Einleitung

Für die geplante Überarbeitung der Leitlinie stellte die Steuerungsgruppe der AG folgende Fragen:

  1. 1.

    Was sind die Kernsymptome des sogenannten juvenilen Fibromyalgiesyndroms (JFMS)?

  2. 2.

    Welche Unterschiede/Überlappungen gibt es zwischen dem sogenannten JFMS und somatoformer Schmerzstörung?

  3. 3.

    Welche diagnostischen Codes und diagnostischen Kriterien sollen für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen verwendet werden?

  4. 4.

    Welche somatische Ausschlussdiagnostik ist notwendig?

  5. 5.

    Wann ist eine fachpsychotherapeutische Diagnostik sinnvoll?

  6. 6.

    Gibt es unterschiedliche Verlaufsformen/Schweregrade des sogenannten JFMS?

  7. 7.

    Welche Informationen über Beschwerdebild, Therapieziele und Behandlungsmöglichkeiten sollen bei der Erstdiagnose gegeben werden?

  8. 8.

    Ist Patientenschulung sinnvoll?

  9. 9.

    Welches Fachgebiet soll die Behandlung des sogenannten JFMS koordinieren?

  10. 10.

    Ist ein abgestufter Behandlungsansatz sinnvoll?

  11. 11.

    Welche physikalischen und physiotherapeutischen Maßnahmen, welche psychotherapeutischen Verfahren, welche Medikamente und welche komplementären und alternativen Verfahren sind beim sogenannten JFMS sinnvoll?

  12. 12.

    Von welchen physikalischen und physiotherapeutischen Maßnahmen, welchen psychotherapeutischen Verfahren, welchen Medikamenten und welchen komplementären und alternativen Verfahren ist beim sogenannten JFMS abzuraten?

  13. 13.

    Wann ist eine stationäre multimodale Therapie indiziert?

  14. 14.

    Sind komplementäre/alternative Verfahren zu empfehlen?

Methoden

Die Methoden der Literatursuche und Erstellung der Empfehlungen sind im Leitlinienreport [9] dargestellt. Vier Mitglieder der Arbeitsgruppe zogen ihre Autorenschaft wegen eines Dissens zu den diagnostischen Codes zurück.

Im Gegensatz zu den Kapiteln für Erwachsene wurden Fallserien (Querschnitt- und Längsschnittstudien) für die Bereiche Diagnose, Ätiologie und Pathophysiologie und randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) im Falle von Therapieverfahren zugrunde gelegt.

Ergebnisse

Die Literatursuche ergab für alle Themen 265 Treffer.

Definition und Klassifikation

Klinischer Konsenspunkt

Für das Kindes- und Jugendalter bestehen derzeit keine einheitlichen und validierten Kriterien zur Definition chronischer Schmerzen in mehreren Körperregionen, die zu klinisch bedeutsamer Beeinträchtigung im Alltagsleben führen und nicht im Rahmen einer definierten somatischen Krankheit auftreten. Starker Konsens

Kommentar.

Im Kindes- und Jugendalter werden Schmerzen unabhängig von ihrer Lokalisation als chronisch definiert, wenn sie mindestens drei Monate andauern oder über diesen Zeitraum rezidivierend auftreten [38]. Persistierende oder rezidivierende Schmerzen können in ihrer Schmerzintensität, -qualität, -häufigkeit und Vorhersagbarkeit stark fluktuieren und entweder in einzelnen oder mehreren Körperregionen auftreten. Der Fokus auf die zeitliche Dimension des chronischen Schmerzes hat in letzter Zeit Kritik erfahren. Auch Kinder, die kürzer unter ihren Schmerzen leiden, können signifikant in ihrem Alltag beeinträchtigt sein und einer Therapie bedürfen [38]. Rief et al. [23] haben mit ihrer neuen diagnostischen Kategorie „Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ (ICD-10: F45.41) den Aspekt der Beeinträchtigung als zentrales Kriterium mit aufgenommen. Untersuchungen zur Häufigkeit dieser Diagnose im Kindes- und Jugendalter fehlen bis dato.

Bei chronischen Schmerzen im Kindes- und Jugendalter mit Hauptschmerzort Bewegungsapparat werden „diffuse“ von „lokalisierten idiopathischen muskuloskeletalen Schmerzen“ abgegrenzt. Ein anderer häufig verwendeter Begriff ist der des „chronic widespread (musculoskeletal) pain“ (CWP). Wichtig ist jedoch für die weitere Betrachtung, dass nicht jeder CWP mit einer schmerzbedingten Einschränkung des täglichen Lebens, mit Disstress und einem Empfinden von Krankheit einhergeht, wie dies für das (sogenannte) juvenile Fibromyalgiesyndrom (JFMS) beschrieben wird [38].

Traditionell und in den meisten weiter unten zitierten Studien wird das (sogenannte) JFMS durch die Yunus-Kriterien wie folgt definiert [37]:

  1. a.

    Generalisierte Muskelschmerzen in mindestens drei Körperregionen

  2. b.

    Dauer mindestens drei Monate

  3. c.

    Normale Laboruntersuchungen

  4. d.

    Schmerzhafte Palpation von mindestens 5/11 „tender points“

  5. e.

    Mindestens 3 von 10 weiteren Symptomen:

    1. 1.

      Chronische Angst oder Anspannung

    2. 2.

      Schlafstörungen

    3. 3.

      Reizdarmsyndrom

    4. 4.

      Chronische Kopfschmerzen

    5. 5.

      Fatigue

    6. 6.

      Subjektive Weichteilschwellung

    7. 7.

      Taubheitsgefühl

    8. 8.

      Schmerzmodulation durch Bewegung

    9. 9.

      Schmerzmodulation durch Wetterfaktoren

    10. 10.

      Schmerzmodulation durch Angst/Stress

Seit 2010 wurden keine Studien durchgeführt, welche die Spezifität, Sensitivität und klinische Nützlichkeit der Yunus-Kriterien für Kinder und Jugendliche überprüfen. Ob die neuen vorläufigen diagnostischen American-College-of-Rheumatology(ACR)-2010-Kriterien [34] oder die Forschungskriterien [35] bei Kindern und Jugendlichen klinisch nützlich sind, wurde bisher nur in einer Studie untersucht. In einer Studie mit 47 Adoleszenten mit der Diagnose eines JFMS nach den Yunus-Kriterien und 49 alters- und geschlechtsgematchten Adoleszenten mit lokalen Schmerzsyndromen waren die Sensitivität der ACR-2010-Kriterien 89,4 % und ihre Spezifität 87,5 % in Bezug auf die Yunus- und Masi-Kriterien [31]. Problematisch an der Studie ist jedoch, dass weibliche Jugendliche miteinander verglichen wurden, bei denen der Schweregrad der Schmerzerkrankung möglicherweise nicht vergleichbar war. So wurden Maße des Schmerzschweregrads wie das Chronic Pain Grading [32], die schmerzbedingte Einschränkung der Funktionalität (FDI oder P‑PDI; [15]) oder die Schulfehltage nicht erhoben und gematcht. Auffällig ist, dass die Patientinnen mit einem (sogenannten) FMS eine deutlich höhere emotionale Belastung aufwiesen als die gematchte Gruppe, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass Jugendliche mit einer vergleichbar schweren Schmerzerkrankung verglichen wurden.

Sowohl die Yunus- [37] als auch die ACR-Kriterien von 1990 [33] weisen erhebliche Schwierigkeiten bei der Operationalisierung auf, die bereits in der zweiten Version dieser Leitlinie dargestellt wurden [38].

Auch die ACR-2010-Kriterien [34] und die modifizierten 2011 Kriterien [35] weisen erhebliche Probleme der Operationalisierung auf:

  • Die Symptome der „fibromyalgia symptom severity scale“ (FSSS) werden anhand unklarer Anweisungen gewichtet. So soll ein Wert von „3“ vergeben werden, wenn das Symptom „severe, pervasive, continuous, life-disturbing“ ist. Die Beschreibungen sind nicht mit „und“ oder „oder“ verbunden, sodass für den Beurteilenden unklar bleiben muss, wann er den Punktwert „3“ vergeben soll. Beispielsweise kann ein Problem kontinuierlich vorhanden, aber nicht schwer sein.

  • Die Symptomliste umfasst eine Vielzahl von Symptomen, die zum Teil ausschließlich subjektive Empfindungen sind („tingling“), messbare Ereignisse darstellen („fever“) oder objektivierbar sind und pathophysiologisch zu definierten anderen Krankheiten gehören („seizure“). Zum Teil gibt es eine Überschneidung des „widespread pain index“ (WPI) mit den drei Kardinalsymptomen der FSSS. Dies trifft zu bei folgenden Symptomen der Symptomliste: „muscle pain“, „fatigue/tiredness“, „thinking or remembering problems“, „pain in the abdomen“, „pain in the upper abdomen“. D. h., wenn ein Patient in dem WPI und der FSSS hohe Werte zeigt, werden die gleichen Symptome nochmals in der Symptomliste berücksichtigt – ein klassischer Zirkelschluss. Die Symptomliste führt dazu noch andere Diagnosen auf wie „irritable bowel syndrome“ und Symptome, deren kausale Verknüpfung mit einem chronischen Schmerzsyndrom schwer nachzuvollziehen ist („hair loss“). Die Bewertung der Symptome geschieht dann nicht nach einem festen Cut-off-Wert, sondern nach einer Skala von 0 bis 3, auf der „1“ gleichbedeutend ist mit „few symptoms“ und „2“ mit „moderate number of symptoms“. Dies erscheint einem wissenschaftlichen Leser wenig trennscharf. Die Validierung geschieht in der Regel im Kontrast zu Patienten, die keine ähnliche Erkrankung aufweisen, wie zum Beispiel eine somatoforme Störung, eine mittelgradige Depression oder ein obstruktives Schlafapnoesyndrom, sondern die an einer anderen Erkrankung leiden wie einer Arthrose des Kniegelenks.

Aufgrund dieser mangelnden Operationalisierung wird die Bezeichnung JFMS von den meisten deutschen Pädiatern als wissenschaftlich nicht etabliert und zudem nicht hilfreich abgelehnt [38].

Diagnostische Codes

Sondervotum der Pädiater der AG Kinder und Jugendliche (N. Draheim, F. Ebinger, E. Schnöbel-Müller) und der Gesellschaft für Kinder- und Jugendrheumatologie

Der diagnostische Code „Fibromyalgiesyndrom“ (ICD-10 M79.7) soll bei Kindern und Jugendlichen nicht verwendet werden.

Kommentar.

Der von der AG Kinder und Jugendliche vorgeschlagene Konsenspunkt, den diagnostischen Code „Fibromyalgiesyndrom“ (ICD-10 M79.7) bei Kindern und Jugendlichen nicht zu verwenden, fand bei der Leitlinienkonferenz keine Mehrheit. Es besteht ein starker Konsens innerhalb der AG Kinder und Jugendliche (Pädiater, Erwachsenenmediziner, Patientinnenvertreter) und aller an der Leitlinie beteiligten Fachgesellschaften und Patientenorganisationen über die übrigen Empfehlungen zur Edukation und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen. Es besteht ein Dissens innerhalb der AG Kinder und Jugendliche (Pädiater vs. Erwachsenenmediziner und Patientinnenvertreter) und der Fachgesellschaften (Gesellschaft für Kinder- und Jugendrheumatologie vs. Mehrheit der bei der Leitlinienkonferenz beteiligten Fachgesellschaften) bezüglich der zu verwendenden Diagnosecodes für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen. Es besteht Konsens, dass die Codes F45.40, F45.41 und M79.7 unzureichend validiert sind. Es besteht Dissens, welche diagnostischen Codes eine Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen am besten verhindern bzw. Grundlage für eine Schulung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen und ihren Eltern sein können.

Folgende Argumente wurden gegen die Verwendung der Diagnose „FMS“ bei Kindern und Jugendlichen vorgebracht.

  1. 1.

    Das JFMS ist keine definierte Krankheit, sondern eine Umschreibung, welche die pädiatrischen Autoren nicht für notwendig halten, weil andere besser passende Krankheitsbeschreibungen (siehe nächster klinischer Konsenspunkt) vorliegen.

  2. 2.

    Die Diagnosekriterien des FMS sind mit erheblichen methodischen Problemen und solchen der Operationalisierbarkeit verbunden (siehe Kommentar des vorhergehenden klinischen Konsenspunkts).

  3. 3.

    Die pädiatrischen Autoren der Leitlinie verbindet die Auffassung, dass sich pädiatrische Patienten mit CWP und zusätzlichen Problemen nicht grundsätzlich von solchen Patienten unterscheiden, deren primärer Schmerzort der Kopf, der Bauch oder andere Körperteile sind. Alle diese Patienten leiden an einer chronischen Schmerzstörung, die angemessen multiprofessionell behandelt werden kann.

  4. 4.

    Das Krankheitslabel JFMS birgt in der Pädiatrie die Gefahr der medikamentösen Übertherapie sowie des Eindrucks einer schlechten Prognose, die für Kinder und Jugendliche mit chronischem Schmerzsyndrom so nicht besteht [13, 14, 28].

  5. 5.

    Kinder mit chronischen Schmerzstörungen sollten umfangreich biopsychosozial evaluiert werden. Die Diagnose FMS birgt das Risiko, dass Symptome als „im Rahmen des FMS bekannt“ klassifiziert werden und so als „red flags“ eines psychosozialen Stressors nicht genügend Beachtung finden. Beispielsweise könnten „Unterleibsschmerzen“ als „im Rahmen des FMS bekannt“ interpretiert und nicht als Zeichen eines möglichen sexuellen Missbrauchs gedeutet werden.

  6. 6.

    Die im Rahmen des FMS fokussierten Symptome von Schlafstörungen treten bei chronisch schmerzkranken Kindern/Jugendlichen unabhängig vom Schmerzort auf und sind häufig durch einen zerrissenen Tag-Nacht-Rhythmus mit nächtlichen PC-Aktivitäten und kompensatorischen Schlafphasen am Tag gekennzeichnet [16, 20].

  7. 7.

    Auch kognitive Defizite und Fatigue treten unabhängig vom Schmerzort bei Kindern mit chronischen Schmerzkrankheiten häufig auf. Oft sind sie vergesellschaftet mit Schulabsentismus und einer reduzierten Stresstoleranz bzw. Konzentrationsspanne. Ein zur Schmerzstörung komorbides AD(H)S, eine Intelligenzminderung oder eine Lese-Rechtschreib-Schwäche sollten rechtzeitig erkannt werden [6].

Klinischer Konsenspunkt

Für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP), die an weiteren Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen, nichterholsamem Schlaf, druckschmerzhaften Muskeln, Fatigue, Colon irritabile, Angst, Depressivität sowie einer starken schmerzbedingten Einschränkung des täglichen Lebens leiden, wird empfohlen,

  • die Diagnose „Chronische Schmerzstörung in mehreren Körperregionen mit somatischen und psychischen Faktoren“ (F45.41) zu verwenden, wenn die Schmerzen einen Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben.

  • Treten die Schmerzen und Begleitsymptome in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf, die wegen ihrer Schwere als entscheidender ursächlicher Einfluss beurteilt werden und zusätzliche Symptome wie Schlafstörungen aufweisen (s. oben), wird empfohlen, die Diagnose „Anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ (F45.40) zu geben.

  • Bei den Patienten, bei denen keine ausreichenden psychologischen oder physiologischen Faktoren für die Diagnosen F45.41 („Chronische Schmerzstörung in mehreren Körperregionen mit somatischen und psychischen Faktoren“) oder F45.40 („Anhaltende somatoforme Schmerzstörung“) vorliegen, ist eine beschreibende Diagnose wie z. B. „FMS“ (M79.7) zu vergeben.

Sondervotum der Pädiater der AG Kinder und Jugendliche (N. Draheim, F. Ebinger, E. Schnöbel-Müller) und der Gesellschaft für Kinder- und Jugendrheumatologie

Der diagnostische Code „Fibromyalgiesyndrom“ (ICD-10 M79.7) soll bei Kindern und Jugendlichen nicht verwendet werden.

Kommentar.

Folgende Argumente wurden gegen den expliziten Ausschluss einer Verwendung der Diagnose FMS bei Kindern und Jugendlichen vorgebracht:

  1. 1.

    Es liegen keine Daten vor, ob die von den pädiatrischen Kollegen vorgeschlagene Diagnose bzw. „chronische Schmerzstörung mit somatischen Faktoren“ bzw. „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ von den Betroffenen und ihren Eltern besser verstanden bzw. weniger stigmatisierend erlebt werden als die Diagnose „juveniles Fibromyalgiesyndrom“.

  2. 2.

    Es gibt keine Studie, welche die Reliabilität und Validität der diagnostischen Codes F45.40 und F45.41 bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen belegt. Es liegen keine prospektiven Beobachtungsstudien und nur zwei Fall-Kontroll-Studien [29, 30] zur Bedeutung somatischer Krankheitsfaktoren bei Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem JFMS vor. Die Verwendung des diagnostischen Codes F45.41 bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen ist daher empirisch nicht fundiert.

  3. 3.

    Anrufe von betroffenen Jugendlichen und ihren Eltern bei der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung (B. Wolf, persönliche Mitteilung) belegen, dass das diagnostische Etikett „JFMS“ verwendet wird. Es ist eine Aufgabe dieser Leitlinie, Ärzten Empfehlungen zu einer angemessenen Verwendung der Diagnose „FMS“ bei betroffenen Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern zu geben. Das gilt vor allem für die Betonung einer besseren Prognose (Möglichkeit der kompletten Remission) und den Verzicht auf zentral wirksame Schmerzmittel bei Kindern und Jugendlichen. Der Beitrag „Allgemeine Behandlungsgrundsätze, Versorgungskoordination und Patientenschulung beim Fibromyalgiesyndrom“ dieser Leitlinie enthält ausführliche Hinweise und Praxismaterialien zu einer angemessenen Vermittlung der Diagnose FMS bei Erwachsenen [21], welche die in diesem Beitrag für die Edukation von betroffenen Kindern und Jugendlichen geforderte biopsychosoziale Sichtweise berücksichtigt.

  4. 4.

    Die Leitlinie gibt negative Empfehlungen zur Therapie mit zentral wirksamen Substanzen bei Kindern und Jugendlichen, die sich auf Studien mit dem diagnostischen Code „JFMS“ stützen.

  5. 5.

    Es ist logisch nicht konsistent, wenn Pädiater an einer Leitlinie zum „FMS“ teilnehmen und gleichzeitig den diagnostischen Code ablehnen.

Im Folgenden wird der Begriff (sogenanntes) JFMS verwendet, um den Dissens zur Verwendung des diagnostischen Etiketts (juveniles) FMS anzuzeigen.

Klinische Diagnose

Klinischer Konsenspunkt

Bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP) wird eine multidimensionale Diagnostik der Schmerzen und weiterer körperlicher und seelischer Symptome empfohlen. Hierbei sollen validierte Instrumente und Untersuchungsmethoden eingesetzt werden. Starker Konsens

Kommentar.

Da bislang keine pathognomonischen, diagnosesichernden Einzelbefunde für das (sogenannte) JFMS zur Verfügung stehen, beruht dessen Diagnosestellung auf dem Vorliegen einer charakteristischen Symptomen-/Befundkonstellation nach Ausschluss aller anderen Erkrankungen, die eine solche Symptomen-/Befundkonstellation ebenfalls aufweisen können. Insofern kommt der Differenzialdiagnostik eine besondere Bedeutung zu. Sie richtet sich nach dem präsentierten klinischen Bild. Differenzialdiagnostisch sind an somatischen Krankheiten zu erwägen: (systemisch) entzündliche Erkrankungen wie die juvenile idiopathische Arthritis, maligne Systemerkrankungen wie Leukämien und endokrinologisch-metabolische Erkrankungen. Differenzialdiagnostisch kommen jedoch nicht nur somatische Erkrankungen (biologische Ebene), sondern viel häufiger seelische Störungen in Betracht, wie Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie dissoziative Störungen mit und ohne selbstverletzendes Verhalten [38]. Zudem besteht die Möglichkeit der psychischen Erkrankung der Eltern, wie beispielsweise im Rahmen eines Münchhausen-by-proxy-Syndroms [5].

Die Empfehlungen zum diagnostischen Vorgehen sind unverändert zur vorhergehenden Version dieser Leitlinie:

  • Die Differenzialdiagnostik bei Kindern mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP) erfolgt durch Anamnese unter Einschluss eines für Kinder und Jugendliche validierten Schmerzfragebogens, z. B. des Deutschen Kinderschmerzfragebogens [27].

  • Laborchemische Basisdiagnostik wie beispielsweise: Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG), Blutbild mit Differenzialblutbild, C‑reaktives Protein (CRP), Kreatinkinase (CK). Eine weitergehende Diagnostik (wie antinukleäre Antikörper [ANA], Rheumafaktor, Bildgebung, Elektroenzephalographie (EEG), Elektrokardiogramm [EKG], Genetik, Biopsie) ist bei klinischem Verdacht auf andere Erkrankungen als Ursache der Schmerzen durchzuführen.

  • Psychologische Standarddiagnostik wie beispielsweise Depressionsinventar für Kinder- und Jugendliche (DIKJ); Angstfragebogen für Schüler (AFS); IQ-Testung, deutsche Version des Paediatric Pain Coping Inventory [10, 15]; Lebensqualitätsfragebogen [22].

  • Ggf. Polysomnographie

Praxiswerkzeug.

Leitfaden zur Primärdiagnostik muskuloskeletaler Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen der Charité – Universitätsmedizin Berlin

http://www.muskel-knochenschmerzen.de/

Epidemiologie

Evidenzbasierte Feststellung

Multilokuläre muskuloskeletale Schmerzen in Kombination mit anderen körperlichen oder psychischen Symptomen wie Kopfschmerzen vom Spannungstyp, Müdigkeit, Schlafstörungen oder Traurigkeit weisen in internationalen Studien weniger als 1 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 8 bis 15 Jahren auf. Es überwiegt das weibliche Geschlecht. Starker Konsens

Kommentar.

Wegen der fehlenden Validität der Diagnosekriterien eines (sogenannten) JFMS müssen die epidemiologischen Studien zur Prävalenzmessung mit Vorsicht interpretiert werden [38].

In einer deutschen repräsentativen Bevölkerungsstichprobe des Jahres 2011 waren 302 Personen in der Altersgruppe zwischen 14 und 24 Jahren. Keine Person erfüllte die Forschungskriterien eines FMS [36]. Daten zur administrativen (Krankenkassendaten) des JFMS liegen aus Deutschland nicht vor.

In einer Querschnittstudie erfüllten 5,5 % der 1109 Kinder (Durchschnittsalter 14,8 ± 2,0 Jahre) die Yunus-Kriterien eines JFMS. Es wurde eine unstandardisierte Daumenpalpation anstatt eines Druckalgesimeters eingesetzt. 21 % der Betroffenen mit (sogenanntem) JFMS hatten eine psychiatrische Komorbidität (0 % in der Kontrollgruppe) und 5 % litten an anderen somatischen Krankheiten wie der juvenilen idiopathischen Arthritis [7].

Verlauf

Evidenzbasierte Feststellung

Bei den meisten Patienten mit CWP oder (sogenanntem) JFMS ist der Verlauf wechselhaft mit beschwerdearmen oder -freien Intervallen oder mit Phasen stärkerer Beschwerden. EL2b, starker Konsens

Kommentar.

Die Bewertung der Studien zum Verlauf des (sogenannten) JFMS wird dadurch erschwert, dass die Diagnosestellung wegen der oben ausführlich dargestellten methodischen Probleme nicht valide ist. Zudem wird in den meisten Studien die Studienpopulation nicht mithilfe von standardisierten Instrumenten beschrieben. Es wurden also Kinder und Jugendliche nachverfolgt, die eine nichtstandardisiert diagnostizierte Schmerzkrankheit hatten, die nichtstandardisiert untersucht worden waren und von den Autoren als (sogenanntes) JFMS klassifiziert wurden [38].

Verschiedene klinikbasierte Studien, die vor 2012 durchgeführt wurden, beschrieben eine Persistenz der Symptome bei 40–60 % der Patienten im Langzeitverlauf über 3 Monate bis 7,6 Jahre (teilweise bis ins junge Erwachsenenalter; [38]). In einer aktuellen longitudinalen Studie wurden 94 Patientinnen mit JFMS nach den Yunus-Kriterien nach einer durchschnittlichen Verlaufszeit von 6 Jahren nachuntersucht. 86 % der Patienten berichteten fibromyalgieforme Beschwerden im Erwachsenenalter und 51 % erfüllten die ACR-1990-Klassifikationskriterien [18].

Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen in bevölkerungsbasierten Studien zeigten einen günstigeren Verlauf [18].

Ätiologie: somatische Beschwerden (Kopf- und Bauchschmerzen), Verhaltensauffälligkeiten und vermehrte sportliche Aktivität

Evidenzbasierte Feststellung

Somatische Beschwerden (Kopf- und Bauchschmerzen), Verhaltensauffälligkeiten und vermehrte sportliche Aktivität treten im Vorfeld eines CWP häufig auf. EL2b, starker Konsens

Kommentar.

Im Vergleich zu Version 2.0 der Leitlinie [38] wurden keine neuen Kohortenstudien zu diesen Themen gefunden.

Ätiologie: psychosoziale Auffälligkeiten

Evidenzbasierte Feststellung

Die Studien zu psychosozialen Auffälligkeiten bei Patienten mit sogenanntem JFMS zeigen widersprüchliche Befunde. EL3b, starker Konsens

Kommentar.

Im Vergleich zu Version 2.0 der Leitlinie [38] wurden keine neuen Kohortenstudien zu diesen Themen gefunden.

Ätiologie: familiäre Häufung

Evidenzbasierte Feststellung

Das (sogenannte) JFMS und das adulte FMS treten zusammen familiär gehäuft auf. EL2b, starker Konsens

Kommentar.

Im Vergleich zu Version 2.0 der Leitlinie [38] wurden keine neuen Kohortenstudien zu diesen Themen gefunden.

Elterliche Bedingungsfaktoren

Evidenzbasierte Feststellung

Eltern von Patienten mit sogenanntem JFMS zeigen gehäuft eine verstärkte Ängstlichkeit, eine positive Anamnese für chronische Schmerzen, depressive Symptome sowie chronische Erkrankungen. EL3b, starker Konsens

Kommentar.

Im Vergleich zu Version 2.0 der Leitlinie [38] wurden keine neuen Kohortenstudien zu diesen Themen gefunden.

Pathophysiologie

Evidenzbasierte Feststellung

Feststellungen zur Pathophysiologie des (sogenannten) FMS bei Kindern und Jugendlichen sind aufgrund fehlender Studien nicht möglich. Starker Konsens

Kommentar.

Im Vergleich zu Version 2.0 der Leitlinie [38] wurden keine neuen Kohortenstudien zu diesen Themen gefunden.

Schulung von Betroffenen und Angehörigen

Klinischer Konsenspunkt

Zum Verständnis chronischer Schmerzen im Kindes- und Jugendalter ist eine biopsychosoziale Sichtweise sinnvoll. Starker Konsens

Kommentar.

Eine biopsychosoziale Sichtweise Basis der Edukation von Patienten, Eltern und sozialem Umfeld sein sowie die Auswahl und Kombination therapeutischer Angebote leiten. Der Hauptschmerzort (Kopf, Bauch, Muskel und Gelenke etc.) und Begleitsymptome (Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen etc.) sind weniger wichtig als die psychischen Komorbiditäten (z. B. Angst und Depressivität), das soziale Umfeld (vor allem Eltern, Peer-Gruppe, Schule), Vorerfahrungen bezüglich Selbstwirksamkeit, Coping-Verhalten sowie die Therapiemotivation [13].

Versorgungskoordination

Evidenzbasierte Empfehlung

Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP) sollten einem Facharzt mit fundierten Kenntnissen des kindlichen Schmerzes ambulant vorgestellt werden. Bei langen Schulfehlzeiten, starken Einschränkungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens, zunehmender Inaktivität oder sozialer Isolation sollte eine stationäre Behandlung in einer Einrichtung, die ein spezielles Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen anbietet, durchgeführt werden. EL4, starker Konsens

Kommentar.

Zur Wirksamkeit einer stationären multimodalen Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen beeinträchtigenden Schmerzen wird auf den Kommentar der vorherigen Version dieser Leitlinie verwiesen. Eine Folgestudie mit über 1300 pädiatrischen Schmerzpatienten konnte zeigen, dass Patienten, die eine Empfehlung zur stationären Schmerztherapie nicht annahmen und sich rein ambulant behandeln ließen, ein signifikant schlechteres Therapieergebnis in den Domänen „Schulfehlzeiten“ und „schmerzbedingte Beeinträchtigung“ als die stationär behandelten Patienten hatten [11, 12].

Kinder und Jugendliche mit einem (sogenannten) JFMS, die die oben beschriebenen starken Beeinträchtigungen (noch) nicht aufweisen, sollten zunächst ambulant behandelt werden. Wohnortnahe ambulante oder teilstationäre Therapiemöglichkeiten mit einem umfassenden, multimodalen Programm werden für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen des Bewegungsapparats in Deutschland kaum angeboten. Daher muss für die weniger stark beeinträchtigten Kinder auf Basis der in Deutschland bestehenden Versorgungsmöglichkeiten ein individuelles multimodales Therapieprogramm geplant werden (z. B. niedergelassener Kinder- und Jugendpsychotherapeut, krankengymnastische Praxis, regelmäßige kinderärztliche Konsultationen etc.). Für die multimodale stationäre Behandlung gibt es nur wenige Zentren, weshalb oft wohnortfern behandelt werden muss, wobei es auch in Deutschland zu Zugangsbarrieren kommt, die besonders sozial schwache Familien betreffen [24, 25].

Allgemeine Behandlungsgrundsätze: Therapieziele

Klinischer Konsenspunkt

Ziele der Therapie sollten Schmerzreduktion, Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit, Reduktion von Schulfehlzeiten, Auflösen sozialer Isolation, Stärkung des Selbstbewusstseins, Mobilisierung eigener Ressourcen sowie Entwicklung von Strategien zur Schmerzbewältigung sein. Wichtig sind außerdem die Einbeziehung der Familie und die Erprobung der Therapieerfolge im Alltag sowie die Therapie komorbider seelischer Störungen. Starker Konsens

Kommentar.

Die allgemeinen Behandlungsgrundsätze sind ausführlich in prospektiven Outcome-Studien sowie einem Therapiemanual formuliert worden [12, 13].

Patientenschulung

Klinischer Konsenspunkt

Patienten- und Elternschulungen sowie Informations- und Unterstützungsgruppen für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern werden empfohlen. Starker Konsens

Kommentar.

Edukation ist fester Bestandteil aller multimodalen Schmerztherapieprogramme im Kindes- und Jugendalter. Als isolierte Maßnahme bei Kindern und Jugendlichen mit einer leichten Ausprägung eines (sogenannten) JFMS beeinflusst die Edukation die Krankheit signifikant, aber nicht klinisch relevant. In einer multizentrischen RCT der Arbeitsgruppe um Kashikar-Zuck wurden 114 Jugendliche mit (sogenanntem) JFMS unter „stabiler Medikation“ (im Mittel 1,7 Medikamente) in zwei Gruppen randomisiert. Eine Gruppe erhielt kognitive Verhaltenstherapie (CBT), die andere Edukation. Die Diagnose JFMS wurde nach den Yunus-Kriterien gestellt, weiterhin mussten die Patienten einen Wert von mindestens „7“ im Functional Disability Inventory (FDI; Wertebereich 0–60) haben. Im Mittel lag der Ausgangswert des FDI bei 20 in der Studie. In der Edukationsgruppe zeigte sich nach 6 Monaten eine geringe, aber signifikante Reduktion des FDI, der Schmerzstärke und der depressiven Symptomatik. Der FDI verringerte sich in der Edukationsgruppe von im Mittel 19,2 auf 17,0 (Wertebereich 0–60), der mittlere Schmerzwert von 5,8 auf 5,3 (Wertebereich 0–10; [17]).

Psychotherapie

Evidenzbasierte Empfehlung

Kognitive Verhaltenstherapien sollen nur bei leicht beeinträchtigten Patienten als isolierte Maßnahme durchgeführt werden. EL2a (Abwertung um eine Stufe), Qualität der Evidenz moderat, starke Empfehlung

Kommentar.

In einem Update eines Cochrane-Reviews zu kognitiven Verhaltenstherapien beim Erwachsenen mit FMS wurden 2 RCT mit 139 Kindern und Jugendlichen mit (sogenanntem) JFMS nach den Yunus-Kriterien eingeschlossen. Der Grad der Evidenz wurde wegen der unzureichenden Qualität der Evidenz um eine Stufe abgewertet. Das Verzerrungsrisiko beider Studien war gering. Traditionelle kognitive Verhaltenstherapie war den Kontrollen am Therapieende in der Reduktion der durchschnittlichen Schmerzintensität mit einer standardisierten Mittelwertdifferenz (SMD) von −0,41 (−0,74 bis −0,07) überlegen, nicht jedoch bei der 6‑monatigen Kontrolle (1 Studie mit 112 Patienten). Die Effekte auf Schlaf, Müdigkeit und Beeinträchtigungserleben waren am Therapieende und bei der Kontrolluntersuchung nicht signifikant [4]. In die beiden Studien wurden Patientinnen mit einer geringen Beeinträchtigung eingeschlossen. In den beiden RCT lag der Durchschnittswert des FDI bei 20 bzw. 21 bei einem Wertebereich von 0–60. Ein FDI ist definitionsgemäß eine leichte Beeinträchtigung. Der FDI verringerte sich in einer Studie in der 6‑Monate-Nachbeobachtung von 21,4 auf 13,4. Auch der Schmerzwert verringerte sich von 5,7 auf 4,9 (Wertebereich 0–10) sowie der Depressionswert von 13,3 auf 8,7. Die subjektiv empfundene Schlafqualität veränderte sich nicht. Bei mehr als 10 % der Patientinnen wurde während der Studienzeit die Medikation geändert, wobei n = 9 Patientinnen neu Antidepressiva erhielten [17].

Klinischer Konsenspunkt

Es wird empfohlen, dass auch andere wissenschaftlich anerkannte Psychotherapieverfahren außer der kognitiven Verhaltenstherapie für Kinder und Jugendliche mit (sogenanntem) JFMS im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie eingesetzt werden. Starker Konsens

Kommentar.

Die Autoren sind der Meinung, dass nach Expertenmeinung und Studienlage zur multimodalen Schmerztherapie wissenschaftlich anerkannte Psychotherapieverfahren (kognitive Verhaltenstherapie, Traumatherapie, systemische Familientherapie, analytische Therapie) bei Kindern mit (sogenanntem) JFMS ausschließlich im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie oder zur Therapie einer psychischen Komorbidität zum Einsatz kommen sollten. Die Inhalte sollten individuell auf die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen bezogen sein. Eine ambulante Psychotherapie am Heimatort sollte von Fall zu Fall erwogen werden.

Physiotherapie, Ergotherapie und physikalische Therapie

Evidenzbasierte Empfehlung

Physiotherapeutische Verfahren. Ergotherapie und physikalische Therapie werden im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie empfohlen. EL3b, Qualität der Evidenz gering, starker Konsens

Kommentar.

In einer Beobachtungsstudie wurden 64 Jugendliche mit (sogenanntem) JFMS (American-College-of-Rheumatology-2010-Kriterien) über durchschnittlich 23 Tage mit 5–6 h physikalischer Therapie/Beschäftigungstherapie täglich, psychologischer Einzeltherapie (CBT), 3–4 h psychosozialer Unterstützung pro Woche sowie mindestens wöchentlichen familientherapeutischen Sitzungen behandelt. Die Medikation der Patienten wurde bei Therapiebeginn beendet. Bei einer Nachuntersuchung 12 Monate nach Therapieende hatte sich der durchschnittliche Schmerzwert von 66 auf 25 (Wertebereich 0–100) reduziert, alle Tests der Funktionalität hatten sich signifikant verbessert, und der FDI verringerte sich von im Durchschnitt 26 (Spanne 20–33) auf 5 (Spanne 2–18; Wertebereich 0–60). 33 % der Betroffenen gaben an, keine Schmerzen mehr zu haben. Kritisch muss angemerkt werden, dass es sich um ein „convenient sample“ gehandelt hat, aus dem von vornherein bestimmte problematische Patienten ausgeschlossen wurden. Die Patienten wurden von 2008 bis 2011 rekrutiert, sollen aber alle die Kriterien erfüllt haben, die 2010 publiziert wurden. Ein Vergleichskollektiv lag nicht vor [28].

Medikamentöse Therapie

Klinischer Konsenspunkt

Es wird empfohlen, keine medikamentöse Therapie bei Kindern mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen oder (sogenanntem) JFMS durchzuführen. Eine leitlinienkonforme Behandlung von Komorbiditäten (z. B. Depression im Jugendalter) wird empfohlen. Starker Konsens

Kommentar.

Eine RCT mit Enriched-enrollment-randomized-withdrawal(EERW)-Design mit Milnacipran bei Jugendlichen mit (sogenanntem) JFMS (Yunus- bzw. ACR-1990-Kriterien) wurde vorzeitig wegen zu niedriger Rekrutierungsrate abgebrochen. 116 Patienten wurden in die Open-label-Phase und 57 in die Open-label-extension-Phase aufgenommen. Während beider Phasen wurden Verbesserungen in Schmerzerleben, allgemeinem Empfinden und gesundheitsbezogener Lebensqualität beschrieben [2].

In einer 15-wöchigen RCT wurden 107 Jugendliche mit (sogenanntem) JFMS (nach den Yunus-Kriterien) entweder mit Pregabalin (flexible Dosis zwischen 75 und 450 mg/Tag) oder Placebo behandelt. Bezüglich des primären Endpunkts (durchschnittliche Schmerzintensität) fand sich am Therapieende kein signifikanter Unterschied zwischen Pregabalin und Placebo (Differenz −0,66 [−1,51; 0,18], P = 0,12). Es fand sich kein signifikanter Unterschied in den Abbruchraten wegen Nebenwirkungen (7,4 % vs. 7,5 %; [1]).

Eine geplante RCT beim JFMS mit Duloxetin wurde wegen geringer Rekrutierungsraten abgebrochen (Firma Eli Lilly, persönliche Mitteilung).

Trizyklische Antidepressiva sind in Deutschland für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen nicht zugelassen. Auch für den Einsatz von „selective serotonin reuptake inhibitors“ (SSRI) liegt in Deutschland bisher keine Zulassung für Kinder und Jugendliche vor (Off-label-Therapie). Die klinische Erfahrung zeigt, dass die medikamentöse Therapie zur Behandlung von Komorbiditäten Teil des individuellen multimodalen Therapiekonzepts sein kann. Eine Fokussierung auf Medikamente ist unbedingt zu vermeiden. Die potenziellen Risiken der medikamentösen Therapie, der fehlende Zulassungsstatus der meisten dort eingesetzten Medikamente sowie der fehlende Nachweis eines individuellen Nutzens für den Patienten rechtfertigen nach Meinung der Autoren eine Empfehlung gegen eine medikamentöse Therapie. Die FDA hat eine Black Box Warning zum Gebrauch von SSRI bei Kindern und Jugendlichen herausgegeben [8].

Multimodale Therapie

Klinischer Konsenspunkt

Bei Patienten mit (sogenanntem) JFMS wird eine multimodale Schmerztherapie empfohlen. Bei leichterer Beeinträchtigung wird zunächst eine ambulante Durchführung empfohlen. Bei schwerer Beeinträchtigung oder vorausgegangenen frustranen ambulanten Therapieversuchen wird empfohlen, diese stationär durchzuführen. Starker Konsens

Kommentar.

Als multimodale Schmerztherapie wird in dieser Leitlinie, wie von der AG Multimodale Therapie beschrieben, die Behandlung unter Kombination von mindestens einem aktivierenden Verfahren der Physiotherapie mit mindestens einem psychotherapeutischen Verfahren verstanden [26]. Bei der ambulanten multimodalen Schmerztherapie übernimmt der Kinderrheumatologe oder Kinderschmerztherapeut koordinierende und therapiesteuernde Aufgaben. Maßgaben der stationären multimodalen Kinderschmerztherapie sind in Deutschland in der OPS-Ziffer 8-918.x beschrieben.

Es liegen keine randomisierten, kontrollierten Studien zur Wirksamkeit multimodaler Therapien beim (sogenannten) JFMS vor. Die Wirksamkeit einer multimodalen intensiven stationären Schmerztherapie ist im Rahmen einer RCT sowie mehrerer kontrollierter Studien für gemischte Stichproben von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen primären Schmerzorten belegt [12, 13]. Subanalysen der RCT zeigen, dass Kinder mit muskuloskeletalen Schmerzen das gleiche Therapieoutcome haben wie Kinder und Jugendliche mit anderen Hauptschmerzorten. Im Langzeitverlauf nach 1 und 4 Jahren zeigten mehr als 60 % der Patienten eine signifikante und klinisch relevante Verbesserung des kombinierten primären Endpunkts, der sich aus Schmerzstärke, Schulfehlzeiten sowie schmerzbedingter Beeinträchtigung zusammengesetzt hat. Auch alle Ausprägungen der Einzelmaße (Schmerzstärke, funktionelle Beeinträchtigung, Schulfehlzeiten, Depressivität, Ängstlichkeit, finanzielle Belastung durch die Schmerzerkrankung) reduzierten sich signifikant.

Kontraindikationen für eine multimodale stationäre Schmerztherapie sind schwere psychiatrische Erkrankungen wie das Vorliegen einer Psychose oder einer Anorexia nervosa. Suizidgedanken sind bei Jugendlichen mit chronischen Schmerzen oder Depression – einer häufigen Komorbidität bei Kindern mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen – beschrieben. Daher sollte die Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem JFMS immer im multidisziplinären Team unter Einbeziehung von Kinder- und Jugendpsychologen bzw. Kinder- und Jugendpsychiatern erfolgen [38].

Komplementäre und alternative Therapieverfahren

Evidenzbasierte Feststellung

Aufgrund fehlender Studien ist weder eine positive noch eine negative Empfehlung für komplementäre/alternative Verfahren möglich. Starker Konsens

Kommentar.

Den Autoren sind keine Studien zu komplementären und alternativen Therapieverfahren wie Akupunktur, Homöopathie, meditativer Bewegungstherapie/kampfkunstgestützter Therapie, tiergestützter Therapie oder funktionaler Integration nach Feldenkrais bei Kindern und Jugendlichen mit (sogenanntem) JFMS bekannt.

Diskussion

Der Dissens zwischen Pädiatern einerseits und Erwachsenenmedizinern und Patientinnenvertretern andererseits um die diagnostischen Codes für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen ist in den jeweiligen Kommentaren dargestellt. Der starke Konsens zu allen weiteren Feststellungen, klinischen Konsenspunkten und Empfehlungen ist hervorzuheben.

Neu aufgenommen in den Leitlinientext wurden die Diskussion um die Verwendung der vorläufigen diagnostischen ACR-2010-Kriterien des FMS [34] und die klinischen Konsenspunkte zur Edukation (biopsychosoziale Sichtweise) und Physiotherapie/Ergotherapie/physikalischen Verfahren im Rahmen einer multimodalen Therapie. Eine evidenzbasierte Empfehlung zur kognitiven Verhaltenstherapie wurde neu aufgenommen, ebenso eine evidenzbasierte negative Empfehlung zur Behandlung des (sogenannten) JFMS mit zentral wirksamen Schmerzmodulatoren.

Redaktionell wurde die Formulierung für evidenzbasierte positive Empfehlungen der Version 2.0 der Leitlinie von „soll oder sollte (durchgeführt)“ in „soll oder sollte empfohlen werden“ geändert, um den Aspekt der gemeinsamen Entscheidungsfindung von Arzt und Betroffenen zu betonen. Klinische Konsenspunkte werden in der neuen Version grundsätzlich mit der Formulierung „Es wird empfohlen“ eingeleitet, um den Konsenscharakter der Empfehlung einheitlich zu verdeutlichen. Weiterhin wurde „Patient“ durch „Patientin“ ersetzt, weil die Mehrzahl der Betroffenen in klinischen Einrichtungen Frauen sind.

Im Sinne der Transitionsmedizin (geplanter Übergang von Kindern oder jungen Erwachsenen mit chronischen Erkrankungen von einer kindzentrierten hin zu einer erwachsenenorientierten Gesundheitsversorgung) wäre es wünschenswert, wenn ein Abgleich der Schulungsmaterialien von Kinder- und Jugendmedizin, Erwachsenenmedizin und Patientinnenselbsthilfeorganisationen für Betroffene mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen erfolgen würde. Die Reliabilität, Validität und klinische Nützlichkeit (Verständlichkeit der Diagnosen für Betroffene und Angehörige; Vermeidung von Stigmatisierung) der in der Arbeitsgruppe und der Konsensuskonferenz kontrovers diskutierten diagnostischen Codes (F45.40, F45.41, M79.70) für Kinder und Jugendliche in Deutschland sollte von in die Diskussion nicht involvierten Forschergruppen untersucht werden.

Vergleichende Untersuchungen (Symptomausprägung und -konstanz, Beeinträchtigungen im Alltag) von Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen mit fibromyalgieformen Beschwerden sind notwendig, um den klinischen Eindruck der Pädiater der Arbeitsgruppe zu überprüfen, dass es sich um zwei unterschiedliche Krankheitsbilder handelt. Nach Meinung einiger US-amerikanischer Autoren bestehen graduelle Unterschiede in Form von häufigerer Gelenkhypermobilität und weniger ausgeprägter Psychopathologie von Kindern/Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen [19].

Fazit für die Praxis

Es gibt keinen Konsensus in der Leitliniengruppe, ob das diagnostische Etikett „juveniles Fibromyalgiesyndrom“ in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen gebraucht oder vermieden werden soll. Die an der Leitlinie beteiligten Pädiater lehnen das diagnostische Etikett „juveniles Fibromyalgiesyndrom“ ab. Es besteht Konsens in der Leitliniengruppe, dass Antidepressiva und Antikonvulsiva nicht zur Behandlung von Schmerzen beim (sogenannten) juvenilen Fibromyalgiesyndrom eingesetzt werden sollen. Dieser Konsens wird durch je eine randomisierte, kontrollierte Studie, in der Milnacipran bzw. Pregabalin Placebo in den Hauptendpunkten nicht überlegen war, gestützt. Multimodale Therapien (Kombination von aerobem Training, Ergotherapie, physikalischer Therapie und Psychotherapie) werden empfohlen, bei leichteren Verlaufsformen im ambulanten, bei schwereren Verlaufsformen im stationären Setting (klinischer Konsenspunkt).