Der demographische Wandel ist ein derzeit häufig diskutiertes Thema und es ist unbestritten, dass die Folgen einer alternden Gesellschaft sich auf alle Lebensbereiche (Stadtplanung, Freizeitgestaltung, Konsumverhalten, Berufswelt, Bildungsangebote etc.) auswirken werden. Auch im Bereich der Notfallmedizin spielt dieses Phänomen eine wichtige Rolle. Bereits heute gelten etwa zwei Drittel aller Notarzteinsätze Patienten über 60 Jahren, wodurch sich Einsatzspektrum und Einsatzrealität deutlich verändern. Die soziologischen und medizinischen Fakten, ihre Wechsel- und Auswirkungen auf die Akutversorgung werden in dieser Übersicht dargestellt und als die zentralen Herausforderungen für das Notarzt- und Rettungswesen der Zukunft diskutiert.

Der demographische Wandel

Länger leben, weniger Geburten

Die Zahl der über 65-Jährigen wird vor allem ab etwa 2020 deutlich zunehmen, so dass etwa jeder dritte Deutsche älter als 60 Jahre sein wird. Umgekehrt wird der Anteil der jungen Menschen weiter abnehmen. Heute sind etwa ein Fünftel der Deutschen jünger als 20 Jahre, 1950 waren es noch 30%. Der Altersaufbau wird sich dann innerhalb von 100 Jahren umgekehrt haben: Nicht nur die Anzahl älterer Mitmenschen (>60 Jahre) wird sich deutlich erhöhen, besonders drastisch wird die Zunahme der über 80-Jährigen ins Gewicht fallen, deren Zahl sich von heute etwa 3,6 Mio. auf 5,9 Mio. im Jahr 2020 und dann innerhalb weniger Jahrzehnte auf etwa 10 Mio. erhöhen wird [7, 27]. Für die Prognose sind die Statistiker von mehreren Annahmen ausgegangen: Die Geburtenhäufigkeit bleibt gleich niedrig bei 1,4 Kindern pro Frau. Um die Bevölkerungszahl langfristig zu erhalten, müsste jede Frau jedoch durchschnittlich 2,1 Kinder bekommen. Die Einwohnerzahl – im Jahr 2005 liegt sie bei etwa 82 Mio. – wird in den folgenden Jahren auf rund 70 Mio. zurück gehen. Diese Entwicklung kann bis 2080 auch bei steigenden Geburtenraten und mehr Zuwanderung nicht mehr umgekehrt werden [27].

Ab etwa 2020 wird jeder dritte Deutsche älter als 60 Jahre sein

Eine weitere Annahme ist, dass die Lebenserwartung weiter ansteigen wird. Sie liegt im Jahr 2005 bei 74 Jahren für Jungen beziehungsweise 80,3 Jahren für neu geborene Mädchen. In den nächsten Jahrzehnten wird sie voraussichtlich um jeweils weitere 4 Jahre angestiegen sein.

Parallel dazu nimmt die Zahl pflegebedürftiger Mitmenschen stetig zu: Nach einer Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird die Zahl der Pflegebedürftigen von heute 2,08 Mio. auf 2,83 Mio. im Jahr 2020 ansteigen. Für das Jahr 2050 schwankt die Prognose zwischen 3,2 und 5,9 Mio., was einem Anstieg um bis zu 190% entsprechen würde [7].

Übergang in den Ruhestand

Die Erwerbsquote im Alter von 55–64 Jahren liegt 2003 bei nur 47,9% für Männer und 31,0% für Frauen, allerdings gibt es im Erwerbsverhalten nun Anzeichen für eine verlängerte Lebenserwerbsdauer [5].

Gleichzeitig verändern sich aber die sog. Übergangspfade: So gehen immer mehr Menschen nicht direkt aus der Erwerbstätigkeit sondern aus Krankheit, Berufsunfähigkeitsrente bzw. aus Vorruhestand und Arbeitslosigkeit in den Ruhestand. Das heißt, es wächst der Anteil der Personen, die prekäre Übergänge vom Erwerbsleben in den Ruhestand erfahren. Die relative Einkommensposition verschlechtert sich insbesondere bei vorangehender Arbeitslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit. Für die finanzielle Lage im Ruhestand gilt: Es sind im Vergleich zur Gesamtbevölkerung die unteren Einkommensgruppen stärker besetzt. Dies wird verstärkt durch die Abkoppelung der Altersbezüge von der allgemeinen Lohnentwicklung.

Veränderte Familienstrukturen: Individualisierung und Singularisierung

Mit einer wachsenden Zahl von Einzelkindern, die wenig Erfahrungen mit Altersgleichen im gemeinschaftlichen Lebensvollzug haben, gibt es eine wachsende Zahl lediger Menschen, eine zunehmende Zahl oft mehrfach geschiedener entbundener Menschen und eine wachsende Zahl kinderloser und damit enkelloser Menschen [9].

Der demographische Wandel bietet auch die Grundlage für die multilokale Mehrgenerationenfamilie: Steigende Lebenserwartung und Rückgang der Geburtenrate resultieren in veränderten, vertikalisierten Familienstrukturen (sog. „bean pole family” mit vielen gleichzeitig lebenden Generationen, aber nur wenigen Mitgliedern in jeder Generation, Abb. 1). Dies ermöglicht zwar eine lange Beziehung zwischen den Generationen, jedoch können die verschiedenen Dimensionen der intergenerationalen Beziehungen, wie u. a. die Wohnentfernung, die Häufigkeit der Kontakte oder der Austausch von Unterstützungsleistungen sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen [4].

Abb. 1
figure 1

Haushaltsformen der Altersgruppe 70–85 Jahre: Die überwiegende Zahl lebt alleine (43%) oder als Paar ohne Kinder (50%) in einem Ein-Generationen-Haushalt. Mehrgenerationenhaushalte spielen in dieser Altersgruppe praktisch keine Rolle. (Quelle: Replikationsstichprobe des Alterssurveys 2002, gewichtet)

Entwicklung der Versorgungsysteme: Rente und Krankenversicherungen

Soll das heutige Rentenniveau und das Versorgungsniveau mit Gesundheits- und Pflegeleistungen beibehalten werden, müssten die realen Pro-Kopf-Belastungen der 20–60-Jährigen in unserem umlagefinanzierten sozialen Sicherungssystem im gleichen Umfang wie der Altenquotient (Quotient Bevölkerung ab 65 Jahre / Bevölkerung 15–64 Jahre) steigen, d. h. sich mehr als verdoppeln. Das Auffangen des steigenden Altenquotienten durch die Anhebung des Ruhestandsalters auf 73 Jahre oder alternativ durch eine Steigerung der Geburtenrate auf 3,8 pro Frau ist unrealistisch. Dies ist die Rationale für die Notwendigkeit der Schaffung privater Vorsorgesysteme [5].

Auswirkung von Bevölkerungsschrumpfung und Zuwanderung

Eine kleine Anzahl der hochentwickelten Industrieländer mit Geburtendefizit steht einer großen Anzahl armer Länder mit stark wachsender Bevölkerung gegenüber, woraus sich der Einwanderungsdruck in die Industrieländer weiter erhöht.

Der Einwanderungsdruck in die Industrieländer wird sich weiter erhöhen

Es wird prognostiziert, dass der Anteil Zugewanderter von 9% im Jahr 1998 auf 19,6% im Jahr 2030 und schließlich auf 27,9% bis 2050 zunimmt. In den Großstädten wird bereits bis etwa 2015 bei den 40-Jährigen die 50%-Schwelle erreicht werden [5].

Gesundheit älterer Menschen

Der Gesundheitszustand älterer Menschen ist durch eine enge Regulation physiologischer Parameter und eine deutlich eingeschränkte Kompensationsbreite gekennzeichnet. Die Anzahl der chronisch degenerativen Erkrankungen und das Auftreten von Mehrfacherkrankungen (Abb. 2) nehmen mit dem Alter zu, allfällige Exazerbationen können regelmäßig zu Notfallsituationen führen [25].

Abb. 2
figure 2

Multimorbide Patienten (Angaben in %): Im Altersgruppenvergleich kommt es zu einer starken Zunahme von Personen, die von 5 oder mehr Erkrankungen betroffen sind. (Quelle: Replikationsstichprobe des Alterssurveys 2002, gewichtet)

Atypisches Erscheinungsbild und Komorbidität

Die Krankheitsbilder präsentieren sich bei älteren Menschen häufig auf atypische Weise mit einer großen Variabilität der Symptome. Als Beispiel können die atypischen Ausprägungen des Koronarsyndroms genannt werden, die zu einer signifikant verzögerten Behandlung und einer erhöhten Mortalität führen [28].

Die Krankheitsbilder präsentieren sich bei älteren Menschen oft atypisch

Jede Art der akuten Erkrankung kann außerdem rasch zum Verlust der Autonomie, zu Immobilisierung, Stürzen, Inkontinenz und verminderter kognitiver Leistungsfähigkeit führen. Die Erhebung des funktionellen Status ist in der Geriatrie selbstverständlich, wird aber in anderen Disziplinen – so auch in der Notfallmedizin – bislang weitgehend unterlassen, obwohl von wesentlichem Einfluss auf Verlauf und Prognose. Generell nimmt die Multimorbidität im Alter zu (Abb. 2), wobei sich im historischen Verlauf der Gesundheitszustand der nachwachsenden Kohorten im Alter in der Zukunft eher verbessert, vorausgesetzt Versorgung und Gesundheitsverhalten bleiben gleich oder verbessern sich weiter.

Delirium und kognitive Störungen

Kognitive Störungen, Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsstörung sind bei vielen älteren Notfallpatienten zu finden und können sowohl im Rahmen eines akuten Delirs, aber auch als Folgen eines demenziellen Syndroms auftreten. Daraus resultieren Schwierigkeiten bei der Kommunikation z. B. im Rahmen der Anamneseerhebung und der Zusammenarbeit (z. B. mangelnde Compliance bei der Medikamenteneinnahme).

Nur etwa 30–50% der mentalen Störungen werden bei geriatrischen Patienten in Notaufnahmen erkannt.

Beim akuten Delir werden somit auch die auslösenden Ursachen, die sehr unterschiedlich sein können, nicht identifiziert. Die Folgen nicht erkannter deliranter Zustände sind gehäufte Krankenhausaufnahmen und eine erhöhte Mortalität [12, 25]. Als klinische Merkhilfen wurden verschieden Akronyme für die wahrscheinlichsten Auslöser eines Delirs geprägt (Tab. 1).

Tab. 1 Akronyme als klinische Merkhilfen für die häufigsten Auslöser eines Delirs beim alten Menschen: die 7-I oder D-E-L-I-R-I-U-M-S

Polypharmakotherapie

Ältere Patienten nehmen durchschnittlich 3–6 Medikamente täglich. Sowohl die größere Anzahl und Einnahmehäufigkeit, aber auch die physiologischen Veränderungen werden dafür verantwortlich gemacht, dass bei Älteren unerwünschte Medikamentennebenwirkungen etwa doppelt so häufig vorkommen und Grund für 10–16% aller Einweisungen in Notaufnahmen sind.

Bei Älteren sind unerwünschte Medikamentennebenwirkungen doppelt so häufig

Viele ältere Personen sind zudem nicht in der Lage, sich an alle ihrer verschriebenen Medikamente zu erinnern bzw. sich über Indikation und Dosierung im Klaren zu sein [11].

Spezialfälle: Sturz und Hilflosigkeit

Alte Menschen stürzen sehr häufig: Neueren Untersuchungen zufolge beträgt das jährliche Sturzrisiko über 65-Jähriger mehr als 30%, bei über 80-Jährigen liegt es bei etwa 50% [2].

Etwa 10–20% der Stürze führen zu behandlungspflichtigen Verletzungen, etwa 1–2% zu hüftnahen Frakturen. Die funktionelle Prognose dieser Verletzungen ist schlecht: Mehr als die Hälfte der Patienten verlieren die Fähigkeit, selbständig zu gehen, 20% werden pflegebedürftig [8].

Nicht eindeutig geklärt ist der Einfluss des therapiefreien Intervalls und die Auswirkungen der Auffindeumstände auf das Outcome nach einem Sturz: Typische unmittelbare Folgen wie

  • Angst,

  • Schmerz,

  • Hypothermie,

  • Pneumonie, sowie

  • Weichteilschäden

sind regelmäßig anzutreffen.

Die Auswirkungen auf die mittel- und langfristige Prognose (u. a. nosokomiale Infektionen, Notwendigkeit einer Intensivtherapie, Krankenhausliegedauer, funktioneller Status bei Entlassung, Letalität) sind allerdings bislang nicht systematisch untersucht. Einiges spricht auch dafür, dass das schlechte Outcome und die Komplikationen nicht nur primär als Folge des stattgehabten Sturzes zu werten sind, sondern dass Stürze im Alter vielmehr ein frühes Anzeichen für eine allgemeine Destabilisierung des gesundheitlichen Zustandes (Hinfälligkeit) darstellen. Im Ereignis Sturz wird die komplexe Problematik geriatrischer Notfälle und die begrenzte Wirksamkeit einer rein individualmedizinisch agierenden Notfallmedizin deutlich. Eine nachhaltige Verbesserung der Situation kann nur erzielt werden, wenn notfallmedizinische Expertise präventive Maßnahmen mitgestaltet und im Rahmen der Akuttherapie prekäre Versorgungslagen erkannt und geeignete komplementäre Einrichtungen eingeschaltet werden [21, 24].

Immobilität und Hilflosigkeit sind ein häufiger Grund für die Alarmierung des Rettungsdienstes. Ursachen sind in absteigender Reihenfolge:

  • die Unfähigkeit aufzustehen,

  • Bewusstlosigkeit,

  • delirante Syndrome,

  • Stürze,

  • Atemnot,

  • Brustschmerz und schließlich

  • cerebrovaskuläre Notfälle.

Gewaltsame Wohnungsöffnungen, bei denen Patienten nur noch tot aufgefunden werden, sind gerade in Städten kein seltenes Ereignis [10, 16].

Einsatzrealität und Ausblick

Die Gruppe der über 65-jährigen Patienten bildet schon heute die größte Gruppe der Notfallpatienten. Nach eigenen Untersuchungen steigen die Einsätze in Alten- und Pflegeheimen stetig an [15]. Über 65-Jährige sind signifikant häufiger chronisch krank oder leiden an mehreren Erkrankungen. Auch die Schwere des Notfalls ist bei älteren Patienten signifikant höher als bei jüngeren Notfallpatienten.

Das Risiko eines sturzbedingten Notarzteinsatzes ist bei älteren Patienten stark erhöht und weist Spitzenwerte in der achten Lebensdekade auf.

Eine Abschätzung der zukünftigen Einsatzschwerpunkte erlaubt der Blick in die großen epidemiologischen Datenbanken der Weltgesundheitsorganisation WHO (WHOSIS WHO Statistical Information Systems). Umfassende epidemiologische Datensätze zu verschiedenen Erkrankungen und Subpopulationen stehen durch die „global burden of disease“-Studien (GBD-) und deren Folgeuntersuchungen zur Verfügung [18, 19].

Wie in Tab. 2 dargestellt, stehen ischämische Herzerkrankung und cerebrovaskuläre Krankheiten in der Prognose der häufigsten Todesursachen für das Jahr 2030 an oberster Stelle. Nur die Todesursachen zu betrachten, reicht aber nicht aus, um weitere Aspekte einer Erkrankung wie ihre Auswirkungen auf Lebensqualität oder die durch sie verursachten Kosten zu erfassen [17].

Tab. 2 Die häufigsten für das Jahr 2030 prognostizierten Todesursachen für Länder mit hohem Einkommen. (Nach [18])

Ein umfassenderes Maß für die Erfassung von Krankheitsfolgen sind die von der WHO definierten sog. „disability adjusted life years” (DALYs), welche die Summe der Jahre darstellen, die durch vorzeitigen Tod oder Behinderung verloren gehen. Ein DALY bedeutet also den Verlust eines Jahres mit uneingeschränkter Gesundheit, und schließt funktionelle Einschränkungen, die durch die Krankheit verursacht werden, mit ein. Die WHO-Prognose für das Jahr 2030 nennt als die führende Ursache für den Verlust der Gesundheit neuropsychiatrische Erkrankungen (unipolare Depression, Demenz), gefolgt von kardiovaskulären und cerebrovaskulären Erkrankungen und den fast ebenso häufigen malignen Erkrankungen (Tab. 3).

Tab. 3 Reihenfolge der von der WHO für das Jahr 2030 prognostizierten Erkrankungen, die durch frühzeitigen Tod oder Behinderung zum Verlust von Lebensjahren in Gesundheit führen; DALY „disability adjusted life year”. (Nach [18, 19])

Neue Aufgaben

Entsprechend der demographischen Entwicklung werden internistische und neurologische Notfälle einen hohen Stellenwert einnehmen. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass die Gesamteinsatzzahlen noch deutlich ansteigen werden und sich das Einsatzspektrum weiter verändern wird [3, 14, 20, 26]. Es werden zunehmend auch bei älteren Menschen psychiatrische und psychosoziale Notfallsituationen, delirante Zustände, Verwahrlosung und Substanzmissbrauch vorkommen [14, 20].

Internistische und neurologische Notfälle werden einen hohen Stellenwert einnehmen

„Geriatric assessment tools“ sollten auch für die Präklinik entwickelt werden, um eine effizientere Auswahl und Zuordnung der Ressourcen zu erreichen [20, 25].

Die Vielfalt und Komplexität von Notfallsituationen bei alten Menschen verlangt ein breites Wissen, um die Lage kompetent bewältigen zu können. Die Ausbildungsinhalte in den geforderten Curricula müssen entsprechend angepasst werden.

Einsätze, die nicht unmittelbar lebensbedrohlichen Störungen der Vitalfunktionen gelten, wo aber Personen in einer individuell als sehr bedrohlich empfundenen Situation um Hilfe rufen, werden zunehmen. Solange keine andere Institution prompt und zu jeder Zeit zu Verfügung steht, übernimmt der Rettungsdienst diese Funktion eines psychosozialen Hilfesystems: der Notarzt als psychosozialer Libero für alte, allein stehende Menschen.

Wegen der Komplexität dieser Situationen muss ein erhöhter Zeitaufwand, wie z. B. bei den immer häufigeren Einsätzen in palliativen Situationen (etwa 12%, eigene Zahlen) mit ihren spezifischen Anforderungen einkalkuliert werden. Aus „stay and play“ wird nun „stay and plan”.

Die Notwendigkeit, diese Aufgaben übernehmen zu müssen, führt nicht nur zu einer Erweiterung des Kernauftrags der Notfallmedizin, sondern spiegelt auch das Wegbrechen einer aufsuchenden ärztlichen Basisversorgung wider. Die mangelnde hausärztliche Versorgung, schnellere Entlassung nach stationären Aufenthalten und auch der Abbau regionaler Krankenhäuser resultiert in einer hohen Anzahl von Notarzteinsätzen bei nichtvital bedrohten Patienten. Wer die Versorgung vulnerabler, jedoch – noch – nicht ersichtlich bedrohter, Patienten übernimmt, ist bislang nicht geklärt. Notärzte und Rettungsfachpersonal werden mit einer Vielzahl an Situationen konfrontiert, in denen gängige Versorgungsalgorithmen versagen, so z. B. bei den häufigen rezidivierenden Sturzereignissen ohne offensichtliche schwere Verletzung, oder bei Fällen hochgradiger sozialer Isolation. Da es gerade in dieser Population häufig nicht möglich ist, medizinische und soziale Dimensionen des Notfalls zu trennen, sind wir als Notfallmediziner gefordert, entsprechende Zusammenhänge zu analysieren und zu thematisieren. Ein Notarzt- und Rettungsdienst, der weitgehend losgelöst von anderen medizinischen, sozialen und kommunalen Einrichtungen agieren muss, sieht sich immer häufiger dem Vorwurf zunehmender Fehleinsätze ausgesetzt. Hier ist allerdings zu diskutieren, ob der Fehleinsatz über

  • die fehlende Vergütung,

  • die fehlende Vitalbedrohung oder

  • die fehlende komplementäre Versorgungsstruktur

definiert wird [3].

Erkennen und Nutzen neuer Förderungsfelder und Innovationsgebiete

Epidemiologie und Versorgungsforschung

Die systematische wissenschaftliche Erfassung und Analyse des Versorgungsgeschehens wurde in Deutschland lange vernachlässigt. Auch die effektive Gestaltung der notfallmedizinischen Versorgungsstrukturen setzt eine umfassendere Dokumentation von Einsatzdaten und Kontextfaktoren verbunden mit einer über den einzelnen Standort hinaus gehenden Analyse und Interpretation der Daten voraus. Die Schaffung der dafür nötigen Strukturen und Rahmenbedingungen wird zu einem der Hauptaufträge der Notfallmedizin werden [6, 22].

Technologische Unterstützung – „ambient assisted living“

Unterstützende Technologien wie z. B. Notfallerkennungssysteme im Bereich des „ambient assisted living“ (AAL) können dazu beitragen, älteren Menschen mit besonderen Bedürfnissen länger ein sicheres und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen ([23], vgl. Beitrag von J. Nehmer in dieser Ausgabe [30]).

Medizinisches Domänenwissen ist notwendig, um geeignete Modelle des Gesundheitszustands und Algorithmen zur Erkennung von Notfallsituationen zu entwickeln [23]. Bei der Implementierung dieser Technologien in die bestehenden Rettungsdienststrukturen und zur Erzielung einer hohen Akzeptanz dieser neuen Lösungen bei Patienten und Medizinern ist notfallmedizinische Expertise unabdingbar. Außerdem gilt es, vermehrt die Möglichkeiten der Informationstechnologie zu nutzen, um Versorgungsprozesse zu erleichtern und zu optimieren. So könnten unterschiedliche Adressaten (Leitstellen, Rettungsdienste, Pflegedienste, Hausärzte, Angehörige, etc.) situations- und risikoabhängig Daten über Patienten und die Einsatzumstände austauschen. Es ergeben sich somit neue Möglichkeiten der Situationsbewertung, begleitenden Supervision und der Steuerung von Patientenströmen.

Ein situations- und risikoabhängiger Datenaustausch bietet sich an

Wegen der vielschichtigen Anforderungen in der Notfallversorgung alter Menschen muss auf die Bildung regionaler Gesundheitsnetzwerke, die an die gesellschaftlichen Bedürfnisse dieser Gruppe angepasst sind und in welche die präklinische notfallmedizinische Versorgung eingebettet ist, ein besonderes Augenmerk gelegt werden [13].

Das bedeutet u. a. die verbesserte Zugänglichkeit von aufsuchenden Diensten („socio-medical network”), die bislang kaum kooperieren und zeitlich nur verzögert zur Verfügung stehen, sowie ein erleichterter und sicherer Zugriff auf Patientendaten.

Im Sinne einer kontinuierlichen Behandlung spricht gerade bei der Versorgung geriatrischer Notfallpatienten einiges für die Aufhebung der scharfen Trennung von präklinischer und klinischer Notfallmedizin. Die zentrale Notaufnahme als Gesamtkonzept mit einer gemeinsamen ärztlichen Leitung für Klinik und Präklinik wird zunehmend als ein zukunftsträchtiges Modell in Deutschland diskutiert [1]. Anstatt unklarer Zuständigkeiten und uneinheitlicher Vorgehensweisen kann von zentralen Notaufnahmen erwartet werden, sich personell und strategisch auf die integrierte Behandlung geriatrischer Notfallpatienten einzustellen. Hierzu zählen Programme zur Evaluation und Behandlung dieser Patienten, genauso so wie ein an die Erfordernisse adaptiertes Entlassungsmangement (frühe Einleitung begleitender, rehabilitativer Maßnahmen, Einbindung unterstützender Dienste: Sozialdienst, Pflege, Versorgung mit Hilfeleistungen), z. B. durch den Anschluss an ein geriatrisches Zentrum [13, 25, 29].

Fazit für die Praxis

Die Thematik der immer älter werdenden Gesellschaft wird sich auf alle Lebensbereiche auswirken. Es ist nicht überraschend, dass dieses Phänomen Politiker, öffentliche Einrichtungen, sowie das Gesundheits- und Sozialwesen in ganz besonderer Weise herausfordert, nach Lösungen zu suchen, die auf der einen Seite die Lebensqualität erhalten und andererseits die enormen Kosten kontrollierbar machen.

Die Notfallmedizin wird sich in ihrer Struktur dieser Entwicklung anpassen müssen und sollte die Chance nutzen, den Netzwerkgedanken der geriatrischen – wie generell – der Notfallversorgung zu stärken und über den individualmedizinisch-kurativen Ansatz hinaus Beiträge zur Prävention und Weiterentwicklung der Versorgungssysteme zu leisten [29].

Hierbei gilt es, sich verstärkt an den zurzeit in diesem Bereich noch umfänglich geförderten Forschungs- und Förderungsschwerpunkten zu beteiligen.