Softwareentwicklungsprozessen helfen können, frühzeitig Kundenbedürfnisse zu identifizieren und Prozesse wie „Rapid Prototyping“ sowie divergierendes Denken zu unterstützen. Daraus ergeben sich die Fragen: Was sind die Treiber und Motivatoren für die Integration von Nutzergruppen in Innovationsprozesse? Wie kann der digitale Nutzer im Umfeld von Unternehmen effizienter und effektiver in Innovations- und Entwicklungsprozesse integriert werden? Wie gehen Nutzer mit Rechten an ihrem eigenen geistigen Eigentum um? Wie lassen sich Effekte der Nutzungsorientierung in Prozessen quantifizieren?

Prozesse und Prozesslandschaft der Nutzer: Unter dem Stichwort „Aufgabenautomation für Nutzer“ (engl. User Task Automation) entsteht unserer Ansicht nach ein neues Feld für Prozesse und Strukturen in Haushalten, welches zwingend die Betrachtung des digitalen Nutzers erfordert. Dienste wie IFTTT.com ermöglichen es Nutzern bereits heute, haushaltsnahe Prozesse zu gestalten und automatisiert ablaufen zu lassen. So kann beispielsweise die Beleuchtung eines Hauses eingeschaltet werden, sobald sich der Eigentümer in einem gewissen Umkreis dem Gebäude nähert oder Heizungssysteme aktivieren sich, sobald der Bewohner von einer Dienstreise am Flughafen eintrifft. Diese verfügbaren Szenarios stellen nur eine Vision einer neuen nutzerzentrierten Prozesslandschaft dar. Das Forschungsfeld User, Use & Utility kann im Schnittpunkt aus Prozessen und verschiedensten Branchen und Funktionen (Abb.  1 ) Fragen wie die folgenden beantworten: Warum gestalten in Zukunft digitale Nutzer ihre haushaltsnahen Prozesse und Netzwerke selbst und wie können sie darin unterstützt werden? Welche Effekte ergeben sich aus der Perspektive von Unternehmen und Marktnetzwerken aus der Prozessgestaltung durch den Nutzer? Welche Möglichkeiten ergeben sich aus Perspektive des digitalen Nutzers für neue Dienstleistungen und Produkte im Haushalt durch die flexible Verbindung von einzelnen Dienstleistungen?

3.3 Systeme, Software und ITK-Infrastruktur

Der Erfolg des Apple iPhone hat gezeigt, wie wichtig Benutzerfreundlichkeit und die damit verbundene Ausrichtung von Technologien an den Bedürfnissen digitaler Nutzer für die Akzeptanz und Differenzierung im Markt sind. Die minimalistische Gestaltung des iPhone kontrastierte die zur Markteinführung 2007 vorherrschenden Designs von Anbietern technologisch vergleichbarer Geräte. Ein weiteres Beispiel sind Head-up-Displays, die in Zukunft die Verfügbarkeit und Verwendung von Informationen in unserem Lebensalltag vermutlich verändern werden (Google 2013). Beiden Beispielen ist gemein, dass sie durch die konsequente Synthese von Funktionalität und Design ihre Akzeptanz im privaten und kommerziellen Umfeld entscheidend prägen. Dies ist auch einer der Treiber für Consumerization in der IT, die sich durch die Einführung von privat genutzter ITK-Infrastruktur in Unternehmen äußert (Bring-your-own-Device) (Weiß und Leimeister 2012; IBM Corporation 2011, S. 2; D’Arcy 2011).

Als weitere entscheidende Entwicklung sind deutliche Fortschritte in der Datenverarbeitungstechnologie zu beobachten. Damit ergeben sich neue Möglichkeiten in der Nutzung von (mobilen) Anwendungen sowohl in Unternehmen als auch im privaten Bereich. Ausgehend vom digitalen Nutzer sollte die Wirtschaftsinformatik weiterhin einen Beitrag dazu leisten, den Einfluss technologischer Trends auf die Gestaltung und das Management von Informationssystemen zu eruieren. Einige relevante Fragen sind: Welchen Nutzen schafft die Kombination digitalisierter Produkte für den Kunden? Welchen Wertbeitrag liefern neue Technologien dem digitalen Nutzer und dem Unternehmen? Wie ist das Nutzungsverhalten von Nutzergruppen in Bezug auf unterschiedliche Technologien? Warenkorbanalysen – wie sie bereits in der Informatik durch Mennicken und Huang (2012, S. 4) eingesetzt werden – könnten gerade bei zuletzt genannter Frage Hinweise auf Gruppenunterschiede und -gleichheiten liefern und damit zu einer Theoriebildung beitragen.

Einfachheit in der Gestaltung: Für die Gestaltung neuer Anwendungen gelten Einfachheit in der Struktur und Oberfläche als Richtlinien. Während herkömmliche Informationssysteme eine komplexe Vielzahl an verschiedenen Funktionen aufweisen, stellen Apps und neue Internetanwendungen jeweils nur wenige, spezifische Funktionen bereit (Desintegration). Diese Informationssysteme sind so gestaltet, dass Benutzer innerhalb kürzester Zeit die Logik einer Anwendung verstehen und anwenden können. Das betrifft sowohl die Gruppe der „Digital Natives“Footnote 10 (Prensky 2001) als auch die der „Digital Immigrants“. Aus der Adaption dieser technischen und digitalen Entwicklungen in den Alltag von Menschen und Unternehmen ergeben sich verhaltenswissenschaftliche und gestaltungsorientierte Fragen, denen sich die Wirtschaftsinformatik stellen sollte. Die zentrale Forschungsfrage ist, wie Technologien und Anwendungen durch Menschen genutzt und akzeptiert werden und wo deren Einsatzfelder in den Haushalten und Unternehmen liegen – das Feld auf eine rein technologische Fragestellung zu reduzieren, würde unserer Meinung nach die Betrachtung verschmälern, ebenso die Reduktion auf das Fachgebiet der Informatik. Insofern könnte die Wirtschaftsinformatik folgende weitere Fragen bearbeiten: Welchen Einfluss hat die Interaktion von digitalen Nutzern mit neuen Technologien auf die Gestaltung von betrieblichen Informationssystemen und Prozessen? Welche neuen Dienstleistungen und Produkte können durch Konvergenz von Hardwaretechnologie und Software zukünftig im betrieblichen Umfeld etabliert werden? Theoretische Anknüpfungspunkte, um den digitalen Nutzer besser analysieren zu können, ließen sich beispielsweise mit der „Unified theory of acceptance and use of technology“ finden (Venkatesh et al. 2012).

4 Forschungsmethodische Implikationen

Methodisch ist die Wirtschaftsinformatik wie von Wilde und Hess (2007) beschrieben gut aufgestellt, um dieses komplexe Themenfeld an soziotechnischen Fragestellungen zu bearbeiten. Sowohl gestaltungsorientierte (Hevner et al. 2004; Österle et al. 2010) wie auch sozialwissenschaftliche und erklärungsorientierte Ansätze eignen sich, um die Perspektiven des digitalen Nutzers, dessen Nutzungsverhalten und den für ihn entstehenden Nutzen integrativ zu verstehen und Lösungsansätze zu konzipieren.

Folgend dem Aufsatz von Gregor (2006) können auf den ersten vier Stufen der Theoriebildung – Beschreibung und Analyse, Erklärung, Vorhersage sowie Vorhersage und Erklärung – zahlreiche Fragen (wie beispielsweise: „Warum teilen Nutzer ihre Daten mit Unternehmen, Haushalten und weiteren Nutzern?“) gestellt werden, um eine Basis für die Analyse des Nutzerverhaltens in der digitalen Welt zu schaffen. Geeignete Forschungsmethoden sind u. a. in den Bereichen der (experimentellen) Psychologie und des Marketing zu finden. Unter anderem können Fokusgruppen, Experimente mit Nutzergruppen, Laborbeobachtungen, Assoziationsanalysen, ethnographische Methoden (z. B. „Living Labs“ oder Video-Ethnographie) oder Verfahren des Neuro-Imaging tiefe Einblicke in die Psyche des Menschen und damit verbunden in die Nutzung von Informationssystemen liefern (Loos et al. 2010). Zu ergänzen wären diese durch neue Methoden wie z. B. die Analyse von großen Beständen personenbezogener Daten (siehe hierzu im Marketing Hildebrand et al. 2012).

Diese vier Stufen der Theoretisierung sind notwendig, um die fünfte Stufe, Design und Aktion – also die Gestaltung von Informationssystemen – theoriegeleitet durchführen zu können. Hier bietet die Wirtschaftsinformatik ein gutes Methodenportfolio, angefangen bei Fallstudien bis hin zu Methoden zum prototypischen Gestalten von Lösungen, aber auch A/B-Tests oder Pfadanalysen. Angesichts des starken Einbezugs des digitalen Nutzers in den Entstehungsprozess von Produkten und Dienstleistungen ist eine stärkere Gewichtung von Methoden zur Erzeugung konkreter Artefakte wünschenswert.

Die Ergebnisse des Forschungsfelds User, Use & Utility Research hätten in vielen Wissenschaftsbereichen hohes Verwendungspotenzial, angefangen bei intelligenten Monitoring- und autonomen Entscheidungssystemen über die Erschließung von neuen Geschäftsmodellen – u. a. in den Bereichen Gesundheit, Mobilität und Energie – bis hin zu neuen Produktionsmethoden (siehe hierzu Smart Production) und der Integration von eGovernment-Angeboten in privaten Haushalten. In allen genannten und weiteren Bereichen sind der digitale Nutzer und seine Anforderungen an Informationssysteme der Zukunft wenig erforscht.

5 Zusammenfassung

Die Entwicklung des Nutzers in der sich zunehmend digitalisierenden Welt zeigt auf, dass die gesamte Wertschöpfungskette, angefangen bei der privaten Informationsverarbeitung bis hin zu Dienstleistungs- und Industriebetrieben, zu überdenken ist. Der digitale Nutzer und dessen Nutzung von ITK im privaten und beruflichen Umfeld stehen zukünftig im Mittelpunkt vieler Entscheidungsprozesse in Unternehmen. Für die Wirtschaftsinformatik und das Forschungsfeld User, Use & Utility Research ergeben sich zwei Implikationen: erstens sollten die inhaltlichen Arbeiten um den digitalen Nutzer herum aufgebaut werden (Abschn. 3). Zweitens ist das Handwerkszeug zur Bearbeitung der Fragestellungen um Methoden anderer Wissenschaftsdisziplinen zu erweitern; gegebenenfalls sind sogar neue Werkzeuge zu entwickeln.

Um in der Forschung diesem weiten Themenfeld gerecht zu werden, wird es notwendig sein, alle Anspruchsgruppen, also die Unternehmen, die Politik, die wissenschaftliche Gemeinde und die Gesellschaft mit einzubeziehen. Vor allem die beiden erstgenannten können durch gezielte Unterstützung von neuen Forschungsvorhaben in diesem Feld und innovativen Lehrkonzepten in der Wirtschaftsinformatik aktiv einen Beitrag zu dieser Neuausrichtung leisten.