1 Einleitung

Seit einigen Jahren ist in der nordamerikanischen Information-Systems-Disziplin (IS) eine verstärkte Anwendung neurowissenschaftlicher Ansätze zu beobachten. Theorien und Methoden der Neurowissenschaften tragen zu einem besseren Verständnis menschlichen Verhaltens bei. Da die IS menschliches Verhalten bei der Nutzung von Informationssystemen zu erklären versucht, können neurowissenschaftliche Ansätze auch hier zum Erkenntnisfortschritt beitragen. Dimoka et al. (2007, S. 13) haben in diesem Zusammenhang in einer der ersten Publikationen hierzu formuliert: „It is just hard to believe that a better understanding of brain functioning will not lead to better IS theories.“

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaftsinformatik wird in der vorliegenden Diskussion das Thema „NeuroIS“ aufgegriffen. Verstärkt wird die Notwendigkeit der Diskussion von NeuroIS durch den Umstand, dass auch in anderen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften neurowissenschaftliche Ansätze an Bedeutung gewinnen (z. B. Neuroökonomie, Camerer et al. 2005). In den Jahren 2009 und 2010 wurden in Österreich bereits zwei einschlägige wissenschaftliche Symposien durchgeführt, die explizit auf NeuroIS ausgerichtet waren. Auf der diesjährigen Tagung „Gmunden Retreat on Advances in NeuroIS“ (siehe http://www.NeuroIS.org), auf der mehrere Fachvertreter der deutschsprachigen Wirtschaftsinformatikgemeinschaft vertreten waren, wurden Chancen und Herausforderungen von NeuroIS diskutiert. Dabei standen sowohl methodische als auch theoriebezogene Fragestellungen auf der Agenda. Ein zentrales Fazit der Tagung war, dass neurowissenschaftliche Ansätze nicht nur zur Erklärung menschlichen Verhaltens im Umgang mit Informationssystemen einen Beitrag leisten können, sondern auch für gestaltungsorientierte Wirtschaftsinformatiker von Relevanz sind. Dieser Umstand ist für die Akteure im deutschen Sprachraum von besonderem Interesse, liegt doch eine ihrer Stärken in der Gestaltung und dem Entwurf neuer innovativer Technologien.

Um in der vorliegenden Diskussion eine breite Sichtweise auf die Thematik zu erhalten, wurden sowohl nordamerikanische Wissenschaftler als auch Vertreter der deutschsprachigen Wirtschaftsinformatik eingeladen, zum Thema Stellung zu nehmen. Folgende Personen sind der Einladung gefolgt (in alphabetischer Reihenfolge):

  • Prof. Rajiv D. Banker, Merves Chair in Accounting and Information Technology, Fox School of Business and Management, Temple University, USA;

  • Prof. Jan vom Brocke, Martin Hilti Chair in Business Process Management, University of Liechtenstein;

  • Prof. Fred D. Davis, David D. Glass Chair in Information Systems, Sam M. Walton College of Business, University of Arkansas, USA;

  • Prof. Pierre-Majorique Léger, Associate Professor am Department of Information Technologies, HEC Montréal, Kanada;

  • Prof. Gernot R. Müller-Putz, Associate Professor am Institut für Semantische Datenanalyse/Knowledge Discovery, Laboratory of Brain-Computer Interfaces, Technische Universität Graz, Österreich;

  • Prof. René Riedl, Associate Professor am Institut für Wirtschaftsinformatik – Information Engineering, Johannes Kepler Universität Linz, Österreich.

Die sechs Autoren beleuchten in vier Beiträgen verschiedene Facetten der NeuroIS, die für die Wirtschaftsinformatik als relevant und bedeutsam erscheinen.

René Riedl und Gernot R. Müller-Putz zeigen in ihrem Artikel anhand drei konkreter Beispiele, dass neurowissenschaftliche Ansätze zur Erklärung von Wirtschaftsinformatik-Phänomenen sowie zur Gestaltung von innovativen Informationssystemen verwendet werden können. Im Beitrag wird unter anderem über ein Laborexperiment auf Basis von eBay-Webseiten berichtet. Zudem wird auf Forschungs- und Entwicklungsprojekte in der IT-Industrie Bezug genommen, die in den letzten Jahren als Prototypen der Öffentlichkeit vorgestellt wurden.

Jan vom Brocke nimmt in seinem Beitrag Stellung zur Rolle der Neurowissenschaften in der gestaltungsorientierten Wirtschaftinformatik-Forschung. Es wird gezeigt, dass neurowissenschaftliche Ansätze nicht nur in behavioristischen Forschungsansätzen eingesetzt werden können. Hierzu systematisiert vom Brocke die Einsatzpotenziale in der gestaltungsorientierten Forschung und unterscheidet den Ansatz Research by Design sowie den Ansatz Research on Design. Für den ersten Ansatz werden die Artefaktevaluation und die Nutzung neurowissenschaftlicher Theorien bei der Artefakt-Entwicklung diskutiert. Im Ansatz Research on Design können neurowissenschaftliche Methoden für die Untersuchung von Konstruktionsprozessen selbst, bspw. zur Entwicklung und Evaluation von Design-Theorien, genutzt werden.

Fred D. Davis und Rajiv D. Banker fokussieren in ihrem Beitrag auf die Integration neurowissenschaftlicher Ansätze in die Technologieakzeptanz-Forschung. Arbeiten zum Technology Acceptance Model (TAM) werden seit den 1980er-Jahren in großer Anzahl veröffentlicht. In den letzten Jahren, so die Feststellung der Autoren, konnten jedoch auf Basis von Fragebogenstudien nur mehr inkrementelle Erkenntnisfortschritte erzielt werden. Durch die Nutzung von Wissen über Zustände und Prozesse im menschlichen Gehirn sowie durch Anwendung moderner bildgebender Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) wurde eine neue Sichtweise auf die Technologieakzeptanz-Forschung eröffnet, die Aussicht auf substantielle Fortschritte gibt.

Pierre-Majorique Léger stellt schließlich ERPsim vor, ein innovativer Lernansatz zur Vermittlung von Enterprise-Resource-Planning-Kenntnissen. Besonders beachtenswert ist, dass in diesem Ansatz neurophysiologische Messverfahren (z. B. Hautleitfähigkeit, engl. Galvanic Skin Response) eingesetzt werden, um emotionale Reaktionen von SAP-System-Benutzern in Echtzeit zu erfassen. Diese neurophysiologischen Daten können mittels Triangulation mit Daten aus Fragebogenerhebungen und Beobachtungen ausgewertet werden, woraus sich ein tieferes Verständnis über die Nutzung von ERP-Systemen gewinnen lässt.

Die vorliegende Diskussion soll den wissenschaftlichen Diskurs über Anwendung, Potenziale und Risiken neurowissenschaftlicher Ansätze in der Wirtschaftsinformatik stimulieren. Die wissenschaftliche Gemeinschaft ist dazu eingeladen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. Wenn auch Sie zu diesem Thema oder zu einem Artikel der Zeitschrift Wirtschaftsinformatik Stellung nehmen möchten, senden Sie Ihre Stellungnahme (max. 2 Seiten) bitte an den Hauptherausgeber der WIRTSCHAFTSINFORMATIK, Prof. Dr. Hans Ulrich Buhl, Universität Augsburg, Hans-Ulrich.Buhl@wiwi.uni-augsburg.de.

Prof. Dr. Peter Loos

Institut für Wirtschaftsinformatik im DFKI

Universität des Saarlandes, Deutschland

2 Zum Potenzial von NeuroIS: Drei Beispiele

In unserem Artikel zum Thema „NeuroIS“ wollen wir nachfolgend auf Basis einer Begriffserklärung drei Beispiele skizzieren, die Aufschluss über das Potenzial von NeuroIS für die Forschung und Entwicklung in der Wirtschaftsinformatik geben. Zum Ende folgt ein kurzes Fazit.

Auf dem „Gmunden Retreat on the Foundations of NeuroIS“ wurde 2009 folgende Definition erarbeitet (vgl. Riedl et al. 2010a, S. 245): „NeuroIS is a subfield in the IS literature that relies on neuroscience and neurophysiological theories and tools to better understand the development, use, and impact of information technologies (IT). NeuroIS seeks to contribute to (i) the development of new theories that make possible accurate predictions of IT-related behaviors, and (ii) the design of IT artifacts that positively affect economic and non-economic variables (e.g., productivity, satisfaction, adoption, well being).“

Die Definition umfasst die Erklärung des Verhaltens von Informationssystemen gleichermaßen wie ihre Gestaltung und wird somit dem dualen Wissenschaftscharakter der Wirtschaftsinformatik gerecht. Die drei im Folgenden skizzierten Beispiele fokussieren einerseits auf Erklärung von IT-Verhalten, also auf die Beantwortung einer Warum-Frage (Beispiel 1), und andererseits wie auf die Gestaltung von Systemen (Beispiele 2 und 3).

2.1 Beispiel 1 (eBay): Geschlecht und Vertrauen im Gehirn

Die Untersuchung geschlechterspezifischer Unterschiede bei der Nutzung von Informationssystemen ist ein bedeutendes Thema. Eine Erkenntnis bisheriger Forschung ist, dass zwischen Männern und Frauen signifikante Unterschiede im IT-Verhalten bestehen. Ein wesentlicher Unterschied ist beispielsweise, dass Frauen beim Einkaufen im Internet im Allgemeinen ein höheres Risiko wahrnehmen als Männer; zudem beurteilen Frauen die Vertrauenswürdigkeit von Online-Shopping oftmals geringer als dies Männer tun.

Diese geschlechterspezifischen Unterschiede im IT-Verhalten werfen die Frage auf, warum diese bestehen. Riedl et al. (2010b) sind dieser Frage durch Anwendung der fMRT nachgegangen und haben Gehirnaktivierungsunterschiede zwischen Frauen und Männern beim Verarbeiten von vertrauenswürdigen und nicht vertrauenswürdigen eBay-Angeboten untersucht. Im Ergebnis wird festgestellt, dass Frauen primär limbische Gehirnareale aktiviert haben (in denen vor allem Emotionen verarbeitet werden) und Männer eher präfrontale Hirnstrukturen (die eher dem rationalen Denken dienen). Ein weiteres Ergebnis ist, dass Frauen mehr Gehirnstrukturen aktiviert haben als Männer, insbesondere deshalb, weil Frauen mehr Informationen und diese umfassender sowie detaillierter verarbeiten als Männer, die wiederum Informationen selektiver und holistischer verarbeiten.

Der Befund, dass geschlechterspezifische Unterschiede in der neuronalen Informationsverarbeitung bestehen, die sich auch in signifikanten Verhaltensunterschieden manifestieren, hat Implikationen für die Gestaltung von Informationssystemen. Der Inhalt präsentierter Informationen wie z. B. Produktbeschreibungen in Online-Shops, aber auch die Art der Informationsdarstellung (textuell, grafisch oder eine Kombination) sowie das Design und Farben von Benutzungsoberflächen könnten nach dem Geschlecht des Benutzers angepasst werden, um dadurch wichtige Variablen wie Technologieakzeptanz oder Benutzerzufriedenheit positiv zu beeinflussen.

2.2 Beispiel 2 (Microsoft): Interaktion von Gehirn und Computer

Vor einigen Jahren wurde in der Öffentlichkeit eine Patentanmeldung mit der Bezeichnung „Using electroencephalograph signals for task classification and activity recognition“ von Microsoft bekannt (Tan und Lee 2006). Ziel ist es, auf Basis von mittels der Elektroenzephalografie (EEG) gemessener Gehirnaktivität zu erkennen, welche kognitive Aufgabe von einem Benutzer zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem Computer ausgeführt wird. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es unter anderem notwendig, bestimmten mentalen Zuständen eines Benutzers statistisch unterscheidbare EEG-Muster zuzuordnen, insbesondere deshalb, weil die im Gehirn eines Benutzers vorherrschenden mentalen Zustände und daraus resultierende EEG-Muster wieder als Daten in die Verarbeitung von Techniksystemen eingehen (Wolpaw et al. 2002).

Betriebswirtschaftliche Anwendungen von solchen Gehirn-Computer-Schnittstellen (engl. Brain-Computer Interfaces, BCI) sind gerade im Begriff zu entstehen. Langfristziele dieser Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sind vor allem:

  1. 1.

    Prozessschritte bei administrativen Arbeitsabläufen zu automatisieren; beispielsweise könnten Systeme in Zukunft den mentalen Zustand eines Benutzers erkennen und ohne Betätigung eines Eingabegeräts wie einer Maus mit der Datenverarbeitung beginnen oder Benutzer könnten willentlich nur durch bestimmte Gedanken maschinelle Verarbeitungsprozesse auslösen.

  2. 2.

    Die Gebrauchstauglichkeit von Systemen zu erhöhen; beispielsweise könnte eine automatische Adaption des Inhalts und der Darstellungsart von Informationen sowie des Designs und der Farben auf Benutzungsoberflächen auf Basis des mentalen Zustands des Benutzers erfolgen.

Die Erreichung beider Ziele kann einen Beitrag zur Produktivitätssteigerung von Benutzern leisten, einem wesentlichen Faktor beim Einsatz von Systemen im betriebswirtschaftlichen Kontext. Bislang werden BCI-Systeme aber vor allem im medizinischen Bereich entwickelt und eingesetzt. Vor allem für Menschen, die vollständig gelähmt sind und die nicht sprechen können, jedoch kognitiv unbeeinträchtigt sind, stellen BCI-Systeme eine Möglichkeit dar, zu kommunizieren (Birbaumer et al. 1999; Dornhege et al. 2007; Pfurtscheller et al. 2008; Müller-Putz et al. 2010). Andere aktuelle Anwendungen zeigen, dass die gedankengesteuerte Navigation in virtuellen Welten in einfacher Form möglich ist (z. B. Navigation nach links oder rechts, oben oder unten).

Eine Gesamtbeurteilung der Entwicklungen im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen zeigt jedoch, dass marktfähige Produkte bislang nicht existieren. Damit ist gemeint, dass die verfügbaren Systeme immer mit begleitenden Aktivitäten von Ingenieuren verbunden sind, welche die Systeme beim Benutzer implementieren und betreiben. Daraus folgt, dass die genannten Langfristziele der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Bereich BCI zurzeit eher als Vision denn als Realität anzusehen sind. Nichtsdestoweniger bleibt festzuhalten, dass BCI-Systeme vor allem im Bereich der Mensch-Computer-Interaktion (engl. Human-Computer Interaction) hohes Erkenntnispotenzial haben.

2.3 Beispiel 3 (Philips): Finanzinformationssysteme und Emotionen

Zunehmend mehr Personen handeln Wertpapiere von zu Hause aus über das Internet. Grundlage dieser Transaktionen sind leistungsfähige und sichere Systeme. Befunde empirischer Forschung zeigen, dass Finanzentscheidungen nicht optimal getroffen werden, wenn der Entscheidungsträger zu stark emotionalisiert ist (z. B. Angst oder Geldgier). Philips hat prototypisch ein Informationssystem entwickelt und im Jahr 2009 in der Öffentlichkeit unter dem Titel „Rationalizer concept: An emotion mirroring system for online traders“ vorgestellt. Das System misst die Emotionen eines Benutzers auf Basis von Hautleitfähigkeit (engl. Galvanic Skin Response) und es warnt einen Benutzer, wenn er zu stark emotionalisiert ist. Je mehr ein Mensch emotionalisiert ist, desto mehr Schweiß wird gebildet, was die Hautleitfähigkeit erhöht. Diese Warnung des Systems bei starker Emotion kann dazu verwendet werden, zu einem bestimmten Zeitpunkt von Finanztransaktionen abzusehen. Die These ist, dass durch den Systemeinsatz ungünstige Finanzentscheidungen reduziert werden können.

Das System besteht aus zwei Komponenten, einem Armreifen, der am Handgelenk angebracht wird und der die Emotionen via Hautleitfähigkeit misst, und einem Anzeigegerät, das durch Lichtmuster und Farben die Stärke von Emotionen anzeigt. Das Anzeigegerät hat das Design einer Schüssel, die, wenn sie neben einem Computer steht, kaum störend wirkt. Aus der Einfachheit der Komponenten selbst sowie ihrer Nutzung resultiert, dass das System für den Praxiseinsatz prädestiniert ist, ein Umstand, der bei EEG weniger gegeben ist (weil dabei Elektroden an der Kopfoberfläche angebracht werden müssen) und bei fMRT gar nicht (Personen liegen hier bei der Messung von Gehirnaktivität in fixierter Position in einer Maschine).

2.4 Fazit

Es wurden drei Beispiele skizziert, welche die vielfältigen Potenziale des Einsatzes von neurowissenschaftlichen Ansätzen bei der Erklärung und Gestaltung von Mensch-Aufgabe-Techniken-Systemen (MAT-Systemen) transparent machen.

Wir vertreten die Auffassung, dass neurowissenschaftliche Theorien und Methoden die Wirtschaftsinformatik bereichern und somit zum langfristigen Erkenntnisfortschritt beitragen können, halten aber fest, dass wir neurowissenschaftlichen Ansätzen komplementären Charakter zu existierenden Theorien und Methoden beimessen. Zudem gilt es, die Herausforderungen, die mit dem Einsatz von neurowissenschaftlichen Ansätzen einhergehen, zu berücksichtigen. Einige wesentliche Herausforderungen wurden in der Fachliteratur bereits erörtert, wie beispielsweise Stichprobengröße, externe Validität, moralische und ethische Bedenken sowie Kostenaspekte (vgl. Riedl et al. 2010a).

René Riedl

Institut für Wirtschaftsinformatik

Johannes Kepler Universität Linz, Österreich

Gernot R. Müller-Putz

Institut für Semantische Datenanalyse

Technische Universität Graz, Österreich

3 Zur Rolle der Neurowissenschaften in der gestaltungsorientierten Forschung

3.1 Einführung

Gegenstand der gestaltungsorientierten Forschung sind Konstruktionsprozesse von IT-Artefakten in der Form von Konstrukten, Modellen, Methoden und Instantiierungen (engl. „constructs“, „models“, „methods“ und „instantiations“) (March und Smith 1995; Hevner et al. 2004). Die Entwicklung unternehmensweiter Prozessmodelle liefert ein in der Praxis weit verbreitetes Beispiel. Zentrale Fragen in diesem Kontext sind beispielsweise: In welcher Darstellungstechnik sind die Modelle zu erzeugen? Welcher Detaillierungsgrad ist zu wählen? Wie kann gewährleistet werden, dass die Prozessmodelle von Rezipienten aus unterschiedlichen Fachabteilungen und Länderorganisationen auch verstanden werden? Und wann empfinden sie diese Modelle für ihre individuelle Arbeit überhaupt als nützlich?

Zumindest zwei Ansätze zur Bearbeitung derartiger Fragestellungen lassen sich unterscheiden: Einerseits können Artefakte (z. B. Prozessvarianten) in einem iterativen Prozess konstruiert und evaluiert werden, um Lösungen zu identifizieren, die sich in typischen Kontextsituationen als besonders nützlich erweisen. Andererseits kann es aber auch Ziel sein, Erkenntnisse über den Konstruktionsprozess als solchen zu gewinnen, d. h. Anhaltspunkte für Gestaltungsentscheidungen (z. B. im Rahmen der Modellierung von Prozessen) zu erarbeiten. Tab.  1 stellt die beiden Ansätze, die im Folgenden als Research by Design bzw. Research on Design bezeichnet werden, einander gegenüber und illustriert den jeweiligen Nutzen, der sich durch den Einsatz von Methoden der Neurowissenschaften realisieren ließe.

Tab. 1 Rollen der Neurowissenschaften im Research by Design und Research on Design

3.2 Research by Design

Im Research by Design lässt sich der Forschungsprozess primär als das Konstruieren und Evaluieren von Artefakten charakterisieren. Der wissenschaftliche Beitrag besteht im resultierenden neuartigen Artefakt selbst, inklusive der Kenntnis über dessen wahrgenommener Nützlichkeit in einem spezifischen Anwendungskontext (z. B. wurde die Prozessbeschreibung in einer bestimmten Notation von den Mitarbeitern des studierten Fallstudienunternehmens als verständlich empfunden?). Dieser Ansatz, der in der deutschsprachigen Wirtschaftsinformatik in den vergangenen Jahren weite Verbreitung gefunden hat, empfiehlt sich insbesondere dann, wenn nur wenige Erfolgsfaktoren des Konstruktionsprozesses ex ante determiniert werden können (z. B. der fachliche, kulturelle, aufgabenspezifische und demographische Hintergrund der Mitarbeiter).

3.2.1 Evaluation von IT-Artefakten

Um Aussagen zum tatsächlichen Nutzen neugestalteter Artefakte treffen zu können, ist der Evaluationsprozess im Research by Design entscheidend. Im Allgemeinen nutzen Arbeiten hierzu die traditionellen qualitativen als auch quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung (Hevner et al. 2004). Der Einsatz derartiger Methoden zur Evaluation von Artefakten geht jedoch mit verschiedenen Herausforderungen einher (Riedl et al. 2010); Ergebnisse von Beobachtungen und Befragungen sind beispielsweise oft subjektiv und werden u. a. von der Intention der ausgewählten Akteure beeinflusst. Messmethoden der Neurowissenschaften bieten hier innovative Möglichkeiten, um die konkreten kognitiven Effekte einzelner Rezipienten im Zuge der Artefaktadaption zu beobachten. In PET-Studien (Positronen-Emissions-Tomographie) wurde beispielsweise in der Vergangenheit die sog. „cognitive load“ gemessen (z. B. Haier et al. 1992); mittels fMRT-Studien (funktionelle Magnetresonanztomographie) wurden schon spezifische Hirnregionen identifiziert, die mit „cognitive conflict“ in Zusammenhang stehen (z. B. Botvinick et al. 2004), so wie beispielsweise der Anterior Cingulate Cortex (ACC). Diese und weitere Erkenntnisse könnten bei der Untersuchung der Wahrnehmung von Artefakten herangezogen werden.

Kritisch zu hinterfragen sind der Aufwand und die Authentizität solcher neurowissenschaftlichen Messungen. Grundsätzlich ist wohl zu erwarten, dass der technologische Fortschritt in Zukunft kostengünstigere und mobilere Messungen ermöglichen wird. Heute existieren bereits einige „light weight“ Messverfahren (z. B. Hautleitwiderstandsmessungen, Pupillenverhalten, Herzfrequenz), welche die anspruchsvolleren Verfahren wie fMRT ergänzen können. Derartige Technologien erlauben es, auch im beruflichen Umfeld physiometrische Informationen über die Technologieadaption zu gewinnen und in die Evaluation von Artefakten mit einzubeziehen. Wichtig erscheint darüber hinaus auch der seriöse Umgang mit den Ergebnissen, die über neurowissenschaftliche Messungen gewonnen werden. Damit sind nicht nur ethisch-moralische Verpflichtungen angesprochen, sondern auch die Interpretation der Ergebnisse. Allein aufgrund der unmittelbaren Messung im Kopf (oder am Körper) sollte etwa nicht per se davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse objektiv und anderen Verfahren grundsätzlich überlegen seien. Zu berücksichtigen ist, dass sich die Messergebnisse auf einzelne Subjekte beziehen, die – verglichen mit anderen Studien (z. B. fragebogenbasierten Umfragen) – zudem häufig in geringer Anzahl untersucht werden (üblicherweise ca. 15 bis 20 Probanden bei fMRT-Studien). Neurowissenschaftliche Messungen sollten daher vielleicht eher als ein Instrument verstanden werden, das eingesetzt werden kann, um die Ergebnisse traditioneller Messmethoden im Sinne einer Triangulation zu überprüfen und zu erweitern.

3.2.2 Nutzung von Theorien der Neurowissenschaften

Zu vielen Fragestellungen, die etwa die Rezeption (oder die Kreation) von Artefakten aber auch die Konfliktbehandlung betreffen, liegen bereits neurowissenschaftliche Untersuchungsergebnisse vor, die bei der Entwicklung und Evaluation genutzt werden können (z. B. die genannten Erkenntnisse zum „cognitive load“ und „cognitive conflict“). Dies ist besonders erwähnenswert, da die Konstruktion von Artefakten offensichtlich bereits von der Nutzung dieser Ergebnisse profitieren kann – ohne dass also überhaupt spezifische neurowissenschaftliche Messungen vorzunehmen sind. So könnte z. B. die Auswahl von Modellierungssprachen oder auch die Bestimmung der Modellgranularität auf Erkenntnissen über die Informationsverarbeitungskapazität von Rezipienten aufbauen (z. B. hinsichtlich der Verarbeitung von Objekten, Zahlen und sonstigen Zeichen). Auch Arbeiten zu unterschiedlichen kognitiven Stilen könnten genutzt werden, um Modelle multiperspektivisch aufzubereiten. Auch Studien zur Erklärung rationaler und kreativer kognitiven Performance könnten wertvolle Anhaltspunkte für die Gestaltung von Artefakten liefern. In diesem Zusammenhang hat Riedl (2009) bereits eine für die Wirtschaftsinformatik charakteristische Forschungsfrage formuliert, nämlich jene, ob es bestimmte Menschentypen gibt, die objektorientierte Modellierungssprachen kognitiv besser verarbeiten können als kontrollflussorientierte Sprachen.

Mit der verbreiteten Nutzung dieser Ergebnisse als Grundlage für die Gestaltung von Konstruktionsprozessen in der Wirtschaftsinformatik kann auch die Evaluation oder Weiterentwicklung bestehender Theorien der Neurowissenschaften einhergehen – insbesondere wenn die Wirtschaftsinformatik Fragestellungen aufzuwerfen vermag, die neurowissenschaftlich bisher nicht untersucht worden sind. Dies leitet bereits über zum zweiten Anwendungsgebiet, einer möglichen Theorieentwicklung über die Gestaltung von Konstruktionsprozessen.

3.3 Research on Design

Im Research on Design wird der Intention gefolgt, aus der Analyse von Konstruktionsprozessen zu lernen, um auf diese Weise Wissen über zukünftige Konstruktionsprozesse zu gewinnen (Wie ist bei der Entwicklung von Prozessmodellen in einer bestimmten Notation z. B. vorzugehen?). Dieser Ansatz wird insbesondere in Arbeiten zu Gestaltungstheorien (engl. „Design Theories“) diskutiert (z. B. Gregor und Jones 2007; Walls et al. 2004), ein Theorietyp, der vornehmlich normative Aussagen zu typischen Gestaltungsprozessen trifft (d. h. „how to do something“; Gregor 2006, S. 628).

Aufgrund des Facettenreichtums möglicher Gestaltungsaufgaben sollte dabei weniger von der Existenz einzelner Theorien zur wohlmöglich vollumfänglichen Erklärung von Konstruktionsprozessen ausgegangen werden. Vielmehr ist wohl ein gewisser Pluralismus mehrerer Theoriebestandteile anzustreben, die jeweils Empfehlungen für unterschiedliche Gestaltungsaspekte bieten und bedarfsgerecht zu kombinieren sind. Im Research on Design können Methoden der Neurowissenschaften in mehrfacher Hinsicht Beiträge liefern, nachfolgend werden dazu zwei Bereiche erläutert.

3.3.1 Entwicklung neuartiger Design-Theorien

Die Artefaktevaluation mithilfe von Methoden der Neurowissenschaften kann neuartige Erkenntnisse über den Prozess der Konstruktion und Evaluation von Artefakten liefern. Derartige Erkenntnisse können insbesondere spezifische Konstruktionsprobleme der Wirtschaftsinformatik betreffen (im Kontext der Prozessmodellierung z. B. die Auswahl von Modellierungssprachen oder die Einführungsstrategie von Modellierungsmethoden). Hier kann jedoch nicht nur die Gewinnung von Erkenntnissen zur Reflexion von Artefakten im Fokus stehen; interessant erscheint beispielsweise auch die Analyse vorgelagerter Phasen des Konstruktionsprozesses (z. B. die Entwicklung und Diskussion von Lösungsansätzen).

3.3.2 Evaluation bestehender Design-Theorien

Schließlich können auch bisherige Erkenntnisse über die Gestaltung von Konstruktionsprozessen durch neurowissenschaftliche Methoden evaluiert und möglicherweise auch erweitert werden. Dies gilt natürlich nicht nur für Gestaltungstheorien im engeren Sinne, sondern auch für andere Theorietypen der Wirtschaftsinformatik (z. B. Technology Acceptance Model). Besonders vielversprechend erscheint auch hier – ebenso wie beim Research by Design – die Kombination verschiedener Forschungsmethoden sowie die Verbindung der Forschungsergebnisse, mit dem Ziel eines insgesamt besseren Verständnisses der Konstruktions- und Evaluationsprozesse.

3.4 Schlussbetrachtung

Um die Gestaltung von Artefakten durch Forschung in der Wirtschaftsinformatik zu unterstützen, sind sowohl die Durchführung als auch die Reflexion von Konstruktions- und Evaluationsprozessen gleichermaßen wichtig; die Sichtweisen Research by Design und Research on Design greifen ineinander. Sinnvoll erscheint es einerseits, existierende neurowissenschaftliche Theorien im Hinblick auf ihren Erklärungsbeitrag zur Entwicklung und Evaluation von Gestaltungstheorien zu bewerten. Andererseits können sowohl Artefakte als auch Gestaltungstheorien mithilfe von neurowissenschaftlichen Ansätzen evaluiert werden.

Aufgrund der erforderlichen Expertise bieten sich interdisziplinäre Forschungsvorhaben an, in denen Wirtschaftsinformatiker Fragen stellen, zu denen gemeinsam mit Neurowissenschaftlern geeignete experimentelle Designs entwickelt werden. Auf dieser Grundlage kann mittelfristig eine stärkere Methodendiskussion zu einer NeuroIS stattfinden. Erforderlich sind insbesondere allgemein akzeptierte Qualitätskriterien und Vorgehensweisen, die von Autoren und Reviewern gleichermaßen in ihrer Arbeit genutzt werden können. Wie in anderen Bereichen bleibt auch hier zu berücksichtigen, dass die bloße Anwendung neurowissenschaftlicher Messverfahren sicher nicht ausreichen wird. Vielmehr wird die Wirtschaftsinformatik lernen müssen, die neuen Möglichkeiten gewinnbringend zur Erarbeitung von Erkenntnissen über die Gestaltung und Nutzung von Informationssystemen einzusetzen. Dann sind die Potenziale zweifellos enorm, da uns die Neurowissenschaften einen gänzlich neuartigen Zugang zu unseren Forschungsgegenständen bieten.

Jan vom Brocke

Hilti Chair in Business Process Management

University of Liechtenstein

4 Das Technologie-Akzeptanz-Modell und kognitive Neurowissenschaften

Das Technologie-Akzeptanz-Modell (TAM) ist ein führendes theoretisches Modell zur Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung der Akzeptanz von Informationstechnologien. TAM basiert auf der Theorie, dass die Akzeptanz von den Absichten der Nutzer abhängig ist und dass diese Absichten wiederum von der Wahrnehmung des Nutzers in Bezug auf die Nützlichkeit eines Systems und dessen Benutzerfreundlichkeit beeinflusst werden. Praktische Maßnahmen, wie die Wahl der Gestaltungsmerkmale eines Systems und Schulungsmethoden, können die Annahme eines Systems auf Grund ihrer Wirkung auf den wahrgenommenen Nutzen und die Benutzerfreundlichkeit beeinflussen. Seit mehr als zwanzig Jahren, die seit der Einführung des Modells vergangen sind, wurden zahlreiche Erweiterungen und Verbesserungen des Grundmodells vorgeschlagen, die auch die Adaption an spezifische Kontexte berücksichtigen (manchmal auch als TAM++ bezeichnet; Venkatesh et al. 2007). Dennoch wurde von mehreren, kürzlich veröffentlichten Studien beobachtet, dass das Kernmodell selbst leistungsstark und zugleich sparsam ist.

Trotz des Erfolgs von TAM++ ist die Aussagekraft des Modells bei Weitem nicht perfekt und es wird immer schwieriger, neue Erkenntnisse über die Technologieakzeptanz durch herkömmliche Verhaltensexperimente und Umfragen zu erlangen. Daher haben einige Forscher damit begonnen, Wissen und Methoden der kognitiven Neurowissenschaften zu nutzen, um den Wissensstand in diesem Bereich weiter zu verbessern.

Eine kürzlich veröffentlichte erste Studie (Dimoka und Davis 2008) versucht, die neuronalen Korrelate der TAM-Konstrukte zu identifizieren. Sechs Teilnehmer wurden gebeten, sich zwei E-Commerce-Websites anzusehen, eine mit einer niedrigen und die andere mit einer hohen Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit. Anschließend wurden die Teilnehmer gebeten, verschiedene traditionelle Fragen zur Selbsteinschätzung in Bezug auf die von ihnen wahrgenommene Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit der Website zu beantworten, während jeder der Teilnehmer gleichzeitig mittels fMRT untersucht wurde. Für die positiv gestaltete Website aktivierten die Fragen in Bezug auf die Nützlichkeit den Nucleus caudatus und den Anterioren cingulären Kortex, die mit der Verarbeitung von Belohnungen assoziiert werden; für die negativ gestaltete Website aktivierten die Fragen in Bezug auf die Nützlichkeit die Inselrinde, die mit negativen Emotionen hinsichtlich der Angst vor Verlust verbunden ist. Für beide Webseiten aktivierten Fragen in Bezug auf die Benutzerfreundlichkeit den dorsolateralen präfrontalen Kortex, der mit der sequenziellen Ausführung von Operationen während der kognitiven Verarbeitung assoziiert wird. In Bezug auf den Nutzen wurden signifikante Unterschiede in der Aktivierung zwischen den positiv und negativ gestalteten Websites sowie ein grenzwertig signifikanter Unterschied für die Benutzerfreundlichkeit festgestellt. Im Gegenzug prognostizierte die Aktivierung dieser Bereiche die Selbsteinschätzung von Kaufabsichten nach dem Scan (R 2=0,48). Diese Studie zeigt die Machbarkeit der Identifizierung neuronaler Korrelate zur Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit, die durch die qualitativen Unterschiede zwischen beiden Websites beeinflusst werden, die im Einklang mit den Angaben der Nutzer in Bezug auf diese Wahrnehmungen sind und die wiederum Verhaltensabsichten vorhersagen können. Während dies ein hoffnungsvoller Ausgangspunkt ist, betrachten IS-Forscher kognitive Neurowissenschaften, um über die bereits etablierten Determinanten der Technologieakzeptanz hinaus Fortschritte zu erzielen.

TAM-Theorien wurden stark durch Modelle der Sozialpsychologie beeinflusst, die bewusste, absichtliche Entscheidungsprozesse betonen, wie bspw. die Theorie des überlegten Handelns (engl. Theory of Reasoned Action, TRA) und die Theorie des geplanten Verhaltens (engl. Theory of Planned Behavior, TPB). Allerdings zeigt aktuelle Theoriebildung in der Psychologie, Verhaltensökonomie und der Neurowissenschaft (z. B. Camerer et al. 2005; Lieberman 2007), dass das Verhalten tatsächlich von zwei verschiedenen Systemen gesteuert wird: einem kontrollierten System, auch als C-System unter Bezugnahme auf das „c“ in „reflective“ bezeichnet, sowie ein automatisches System, auch als X-System unter Bezugnahme auf das „x“ in „reflexive“ bezeichnet. Während das C-System bewusst, fortlaufend, aufwendig und langsam ist, ist das X-System unbewusst, parallel, mühelos und schnell. Im Gegensatz zu traditionellen Theorien wurde das X-System oftmals als wichtig empfunden, sogar wichtiger als das verhaltenssteuernde C-System. Darüber hinaus wird intelligentes menschliches Verhalten in der Regel besser in Bezug auf das Wechselspiel zwischen den C- und X-Systemen verstanden, anstelle einer isolierten Betrachtung des C- oder X-Systems allein. Möglicherweise als Resultat ihrer Abhängigkeit von bewussten, selbsteingeschätzten Konstrukten wurde von traditionellen Modelle zu Intentionen, wie TAM, TRA und TPB, das C-Systems betont und dem X-System eher eine geringe Bedeutung beigemessen.

Die Suche nach einem tieferen Verständnis über das X-Systems und seiner Beziehung zum C-System ist ein wichtiges Motiv, warum IS-Forscher kognitive Neurowissenschaften zur Weiterentwicklung der TAM-Forschung betrachten. Das X-System ist äußerst relevant für viele Konstrukte und Phänomene, die zunehmend das Interesse von TAM-Forschern wecken, wie bspw. Gewohnheiten und automatische, kognitive Fähigkeiten, Emotionen, sozialer Einfluss, Multitasking, Aufmerksamkeitssteuerung, implizites Lernen, Wissenskollaboration und Zielregulierung. Im Allgemeinen versprechen kognitive Neurowissenschaften die Eröffnung neuer Wege für die Erweiterung der Kenntnisse über die wichtigsten Prozesse, die das Verhalten der Anwender in Bezug auf die Akzeptanz steuern, und bieten neue Einblicke, wie Systeme besser durch die Berücksichtigung von Erkenntnissen über die der Nutzung der zugrunde liegenden mentalen Prozesse gestaltet werden können.

Solche dualen Systeme wie die X- und C-Systeme können auch dabei helfen, die Interaktion zwischen Individuen zu erklären, die in verhaltensökonomischen Modellen erfasst werden und die sowohl das Eigeninteresse als auch die Berücksichtigung von Präferenzen Anderer beinhalten (Fehr und Schmidt 1999). Neurowissenschaftliche Studien beginnen damit, die Trennung in Bereiche des Gehirns aufzuzeigen, die eigennützige und anderen Präferenzen verarbeiten, die zu soziale Belangen, wie bspw. Fairness in wirtschaftlichen Entscheidungen, führen. Das Verständnis, wie die neuronalen Prozesse dazu führen, dass die unterschiedlichen Präferenzen miteinander interagieren, könnte dabei helfen, die Einführung und Akzeptanz neuer Technologien vorherzusagen, die gleichzeitig Präferenzen mehrerer Individuen in sozialen Umgebungen berücksichtigen (Ho und Su 2010).

Bagozzi (2007) argumentiert, dass zukünftige Arbeiten zur Erweiterung und Vertiefung der TAM-Forschung die Verknüpfung von Intention und Verhalten (insbesondere Zielsetzung und Selbstregulierung) sowie gruppenspezifische, kulturelle und soziale Aspekte der Technikakzeptanz und auch die Rolle der Emotionen berücksichtigen sollten. Dies sind Bereiche, in denen neue Erkenntnisse und Methoden aus der kognitiven Neurowissenschaft vielversprechende Möglichkeiten für einen Fortschritt bieten. Beispiele für Konstrukte, die für die Untersuchung auf Basis der Nutzung kognitiver Neurowissenschaften vielversprechend erscheinen, sind Vergnügen, Flow, kognitive Absorption, Fähigkeiten, Gewohnheiten, Müdigkeit, Langeweile, Vertrauen, Risiko, Frustration, Zorn, kognitive Arbeitsbelastung, Wachsamkeit, Rückzug, Multitasking und Technostress.

Kognitive Neurowissenschaften sind in der Lage, die theoretischen Grundlagen der traditionellen Referenzdisziplinen für die IS-Forschung weiter zu entwickeln und voranzutreiben, einschließlich der Psychologie, der Wirtschaftswissenschaften und dem organisatorischen Verhalten. Es sollte möglich sein, den Wissenstransfer von der kognitiven Neurowissenschaft für die Weiterentwicklung von Theorien und Hypothesen zu nutzen, die dann mittels traditioneller verhaltenswissenschaftlicher Methoden überprüft werden können, ohne sich per se auf die Gehirn-Messungen zu verlassen. Neurowissenschaftliche Methoden eröffnen weitere Chancen für die Messung wichtiger Konstrukte, die schwierig oder unmöglich mit traditionellen Ansätzen erfasst werden können.

Fred D. Davis

Sam M. Walton College of Business

University of Arkansas, USA

Rajiv D. Banker

Fox School of Business and Management

Temple University, USA

5 ERPsim: Eine Simulationsplattform für experimentelle Forschung in NeuroIS

Eine der Herausforderungen in der Nutzung des NeuroIS-Ansatzes besteht in der Schwierigkeit, realistische IT-Umgebungen in Organisationen bereitzustellen, in denen die Verhaltensweisen der Endnutzer in Echtzeit überwacht und analysiert werden können. Mit einer an der HEC Montréal erarbeiteten Simulationstechnologie, genannt ERPsim, kann dieser Herausforderung begegnet werden (Léger 2006; Léger et al. 2007). Diese Technologie ermöglicht die Simulation realistischer Kollaborationsszenarien durch den Einsatz eines echten ERP-Systems. Endnutzer werden in eine Situation versetzt, in der sie mithilfe eines ERP-Systems (SAP), wie es in größeren Organisationen eingesetzt wird, Entscheidungen treffen und Vorgänge verwalten müssen. Ein wesentliches Merkmal von ERPsim ist, dass alle Entscheidungen, die von den Teilnehmern getroffen werden, in das ERP-System eingegeben werden müssen. Um diese Entscheidungen treffen zu können, müssen alle erforderlichen Informationen über Standardberichte aus dem ERP-System extrahiert werden. Insofern kann ERPsim als eine Art Flugsimulator für ERP-Systeme verstanden werden, bei dem Endnutzer ein echtes betriebliches Informationssystem in einer virtuellen Unternehmensumgebung fliegen.

Bis vor kurzem wurde ERPsim vor allem zur Schulung von Endanwendern genutzt. Weltweit nutzen mehr als 100 Universitäten und zahlreiche Fortune-100-Organisationen ERPsim, um Endnutzer darin zu trainieren, den Wert eines unternehmensweiten Systems besser zu verstehen (weitere Informationen stehen zur Verfügung unter http://erpsim.hec.ca). Neben pädagogischen Anwendungsbereichen kann ERPsim die Forschung zu ERP-orientierten Konzepten unterstützen, indem der Simulator zur Erfassung von Daten genutzt wird, die bisher schwer zu beschaffen waren. Cronan et al. (2009a, 2009b) und Léger et al. (2009, 2010) sind Beispiele für Studien mit ERPsim zur Durchführung experimenteller Untersuchungen.

Für NeuroIS-Forscher bietet ERPsim die Möglichkeit, neurophysiologische Daten zu sammeln, während Probanden in eine realistische betriebliche Situation vertieft sind, in der Endnutzer mithilfe eines ERP-Systems Entscheidungen treffen und komplexe betriebliche Probleme lösen. Beispielsweise ist es möglich, die Biosignale der Anwender, wie Hautleitfähigkeit (engl. electrodermal activity, EDA), Elektrokardiogramm (EKG), Gesichts-Elektromyographie (EMG) und Elektroenzephalogramm (EEG), zu erfassen. Vergleichbar zu komplexeren Werkzeugen wie fMRT messen diese neurophysiologischen Methoden auch objektiv das Verhalten und die emotionalen Reaktionen der Nutzer. Im Gegensatz zu fMRT sind neurophysiologische Methoden weniger aufdringlich, da die Teilnehmer in einem Experiment in der Regel vor dem Computer und in einer normalen Umgebung sitzen, anstatt sich liegend in einer Maschine zur Messung von Gehirnaktivitäten zu befinden (Riedl et al. 2010).

Die Biosignale, die aus neurophysiologischen Methoden abgeleitet werden können, können mit anderen empirischen Evidenzen, wie die Verwendung von Daten im ERP-System (d. h. Clickstream-Daten) und Erhebungsdaten, trianguliert werden. ERP-Systeme, wie bspw. SAP, speichern die Transaktionen von jedem Benutzer, die innerhalb des Systems ausgeführt werden. Durch die Zuordnung dieser unterschiedlichen Datenquellen (Clickstream, Umfrage und Biosignale) auf einer einheitlichen Zeitlinie wird es möglich, einen umfangreichen Längsschnittdatensatz zu erhalten, der die psychophysiologischen Reaktionen der Anwender während der ERP-Erfahrung, die Beurteilung der Einstellungen und Überzeugungen der Nutzer in Bezug auf diese Interaktion sowie detaillierte Aufzeichnungen über die Aktivitäten und Entscheidungen im ERP-System während des Experiments enthält.

Dieser Aufwand bei der Bereitstellung eines methodischen Instruments für multimethodische experimentelle Forschungen steht im Einklang mit der Forderung nach zunehmender Triangulierung innerhalb der IT-Forschung und der Nutzung neurophysiologischer Messinstrumente zur Erreichung einer konvergenten Validität aktueller IT-basierter psychometrischer Instrumente (Dimoka et al. 2010). Das Hauptziel besteht nicht darin, vorhandene IT-validierte Konstrukte zu ersetzen, sondern diese mit anderen Quellen empirischer Evidenz zu ergänzen und zu bereichern, die bisher schwer in einem validen und zuverlässigen Verfahren erfasst werden konnten. Dieser Ansatz öffnet die Tür zu Untersuchungen, die zuvor nicht möglich waren.

In einem unserer aktuellen Forschungsprogramme werden die psychophysiologischen Korrelate kognitiver Absorption (engl. cognitive absorption, CA) untersucht. Dieses Konstrukt beschreibt einem Zustand tiefer Beteiligung bei der Nutzung von Softwareprogrammen und hat seine theoretischen Wurzeln im Konzept der Absorption (Tellegen und Atkinson 1974), dem Begriff des Flow (Csikszentmihalyi 1990) und dem Begriff der kognitiven Einstellung (Webster und Ho 1997). CA wurde innerhalb der IT-Literatur während der letzten zehn Jahre umfassend mithilfe von psychometrischen Instrumenten durch Agarwal und Karahanna (2000) untersucht.

Das Paradox der Messung von CA mittels psychometrischer Instrumente besteht darin, dass ein Subjekt selbst den Grad der Absorption auf Basis einer Likert-Skala bewertet. Offensichtlich impliziert ein solcher Ansatz, dass sich das Subjekt außerhalb seines Zustands der kognitiven Absorption befinden muss, um diese Fragen zu beantworten. Um dieses Problem zu umgehen, haben die Forscher im Bereich der Videospiel-Entwicklung damit begonnen, psychophysiologische Messgrößen zu nutzen, um auf die kognitiven und emotionalen Zustände von Spielern zu schließen. Zum Beispiel berichtet Nacke (2009) von Korrelationen zwischen EKG, EDA und EEG mit einem Konstrukt der selbsteingeschätzten Spielerfahrung. Aufbauend auf diesen Ansätzen untersucht unsere laufende Forschung die Korrelation zwischen mehreren psychophysiologischen Messgrößen und den verschiedenen Dimensionen des CA-Konstrukts. Unser Ziel ist es, irgendwann Wahrnehmungen von CA auf Basis objektiver psychophysiologischer Messungen vorherzusagen.

Die ERPsim-Forschungsplattform eröffnet die Möglichkeit, viele psychometrische Messverfahren zu triangulieren, die in früheren Studien mit neurophysiologischen Signalen genutzt wurden, um unbeantwortete Fragestellungen der IT zu adressieren. Das ERPsim-Labor arbeitet derzeit an dem Ausbau der Plattform für die direkte Integration der psychophysiologischen Ausrüstung einer in Montréal ansässigen Firma namens Thought Technology Ltd. Ziel ist es letztendlich, der NeuroIS-Community ein flexibles Rechercheinstrument zur Durchführung experimenteller Forschung in komplexen IT-Umgebungen zu bieten, während wir eine Vielzahl von Daten über das Verhalten und die Emotionen der Nutzer während der Interaktion mit der IT erheben.

Pierre-Majorique Léger

Department of Information Technologies

HEC Montréal, Kanada