Epidemiologische Studien zeigen eine hohe Prävalenz chronischer Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen [14, 32, 58, 68]. Die Prävalenzraten betragen 25–46%. Ein Anstieg der Prävalenz mit dem Lebensalter und eine höhere Prävalenz bei Mädchen werden durchgehend berichtet [14, 32, 58, 68]. Die am häufigsten genannten Schmerzorte sind – in absteigender Reihenfolge – Kopf, Bauch und Bewegungsapparat, wobei ein Teil der Kinder Schmerzen an mehreren Lokalisationen angibt [14, 32, 58, 67]. Etwa 3% aller Kinder und Jugendlichen entwickeln schwer beeinträchtigende chronische Schmerzen mit negativen Auswirkungen auf den Schulbesuch, Freizeitaktivitäten, Kontakt zu Gleichaltrigen und zur Familie sowie mit emotionalen Beeinträchtigungen wie Angst und Depressivität [32, 55]. Ein Teil dieser Kinder leidet an zusätzlichen Symptomen wie Schlafstörungen [45, 57] oder Fatigue [19]. Bei Kindern und Jugendlichen, die an generalisierten Schmerzen des Bewegungsapparats, zusätzlichen Symptomen und einer druckschmerzhaften Muskulatur leiden, wird auch die Diagnose „juveniles Fibromyalgiesyndrom“ (JFMS) verwendet. Die Definition des JFMS weist jedoch erhebliche Probleme in Bezug auf die Operationalisierung auf. Die Autoren der Überarbeitung dieser Leitlinie haben daher durchgehend den Begriff „sog. JFMS“ gewählt.

Für die geplante Überarbeitung der Leitlinie stellte die Steuerungsgruppe der Arbeitsgruppe folgende Fragen:

  1. 1.

    Was sind die Kernsymptome des sog. JFMS?

  2. 2.

    Welche Unterschiede/Überlappungen gibt es zwischen dem sog. JFMS und der somatoformen Schmerzstörung?

  3. 3.

    Nach welchen Kriterien soll das sog. JFMS diagnostiziert werden?

  4. 4.

    Welche Ausschlussdiagnostik ist notwendig?

  5. 5.

    Wann ist eine fachpsychotherapeutische Diagnostik sinnvoll?

  6. 6.

    Gibt es unterschiedliche Verlaufsformen/Schweregrade des sog. JFMS?

  7. 7.

    Welche Informationen über Beschwerdebild, Therapieziele und Behandlungsmöglichkeiten sollen bei der Erstdiagnose gegeben werden?

  8. 8.

    Ist Patientenschulung sinnvoll?

  9. 9.

    Welches Fachgebiet soll die Behandlung des sog. JFMS koordinieren?

  10. 10.

    Ist ein abgestufter Behandlungsansatz sinnvoll?

  11. 11.

    Welche physikalischen und physiotherapeutischen Maßnahmen, welche psychotherapeutischen Verfahren, welche Medikamente und welche komplementären und alternativen Verfahren sind beim sog. JFMS sinnvoll?

  12. 12.

    Von welchen physikalischen und physiotherapeutischen Maßnahmen, welchen psychotherapeutischen Verfahren, welchen Medikamenten und welchen komplementären und alternativen Verfahren ist beim sog. JFMS abzuraten?

  13. 13.

    Wann ist eine stationäre multimodale Therapie indiziert?

Material und Methoden

Die Methoden der Literatursuche und Erstellung der Empfehlungen sind im Methodenreport dargestellt.

Ergebnisse

Die Literatursuche ergab 265 Treffer. Aufgrund der geringen Zahl an qualitativ hochwertigen Studien erfolgte keine Abstufung von Evidenzgraden in Abhängigkeit von der Quantität bzw. Qualität der Evidenz.

Definition und Klassifikation

Klinischer Konsenspunkt

Für das Kindes- und Jugendalter bestehen derzeit keine einheitlichen und validierten Kriterien zur Definition chronischer Schmerzen in mehreren Körperregionen, die zu einer klinisch bedeutsamen Beeinträchtigung im Alltagsleben führen und nicht im Rahmen einer definierten somatischen Krankheit auftreten. Starker Konsens

Kommentar

Im Kindes- und Jugendalter werden Schmerzen unabhängig von ihrer Lokalisation als chronisch definiert, wenn sie mindestens 3 Monate andauern oder über diesen Zeitraum rezidivierend auftreten [33, 47, 54]. Persistierende oder rezidivierende Schmerzen können in ihrer Intensität, Qualität, Häufigkeit und Vorhersagbarkeit stark fluktuieren und entweder in einzelnen oder mehreren Körperregionen auftreten. Der Fokus auf die zeitliche Dimension des chronischen Schmerzes wurde zuletzt kritisiert. So weisen Studien von Huguet et al. [33] und Hechler et al. [28] darauf hin, dass auch Kinder, die kürzer unter ihren Schmerzen leiden, signifikant in ihrem Alltag beeinträchtigt sind und einer Therapie bedürfen. Der Aspekt der schmerzbezogenen Beeinträchtigung findet erst seit Kurzem explizite Berücksichtigung im Rahmen von epidemiologischen und klinischen Studien [29, 30, 54]. Rief et al. [64] haben mit ihrer neuen diagnostischen Kategorie „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ (ICD-10: F45.41) den Aspekt der Beeinträchtigung als zentrales Kriterium mit aufgenommen. Untersuchungen zur Häufigkeit dieser Diagnose im Kindes- und Jugendalter fehlen bis dato.

Bei chronischen Schmerzen im Kindes- und Jugendalter mit Hauptschmerzort Bewegungsapparat werden nach Sherry [46, 73] „diffuse“ von „lokalisierten idiopathischen muskuloskeletalen Schmerzen“ abgegrenzt. Ein anderer häufig verwendeter Begriff ist der des „chronic widespread (musculoskeletal) pain“ (CWP; [15, 50]). Wichtig ist jedoch für die weitere Betrachtung, dass nicht jeder CWP mit einer schmerzbedingten Einschränkung des täglichen Lebens, mit Distress und einem Empfinden von Krankheit einhergeht, wie dies für das sog. JFMS beschrieben wird.

Traditionell wird das sog. JFMS durch die Yunus-Kriterien wie folgt definiert [83]:

  1. a)

    generalisierte Muskelschmerzen in mindestens 3 Körperregionen;

  2. b)

    Dauer mindestens 3 Monate;

  3. c)

    normale Laboruntersuchungen;

  4. d)

    schmerzhafte Palpation von mindestens 5 von 11 “tender points“;

  5. e)

    mindestens 3 von 10 weiteren Symptomen:

    1. 1.

      chronische Angst oder Anspannung,

    2. 2.

      Schlafstörung,

    3. 3.

      Reizdarmsyndrom,

    4. 4.

      chronische Kopfschmerzen,

    5. 5.

      Fatigue,

    6. 6.

      subjektive Weichteilschwellung,

    7. 7.

      Taubheitsgefühl,

    8. 8.

      Schmerzmodulation durch Bewegung,

    9. 9.

      Schmerzmodulation durch Wetterfaktoren,

    10. 10.

      Schmerzmodulation durch Angst oder Stress.

Andere Publikationen zum JFMS verwendeten die Definition des American College of Rheumatology (ACR) von 1990 für Erwachsene. Die Spezifität und Sensitivität der Yunus-Kriterien als auch der ACR-Kriterien wurden nie für Kinder und Jugendliche überprüft. In einer Studie von Reid [61] erfüllten nur 75% der pädiatrischen Patienten sowohl die Yunus- als auch die ACR-1990-Kriterien. Die Schmerzsymptomatik ist erfahrungsgemäß stark wechselnd, die Yunus-Kriterien werden daher nur unregelmäßig erfüllt.

Sowohl die Yunus- als auch die ACR-Kriterien von 1990 weisen erhebliche Schwierigkeiten bei der Operationalisierung auf:

  1. 1.

    Die sog. „tender points“ sind mit folgenden Problemen behaftet:

    1. a)

      Aus den Arbeiten zur quantitativen sensorischen Testung (QST) bei Kindern und Jugendlichen [3] ist bekannt, dass der „pressure pain threshold“ bei Verwendung eines „pressure gauge device“ (FDN 100, Wagner Instruments, USA) abhängig vom Alter des Kindes, dem getesteten Ort sowie dem Geschlecht ist. Ein Anteil von 50% der gesunden Kinder gibt Schmerzen bei einem Druck zwischen 163 und 1039 kPa (100 kPa = 1 kg/cm2) an, wobei das obere und untere 95%-Konfidenzintervall (95%-KI) je nach Alter, Geschlecht und Druckort zwischen 82 und 1890 kPa schwankt. Die Testung eines „tender point“ mittels Daumendruck oder technischer Apparatur mit von Alter, Geschlecht und Druckort unabhängigem und konstantem Druck kann nicht zu validen Ergebnissen führen, da die Druckschmerzschwelle bei gesunden Kindern von diesen Faktoren beeinflusst wird. Als pathologisch bei der Diagnostik eines sog. JFMS wurden Muskeldruckschmerzen ab etwa 3 kg/cm2 (300 kPa/cm2) oder 3 kg/1,5 cm2 (je nach Studie und Daumengröße) oder sogar 5 kg/1,5 cm2 bewertet (z. B. [7]). In Abhängigkeit vom Alter, Geschlecht und Druckort geben aber bei diesem Druck schon viele gesunde Kinder Schmerzen an.

    2. b)

      Die sog. „tender points“ wurden in den publizierten Arbeiten in der Regel nicht standardisiert, teilweise nur mit Daumendruck und nicht doppelblind untersucht. Dabei ist beim Daumendruck nicht nur die Druckkraft, sondern auch die Auflagefläche entscheidend.

    3. c)

      Wenn 2 Kinderrheumatologen bei ein und demselben Kind „tender points“ untersuchen, beträgt ihre Übereinstimmung etwa 44% – dieser Wert entspricht dem Zufall [9].

    4. d)

      Einige Arbeiten (z. B. [62]) zeigen, dass Kinder mit juveniler idiopathischer Arthritis (JIA) dieselben Schmerzschwellen an den „tender points“ haben wie Kinder mit sog. JFMS.

    5. e)

      Bei Positivität der „tender points“ sind häufig auch sog. Kontrollpunkte positiv [72]. Häfner et al. [21] fanden „tender points“ nur bedingt und in wechselnder Ausprägung beim Kind.

  2. 2.

    Die sog. „minor symptoms“ der Yunus-Kriterien sind nicht definiert. Kopfschmerzen müssten nach den Kriterien der International Headache Society (IHS) weiter definiert werden, z. B. als chronischer Spannungskopfschmerz, episodischer Spannungskopfschmerz, Migräne oder medikamenteninduzierter Kopfschmerz. Ebenso verhält es sich bei der Diagnose „Reizdarmsyndrom“, für das mittlerweile eine Diagnose nach Rom-Kriterien zu fordern ist [20].

  3. 3.

    Für die psychischen Symptome wie Angst und Depressivität sowie die funktionelle Einschränkung durch den chronischen Schmerz ist eine standardisierte Erhebung mit validierten Instrumenten zu fordern (s. unten).

Aufgrund dieser mangelnden Operationalisierung wird die Bezeichnung „JFMS“ von führenden Rheumatologen und Forschern als wissenschaftlich nicht etabliert und zudem nicht hilfreich abgelehnt [73]. Dieser Meinung schließt sich die Leitliniengruppe an.

Basierend auf der Arbeit von Rief [64] schlagen die Autoren dieser Leitlinie vor, in Zukunft für Kinder mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP), die an weiteren Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen, nichterholsamem Schlaf, druckschmerzhaften Muskeln, Fatigue, Colon irritabile, Angst, Depressivität sowie einer starken schmerzbedingten Einschränkung des täglichen Lebens leiden, die Diagnose „chronische Schmerzstörung in mehreren Körperregionen mit somatischen und psychischen Faktoren“ zu verwenden.

Im Erwachsenenbereich haben Rief et al. [64] auf der Grundlage des biopsychosozialen Modells eine Optimierung der Klassifikation chronischer Schmerzen im ICD-10 (Sektion F) vorgeschlagen. Bisher wurden chronische Schmerzen dort als „somatoforme Schmerzstörung“ (F45.4) klassifiziert. Voraussetzung für diese Diagnose war, dass psychologische Faktoren die Schmerzproblematik auslösten. Da dies nicht auf alle betroffenen Patienten zutraf, wurde ein neuer Diagnosevorschlag für die „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ (F45.41) erstellt [64]. Im Vordergrund des klinischen Bilds stehen seit mindestens 6 Monaten bestehende Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben. Psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn. Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Der Schmerz wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht – wie bei der vorgetäuschten Störung oder Simulation. Für Kinder favorisieren die Autoren dieser Leitlinie eine Zeitdauer der Schmerzstörung von mindestens 3 Monaten (Begründung s. oben).

Für diese Leitlinie werden wir den Begriff des sog. JFMS verwenden, weil die zitierten Arbeiten die Patienten als JFMS-Patienten bezeichnen, ohne dass die Diagnose „JFMS“ jedoch operationalisierbar ist (s. oben). Die Autoren dieser Leitlinie sind sich aber einig, dass die Diagnose „JFMS“ weder etabliert, wissenschaftlich solide überprüft noch hilfreich ist, weswegen sie vorschlagen, in Zukunft die Bezeichnung „chronische Schmerzstörung in mehreren Körperregionen mit somatischen und psychischen Faktoren“ zu verwenden.

Klinische Diagnose

Klinischer Konsenspunkt

Bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP) wird eine multidimensionale Diagnostik der Schmerzen und weiterer körperlicher und seelischer Symptome empfohlen. Hierbei sollen validierte Instrumente und Untersuchungsmethoden eingesetzt werden. Starker Konsens

Kommentar

Da bislang keine pathognomonischen, diagnosesichernden Einzelbefunde für das sog. JFMS zur Verfügung stehen, beruht dessen Diagnosestellung auf dem Vorliegen einer charakteristischen Symptom-/Befundkonstellation nach Ausschluss aller anderen Erkrankungen, die eine solche Symptom-/Befundkonstellation ebenfalls aufweisen können. Insofern kommt der Ausschluss- bzw. Differenzialdiagnostik eine besondere Bedeutung zu. Sie richtet sich nach dem präsentierten klinischen Bild. Differenzialdiagnostisch sind an organischen Krankheiten zu erwägen: (systemisch) entzündliche Erkrankungen wie die juvenile idiopathische Arthritis, maligne Systemerkrankungen wie Leukämien [8, 77] und endokrinologisch-metabolische Erkrankungen [42, 49]. Differenzialdiagnostisch kommen jedoch nicht nur somatische Erkrankungen (biologische Ebene), sondern viel häufiger seelische Störungen in Betracht, z. B. Depression (Unterformen nach DSM-IV s. unten), Angststörungen (Unterformen nach DSM-IV s. unten), posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie dissoziative Störungen mit und ohne selbstverletzendes Verhalten.

Zudem besteht die Möglichkeit der psychischen Erkrankung der Eltern wie beispielsweise im Rahmen eines Münchhausen-by-proxy-Syndroms.

In einer Studie von Degotardi et al. [11] hatten 2 von 77 Kindern, die alle die Yunus-Kriterien erfüllten und bei denen von einem Kinderrheumatologen ein JFMS diagnostiziert wurde, schwere psychiatrische Störungen (im einen Fall eine „schizoaffective disorder“, im anderen eine „depression with suicide ideation“), die erst im Rahmen der weiteren psychologischen Evaluation erkannt wurden. Im Verlauf der Studie hatten weitere 3% der schon in die Studie eingeschlossenen Kinder einen „need for psychiatric referral“. Kashikar-Zuck et al. untersuchten 102 Jugendliche mit der Diagnose eines sog. JFMS hinsichtlich psychiatrischer Erkrankungen mithilfe standardisierter Tests und einer umfangreichen fachlichen, persönlichen Exploration: 19% wiesen eine Depression nach DMS-IV-Kriterien auf [“major depression“ (n=7), „dysthymic disorder“ (n=8), „depressive disorder NOS“ (n=5)“], 55% eine Angststörung [“panic disorder“ (n=6), „agoraphobia“ (n=4), „specific phobia“ (n=0), „social phobia“ (n=11), „obsessive-compulsive disorder“ (n=3), „post-traumatic stress disorder“ (n=5), „generalized anxiety disorder“ (n=17) oder „separation anxiety disorder“ (n=3)] und 24% eine „attentional deficit hyperactivity disorder“ (ADHS; [37, 38]). Daher erfolgt die Differenzialdiagnostik bei Kindern mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP) durch:

  • Anamnese unter Einschluss eines für Kinder und Jugendliche validierten Schmerzfragebogens, z. B. des Deutschen Kinderschmerzfragebogens [71]

  • Körperliche Untersuchung

  • Laborchemische Basisdiagnostik (z. B. Blutsenkungsgeschwindigkeit, Blutbild mit Differenzialblutbild, C-reaktives Protein, Kreatinkinase). Eine weitergehende Diagnostik (z. B. antinukleäre Antikörper, Rheumafaktor, Bildgebung, EEG, EKG, Genetik, Biopsie) ist bei klinischem Verdacht auf andere Erkrankungen als Ursache der Schmerzen durchzuführen.

  • Psychologische Standarddiagnostik, z. B. Depressionsinventar für Kinder- und Jugendliche (DIKJ); Angstfragebogen für Schüler (AFS); IQ-Testung, deutsche Version der Paediatric Pain Coping Inventory [26, 31]; Lebensqualitätsfragebogen [59]

  • Gegebenenfalls Polysomnographie

Epidemiologie

Evidenzbasierte Feststellung

Die Prävalenz des CWP ist stark altersabhängig und liegt im Kindes- und Jugendalter bei 1–15%. Diffuse muskuloskeletale Schmerzen in Kombination mit anderen körperlichen oder psychischen Symptomen wie Spannungskopfschmerzen, Müdigkeit, Schlafstörungen oder Traurigkeit weisen in internationalen Studien <1% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 8–15 Jahren auf. Es überwiegt das weibliche Geschlecht. Starker Konsens

Kommentar

In der Beurteilung der epidemiologischen Studien muss unterschieden werden zwischen Studien, die ausschließlich das Vorhandensein von chronischen muskuloskeletalen Schmerzen in mehreren Köperregionen (CWP; [15, 50]) untersucht haben, und solchen, bei denen die untersuchten Kinder zusätzlich weitere Symptome aufweisen mussten, welche die Diagnose eines sog. JFMS nahelegen.

In epidemiologischen Studien an Schulkindern konzentriert sich die Arbeitsgruppe von Mikkelson auf Kinder im Alter von 10–12 Jahren und berichtet über Prävalenzen des CWP von 1% [50], 7,5% [52] und 9,9% [51]. In der Follow-up-Studie von Mikkelson et al. wiesen die Jugendlichen im Alter von 14–16 Jahren eine Prävalenz des CWP von 15% auf [50].

In einer deutschen repräsentativen Bevölkerungsstichprobe waren 302 Personen in der Altersgruppe von 14–24 Jahren. Keine Person erfüllte die Kriterien eines FMS nach den Survey-Kriterien [22]. Da die Diagnose eines FMS aufgrund von „tender points“ auch für Erwachsene nach den neuesten Kriterien des ACR verlassen wurde [81], müssen auch die epidemiologischen Studien zur Prävalenzmessung des sog. JFMS neu bewertet werden. Von den 7 Kindern, die in der Studie von Clark 1998 [9] als sog. JFMS klassifiziert wurden (Prävalenz etwa 1% unter Schulkindern von 9–15 Jahren), wies nur ein einzelnes Kind alle zusätzlich untersuchten Kriterien auf (Schlafstörung, Morgensteifheit, Fatigue, Traurigkeit), 3 Kinder wiesen jeweils nur 1 Kriterium auf, wobei die Stärke der Symptome nicht angegeben wurde, ebenso wenig die Beeinträchtigung der Kinder durch den Symptomkomplex. Andere Studien, die eine deutlich höhere Prävalenz des sog. JFMS von 6,2% bei 9- bis 15-jährigen Schulkindern fanden, stützen ihre Diagnose maßgeblich auf den Muskeldruckschmerz [7], was wegen der oben näher beschriebenen methodischen Schwierigkeiten sicherlich nicht valid ist.

Verlauf

Evidenzbasierte Feststellung

Bei den meisten Patienten mit CWP oder einem sog. JFMS ist der Verlauf wechselhaft mit beschwerdearmen oder -freien Intervallen oder mit Phasen stärkerer Beschwerden. EL2b, starker Konsens

Kommentar

In einer Studie zum Verlauf bei CWP im Kindes- und Jugendalter klagten nur 10% der Kinder, die bei Studienbeginn CWP hatten, sowohl nach 1 als auch nach 4 Jahren über anhaltende Symptome [50].

Die Bewertung der Studien zum Verlauf des sog. JFMS wird dadurch erschwert, dass die Diagnosestellung wegen der oben ausführlich dargestellten methodischen Probleme nicht valid ist. Zudem wird in den meisten Studien die Studienpopulation nicht mithilfe von standardisierten Instrumenten beschrieben. Es wurden also Kinder und Jugendliche nachverfolgt, die eine nichtstandardisiert diagnostizierte Schmerzkrankheit hatten, die nichtstandardisiert untersucht worden waren und die von den Autoren als sog. JFMS klassifiziert wurden.

Verschiedene klinikbasierte Studien beschreiben eine Persistenz der Symptome bei einem Teil der Patienten im Langzeitverlauf. Malleson et al. [46] berichten über eine retrospektive Erhebung auf Basis der allgemeinen Patientendokumentation: 28 von 35 Patienten, bei denen ein sog. JFMS diagnostiziert wurde, hatten >1 Vorstellungstermin in der rheumatologischen Klinik. Nach einem sehr variablen Beobachtungszeitraum von 1–48 Monaten hatten 17 der 28 Patienten mit sog. JFMS nach durchschnittlich 27 Monaten persistierende Beschwerden [46]. Siegel et al. [74] konnten in einer retrospektiven Aufarbeitung ihrer Patientendokumentation an einer pädiatrisch-rheumatologischen Klinik über einen Zeitraum von 6 Jahren 44 Patienten mit sog. JFMS detektieren. Bei den anschließenden telefonischen Nachbefragungen von 33 der 45 Patienten mit sog. JFMS, die durchschnittlich 2,6 Jahre nach Diagnosestellung erfolgten (Spanne: 0,1–7,6 Jahre), zeigte sich eine Zunahme der Anzahl berichteter Symptome. Auf einer visuellen Analogskala von 1–10 (1: „complete disability“; 10: „no disability“) beurteilten die Patienten im Telefoninterview ihre aktuelle Funktionseinschränkung („disability“) weniger ausgeprägt als 1 Jahr zuvor (5,1±3,1 im Vorjahr vs. 6,9±1,6 aktuell). Die Patienten hatten eine ambulante Standardtherapie erhalten (trizyklische Antidepressiva, Nichtopioidanalgetika, Übungsprogramm; [74]). Kritisch anzumerken ist, dass ein Methodenwechsel zwischen der Erhebung zum Zeitpunkt der ambulanten Behandlung (unstrukturierte Erhebung) und der Telefonnachbefragung (strukturierte Erhebung per Telefoninterview) stattgefunden hatte. Zudem wurde kein standardisiertes Instrument zur Erfassung der „disability“ verwendet, z. B. die Functional Disability Inventory [36, 79]. Gedalia et al. [18] führten eine retrospektive Studie über einen Zeitraum von 4 Jahren durch: 50 von 59 Patienten mit sog. JFMS wurden >1-mal ambulant betreut. Bei einem durchschnittlichen Follow-up von 18 Monaten (3–65 Monate) wurde bei 60% der Kinder eine Verbesserung, bei 36% keine Veränderung und bei 4% eine Verschlechterung der Schmerzsymptomatik dokumentiert. Die durchgeführte Therapie bestand in einer Kombination aus medikamentösen und nichtmedikamentösen Elementen; bei der Nachuntersuchung nahmen 74% der Kinder Medikamente ein [18].

Von 48 US-amerikanischen Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose „JFMS“ klagten nach durchschnittlich 3,7 Jahren noch 62,5% über CWP, 60,4% erfüllten die Kriterien eines sog. JFMS [40].

Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen in bevölkerungsbasierten Studien zeigten einen günstigeren Verlauf: Bei israelischen Schulkindern diagnostizierten Buskila et al. [6] bei 21/337 (6,2%) ein sog. JFMS nach ACR-Kriterien; nach 30 Monaten waren die ACR-Kriterien nur noch bei 4 der 21 Kinder erfüllt [6]. In einer finnischen Studie von Mikkelsson et al. [52] erfüllten nach 1 Jahr nur noch 4 von 16 Schulkindern die ACR-Kriterien eines sog. JFMS.

Protektive bzw. exazerbierende Faktoren für CWP sind insbesondere der alltägliche Stress („daily hassles“), Katastrophisieren, fehlende Selbsteffektivität und fehlende positive familiäre Unterstützung [43].

Ätiologie

Somatische Beschwerden (Kopf- und Bauchschmerzen), Verhaltensauffälligkeiten und vermehrte sportliche Aktivität

Evidenzbasierte Feststellung

Somatische Beschwerden (Kopf- und Bauchschmerzen), Verhaltensauffälligkeiten und vermehrte sportliche Aktivität treten im Vorfeld des CWP häufig auf. Über die Beziehung dieser Faktoren zum sog. JFMS existieren keine Studien. EL2b, starker Konsens

Psychosoziale Auffälligkeiten

Evidenzbasierte Feststellung

Die Studien zu psychosozialen Auffälligkeiten bei Patienten mit sog. JFMS zeigen widersprüchliche Befunde. EL3b, starker Konsens

Kommentar

Zum Verständnis der Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen ist die Einnahme einer biopsychosozialen Sichtweise unumgänglich [78]. Chronische Schmerzen bei Kindern sind das Resultat eines dynamischen Interaktionsprozesses aus biologischen Faktoren (z. B. einer körperlichen Grunderkrankung), physischen Komponenten (z. B. einer erniedrigten Schmerzschwelle), psychischen Faktoren (z. B. schmerzbezogenen Ängsten, Umgang mit Schmerzen und Schmerzbewältigung) und soziokulturellen Rahmenbedingungen (z. B. schmerzbezogenem Elternverhalten, gesellschaftlichen Einstellungen, Geschlechterrollen, sozialen Interaktionen im Umgang mit Schmerzen).

Risikofaktoren für die Entwicklung eines sog. JFMS oder einer chronischen Schmerzstörung des Bewegungsapparate wurden bis dato nicht erhoben.

In einer populationsbasierten, prospektiven englischen Follow-up-Studie wurden 1440 Schulkinder hinsichtlich Risikofaktoren für die Entwicklung von CWP untersucht. Zu diesen gehörten innerhalb des Untersuchungszeitraums von 12 Monaten körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen an >7 von 30 Tagen [relatives Risiko (RR): 2,50; 95%-KI: 1,16–5,39], Bauchschmerzen an 1–7, aber nicht an <1 oder >7 Tagen pro Monat (RR: 1,8; 95%-KI: 1,1–2,9), sowie eine vermehrte sportliche Aktivität von >6 Stunden pro Woche (RR: 2,03; 95%-KI: 1,05–3,94). „Prosocial behavior“ war protektiv gegen die Entwicklung von CWP (RR: 0,50; 95%-KI: 0,28-0,90; [34]).

In einer Fallkontrollstudie wurden keine signifikanten Unterschiede bezüglich psychischem Distress zwischen Patienten mit einem sog. JFMS und JIA festgestellt [60]. Dagegen fanden Conte et al. [10] eine häufiger Angst und Depressivität bei Patienten mit sog. JFMS im Vergleich zu Gesunden und Patienten mit JIA. In einer Fall-Kontroll-Studie einer privaten psychiatrischen Klinik gaben die 32 Jugendlichen, welche die Kriterien eines sog. JFMS erfüllten, mehr körperliche und seelische Beschwerden an als die Kontrollgruppe von 30 Jugendlichen mit anderen psychischen Störungen [44].

Eine Fall-Kontroll-Studie an 55 Patienten mit sog. JFMS und 55 gesunden Kontrollen zeigte, dass jugendliche Patienten mit sog. JFMS zurückgezogener lebten und weniger beliebt waren und damit häufiger sozial isoliert lebten als gleichaltrige gesunde Kinder und Jugendliche [39]. Dies traf nicht auf Patienten mit einer juvenilen idiopathischen Arthritis zu.

Familiäre Häufung

Evidenzbasierte Feststellung

Das sog. JFMS und das adulte FMS treten zusammen familiär gehäuft auf. EL2b, starker Konsens

Kommentar

Das gehäufte gemeinsame Vorkommen des adulten FMS und des sog. JFMS bei Verwandten ersten Grades wurde übereinstimmend in zahlreichen Aggregationsstudien gefunden [1, 6, 53, 65, 76]. In einer israelischen Studie an 37 Familien mit FMS (mindestens 2 Verwandte) wurde bei 74% der Geschwister und 53% der Eltern ein FMS nach ACR-Kriterien diagnostiziert [5]. Die Studien zur familiären Häufung belegen jedoch nicht, dass das familiär gehäufte Auftreten des sog. JFMS und adulten FMS genetisch determiniert ist. Die Ergebnisse einer US-amerikanischen Studie an 40 Familien mit FMS (mindestens 2 Verwandte ersten Grades) ließen sich mit der Existenz eines Gens für Fibromyalgie mit Assoziation zur HLA-Region vereinbaren [82]. Eine finnische longitudinale Kohortenstudie an 11-jährigen Zwillingen (583 monozygote Paare, 588 gleichgeschlechtliche dizygote und 618 unterschiedlich geschlechtliche dizygote Paare) konnte bei einer Prävalenz von 9,9% für CWP mit einer überwiegenden Diskordanz der Zwillingspaare eine genetische Grundlage nicht belegen [51].

Sehr viel wahrscheinlicher als ein genetisches Modell sind nichtgenetische, psychologische Erklärungsmodelle, die das gehäufte Auftreten chronischer Schmerzen bei Kindern von erwachsenen chronischen Schmerzpatienten erklären (Modelllernen etc.; [2, 56]).

Elterliche Bedingungsfaktoren

Evidenzbasierte Feststellung

Eltern von Patienten mit sog. JFMS zeigen gehäuft eine verstärkte Ängstlichkeit, eine positive Anamnese für chronische Schmerzen, depressive Symptome sowie chronische Erkrankungen. EL3b, starker Konsens

Kommentar

Eltern von Kindern mit sog. JFMS:

  • geben häufiger chronische Schmerzen an [35, 70];

  • neigen zu verstärkter Ängstlichkeit [10];

  • zeigen häufiger depressive Symptome [10, 35] und

  • leiden an mehr körperlichen Symptomen [10].

Pathophysiologie

Evidenzbasierte Feststellung

Feststellungen zur Pathophysiologie des FMS bei Kindern und Jugendlichen sind aufgrund fehlender Studien nicht möglich. Starker Konsens

Versorgungskoordination

Evidenzbasierte Empfehlung

Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP) sollten einem Facharzt mit fundierten Kenntnissen des kindlichen Schmerzes ambulant vorgestellt werden. Bei langen Schulfehlzeiten, starken Einschränkungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens, zunehmender Inaktivität oder sozialer Isolation sollte eine stationäre Behandlung in einer Einrichtung, die ein spezielles Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen anbietet, durchgeführt werden. EL4, starker Konsens

Kommentar

In einer Arbeit von Hechler et al. [28] über die Therapiestratifizierung eines pädiatrischen „samples“ mit chronischen Schmerzen (Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Schmerzen am Bewegungsapparat) wurden Kriterien der Therapiestratifizierung untersucht. Die initiale Therapieintensität (ambulante Therapie, ambulante Gruppentherapie, stationäre Therapie) stellte sich im Verlauf bei der Mehrzahl der Kinder als richtig heraus. Es kam selten zu einer Therapieintensivierung. Kriterien für eine primär stationäre multimodale Schmerztherapie waren: chronischer Schmerz für mindestens 3 Monate, nichterfolgreiche Therapie im bisherigen Setting, hohe schmerzbedingte Beeinträchtigung (Pain Disability Index >36) und die Erfüllung von 3 der folgenden 4 Kriterien:

  • Schmerzdauer >6 Monate;

  • durchschnittliche Schmerzintensität in den letzten 7 Tagen ≥5 [numerische Rating-Skala (NRS): 0–10];

  • Schmerzspitzen ≥8 (NRS: 0-10) wenigstens 2-mal pro Woche oder

  • mindestens 5 Schulfehltage während der letzten 20 Schultage.

Kinder und Jugendliche mit sog. JFMS, welche die oben beschriebenen starken Beeinträchtigungen (noch) nicht aufweisen, sollten zunächst ambulant behandelt werden. Wohnortnahe ambulante oder teilstationäre Therapiemöglichkeiten mit einem umfassenden, multimodalen Programm werden für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen des Bewegungsapparats in Deutschland kaum angeboten. Daher muss für die weniger stark beeinträchtigen Kinder auf Basis der in Deutschland bestehenden Versorgungsmöglichkeiten ein individuelles multimodales Therapieprogramm geplant werden (z. B. niedergelassener Kinder- und Jugendpsychotherapeut, krankengymnastische Praxis, regelmäßige kinderärztliche Konsultationen). Für die multimodale stationäre Behandlung gibt es nur wenige Zentren, weshalb die Behandlung oft wohnortfern erfolgen muss. Obwohl Studien mit dem Evidenzgrad 4 vorliegen, haben sich die Autoren in einem einstimmigen Konsens für eine Empfehlung der Stärke B ausgesprochen, da folgende Kriterien erfüllt sind: geringe Risiken; hohe Patientenakzeptanz der stationären multimodalen Schmerztherapie (Therapieadhärenz zwischen 95% [13] und 98% [16]); ethische Notwendigkeit, da durch die chronische Schmerzkrankheit die normale kindliche Entwicklung gefährdet ist.

Allgemeine Behandlungsgrundsätze

Therapieziele

Evidenzbasierte Empfehlung

Ziele der Therapie sollten Schmerzreduktion, Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit, Reduktion von Schulfehlzeiten, Auflösen sozialer Isolation, Stärkung des Selbstbewusstseins, Mobilisierung eigener Ressourcen sowie Entwicklung von Strategien zur Schmerzbewältigung sein. Wichtig sind außerdem die Einbeziehung der Familie und die Erprobung der Therapieerfolge im Alltag sowie die Therapie komorbider seelischer Störungen. EL2c, starker Konsens

Kommentar

Die allgemeinen Behandlungsgrundsätze sind ausführlich in prospektiven Outcomestudien formuliert worden [12, 13, 16, 23, 24, 25, 26].

Patientenschulung

Klinischer Konsenspunkt

Patienten- und Elternschulungen sowie Informations- und Unterstützungsgruppen für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern können angeboten werden. Starker Konsens

Psychotherapie

Klinischer Konsenspunkt

Wissenschaftlich anerkannte Psychotherapieverfahren sollen für Kinder und Jugendliche mit sog. JFMS im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie eingesetzt werden. Starker Konsens

Kommentar

In einer US-amerikanischen randomisierten Studie im Cross-over-Design zu aktiver Schmerzbewältigung vs. Selbstmonitoring an 30 Jugendlichen ergab sich bei Therapieende im Vergleich zur Ausgangsmessung für beide Techniken eine Reduktion der Funktionalitätseinschränkung und Depressivität [41]. Eine signifikante Schmerzreduktion konnte nicht festgestellt werden. Die Studie weist erhebliche methodische Probleme auf; so wurde weder eine Stichprobengröße berechnet, noch ein primärer Ergebnisparameter festgelegt.

Die Autoren sind der Meinung, dass nach Expertenmeinung und Studienlage zur multimodalen Schmerztherapie wissenschaftlich anerkannte Psychotherapieverfahren (kognitive Verhaltenstherapie, Traumatherapie, systemische Familientherapie, analytische Therapie) bei Kindern mit sog. JFMS ausschließlich im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie oder zur Therapie einer psychischen Komorbidität zum Einsatz kommen sollten. Die Inhalte sollten individuell auf die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen bezogen sein. Eine ambulante Psychotherapie am Heimatort sollte von Fall zu Fall erwogen werden.

Physiotherapie und physikalische Therapie

Klinischer Konsenspunkt

Physiotherapeutische Verfahren sollten im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie eingesetzt werden. Starker Konsens

Kommentar

In einer randomisierten, kontrollierten Studie wurden 14 Patienten mit sog. JFMS mit aerobem Training mittlerer Intensität und 16 mit Qigong behandelt. Am Therapieende gab die Gruppe mit aerobem Training eine signifikant größere Reduktion von Schmerz, Müdigkeit und Einschränkungen der Lebensqualität an als die Qigong-Gruppe. In der Qigong-Gruppe kam es zu keiner signifikanten Veränderung von Schmerz, Müdigkeit und Einschränkungen der Lebensqualität [75]. Eine aktuelle Studie von Kashikar-Zuck et al. [37] zeigte, dass Jugendliche, die an einem sog. JFMS litten und körperlich aktiv waren („high activity“, gemessen mittels Aktigraphie), weniger Schmerzen hatten und von ihren Eltern als weniger depressiv sowie funktionell eingeschränkt eingeschätzt wurden als Jugendliche, die sich weniger bewegten („low activity“). Das Querschnittsdesign ließ hier allerdings keine Ermittlung einer Ursachen-Wirkungs-Beziehung zu.

Studien zur Wirksamkeit anderer Methoden der Physiotherapie (z. B. Krankengymnastik) und physikalischer Verfahren beim sog. JFMS im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie liegen nicht vor. Trotzdem werden diese Therapien von den Autoren mit dem Empfehlungsgrad B empfohlen, weil sie vom Patienten präferiert werden, eine hohe Therapieadhärenz bei geringem Nebenwirkungspotenzial aufweisen und sowohl im ambulanten als auch stationären Setting in Deutschland gut umsetzbar sind.

Medikamentöse Therapie

Evidenzbasierte Empfehlung

Eine medikamentöse Therapie soll bei Kindern mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP) oder mit dem sog. JFMS nicht durchgeführt werden. Komorbiditäten, z. B. Depression im Jugendalter, sollen leitlinienkonform behandelt werden. EL4, Konsens

Kommentar

Kontrollierte Medikamentenstudien liegen nicht vor. In einer US-amerikanischen Fallserie wurde beschrieben, dass bei 15 Patienten Acetylsalicylsäure und nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) nicht wirksam waren, 73% der Kinder sprachen auf Cyclobenzaprin in einer Dosierung von 5–25 mg/Tag an [66]. In 2 Beobachtungsstudien wird über den Einsatz von NSAR und/oder Psychopharmaka in Kombination mit Bewegungstherapie [74] oder einer multimodalen Komplexbehandlung [63] berichtet. Saccomani et al. beschreiben bei 2 italienischen Patienten eine klinische Besserung unter Trazodon bzw. Amitriptylin [69]. Von Medikamentenstudien mit erwachsenen FMS-Patienten wurden Kinder grundsätzlich ausgeschlossen.

Trizyklische Antidepressiva sind in Deutschland für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen nicht zugelassen. Auch für den Einsatz von „selective serotonin reuptake inhibitors“ (SSRI) liegt in Deutschland bisher keine Zulassung für Kinder und Jugendliche vor (Off-label-Therapie). Die klinische Erfahrung zeigt, dass die medikamentöse Therapie zur Behandlung von Komorbiditäten Teil des individuellen multimodalen Therapiekonzepts sein kann. Eine Fokussierung auf Medikamente ist unbedingt zu vermeiden. Die potenziellen Risiken der medikamentösen Therapie, der fehlende Zulassungsstatus der meisten dort eingesetzten Medikamente sowie der fehlende Nachweis eines individuellen Nutzens für den Patienten rechtfertigen nach Meinung der Autoren eine Empfehlung gegen eine medikamentöse Therapie.

Multimodale Therapie

Klinischer Konsenspunkt

Bei Patienten mit sog. JFMS soll eine multimodale Schmerztherapie durchgeführt werden. Bei schwerer Beeinträchtigung oder vorausgegangenen frustranen ambulanten Therapieversuchen soll diese stationär erfolgen, bei leichterer Beeinträchtigung zunächst ambulant. Starker Konsens

Kommentar

Als multimodale Schmerztherapie wird in dieser Leitlinie, wie von der Arbeitsgruppe „Multimodale Therapie“ beschrieben, die Behandlung unter Kombination von mindestens einem aktivierenden Verfahren der Physiotherapie mit mindestens einem psychotherapeutischen Verfahren verstanden [4]. Bei der ambulanten multimodalen Schmerztherapie übernimmt der Kinderrheumatologe oder Kinderschmerztherapeut koordinierende und therapiesteuernde Aufgaben. Maßgaben der stationären multimodalen Kinderschmerztherapie sind in Deutschland im Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) unter Ziffer 8-918.x beschrieben.

Es liegen keine randomisierten, kontrollierten Studien zur Wirksamkeit multimodaler Therapien beim sog. JFMS vor.

In Studien zur Wirksamkeit pädiatrischer multimodaler Therapieprogramme (Outcome-Studien, Evidenzlevel 2c) wurde immer auch ein mehr oder minder großer Anteil an Kindern und Jugendlichen mit CWP und zusätzlichen psychosomatischen/psychischen Bescherden/Auffälligkeiten aufgenommen. So betrug der Anteil dieser Kinder in der Arbeit von Eccleston et al. [17] 40% (n=23); in den Arbeiten von Hechler u. Dobe [25] lag der Anteil der Kinder mit Hauptschmerzort am Bewegungsapparat bei 14% (n=28). In der zuletzt genannten Arbeit wiesen die chronisch schmerzkranken Kinder und Jugendlichen in 40% der Fälle mehr als eine Schmerzregion auf (n=61). Bei 75% der Kinder kam es 3 Monate nach erfolgter stationärer multimodaler Schmerztherapie zu signifikanten positiven Veränderungen in der Schmerzintensität, bei 63% zu einer signifikanten Verbesserung der schmerzbezogenen Beeinträchtigung und bei 45% zu signifikanten Veränderungen in Bezug auf die Schulfehltage – bei 30% der Kinder fand sich zu Beginn der Therapie keine signifikante Erhöhung der Schulfehltage. Klinisch signifikante Veränderungen in der emotionalen Beeinträchtigung wiesen 13–26% auf, wobei 50–60% zu Therapiebeginn keine Auffälligkeiten in der Angst- und Depressionsdiagnostik zeigten. Mehr als die Hälfte der Kinder zeigte eine allgemeine klinisch relevante Verbesserung (55%; [25]).

In ihrer aktuellen Analyse von 200 Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen konnten Dobe et al. [13] zeigen, dass der Erfolg der multimodalen pädiatrischen stationären Schmerztherapie unabhängig vom Schmerzort ist.

Es wird empfohlen, dass während einer multimodalen Behandlung Patient und Eltern Anleitungen für die Therapie zu Hause erhalten. Die Fortführung von Teilen des multimodalen Programms im Alltag ist mitentscheidend für die Prognose. Entspannungs- und krankengymnastische Übungen, Trainingstherapie und andere sportliche Aktivitäten, physikalische Maßnahmen sowie die Bearbeitung von Stressoren und psychischen Komorbiditäten (psychologische Betreuung) sind wichtige Aufgaben für zu Hause [12, 23, 25, 27].

Kontraindikationen für eine multimodale stationäre Schmerztherapie sind schwere psychiatrische Erkrankungen, z. B. das Vorliegen einer Psychose oder einer Anorexia nervosa [13]. Suizidgedanken sind für Jugendliche mit chronischen Schmerzen [80] oder Depression – einer häufigen Komorbidität bei Kindern mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen – beschrieben. Daher sollte die Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen mit sog. JFMS immer im multidisziplinären Team unter Einbeziehung von Kinder- und Jugendpsychologen bzw. Kinder- und Jugendpsychiatern erfolgen.

Diskussion

Die erste Fassung der Leitlinie zum sog. JFMS wurde mit dieser zweiten Fassung grundlegend überarbeitet [48]. Die Diagnose des JFMS wurde als bis jetzt wissenschaftlich nicht etabliert beschrieben, sodass der Begriff des sog. JFMS verwendet wurde. Für das Kindes- und Jugendalter ist es eine dringende Forschungsfrage, wie chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, die von anderen Krankheitssymptomen begleitet werden, diagnostiziert und klassifiziert werden. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob das Krankheitsbild des JFMS existiert oder ob die symptomtragenden Kinder und Jugendlichen an anderen definierten Krankheiten leiden. Eine zweite Weiterentwicklung der Leitlinie ist die Forderung nach einer standardisierten Diagnostik, die auch validierte psychologische Testungen mit einschließt. Da es sich beim sog. JFMS um ein für das Kindes- und Jugendalter nicht etabliertes Krankheitsbild handelt, ist es umso wichtiger, definierte organische und seelische Krankheiten, wie eine PTBS, zu erkennen und einer geeigneten Therapie zuzuführen. Wie auch schon in der ersten Fassung der Leitlinie werden multimodale Therapieansätze als notwendig erachtet. Neben dem allgemeinen Grundsatz „ambulant vor stationär“ werden erstmalig auch Kriterien beschrieben, bei deren Erfüllung eine primär stationäre multimodale Schmerztherapie gerechtfertigt ist. Diese Kriterien beziehen sich nicht vorrangig auf die Schmerzstärke oder die Dauer der Erkrankung, sondern insbesondere auf schmerzassoziierte Beeinträchtigungen wie hohe Schulfehlzeiten, eine starke Reduktion der Aktivitäten des täglichen Lebens oder sozialen Rückzug. Wie auch in der ersten Fassung der Leitlinie wird von einer medikamentösen Therapie des sog. JFMS abgeraten. Komorbide psychische Störungen sollen leitlinienkonform behandelt werden.

Insgesamt liefert die revidierte und überarbeitete zweite Version der Leitlinie eine umfassende Aufarbeitung des sog. JFMS unter Berücksichtigung aktueller Arbeiten zur QST, psychologischen Diagnostik chronischer Schmerzen sowie den Erfolgen multimodaler Schmerztherapieprogramme bei Kindern und Jugendlichen. Kontrollierte Studien zur Diagnostik von Kindern, die sich mit einem Symptomkomplex vorstellen, der an das FMS des Erwachsenen erinnert, sowie randomisierte Therapiestudien an Kindern, die unter chronischen Muskelschmerzen sowie weiteren körperlichen sowie seelischen Symptomen leiden, sind dringend erforderlich.