1 Vorbemerkung

Die beiden im Titel herausgestellten Begriffe verschränken sich seit jeher mit allen Erscheinungsformen, Realitäten, Problemen und Visionen des Mathematikunterrichts und der Mathematikdidaktik. Wer sich auf sie konzentriert, muss Beschränkungen vornehmen. Insbesondere werden im Weiteren der berufsbildende Mathematikunterricht gar nicht und derjenige der Grundschule nur am Rande behandelt.

Selbst dort, wo es direkt um diese Begriffe geht, sind Vielfalt und Art der Stimmen derart umfangreich, dass man sich auf herausragende Arbeiten und um durch sie bewirkte Tendenzen beschränken muss. Subjektive Wertungen sind dabei unvermeidlich.

2 „Stoff“

Dies ist die übliche Bezeichnung dessen, was im (Mathematik)Unterricht behandelt werden soll. Synonyme sind „Inhalt“, „Thematik“, früher (19.Jahrh.) „Pensum“, manchmal auch „Lehrstoff“ (seltsamerweise nie „Lernstoff“)Footnote 1, während eine Gesamtvorgabe meist mit „Lehrplan“ bezeichnet wird. Hat der Lehrplan eine längere Geschichte und auch eine gewisse Tradition (was für die Mathematik zutrifft), so redet man vom „Stoffkanon“. In der Zeit der Lernzieleuphorie (70er Jahre) nannte man einen umfassenden Lehrplan auch „Curriculum“.

Was gehört zum Stoff des Mathematikunterrichts?

  1. a.

    die im Alltag benötigte Mathematik (z. B. Prozent- und Inhaltsrechnung)

  2. b.

    die typische Schulmathematik (z. B. elementare Algebra und Geometrie)

  3. c.

    einzelne Kapitel der wissenschaftlichen Mathematik (z. B. Analysis und Analytische Geometrie).

Zwar ist klar, dass sich im Laufe der Schulzeit das Schwergewicht eines jeden Gesamtplans allmählich von a) über b) nach c) bewegt. Aber ebenso ist einleuchtend, dass auf allen Stufen ein großes, ein übergroßes Angebot an einschlägigen Themen besteht. Damit sind wir beim Problem der „Stofffülle“, welches den Mathematikunterricht seit mindestens zweihundert Jahren begleitet und welches mit „Stoffüberladung“ einhergeht. Von daher hat „Stoff“ einen abmindernden Beigeschmack.

Auch gegenwärtig drängen neue Stoffe in den Mathematikunterricht hinein, so die fraktale Geometrie, so der Umgang mit dem Computer und generell mit Neuen Medien, so neue Anwendungsbereiche u. v. a. Die „Neue Mathematik“ ist nach kurzer Blütezeit wieder verschwunden, die sphärische Trigonometrie endgültig ad acta gelegt. Die Zahlentheorie, eines der Juwele der Mathematik, hat in der Schule nie wirklich Fuß fassen können. Ob der Mathematikunterricht insgesamt ein stimmiges Bild der Mathematik entwickelt, bleibt fraglich und ist ein durchziehendes Problem.

Doch wer bestimmt, was in diesem Unterricht behandelt werden soll? Juristisch ist klar: Unterricht an allgemeinbildenden Schulen steht in der Fürsorge und in der Verantwortung des Staates, in Deutschland genauer: der einzelnen deutschen Bundesländer.Footnote 2 Sie setzen die verbindlichen Lehrpläne für ihre Schulen fest und schreiben sie vor. Konkret geschieht dies nach Vorarbeit und Beschluss einzelner Lehrplankommissionen, in welchen erfahrene MathematiklehrerFootnote 3 des jeweiligen Landes, neuerdings auch Mathematikdidaktiker, Pädagogen, Psychologen u. a. zusammenkommen. Die einzelnen Länderpläne, auch wenn sie die gleiche Stufe betreffen, weichen somit in Details voneinander ab, haben aber einen gemeinsamen Rahmen, der von Bundesinstitutionen wie KMK (Kultusministerkonferenz) und BLK (Bund-Länder-Kommission) festgesetzt wird. Dies wirkt sich insbesondere in der Gestaltung der Lehrpläne aus, die längst nicht mehr bloße Stoffpläne mit Präambeln sind, sondern auch auf Ziele, Leitideen und Hintergründe eingehen (s. etwa [36]).

3 „Stoff“ und „Form“

3.1 Verfügungen

Aristoteles behandelt dieses Begriffspaar recht ausführlich in seiner „Metaphysik“. Obwohl in seinen Beispielen nur natürliche, dingliche „Stoffe“ auftreten, dürfen wir seine Überlegungen auf schlechthin Existierendes ausweiten. Überzeugend macht er deutlich, dass weder Stoff ohne Form noch Form ohne Stoff (neudeutsch: Stricken ohne Wolle) denkbar ist. Seit damals ist dies – in mannigfachen Ausführungen und Abwandlungen – eine philosophische Grundüberzeugung geblieben. Ebenso, dass es die Form (und mithin der Former, der Gestalter) ist, der den Stoff prägt, ihn wesentlich macht.Footnote 4

Insofern ist klar, dass auch von staatlichen Institutionen vorgegebene Lehrstoffe „Form haben“, d. h. von Direktiven, Erläuterungen, Absichten und exemplarischen Detaillierungen begleitet sind. Ob bzw. wie intensiv sie dies in die Stoffpläne einfließen lassen, hängt ab von den Erfahrungen mit jeweils früheren Plänen und deren Realisierung sowie von der jeweils aktuellen Situation des betroffenen Schulbereichs.

Die Richert-Richtlinien von 1925 [69] stellen ein allgemeines Lehr(!)ziel vor und machen vorgängig methodische Bemerkungen zu den Stoffgebieten der Mathematik, bevor sie, getrennt nach den damaligen Arten der Höheren Schule, den einzelnen Schuljahren verbindliche Inhalte zuweisen. Wichtig erscheinen sinnvolle Anwendungen nach allen Richtungen, präzises Zeichnen und Darstellen, aber auch die grundsätzliche Berücksichtigung der Geschichte der Mathematik. Die Meraner Beschlüsse von 1905 wirken nach.

Die KMK-Empfehlungen von 1968 [35] verzichten weitgehend auf methodische Bemerkungen und Zuweisungen an bestimmte Klassen. Sie stellen die maßgebenden Inhalte als miteinander aufzubauende Themenkreise vor und erläutern sie durch Hinweise unterschiedlicher Art. Deutlich ist der Einfluss der „Neuen Mathematik“ in Gestalt der Menge-Struktur-Leitlinie. Ernüchternd der Satz: Die Unterrichtsfolge wird von den vorgegebenen Möglichkeiten, aber auch von methodisch-didaktischen Grundvorstellungen bestimmt sein müssen.

Die KMK-Bildungsstandards von 2003 [36] spannen die Inhalte des Mathematikunterrichts in ein dichtes Netz von Kompetenzen, Leitideen und Anforderungsbereichen. Diese „Koordinaten“ werden miteinander verschränkt und solche Verschränkungen an mehreren Aufgabenbeispielen (samt Bearbeitung und Einordnung) detailliert. Herausgehoben wird, dass der Unterricht ermöglichen soll, Erscheinungen und Vorgänge unterschiedlichster Art mittels der Mathematik zu verstehen und zu beurteilen, weiter Mathematik als angemessene Beschreibung vielfältiger Probleme innerhalb und außerhalb ihres Bereichs zu kennen und zu begreifen, sowie dadurch allgemeine Problemlösefähigkeit zu erwerben. Unverkennbar ist bei den hierzu ausgewiesenen Standards der internationale Einfluss (OECD) u. a. durch Tests und deren empirische Evaluation. Diese Maßnahmen sowie nationale Leistungsüberprüfungen sollen auch weiterhin als kritische Begleitung stattfinden. Wenn es heißt, dass die Standards den Schulen Gestaltungsräume für ihre pädagogische Arbeit geben sollen, wird allerdings auch hier eingeräumt, dass die Qualität des Mathematikunterrichts nicht so sehr durch Pläne als durch seinen faktischen Vollzug bestimmt wird. Pläne ändern sich rascher als der Unterrichtsalltag.

Der Vergleich der drei Pläne macht deutlich, dass solche Maßgaben zeitgebunden und deshalb kritisch zu betrachten sind. Didaktische Forschungsarbeit ist stets auch und vor allem auf zukünftigen Unterricht ausgerichtet.

3.2 Notwendigkeiten

Was also können Lehrende im alltäglichen Unterricht tun, um dem vorgeschriebenen „Stoff“ eine optimale „Form“ zu geben?

3.2.1 Der traditionelle Lehrgang

Weitverbreitet war (und ist teilweise immer noch) der systematische, der Logik der Sache abgeschaute Lehr-Gang, der während der Schuljahre allmählich auf die schulische Abnahme fertiger mathematischer Darstellungen hinausläuft. Methodisch führt dies zu einer Zerlegung in wohldosierte, kaum verbundene Häppchen, die auf bezeichnende Weise behandelt werden: Einstieg mit einer typischen Aufgabe, die in fragend-entwickelnder Unterrichtsführung behandelt wird, sodann begriffliche und thematische Verallgemeinerung weitgehend durch den Lehrer und schließlich eine Reihe von gleichartigen Aufgaben zu Übungszwecken für die Schüler. Zwar ist offensichtlich, dass man damit weder dem mathematischen noch dem didaktischen Potenzial des jeweiligen Inhalts gerecht wird, dass man „Systematik des Denkens“ mit „Systematik des Stoffes“ verwechselt [80]. Dass sich ein solcher Unterricht leider dennoch halten kann, wird dadurch erreicht, dass man das aktuelle Thema mit einer Klassenarbeit beschließt, in der nur die zuvor geübten Aufgabenarten auftreten und deshalb allseits befriedigenden Erfolg bringen.Footnote 5

Von dieser Form „profitiert“ insbesondere der Algebra-Unterricht der Mittelstufe zuungunsten des geometrischen Anteils, der sich weniger „standardisieren“ lässt. Das ist schade, weil dort wesentliche mathematiktypische Prozesse vorbereitet und durchgeführt werden können. Der Fieldsmedaillen- und Abelpreisträger Pierre Deligne etwa hat in einem Interview 2013 [60] auf die hohen affektiven, logischen und insbesondere auch sprachlichen Nebenwirkungen beim elementargeometrischen Beweisen hingewiesen.

Dazu ein Beispiel (s. Abb. 1): Vor Jahren hat einer meiner Schüler nach Behandlung des Thales-Satzes behauptet, dass die Winkelhalbierenden aller rechten Winkel im Halbkreis durch den „Südpol“ (seine Bezeichnung) verlaufen.

Wir probierten und mussten diesen „Satz“ (den ich nicht kannte) bestätigen. Der Beweis glückte (allerdings erst nachträglich) durch einfache Winkelbetrachtung. Die erste Beziehung in Abb. 1 folgt aus ∆ TBC, die zweite aus ∆ MBC, die dritte aus ∆ MST.Footnote 6

Abb. 1
figure 1

Südpolsatz

Aber auch in der Algebra lässt sich oft einem scheinbar trivialen Kalkül eine tiefere Einsicht entnehmen. Statt nur die dritte binomische Formel (hin und zurück) einzuüben, kann man ihr direkt oder nach einem geeigneten Beispiel ansehen, dass unter allen Zahlenpaaren mit derselben Summe dasjenige das größte Produkt hat, bei dem diese Zahlen gleich sind: \(a\cdot a\ge {{a}^{2}}-{{x}^{2}}=\left( a+x \right)\cdot \left( a-x \right)\), und weiter, dass unter allen Rechtecken mit Umfang u das Quadrat mit der Seitenlänge \(\frac{u}{4}\) den maximalen Flächeninhalt \(\frac{{{u}^{2}}}{16}\) hat: \((\frac{u}{4}+x)\cdot (\frac{u}{4}-x)=\frac{{{u}^{2}}}{16}-{{x}^{2}}\).

Man kann weiterhin versuchen, einen gefundenen Zusammenhang auf eine andere Weise zu sichern, so etwa die o. a. Maximaleigenschaft über die klassische Mittelungleichung. Oder aber ihn geeignet zu variieren, in unserem Beispiel etwa durch die Frage nach Extremaleigenschaften von Zahlenpaaren mit gleichem Produkt. Solche Variationen können durchaus auch von den Lernenden vorgeschlagen und bearbeitet werden [68].

„Problematisierungen“ der skizzierten Art machen den Unterricht nicht nur interessanter, sondern durch die eingesetzten Hilfen auch vernetzter, nachhaltiger und heuristisch ergiebiger, freilich auch herausfordernder und anstrengender.

Bruchrechnung gilt als schwieriger, mit ständigen Rückfälligkeiten behafteter Lernbereich. Erfahrene Lehrer wissen, dass es dort nicht trägt, mit gleichmäßigem Tempo von Rechenart zu Rechenart, von Formel zu Formel zu eilen. Sinn macht es hingegen, sich zunächst längere Zeit darauf zu konzentrieren, unterschiedliche numerische und graphische Darstellungen und Konzepte von konkreten Brüchen (und Dezimalzahlen) zu betrachten und in Zusammenhang zu bringen. Nur so entsteht eine Grundvorstellung von diesen Gebilden, ohne die ein Kalkül mit ihnen nicht aufzubauen ist. Vom Hofe [27] hat gezeigt, dass der Erwerb solcher Grundvorstellungen von mathematischen Inhalten für jeden wirklich tragfähigen Wissenserwerb unverzichtbar ist (und traditionell immer so gesehen wurde).

Auch wenn sich exemplarisches Unterrichten in Reinkultur unter den gegebenen Lehrplanzwängen sowie räumlichen und zeitlichen Einschränkungen kaum realisieren lässt (dies war einmal als ein Mittel gegen die Stofffülle angesehen worden), sollte man hin und wieder an einem entsprechend tiefen Problem ohne Zeitnot arbeiten; denn nur so kann man Mathematik in statu nascendi erleben. Als Beispiel sei die Aufgabe erwähnt, eine Funktion zu finden, die mit ihrer Ableitungsfunktion übereinstimmt. Oder die Frage, wie man zwei negative Zahlen miteinander multiplizieren sollte.

Statt wie üblich eine gerade eingeführte Methode an einer Reihe gleichartiger Aufgaben einzuüben, kann man das gelöste problematische Phänomen zum Anlass nehmen, unterschiedliche Methoden zu seiner Lösung konkurrierend angreifen zu lassen, es also zu explorieren statt bloß eine Methode zu demonstrieren und dann zur nächsten zu schreiten [67]. Nachhaltigkeit wird so nicht erreicht.

Nicht zuletzt kann man das für die Mathematik so typische (aber für die Schule so schwierige) Axiomatisieren beschränken auf das lokale Ordnen innerhalb eines wohlbegrenzten Bereiches, beispielsweise bei den Eigenschaften einer bestimmten Figur (Aus welchen (möglichst wenigen) Sätzen eines Rechtecks folgen alle anderen?) oder bei der Analyse von Mühlefiguren (Was ist typisch für sie?, [68]).

3.2.2 Allgemeinbildende Ziele

Nach Winter [87] (S. 17) sollte der Mathematikunterricht ermöglichen, mathematische Gegenstände und Sachverhalte, repräsentiert in Sprache, Symbole, Bildern und Formeln, als geistige Schöpfungen, als eine deduktiv geordnete Welt eigener Art kennen zu lernen und zu begreifen. Der bloße Lehrgang tut das nicht. Er ist auch kaum fähig, in der Auseinandersetzung mit Aufgaben Problemlösefähigkeiten, die über die Mathematik hinausgehen (heuristische Fähigkeiten) zu entwickeln.

Hiermit ist eine Thematik angesprochen, die seit mindestes zwei Jahrhunderten die Diskussion um den Mathematikunterricht bewegt: Bedeutung, Ausmaß und Grenzen der formalen Bildung, die er bewirken kann; einer Bildung, die nicht so sehr auf gesichertem Wissen beruht, als darauf, wie es vom Lernenden erworben worden ist [46]. In der Tat muss der Unterricht allmählich in logische und heuristische Grundbausteine einführen, insbesondere in den aufschließenden und präzisen Umgang mit Begriffen [77] und Aussagen [16]. Wie sehr er das über den mathematischen Bereich hinaus tut und damit prägend wirkt auf Sprache und Denken schlechthin, bleibt indessen fraglich. Aus der Transferforschung weiß man, dass Transfers davon abhängen, wie sehr sie in Ansätzen und in Anleitung tatsächlich versucht werden (s. [57]). Begriffszusammenhänge etwa können auch an außermathematischen Begriffen studiert werden und Beweisformen auch an ihren vormathematischen Entsprechungen (Tatsachen und Folgerungen, indirektes und fallweises Vorgehen, usw.-Argumente). Dem dramatischen Verfall der Umgangssprache sollte auch im Mathematikunterricht entgegengewirkt werden (Konjunktive, Relativsätze, Bezugsworte wie „weil“, „folgt“, „insbesondere“, „obwohl“, „damit“, „also“, „aber“, „vielleicht“ u. ä.). Insbesondere ist darauf zu achten, dass sprachliche Kommunikation auf allen kognitiven Ebenen (enaktiv, ikonisch, symbolisch) stattfindet und dabei ohne Bruch beim Wechsel der Ebenen [41]. Form ist insbesondere sprachliche Form.

Spätestens seit Klafki [33] wissen wir, dass sowohl materiale als auch formale Bildungsversuche je für sich zu kurz greifen. Bildung geschieht, wo ein objektives (materiales) mit einem subjektiven (formalen) Moment zusammentrifft und diese Begegnung als innere Einheit erlebt wird. Für den Mathematikunterricht heißt dies, dass wesentliche Inhalte der Mathematik auf eine Weise erarbeitet werden sollten, die auch für die Lernenden wesentlich ist. Es genügt nicht, den Satz des Pythagoras und vielleicht noch einen seiner Beweis zu kennen. Und ebenso noch nicht, ihn auf mehrfache Art zu beweisen. Er bleibt hohl, wenn nicht auch seine Genese, seine Geschichte, seine Umkehrung, seine inner- und außermathematische Anwendung erörtert und verstanden wird.

Klafkis Begriff der kategorialen Bildung ist ein zeitlich früher, aber wichtiger Hinweis auf unsere Thematik „Stoff und Form“. Seine im gleichen Buch enthaltene „Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung“ hat die Fachdidaktiken von pädagogischer Seite aus deutlich aufgewichtet. Sie hat insbesondere in der Mathematikdidaktik fortgewirkt und ist dort als „Didaktisch orientierte Sachanalyse“ weiterentwickelt worden [19].

Der Mathematikunterricht soll nach Winter [87] indessen noch eine dritte Grunderfahrung verschaffen, Erscheinungen der Welt um uns, die uns alle angehen oder angehen sollten, aus Natur, Gesellschaft und Kultur, in einer spezifischen Art wahrzunehmen und zu verstehen. Diese Anwendbarkeit der Mathematik ist zwar für die Schule stets gesehen und berücksichtigt worden, aber im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte mit mehrfach wechselnder Wichtigkeit. Das betraf zwar weniger die Alltagsmathematik, um deren Pflege in den unteren Klassen man nicht herumkommt. (Aber auch dort gab es deutliche Sichtwechsel, so etwa in der sogenannten „Schlussrechnung“, in der erst nach der Analyse von Kirsch [32] das Überprüfen gewisser Voraussetzungen für diesen Kalkül unterrichtlich bedeutsam wurde.) Der spätere Einsatz nichttrivialer Schulmathematik leidet jedoch nicht selten darunter, dass authentische Anwendungssituationen insbesondere nichtklassischer Art keineswegs naheliegen und jeweils neben der mathematischen auch eine Sachanalyse erfordern, vor der nicht wenige Schulmathematiker zurückscheuen. Indessen gibt es inzwischen schon recht viele ausgearbeitete und empirisch überprüfte Beispiele, in denen der bekannte Modellierungskreislauf exemplarisch erarbeitet wird (s. etwa die MUED- oder die ISTRON-Hefte oder auch [31]). Zu jeder Funktion, wie sie im Algebraunterricht der SI auftritt, gibt es aufschließende Anwendungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Das gleiche gilt neuerdings auch für vereinfachte Methoden der beurteilenden Statistik. Schließlich hat jeder deutsche Lehrer ein zweites Fach, in welchem es Aufgaben und Probleme mit mathematischen Komponenten gibt. Zu vermeiden sind jedenfalls die vielen in unseren Schulbüchern auftretenden vormathematisierten Scheinanwendungen, in denen das Übersetzen einer Sachsituation in ein mathematisches Problem als zentrale Phase des Modellierens mit Mathematik bereits abgenommen ist. Statt „Anwendungen“, deren Künstlichkeit ihnen sofort auffällt, schulden wir unseren Lernenden ein Verständnis für die Bedeutung der Mathematik in der heutigen Welt.

3.2.3 Historische Wurzeln

Im o. a. Richert-Plan von 1925 wurde auf die Geschichte der Mathematik hingewiesen. In späteren Plänen fehlt ein solcher Hinweis. Das ist schade: Diese Geschichte umfasst 2½ Jahrtausende, in welchen die Mathematik stets ein lebendiger Bestandteil der jeweiligen geistigen und kulturellen Bemühungen gewesen ist. Dass sich dies in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart geändert hat, mag auch die Folge davon sein, dass der Mathematikunterricht diese Rolle der Mathematik vernachlässigt hat. Es ist indessen eine wesentliche Aufgabe für jeden Fachunterricht, seine betreffende Disziplin repräsentativ darzustellen. Für den Mathematikunterricht gibt es vielfältige Gelegenheiten, die historische Dimension zu integrieren. Nicht nur durch kurze Biographien im Stoff auftauchender Mathematiker (Pythagoras, Euklid, Archimedes, Fibonacci, Dürer, Viëta, Descartes, Fermat, Cantor, …), sondern auch durch Behandeln von Begriffen, Aufgaben und Problemen, mit denen sie verbunden sind (etwa Satz des Pythagoras, platonische Körper, Kreismessung, Fibonacci-Folge, Koordinatensystem, Satz von Viëta, Fermatscher Satz, Mächtigkeitsvergleiche, direkte Integration von Potenzfunktionen, …), und dies keineswegs abgesetzt, sondern wenn irgend möglich im Zuge des Wahrnehmens stofflicher Verpflichtungen. Nicht vergessen werden sollte die Frühgeschichte klassischer Kapitel der Schulmathematik (z. B. Bruchrechnung, geometrische Propädeutik, Zählsysteme, einfacher und doppelter falscher Ansatz). Für den Begriff des Mittelwertes hat dies Hischer [25] vorbildlich geleistet. Unterricht wird durch solche wichtigen Beiträge zur „kulturellen Kohärenz“ [24] deutlich interessanter, auch für diejenigen Lernenden, die unserem Fach reserviert gegenüberstehen.

3.2.4 Fundamentale Ideen

Mathematikunterricht sieht sich nicht selten dem berechtigten Vorwurf ausgesetzt, seine Inhalte derart isoliert zu behandeln, dass man ihren inneren Zusammenhang nicht mehr wahrnimmt. Das betrifft die Stoffe eines Schuljahres und mehr noch ihre Abfolge in benachbarten Schuljahren.

Dagegen wendet sich das auf J.S.Bruner [10] zurückgehende Prinzip der spiraligen Entwicklung fundamentaler Ideen der betreffenden Fachwissenschaft. Es ist zu gewährleisten, dass der Lernende eine solche Idee gemäß seiner Entwicklung mehrfach, in immer weiteren und tieferen Bezügen, in immer präziserer Weise, in immer umfassenderer und abstrahierterer Form sich erarbeiten kann und benutzen lernt. Darüber ist viel diskutiert, aber wenig danach gehandelt worden.

Einigermaßen realisiert ist das Prinzip für den Funktionsbegriff, weil er seit Felix Klein bzw. der Meraner Konferenz als ein Rückgrat der Schulmathematik angesehen und eingesetzt wird [38, 78]. Aber auch da bieten die aktuellen Curricula oft nur ein bloßes Nacheinander. Übersehen wird meist, dass auch schon die Grundschule erste Erfahrungen ermöglicht, dass auch die Geometrie betroffen ist (von den kongruenten bis zu den affinen und projektiven Abbildungen), und dass die SII außer den kartesischen Funktionen auch die Parameterfunktionen, die Polarfunktionen, die impliziten und die mehrstelligen Funktionen sowie das Vergleichen unendlicher Mengen erfassen sollte. Das wäre wohl anders, wenn man einsähe, dass fundamentale Ideen letztlich geistige Tätigkeiten mit archetypischem Charakter sind. Hinter dem Funktionsbegriff beispielsweise steckt das Zuordnen bzw. Abbilden als ein elementarer und hilfreicher Prozess.

Analysiert und detailliert worden ist eine solche Curriculumspirale bisher eigentlich nur für das Optimieren [66] und für die Mittelwertbildung [25]. Dringend notwendig sind analoge Forschungsvorhaben an mancherlei Fronten, z. B. für das Zählen, das Messen, das Algorithmieren, das Modellieren, das Beweisen, das Symmetrisieren, das Kreieren von Problemen. Noch einmal: Der Sedimentcharakter unserer Lehrpläne ist aufzubrechen entlang durchziehender Leitlinien.

3.3 Chancen und Schwierigkeiten

3.3.1 Neue Medien

Zum Mathematikunterricht gehören Medien als Lernhilfen. Einst (und immer noch) Zirkel, Zeichendreieck, geometrische Körper, dann (nun nicht mehr) Logarithmentafel und Rechenstab, weiter der Taschenrechner, schließlich – in immer schnellerer Abfolge und größerer Leistung – eine Fülle neuer Hard- und Software. Medien können den Unterrichtsstoff bereichern durch Ermöglichen neuer Inhalte und neuer Wege zu bekannten Inhalten, aber auch belasten durch das Einhandeln technischer und allgemeindidaktischer Probleme.

Hinsichtlich neuer Inhalte und Ziele sind solche Reformen recht bescheiden geblieben. Immer rigidere Lehrplanformen erzwingen in Lehre und Forschung ein starres Verharren in traditionellen Bereichen. Wirkliche Fortschritte zeigen sich eigentlich nur in der stochastischen Domäne und auch dort nur im Zusammenhang mit sonstigen Bestrebungen (Umgang mit Datenmengen, beurteilende Statistik ohne Wahrscheinlichkeitsrechnung, Oberstufenreform, Angleichung an internationale Standards). Das wäre anders, wenn der Mathematikunterricht sich beteiligen würde an dem (durchaus umstrittenen) Anspruch, Schule müsse angesichts des immer schnelleren und mächtigeren Vordringens Neuer Medien in alle Bereiche unseres Lebens durchgehend auch medienpädagogisch tätig werden ([26], für ein Beispiel s. [52]).

Anders bei den neuen Wegen [83]. Hier haben sich zwei Instrumente entwickelt, die den Unterricht über längere Zeit begleiten und unterstützen können; im algebraisch-infinitesimalen Bereich das Computer-Algebra-System (CAS) und im geometrischen Feld die Dynamische Geometrie-Software (DGS). Sie haben den Vorteil, zunächst einen einfachen technischen Einstieg zu ermöglichen und im weiteren Verlauf zusammen mit Inhalten steigenden Schwierigkeitsgrades dann auch umfassendere Zugänge und Hilfen anzubieten. Zeitverlust durch technische Einarbeit in eine solche Hilfe und Zeitgewinn durch Übernehmen von untergeordneten Tätigkeiten und experimentelles Vorstoßen stehen so in einem sinnvollen Verhältnis. Vorauszusetzen ist dabei, dass die Mitglieder einer Lerngruppe im Unterricht (und zuhause) mit gleicher Ausstattung arbeiten. Ebenso, dass an die Stelle der falschen Frage „Was können wir mit dem Gerät (bzw. Programm) alles machen?“ die Frage tritt „Wie kann uns das Gerät (und seine Software) jetzt, bei dieser Thematik helfen?“. Mit jedem Medium, das wir in der Schule einführen, schließen wir „einen faustischen Pakt“ [56], und sollten wir beachten, dass es an die Stelle wichtiger Ziele des Mathematikunterrichts treten und damit kontraproduktiv werden könnte. Die Sprichworte „Not macht erfinderisch“ und „Übermaß macht träge“ müssen uns zu denken geben. Allzu sehr fehlen noch Unterrichtssituationen, in denen Lernende – statt Angebote nur einfach hinzunehmen – diskutieren, wie und wodurch ein Weg zur Lösung eines Problems beschritten werden sollte, welche Möglichkeiten es dazu gibt, wofür und warum man sich für einen bestimmten Weg entscheidet oder aber konkurrierende Wege zulässt und später (auch in historischer Sicht) vergleicht. Mathematical thinking is more than button pushing.Footnote 7 Auch die neueste PISA-Studie [55] vermerkt kritisch, dass mehr digitale Ausstattung keineswegs rasch zu mehr digitaler Bildung führt.

3.3.2 Kompetenzen

Neue Medien können also den Zielen des Mathematikunterrichts nützen, aber auch durchaus schaden. Diese zwiespältige Funktion hat inzwischen leider auch ein pädagogischer Begriff, der immer mehr dominiert: die Kompetenz.

Sie ist nach Weinert [84], S. 27 (und der OECD) die bei den Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fertigkeiten und Fähigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, …, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. Hier wird beschrieben, was man in wirtschaftlichen bzw. industriellen Institutionen von einem kompetenten Mitarbeiter erwartet. In der Tat ist dieser Begriff aus der Wirtschaft vor einem halben Jahrhundert in die pädagogische Diskussion gelangt. Niemand wird bestreiten, dass er dort auf eine Lücke hingewiesen hat. Nützliche Fähigkeiten zu entwickeln ist in unseren Schulen, insbesondere den höheren unter ihnen, allzu lange vernachlässigt worden. Ihn aber dann als typisches Vorbild auf alles Lehren und Lernen auszudehnen, schafft eine „Praxis der Unbildung“ [45]. Kultur, kulturelle Kohärenz [24] ist nicht denkbar ohne Tradition und Tradition ist wesentlich die reflektierte Weitergabe erworbenen Wissens und Verstehens. Diese Reflexion geschieht in der aktiven Auseinandersetzung mit klassischen Inhalten, in unserem Falle mit typischen Vorgehensweisen und Einsichten innerhalb einer 2½ Jahrtausende alten Mathematikgeschichte, im Kennen und Verstehen zeitübergreifender typischer Bemühungen darin. Hier von „trägem“ oder „totem“ Wissen zu reden und sich auf „Sachkompetenz“ (neben vielen anderen Kompetenzen) zu beschränken, ist töricht und leichtsinnig, zumal wenn man diese Kompetenzeuphorie auch noch auf Leistung und Leistungsmessung ausdehnt, d. h. nur noch eng verstandene Fähigkeiten und Fertigkeiten misst und somit höchstens zu oberflächlichen Verbesserungen des Leistungsstandes kommt [30]. Vieles erinnert an die Lernzieleuphorie vergangener Jahrzehnte, vor allem die Besessenheit, das gesamte Unterrichtsgeschehen in ein System von stufenförmigen Kompetenzen (damals Lernzielen) zu gießen. Die Hoffnung, dass man sich auch diesmal rasch wieder von einer solchen Verkrustung abwenden wird, bleibt fraglich. Dass man die „Lernzielsauce“ ohne Verlust wieder entfernen konnte, zeigt nur, wie oberflächlich sie war. In der „Sachkompetenz“ die „Kompetenz“ herauszustellen und die „Sache“, an der sie erworben wird, als sekundär zu betrachten, ist für das Ermöglichen von Bildung viel gefährlicher. Allgemeinbildende Schulen dienen nicht der beruflichen Ausbildung.

3.3.3 Vorsicht

Schließlich sei vor einem Missverständnis gewarnt. Auch eine noch so gute Form entbindet die Lernenden nicht von der Pflicht, sich des aktuellen Lerninhalts mit Fleiß und Leistungsbereitschaft anzunehmen. Wer erkennt, dass dieser Inhalt wichtig, gut strukturiert, ästhetisch reizvoll und reich an interessanten Details ist, wird über seine Pflicht hinaus dieses Stück Mathematik schätzen und vielleicht auch verwenden lernen. Dass indessen in unserem Fach alle, nicht nur die dafür Begabten (was immer das heißt) sich anstrengen und durchaus auch mit schwierigen Fachproblemen ringen müssen, mag in der anhaltenden bildungspolitischen Phase der Absolventenvermehrung und damit des unterrichtlichen Schwierigkeitsabbaus (auf allen Stufen) ein Grund dafür sein, dass die verlangten und die erbrachten Leistungen in der Schulmathematik seit längerem deutlich zurückgehen. Ein Vergleich heutiger Mathe-Schulbücher mit denen vor 50 Jahren zeigt: Sie sind äußerlich weit attraktiver, weil farbiger, vielgestaltiger und lesefreundlicher, aber im mathematischen Angebot dürftiger. Kann man „Stoff“ in allen Bereichen und Stufen der Schule so deutlich beschneiden, ohne der Gesellschaft und den einzelnen Menschen mittel- und langfristig erheblich zu schaden?

4 „Stoffdidaktik“

Die anhaltende Diskussion um diesen Begriff macht einen Blick auf seine jahrzehntealte und komplexe Geschichte erforderlich.

4.1 1945–1980

Die Bezeichnung „Stoffdidaktik“ ist in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts vereinzelt aufgetaucht, ohne dass damals schon eine Wertung damit verbunden gewesen wäre. Man meinte schlicht eine Didaktik, die sich direkt mit den Inhalten des Mathematikunterrichts, mit dem „was?“, dem „wie?“ und dem „warum?“ beschäftigt.

Eigenartigerweise fehlt diese Bezeichnung in denjenigen beiden Publikationen, die in jenen Jahren die Stofforientiertheit der Mathematikdidaktik am schärfsten kritisierten.

1969 erschien postum die „Analyse der Mathematikdidaktik in Deutschland“, in der Helge Lenné die Traditionelle Mathematik(didaktik), die Didaktik Wittenbergs und Wagenscheins sowie die Neue Mathematik unterschied (s. [42]).

Der ersten warf er eine zu einseitige und zudem äußerliche Übernahme mathematischer Stoffe vor und deren Bündelung in Gestalt von isolierten Aufgaben („Aufgabendidaktik“). Dies, so meinte er, ging einher mit dem Verfolgen von neuhumanistisch ausgerichteten Bildungszielen unter Vernachlässigung (vor allem im Gymnasium) der späteren Lebenswelt, wie es die von Robinsohn [64] eingeleitete Lernzielwende verlangte. Einerseits muss man eingestehen, dass diese Kritik für viele Bereiche der damaligen Schulwirklichkeit zutraf. Andererseits aber verkannte Lenné, dass sich in der Entwicklung der jungen Disziplin eine umfassendere und tiefere Sicht ihrer Funktionen anbahnte, wie es bei einer Analyse der Zeitschrift „Der Mathematikunterricht“, der alljährlich erscheinenden „Beiträge zum Mathematikuntericht“, der Monographien von Lietzmann [47] und Strunz [74] und nicht zuletzt auch des „Frankfurter Grundschulprojekts“ [2] ergibt.

Dazu gehören selbstverständlich auch die Arbeiten Wittenbergs [88] und Wagenscheins [79], welche Lenné als zweite Richtung benennt und als Fortschritt anerkennt, obwohl er zutreffend sieht, dass exemplarisches und genetisches Lehren allein die Schwächen des Mathematikunterrichts nicht lösen können (z. B. nicht die Polarität von Repräsentativität und Stofffülle). In der Mathematikdidaktik haben sie weitergewirkt, weil sie sich zwar vom „Stoff“ nicht lösen, aber ihn in einer sinnvolleren Form (s. 2) darbieten. Das genetische Prinzip der Inhaltsgewinnung ist seit damals Standard.

Die Neue Mathematik, Lennés dritte Richtung, ist aus heutiger Sicht eine schon im Ansatz verfehlte Ausrichtung an der Menge-Struktur-Leitlinie gewesen, die sich nach kurzer Zeit als unbrauchbar für den Unterricht, ja als undurchführbar, als untaugliche Form herausgestellt hat. Der dieser Linie verpflichtete, 1965 aufgestellte Nürnberger Rahmenplan der MNU [1] war von Beginn an umstritten und blieb wirkungslos.

Richtete sich Lennés Kritik gegen die mangelnde Wirklichkeitsrelevanz der Mathematikdidaktik und des Mathematikunterrichts sowie das Fehlen einer sie überwindenden Methodologie, so waren Bölts Vorwürfe [8] noch weitaus schärfer gegen das „falsche Bewusstsein“ dieser Disziplin gerichtet. Für ihn ist Mathematikdidaktik zwar ebenfalls eine Grenzwissenschaft, aber vor allem eine Sozialwissenschaft, die sich dem „konkreten Schüler“ zu widmen hat, ihn vorbereiten muss auf seine „ökonomische, politische und psychische Existenz in dieser Gesellschaft“ und dazu sein „emanzipatorisches Interesse“ wecken soll. Er stellt dazu fünf Defizithypothesen auf und findet sie in einer umfangreichen Befragung von beruflich Beteiligten (nicht von Schülern) weitgehend bestätigt. „Unerwartet (so Klafki im Vorwort S.IX) ist jedoch das Ergebnis, dass die fragwürdigen Dominanzen – das Vorwiegen rein fachlicher Sachstrukturanalysen und die Konstruktion stofforientierter Lehr-Lern-Sequenzen – sowie die Defizite am deutlichsten in den Beiträgen der Autoren, die der Schulpraxis am nächsten stehen, … ausgeprägt sind.“ Unerwartet? Wer es täglich mit 30–40 „konkreten Schülern“ zu tun hat, ihren unterschiedlichen Anlagen, Vermögen, Einstellungen, Vorstellungen und Interessen, weiß, dass (trotz, nein wegen ständig begleitender Probleme) nichts sinnvoller sein kann als das kooperative Vor- und Eindringen in ein gemeinsames Kulturgut (hier eines „Stückes Mathematik“) sowie seiner Auswirkungen und Hintergründe.

Weil sie nicht in sein von Defiziten geprägtes Bild der Mathematikdidaktik passten, übersah wie Lenné auch Bölts damals aktuelle Weiterentwicklungen dieser Disziplin, so 1969 die Schaffung eines „Zentralblatts für Didaktik der Mathematik“ (ZDM), 1973 die von der VW-Stiftung geförderte Einrichtung eines „Instituts für Didaktik der Mathematik“ (IDM) in Bielefeld, 1975 die Gründung der „Gesellschaft für Didaktik der Mathematik“ (GDM) in Saarbrücken und 1976 den „3rd International Congress on Mathematical Education“ (ICME) in Karlsruhe. Hierzu gehört auch noch die von der GDM 1980 beschlossene Gründung einer Forschungszeitschrift, des „Journals für Mathematikdidaktik“ (JMD), sowie ihre seitherige Gestaltung. Von allen diesen Ereignissen ging eine gleichzeitig ausgreifende und stabilisierende Wirkung aus, die das Profil der deutschsprachigen Mathematikdidaktik in Forschung und Lehre deutlich bereichert, insbesondere ihre Professionalisierung vorangetrieben hat. Das geschah ganz bewusst in Richtung auf alle Bezugswissenschaften. Im JMD heißt es: Es besteht Offenheit gegenüber Bezugswissenschaften (wie Pädagogik, Psychologie, Soziologie oder Philosophie) und gegenüber Nachbarwissenschaften (wie Didaktik der Physik oder Sprachdidaktik). Die Beiträge sollen jedoch in jedem Falle das Lernen und Lehren von Mathematik betreffen. Footnote 8 Das geschah denn auch in den nachfolgenden Jahren in überzeugender Weise.

Hinzu kommt, dass Wittmann [89] eine maßgebende Beschreibung der Mathematikdidaktik, ihrer Aufgaben und Ziele sowie der betreffenden Grundfragen vorlegte Footnote 9 und Bigalke 1969–1984 (zusammengefaßt in [7] 1985) die wissenschaftstheoretische Diskussion der Mathematikdidaktik belebte und vertiefte.

Besonders erfreulich war die Weiterentwicklung der (völlig frei) angebotenen und diskutierten Beiträge auf den seit 1966 alljährlich durchgeführten „Bundestagungen für Didakik der Mathematik“. Nach wie vor dominierte unter den berücksichtigten Bezugswissenschaften die Mathematik, aber der Einbezug auch psychologischer, soziologischer und allgemeindidaktischer Hilfen wurde immer deutlicher und stärker, wie die zugehörigen Tagungsberichte (mit dem bezeichnenden Titel „Beiträge zum Mathematikunterricht“) belegen. Das zeigte sich besonders innerhalb der bald nach Gründung der GDM (und von ihrem Vorstand geförderten) Arbeitskreise, die sich speziellen Problemen widmeten. Beispiele: Taschenrechner (später: Informatik) in der Sekundarstufe I (ab 1977), Anwendungen im Mathematikunterricht (ab 1977), Lernerfolgskontrolle (ab 1977), Probleme der Lehrerausbildung (ab 1977), Empirische Unterrichtsforschung (ab 1980). Dass es dabei immer auch um fachdidaktische (im o. a. Sinne) Fragen ging, dafür sorgten die in diesen Arbeitskreisen zahlreich tätigen Lehrer, aber auch die mit ihnen zusammenarbeitenden Kollegen aus den Hochschulen, die damals ja zum größten Teile eine langjährige Praxiserfahrung als Lehrer hatten.

4.2 1980–1992

Ab 1980 stellte sich die Mathematikdidaktik vor allem im JMD dar. Verglichen mit den „Beiträgen“ waren dessen Artikel in den Belegen sorgfältiger, in den Schlußfolgerungen umsichtiger und in den Resultaten vorsichtiger. Man merkte ihnen an, dass sie von den jeweiligen Herausgebern und Gutachtern kritisch bewertet und deren Kritik von den Autoren nach Möglichkeit umgesetzt worden waren. Das schloss öffentliche Einwände und Ergänzungen von Lesern der publizierten Artikel keineswegs aus und zeigte insgesamt eine rundum erfreuliche, sich allmählich steigernde Wissenschaftskultur, zumal die grundsätzlichen Stellungnahmen und Diskussionen zum Charakter der Mathematikdidaktik weiterliefen.

Thematische Schwerpunkte wie mathematische Vorgaben, Neue Medien, Empirie, Anwendungen wurden weiter verfolgt, aber auch relativ neue Forschungsbemühungen wie die Untersuchung von Methoden, Prinzipien und Strategien beim unterrichtlichen Betreiben von Mathematik vorgestellt, insbesondere bei der mittel- und langzeitlichen Entwicklung zentraler Fachbegriffe [77]. Auffällig auch die Analyse von Fehlern bzw. Fehlkonzeptionen bei den Lernenden sowie die Beachtung historischer Entwicklungen in Mathematik und Mathematikdidaktik in ihrer Bedeutung für eine extreme und einseitige Prozesse vermeidenden Unterricht.

Ab 1985 wurden im JMD mathematikdidaktische Dissertationen und Habilitationen vorgestellt, die zunächst meist noch außerhalb mathematikdidaktischer Institutionen stattgefunden hatten.

Die insgesamt recht erfreuliche, weil nunmehr vielfältigere und intensivere Entwicklung der Mathematikdidaktik in der Bundesrepublik der 80er Jahre zeigte sich denn auch in dem Bericht „Mathematics Education in the Federal Republic of Germany“, mit dem sie sich auf der ICME 7 in Quebec 1992 im internationalen Rahmen vorstellte (s. ZDM 1992, H.7). In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass dieser Bericht neben informierenden Beiträgen zum bundesdeutschen Schulsystem, zur Lehrerausbildung und zur Organisation der Mathematikdidaktik Abhandlungen aufwies, die sich entweder direkt mit den Zielen, Inhalten und Methoden des Mathematikunterrichts befassten (z. B. Sachrechnen in der Mittelstufe, Analysis in der Oberstufe) oder aber auf Probleme hinwiesen, die inhaltsunabhängig eng mit ihnen in Verbindung stehen (z. B. Unterrichtsformen, Differenzierungsmöglichkeiten).

Wenn Bigalke 1984 in [7] die These vertritt: Mathematikdidaktik ist die Wissenschaft vom Lehren und Lernen von Mathematik in jeglicher Form, von den Beziehungen zwischen Mensch und Mathematik. Sie ist eine eigenständige interdisziplinäre Wissenschaft zwischen der Mathematik auf der einen Seite und der Erziehungswissenschaft, der Psychologie, Soziologie und Philosophie u. a. auf der anderen Seite. so kann man sagen, dass der in Quebec 1992 vorgestellte Bericht diese Auffassung widerspiegelt und derart auch verstanden worden ist.

Allerdings führt Bigalke unmittelbar nach obiger These aus: Die Mathematik ist mindestens ein der Summe der anderen Wissenschaften gleichgewichtiger Partner der Mathematikdidaktik. Denn es handelt sich immerhin um das Lernen von Mathematik! Das wird heute leider manchmal vergessen.

Im o. a. Bericht geht Wittmann [91] näher auf diese Gefahr ein. Er beklagt, dass es noch nicht gelungen sei, den „mathematical“ branch und den „educational“ branch der Mathematikdidaktik zusammenzubringen, weder in der durchgängigen Meinung ihrer Vertreter noch in der Ausbildung der Mathematiklehrer. Offensichtlich wirkten sich nach wie vor zwei Entwicklungslinien aus: die von Felix Klein (1849–1925) und Walter Lietzmann (1880–1959) bestimmte Gymnasialmathematik einerseits und der pädagogisch orientierte Rechen- und Raumlehreunterricht der Volks- und späteren Hauptschule andererseits. Wittmann nennt hier Johannes Kühnel (1865–1929) und Johannes Wittmann (1885–1960); für die Gegenwart kann man Heinrich Bauersfeld (z. B. [3], [4]) hinzufügen.Footnote 10

Wittmann ist überzeugt, dass sich diese beklagenswerte Diskrepanz nur dadurch schließen lässt, dass man sich auf die erzieherische Substanz der Mathematik selbst, auf den Stoff also, besinnt. Er kann sich dazu auf Stimmen wie J. Dewey [13]; T.J. Fletcher [15] und P. Heintel [21] berufen, und hat dazu auch eigene, recht überzeugende Beispiele (s. etwa [90]) sowohl theoretischer als auch schulpraktischer Art geliefert.

Wenn er vorschlägt, dass die mathematische Ausbildung späterer Mathematiklehrer sich weit mehr als bisher auf Elementarmathematik konzentrieren, diese aber mit ihren reichen historischen, kulturellen und ökonomischen Verflechtungen vorstellen sollte, so geht er genau auf diejenigen Aspekte ein, die wir unter 2 aufgewiesen haben.

Im gleichen Jahr (1992) stellt er die Entwicklung und Erforschung inhaltsbezogener theoretischer Konzepte und praktischer Unterrichtsbeispiele mit dem Ziel einer Verbesserung des realen Unterrichts als Kernbereich ins Zentrum mathematikdidaktischer Arbeit, mit dem die anderen (keineswegs entbehrlichen) Bezugswissenschaften möglichst intensiv zu verbinden sind. Die didaktische Arbeit im Kernbereich muß m. E. an der mathematischen Aktivität als einem ursprünglichen und natürlichen Element der menschlichen Erkenntnis ansetzen. (S. 59) Die Bezugsbereiche sind zwar unentbehrlich für ein tieferes Verständnis und eine sinngemäße Umsetzung praktischer Vorschläge, aber sie entfalten … ihre Wirkung nur, wenn sie auf den Kern bezogen sind. Und weiter (S. 65): Versuche, die Mathematikdidaktik nach dem Vorbild der Bezugsdisziplinen ausrichten zu wollen, erscheinen als verfehlt, weil sie die überragende Bedeutung der konstruktiven Phantasie für konzeptionelle und praktische Innovationen übersehen.

Eine Aussage, die damals vielleicht nicht in dieser Entschiedenheit, aber grundsätzlich von den allermeisten Kollegen geteilt wurde. Hinzu kommt, dass es für die Entwicklung solcher theoretischer Konzepte und Unterrichtsvorschläge im Zeitraum 1965–1992 in den mathematikdidaktischen Zeitschriften (es waren mehr als heute Footnote 11) zahlreiche überzeugende Beispiele gab. Immer wieder aber auch mahnende Hinweise, gestandene Begriffe und Methoden der Bezugswissenschaften, insbesondere der Soziologie zu übernehmen.

Die Vorbereitungen zum ICME-Bericht waren bereits abgeschlossen, als sich in überraschend kurzer Zeit die Wiedervereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten vollzog. Die 90er Jahre sahen dann die allmähliche Angleichung der ehemaligen DDR-Schulstruktur an bundesrepublikanische Verhältnisse. Für unsere Problematik waren die Auswirkungen allerdings recht gering. Zwar galt in der DDR die Mathematikdidaktik als pädagogische Wissenschaft mit Richtlinien und Zielen, die dem marxistisch-leninistischen Weltbild entsprachen und somit von der Politik bestimmt wurden, doch war die den Kollegen verbliebene Methodik recht vernünftig und weitgehend von der Mathematik als zentraler Bezugsdisziplin bestimmt. Weber [81], S. 27: Damit der Mathematikunterricht wirklich ein Unterricht in Mathematik ist, müssen Überlegungen zu seiner Weiterentwicklung immer wieder aufs Neue (als notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung) von einer Besinnung auf die Mathematik selbst ausgehen. Allerdings geschah dies in vergleichsweise engerer Anlehnung an mathematisches Vorgehen (z. B. beim Aufbau des Zahlensystems und beim Beweisen) und unter Hintansetzung schülerzugewandter Präsentationsformen [18].

4.3 1992–2012

Wesentlich mehr (zustimmende und kritische) Beachtung fand die 1996 erschienene Habilitationsschrift „Allgemeinbildung und Mathematik“ von H.W. Heymann mit dem kennzeichnenden Untertitel „Bildungstheoretische Reflexionen zum Mathematikunterricht an allgemeinbildenden Schulen“. Darin sah er Mathematikunterricht unter dem Anspruch von Allgemeinbildung, die er unter sieben Aufgaben zusammenfasste. Vier davon treffen dessen Inhalte direkt, nämlich Lebensvorbereitung, kulturelle Kohärenz, Weltorientierung und kritischer Vernunftgebrauch, drei davon, Verantwortung, Verständigung und Kooperation sowie Ich-Stärkung, benötigen ihre Vermittlung in einer anspruchsvollen Unterrichtskultur, d. h. in der Art und Weise, wie eine Lerngruppe über mathematische Probleme und Lösungen gemeinsam nachdenkt.

Schaut man sich seine diesbezüglichen Ausführungen an, so wird deutlich, dass er den jeweiligen Beitrag des Mathematikunterrichts wesentlich davon abhängig macht, wie dessen Inhalte ausgewählt, vorgestellt, bearbeitet und aufgefasst werden und in welchen Sozialformen das geschieht. In vielen Details wird man an die Ansprüche erinnert, die wir in 2 aufgeführt und erläutert haben. Dieses Allgemeinbildungskonzept setzt Mathematik als kulturelle Errungenschaft, als gesellschaftliches Faktum, als akademische Wissenschaft und als lehrbares Wissensgut voraus (S. 185). Aber auch die Einsicht, dass es zwischen fachlichem und sozialem Lernen enge Verknüpfungen gibt. Und schließlich, dass in beiden Feldern erhebliche Rückstände behoben werden müssen.

Vielleicht ist dies ein Grund, dass sich in diesem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts deutlich mehr Stimmen vernehmen lassen, die zu einer Abkehr des an Inhalten orientierten Mathematikunterrichts raten und einer eng begriffenen „Stoffdidaktik“ widersprechen (s. etwa [37, 82], später Steinbring [72]). Gemeinsam ist ihnen, dass sie der klassischen Mathematikdidaktik vorwerfen, sie vernachlässige die Schüler und deren Umfeld (s. Bölts).

Anderes kommt hinzu. Allmählich treten junge Kolleginnen und Kollegen der Mathematikdidaktik auf, die sich deutlich absetzen möchten von – wie sie meinen – eingefahrenen Gleisen. Sie haben ausgedehnteren und intensiveren Kontakt zu mathematikdidaktischen Zentren im Ausland und müssen erfahren, dass dort eine Sichtweise dominiert, die sich weniger der Mathematik und mehr den anderen Bezugswissenschaften verpflichtet fühlt. „Subject matter didactics“ wird als ein deutschsprachiger Sonderweg angesehen, den man zwar zur Kenntnis nimmt, aber nicht beschreiten möchte. Die Vorteile dieses „Sonderwegs“ und die langjährigen guten Erfahrungen mit ihm international zu vertreten oder sogar unter Aufnahme von flankierenden Einsichten weiter auszubauen, liegt dann weniger nahe als sich in dort bestehende Organisations- und Arbeitsformen einzufinden.

Diese Tendenz beeinflusst auch das Wirken am eigenen Lehrstuhl, insbesondere was die Forschungsbemühungen der Nachwuchskräfte, was Promotionen und Habilitationen anbetrifft, die nun in rascher Folge zunehmen. Es ist zudem erheblich leichter, ausgewiesene Forschungsmethoden der Psychologie oder Soziologie komplett und ohne weiteres auf mathematikdidaktische Fragen anzuwenden, weil dabei Neuland beschritten wird, als traditionelle Probleme des Mathematikunterrichts unter Aufnahme sowohl klassischer als auch neuerer Methoden fortzuführen. Weiter ist zu beachten, dass in der bundesrepublikanischen Forschungsförderung (DFG, Stiftungen) fachübergreifende Projektansätze bevorzugt werden. Ob man damit wirklich weiterkommt, steht einstweilen dahin.

Es verwundert nicht, dass auch weiterhin im deutschsprachigen Raum über eine tragende Theorie der Mathematikdidaktik diskutiert wird (beispielweise in [76]) und dass weiterhin wichtige Fortschritte erzielt werden, sowohl in inhaltlicher, als auch in methodischer und formaler Hinsicht (s. etwa [11]). Es erscheinen Arbeiten in klassischen Bereichen wie Heuristik, Begriffsbildung und Begriffsgeschichte, Modellierung, Umgang mit Fehlern, Fortführungen reformpädagogischer Ansätze, Leistungsmessungen, Computer und vor allem eine Intensivierung empirischer Methoden bis hin zu videographischen Analysen. Neue Themen werden aufgegriffen (Statistik, Fraktale, Raumgeometrie), alte verschwinden (Kegelschnitte, Trigonometrie). Erfreulich ist die Vielzahl von Lehrerarbeiten, durchweg inhaltlicher Art, vor allem seitens erfahrener Ausbilder (s. etwa [40, 51, 71, 73], alle mit vielen weiteren Arbeiten).

Auffällig ist, dass Arbeiten zur Grundschule sich ausbreiten, während solche zur Oberstufe des Gymnasiums zurückgehen. Das hat zunächst politische und institutionelle Gründe (Lehrstuhleinrichtungen, Abiturvorschriften), trägt aber ebenfalls zur Wirkungsverschiebung hin zu nichtklassischen Bezugwissenschaften bei.

1988 erscheint „Zur Kritik und Bedeutung der Stoffdidaktik“ von Th. Jahnke. Über extreme Beurteilungen hinweg möchte er zum Kern dieses Gebietes vordringen. So kommt er zur Mathematik als dessen zentrale Bezugswissenschaft, schließt aber auch dort „Mathematikdidaktik als Anhängsel der Mathematik“ und „… als Wissenschaft vom Ganzen der Mathematik die Mathematik umgreifend (H.S.)“ als zu einseitig aus, sodann auch, weil allzu randständig, Mathematikdidaktik als Elementarmathematik, als Erklärkunst, als richtige Lehre, als Methodik. Es verbleiben für ihn:

Fachwissenschaftliche Fundierung (und Entwicklung) schulmathematischer Gegenstände,

Anschluß von Schul- an Hochschulmathematik et vice versa?

Terrainerkundung und –sicherung für schulische Curricula und zentral

Didaktische Rekonstruktion von Mathematik.

Man kann diesen Wertungen zustimmen, muss aber auch kritisieren, dass mit ihnen allein nach wie vor der konkrete Unterricht mit all seinen direkt und indirekt Beteiligten (Schüler, Lehrer, Eltern, Aufsicht, Gesellschaft) und damit die Unterrichtskultur zu kurz kommt. Noch einmal: Zur Stoffdidaktik gehört über den Stoff hinaus der unterrichtliche Umgang mit ihm und seinen Werten (s. 2).

Es gibt nach wie vor Kollegen, die dieser umfassenden Sicht von Stoffdidaktik zustimmen und sie damit nach wie vor im Zentrum der Fachdidaktik (der Mathematik) sehen, u. a. Hefendehl-Hebeker, Heitzer, Lambert, Pinkernell, Vollrath, Wittmann. Ganz bewusst scheuen sie sich nicht, für die „Stoffdidaktik“ einzutreten.

4.4 Gegenwart

In den letzten zwei Jahrzehnten geht auf Mathematikdidaktik und –unterricht ein immer stärkerer Einfluss aus von internationalen Vergleichsuntersuchungen anhand von zentral gestellten Tests und beigefügten Fragebogen:

  1. a.

    TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study), durchgeführt im vierjährigen Turnus von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement. Deutschland beteiligte sich daran 1995, 2007 und 2011.

  2. b.

    PISA (Programme for International Student Assessment), durchgeführt ab 2000 alle drei Jahre von der OECD für fünfzehnjährige Schüler, mit nationalen Zusatzkomponenten (in Deutschland bewusst genutzt); neben mathematischer werden auch Lesekompetenz und naturwissenschaftliche Grundbildung getestet.

Beide Untersuchungen haben von Beginn an zu deutlicher Kritik und heftigem Meinungsstreit geführt, wegen Art und Inhalt der Testaufgaben, ihrer statistischen Auswertung, der Begleitindustrie und nicht zuletzt der Hintergrundphilosophie bzw. Zukunftsversion von Schule [6, 30, 45]. In unserem Zusammenhang interessiert jedoch vor allem ihr Einfluss auf die Stoffdidaktik.

Auf den ersten Blick scheint er recht günstig zu sein. Denn alle Testaufgaben sind mathematischer Art, beziehen sich meist auf traditionellen Lehrstoff und wirken damit auch stilbildend auf Aufgaben außerhalb dieser Tests.

Aber Testaufgaben dienen lediglich der Wissens- und Könnensüberprüfung, während Aufgaben im Unterricht recht unterschiedlichen Zwecken dienen können (und müssen): neben dem Überprüfen dem Wiederholen, Üben, Sichern, Anwenden, Erweitern, Systematisieren, Öffnen, Problematisieren u. a., womit sie über die bloße Wissenserhebung weit hinausgehen. Zudem sind sie üblicherweise im Unterricht vorbereitet und können nachbereitet werden, während Testaufgaben isoliert stehen und nicht selten eine für die Probanden fremde Diktion aufweisen. Am gefährlichsten ist aber, dass ihre Verständlichkeit und die Notwendigkeit einer eindeutigen Beurteilung der erhaltenen Antworten allermeist auf eine kurze und technisch verwertbare Form drängen. Gute multiple choice-Aufgaben etwa sind zwar durchaus machbar, setzen aber eine fundierte Kenntnis guter Distraktoren und eindeutige Formulierungen voraus.

Es ist somit gefährlich, solche Testaufgaben als Vorbilder im Unterricht nachzuahmen. Wo das geschieht, siegt die Verwertungstechnik allzu leicht über eine sinnvolle Aufgabenkultur, die Verständnisse schafft und Lernschwierigkeiten aufdeckt. Stattdessen wird nur gemessen und verglichen. Wer zurückbleibt, muss bessere Test schreiben lernen. Lehren und Lernen degeneriert dann zum „teaching to the test“. Das ist eine der schlimmsten Formen, die man dem Stoff aufprägen kann.

Im Zuge von TIMSS und PISA und nicht zuletzt des dort enttäuschenden Abschneidens deutscher Schüler kam es dann ab 2003 nach mancherlei Wirrungen (s. [70]) zu von der KMK herausgegebenen und verpflichtenden Bildungsstandards, 2003 für den mittleren Abschluss, 2004 für Grund- und Hauptschule und 2012 für die Allgemeine Hochschulreife.

Die Standards der KMK [36]Footnote 12 sind auf intransparente Weise gebildet und in 12 Jahren nicht verändert worden. Es werden sechs „allgemeine mathematische Kompetenzen“ benannt und detailliert sowie anhand von fünf „mathematischen Leitideen“ konkretisiert. Damit folgen sie weitgehend den „Prinzipien und Standards für den Mathematikunterricht“ des National Council of Teachers of Mathematics“ (s. [54). Diese ebenso strenge wie ungenügend begründete KMK-Vorgabe hat seither zu einem bedauerlichen Rückgang didaktischer Diskussionen geführt. Es bleibt ungeklärt, wieso und wie gerade diese Zusammenstellung von Kompetenzen und Leitideen beitragen kann zu den gewünschten „Grunderfahrungen der Bildung“ oder gar zur „Persönlichkeitsentwicklung und Wertorientierung“. Weiter, wie die Leitideen stehen zu traditionellen Mathematikkapiteln einerseits und zu fundamentalen Ideen andererseits. Die Leitidee „Raum und Form“ beschränkt sich nach wie vor weitgehend auf die Ebene und die Leitidee „Daten und Zufall“ ist inhaltlich völlig unbefriedigend.Footnote 13

Aus den Erfahrungen mit den internationalen Testaufgaben sind drei sog. „Anforderungsbereiche“ (reproduzieren, Zusammenhänge herstellen, verallgemeinern und reflektieren) entwickelt worden, die innerhalb der Standards mit den allgemeinen Kompetenzen in Verbindung gebracht werden. Konkretisiert wird dies abschließend an kommentierten Aufgabenbeispielen. Indem man dabei jeweils die zugehörigen Lösungen, die angesprochenen allgemeinen Kompetenzen, Leitideen und Anforderungsbereiche angibt, leistet man zwar durchaus eine Analyse der einzelnen Aufgabe, sagt aber nichts zu ihrem sinnvollen, reflektierten Einsatz im Unterricht (weshalb?, wann?, wie?, wozu?) oder zur Schwierigkeitsvarianz (und damit zu ihrem diagnostischen Wert).

Es kann nicht überraschen, dass in den Folgejahren die Bildungsstandards solchermaßen zu einer didaktischen Dominanz der Aufgabenproblematik in Theorie und Praxis geführt haben, einer Aufgabendidaktik (s. Lenné) im neuen Gewand. Die Entwicklung einer Aufgabenkultur ist wichtig (s. o.); doch kann sie nur ein Teil einer Unterrichtsgesamtkultur sein. Unterricht besteht nicht nur aus einer Abfolge von Aufgaben. Dass wir von anderen Fächern beneidet werden um die vergleichsweise einfache Konstruktion von Aufgaben lässt allzu leicht übersehen, dass dieser Segen auch zum Fluch werden kann. Wir sollten diese Fächer daraufhin inspizieren, wie sie auch ohne rasch formulierte Aufgaben ihre Schülerinnen und Schüler fordern und fördern. Auch im Mathematikunterricht ist es möglich, einen mathematischen Text (im Schulbuch, aus der Zeitung [23] oder sonstwoher) zu lesen und zu diskutieren, eine zuvor stattgefundene Überlegung (einen Beweis?) in der nächsten Stunde mündlich zusammenzufassen, ein Referat zu vergeben, eine Alternative vorzuschlagen, ein Problem mittelfristig anzuregen, einen vergessenen Begriff oder Satz zu wiederholen u. v. a. Viele der in 2.2 angesprochenen Formen lassen sich auch und nicht zuletzt außerhalb von fixen Aufgaben aufbauen.

Nicht zu übersehen ist, dass Leistungsvergleiche und (Bildungs)Standards zu einer Aufwertung von Quantifizierungen im Bildungsgeschehen geführt haben. Im Forschungsbetrieb zeigt sich seit einigen Jahren eine beträchtliche Zunahme an empirischen Erhebungen. So sehr man einräumen muss, dass hierdurch eine traditionelle Scheu deutschsprachiger Mathematikdidaktik überwunden wird, so sehr ist zu warnen vor einem Hang zur Überbewertung erhobener Daten. Sie können in einem Gesamtprojekt dessen anderswo aufgestellten Ziele und anderswie durchgeführten Realisierungen zwar bestätigen oder relativieren, nicht aber sichern oder gar begründen. Allzu oft bemerkt man, dass eine vermutete Qualität an einer recht kleinen Probandenzahl mithilfe einer aufwendigen (aber zulässigen?) statistischen Überprüfung als nachgewiesen und damit verallgemeinerbar erachtet wird.

Umgekehrt leidet die vielzitierte Hattie-Studie [20] darunter, dass empirische Testdaten von über 80 Mio. Schülern in über 800 Meta-Analysen zu einer Meta-Meta-Analyse mit weitreichenden Aussagen über Einflusswirkungen beim Lehren und Lernen zusammengefasst werden, dies aber lediglich durch mehrfach gemittelte Effektgrößen, die auf allzu einfache Weise bestimmt worden sind.

Vergessen wird in beiden Richtungen, dass gerade wesentliche Ziele kaum messbar sind.

Keineswegs zufällig in diesem Zusammenhang ist eine Veränderung der Schulstochastik im Sinne einer stärkeren Gewichtung statistischer Komponenten. Mag auch der probabilistische Anteil bisher zu sehr dominiert haben, seine deutliche Reduzierung verkennt die Wichtigkeit beispielhafter schulischer Instruktionen zur Korrektur großenteils unbedachter oder falscher Primärintuitionen (s. [14]) und damit von irrationalen Verhaltensweisen in stochastischen Situationen.

Unter den (zahlreichen) im letzten Jahrzehnt aufgetretenen neuartigen Forschungsbemühungen, welche den Mathematikunterricht (noch) kaum erreicht haben, sind zwei „Modewellen“, die unsere Problematik berühren: der Konstruktivismus [17] und das schiere Gegenteil: Lernen über ein Angebot ausgearbeiteter Beispiele [22, 63]. Die o. a. reichen kognitiven Qualitäten und kulturellen Verflechtungen der Mathematik belegen aber eindeutig, dass ihre stimmige unterrichtliche Repräsentation weder allein von den Lernenden noch durch bloßes Vorsetzen von Inhalten geleistet werden kann. Auch die pädagogische Psychologie hat längst herausgestellt, dass sinnvoller Unterricht, d. h. Stoff und Form in einem geeigneten Zusammenspiel von Instruktion und Konstruktion, von Maßnahmen der Lehrenden und Eigenarbeit der Lernenden geleistet werden muss [85].

Es ist klar (und auch zu verstehen), dass für Lehrerinnen und Lehrer bei der täglichen Unterrichtsarbeit der Lehrstoff und seine Erarbeitung im Mittelpunkt steht. Hilfen für diese grundsätzlich schwierige Arbeit finden sie weniger in abgehobenen pädagogisch-psychologisch-soziologischen Analysen und deren entwickelter statistischer Begleitung als in Untersuchungen, die solche Analysen beispielhaft in ihrer Bedeutung für den konkreten Unterricht zeigen. Gleiches gilt für als allzu überfeinert und bezweifelbar angesehene Methoden der interpretativen Unterrichtsforschung [49], dies im Gegensatz zur praxisbezogenen fachdidaktischen Entwicklungsforschung [53] oder auch zur Realisierung des Prinzips der mathematikdidaktischen Reproduktion von Mathematik [58].

Angesichts der deutlichen Zunahme nicht mehr direkt unterrichtsbezogener Forschungsarbeiten in der Mathematikdidaktik [29], insbesondere bei den sich weiterhin mehrenden Dissertationen, drohen zwei essentielle Gefahren. Erstens, dass Mathematikdidaktik und Mathematikunterricht sich voneinander entfernen, sichtbar nicht zuletzt daran, dass ihre Repräsentanten unterschiedliche Sprachen benutzen. Und zweitens, dass diese Tendenz immer mehr auch zu einem Generationenkonflikt innerhalb der Mathematikdidaktik selbst führt, nämlich zwischen weiterhin stoffdidaktisch arbeitenden Kollegen und vorwiegend jüngeren Kollegen, welche den Begriff „Stoffdidaktik“ abwertend gebrauchen und sich deutlich davon absetzen. Ihr Argument, dass diese traditionelle Didaktik die Qualität des Mathematikunterrichts nicht wesentlich vorangebracht habe, kann indessen nicht wirklich belegt werden. Ein Vergleich mit Ländern, in denen es Stoffdidaktik nicht gab und gibt, lässt eine solche Abwertung keinesfalls zu. Dass stoffdidaktikvermeidende Arbeiten von einer solchen Nachprüfung (noch) unbelastet sind, macht sie nicht wichtiger.

Auf die Gefahr eines dominanten Kompetenzbegriffs (entfaltet als Sach-, Methoden-, Innovations-, Verfahrens-, Handlungs-, Urteils-, Reflexions-, Prüfungskompetenz usw.) wurde bereits hingewiesen. In letzter Zeit ist sie noch größer geworden, weil er in nahezu alle staatlichen Vorgaben, in Inhalte und Ziele sowie in viele Medien „eingesickert“ ist. Entscheidend ist nicht länger, was Schüler wissen, sondern was sie können; nicht um Wissen und Verstehen, sondern um Sachkompetenz soll es gehen, wobei diese Kompetenz sich auf Verwertbarkeit im späteren Leben beschränkt.Footnote 14 Dass diese Beschränkung sinnvolle Formen der Mathematik und des Mathematikunterrichts beschädigt, liegt auf der Hand. „Die Kompetenzorientierung der Bildungsstandards und (mathematische) Bildung sind unvereinbar“ [86].

Erfreulicherweise regt sich Widerstand ([34, 29], [45]), Gründung einer opponierenden „Gesellschaft für Bildung und Wissen“ 2010, FAZ-Artikel „Der Kompetenz-Fetisch“ 14.5.2015), sowohl den Ansatz als auch die Folgen dieser Tendenz betreffend. Kühnel et al. [39] äußern sich kritisch zu vielen Details der KMK-Bildungsstandards 2012 und fordern bereits deren umfassende Revidierung.

Unabhängig davon gilt es, an vorhandenen Defiziten im stoffdidaktischen Bereich der Mathematik weiterzuarbeiten. Genannt seien Ausbau des experimentierenden und des operativen Unterrichts, Analyse fundamentaler Ideen, Integration neuer Medien, Verbindung des Mathematikunterrichts zu anderen Schulfächern, stärkere Vernetzung klassischer Schulmathematikbereiche (z. B. Algebra und Geometrie), sorgfältiger Einbau einfacher zahlentheoretischer Inhalte (s. dazu auch [61]), beständiges Eingehen auf sprachliche Schwierigkeiten [59].Footnote 15

Erfreulich ist, dass die wohlverstandene Stoffdidaktik in aktuellen Handbüchern der Mathematikdidaktik [9, 43, 48, 62] nach wie vor eine zentrale Bedeutung hat. Sinnvolles Lehren und Lernen ist ohne sie nicht möglich. Tenorth [75]: „Das Lernen kann man nur an Inhalten lernen; Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sind nicht losgelöst von Themen und Problemen zu erwerben, sondern nur an konkreten Aufgaben.“ Selbstverständlich sind auch Bezüge zu nichtmathematischen Nachbardisziplinen wichtig. Sie tragen zu einer belebenden Unterrichtskultur bei, wie sie der traditionelle Mathematikunterricht durchaus nötig hat.

Nachspiel: Wittmann [92] hat mit einem Artikel in den GDM-Mitteilungen 96 (2014), in welchem er erneut sowohl der GDM als auch speziell dem JMD eine Vernachlässigung stoffdidaktischer Beiträge vorwirft, daran erinnert, dass „Stoffdidaktik den deutschen Mathematikunterricht über Jahrhunderte getragen hat“. Dies hat Schubring [65] in den GDM-Mitteilungen 98 kritisiert. Er sieht sie nur als „den vorparadigmatischen Stand der Mathematikdidaktik“ im 20. Jahrhundert. Die GDM-Mitteilungen 99 bringen darauf hin eine Reaktion von Wittmann und mehrere Kommentare zu dieser Kontroverse von den Kollegen Sill, Führer, Bender und Sträßer. Sie alle weisen auf den unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs „Stoffdidaktik“ bei Wittmann und Schubring hin und vertreten die Ansicht, dass in der Tat eine auf die Mathematik bezogene Mathematikdidaktik zu allen Zeiten zentral für den Mathematikunterricht gewesen ist, Sill zusätzlich mit Blick auf den DDR-Mathematikunterricht, Führer mit Hinweis auf die Komplexität der Praxis des Mathematikunterrichts, Sträßer allerdings auch unter Verweis auf die Gefahr einer bloßen Reduktion auf die Mathematik.Footnote 16

Mir scheint, dass solche Diskussionen weitergehen werden, und dass sie notwendig sind, um Mißverständnisse auszuräumen.