Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) ist ein funktionell somatisches Syndrom, das durch chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen und Müdigkeit, die durch somatische Krankheitsfaktoren nicht hinreichend erklärbar sind, definiert wird [6]. In den modifizierten diagnostischen Kriterien des American College of Rheumatology (ACR) von 2010 sind zusätzliche körperliche und seelische Begleitsymptome weitere diagnostische Kriterien [32], die das FMS als eine polysymptomatische Disstressstörung charakterisieren. Die Punktprävalenz des FMS in der allgemeinen deutschen Bevölkerung nach den modifizierten diagnostischen Kriterien der ACR von 2010 lag im Jahr 2012 bei 2,1 % [35]. Die administrative 2-Jahres-Prävalenz des FMS bei Versicherten der Barmer Ersatzkasse lag in den Jahren 2008–2009 bei 0,3 % [25].

Überlappungen funktioneller somatischer Syndrome und depressiver Störungen sind häufig [23]. In den letzten Jahren fanden die Assoziationen von funktionellen somatischen Syndromen mit Angststörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) vermehrte Beachtung [2].

Die aktualisierte interdisziplinäre deutsche FMS-Leitlinie [18] empfiehlt ein Screening auf psychische Störungen mit dem Patient Health Questionnaire 4 (PHQ-4; [21, 24]). Eine systematische Übersichtsarbeit fand große Spannweiten für depressive Störungen (20–80 %), Angststörungen (13–64 %) und PTSD (15–56 %) bei FMS-Patienten [7]. Die unterschiedlichen Prävalenzraten psychischer Störungen wurden durch unterschiedliche Erfassungsmethoden (z. B. strukturiertes Interview vs. Fragebogen), diagnostische Kriterien und Settings der Studie (z. B. Sekundär- vs. Tertiärversorgung) erklärt. Die Trichterhypothese des FMS nimmt an, dass die Ausprägung der körperlichen Beschwerden bei Personen, die im Rahmen von bevölkerungsbasierten Studien erfasst werden, am niedrigsten ist und bei Patienten klinischer Einrichtungen in Abhängigkeit von der Versorgungsstufe bzw. dem Spezialisierungsgrad zunimmt [32]. Ob diese Hypothese auch für psychische Störungen gilt, wurde unseres Wissens bisher nicht untersucht. Weiterhin wurde unseres Wissens bisher nicht überprüft, ob sich psychische Störungen bei FMS-Patienten – unabhängig von der Versorgungsstufe – in psychosomatischen bzw. schmerzmedizinischen Settings aufgrund von Selektionseffekten häufiger nachweisen lassen als bei FMS-Patienten in anderen Settings (z. B. Rheumatologie). Bei niedrigen Prävalenzraten möglicher psychischer Störungen in rheumatologischen oder komplementär-alternativmedizinischen Settings wäre die Screening-Empfehlung der deutschen FMS-Leitlinie nicht gerechtfertigt.

Die Fragestellungen der Studie lauteten daher wie folgt:

  • Wie häufig sind mögliche Angststörungen, depressive Störungen und PTSD beim Einsatz von Screening-Instrumenten bei FMS-Patienten klinischer Einrichtungen?

  • Gibt es Unterschiede in der Häufigkeit möglicher Angststörungen, depressiver Störungen und PTSD bei FMS-Patienten in Abhängigkeit vom klinischen Setting?

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Studienzentren

Alle konsekutiven Patienten von 8 Einrichtungen (3 der Rheumatologie/Orthopädie, 3 der Psychosomatik/Schmerzmedizin, 2 der physikalischen Medizin/Komplementärmedizin) wurden vom 01.02. bis 31.07.2012 mit standardisierten Fragebogen untersucht. Die Versorgungsstufen der teilnehmenden Einrichtungen waren wie folgt: 2 Facharztpraxen, 3 Krankenhausambulanzen (ein Krankenhaus der Sekundär- und 2 Krankenhäuser der Tertiärversorgung), 3 Kliniken (2 Rehabilitationskliniken, ein Akutkrankenhaus der Sekundärversorgung).

Patienten

Einschlusskriterium war die von den Studienärzten gestellte Diagnose eines FMS. Da es keinen Goldstandard für die klinische Diagnose des FMS gibt [8], wurde den teilnehmenden Ärzten freigestellt, welche Kriterien zur Diagnose verwendet wurden. Die Zahl der Schmerzlokalisationen durfte nicht durch andere Erkrankungen ausreichend erklärt sein. Patienten mit inaktiven oder gering aktiven entzündlich-rheumatischen Erkrankungen oder mono- bzw. oligolokulären Arthrosen, welche die Zahl der Schmerzlokalisationen nicht ausreichend erklärten, wurden eingeschlossen. Teilnehmer, die der deutschen Schriftsprache nicht ausreichend mächtig, die hirnorganisch beeinträchtigt oder deren Schmerzlokalisationen durch körperliche Krankheiten ausreichend erklärbar waren, wurden ausgeschlossen. Andere primäre Ausschlusskriterien wurden nicht definiert.

Untersuchungszeitraum und -ablauf

In der Zeit vom 01.02. bis 31.07.2012 wurden alle konsekutiven Patienten der teilnehmenden Einrichtungen mit einem bekannten oder neu diagnostizierten FMS gebeten, an der Studie teilzunehmen. Die Fragebogen wurden während der Konsultation vom Arzt mit einem standardisierten Begleitschreiben und persönlichen Erläuterungen an den Patienten ausgehändigt und konnten vom Patienten nach der aktuellen bzw. bei der nächsten Konsultation abgegeben werden. Die beantworteten Fragebogen wurden in 8 von 9 Studienzentren von den Patienten an die Ärzte anonym in einem verschlossenen Umschlag zurückgegeben, separat von der Krankenakte aufbewahrt und am Studienende an die Studienzentrale zurückgeschickt. In einem Studienzentrum (Saarbrücken) wurden im Rahmen eines Teilprojekts der Studie die Fragebogen mit dem Patienten besprochen.

Fragebogen

Wir übernahmen die Fragen zu demografischen Daten (Alter, Geschlecht, Lebensform, Schulabschluss, aktueller Berufsstatus, Mitglied einer FMS-Selbsthilfeorganisation) und medizinischen Daten (Dauer der chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen und Dauer seit Diagnose eines FMS) einer früheren Multicenterstudie mit FMS-Patienten [11].

Die validierte deutsche Version des Fragebogens „fibromyalgia criteria and severity scales for clinical and epidemiological studies“ [Fibromyalgia Survey Questionnaire (FSQ); [15]] erfasst die modifizierten vorläufigen diagnostischen ACR-2010-Kriterien des FMS. Der Fragebogen enthält einen Symptomschwerescore [Symptom Severity Score (SSS)] mit Hauptsymptomen des FMS (Tagesmüdigkeit, Probleme beim Denken oder mit dem Gedächtnis, nichterholsamer Schlaf), die von 0–3 (0 = „nicht vorhanden“ bis 3 = „extrem ausgeprägt“) codiert werden können, und 3 Nebensymptome (Schmerzen/Krämpfe im Unterbauch, Depression, Kopfschmerzen), die vom Patienten per Kreuz als vorhanden (1) bzw. nichtvorhanden (0) angegeben werden können. Weiterhin enthält der Fragebogen den Widespread Pain Index (WPI) mit 19 vorgegebenen nichtartikulären Schmerzlokalisationen. Weiterhin wird gefragt, ob die Symptome bzw. Schmerzlokalisationen in den letzten 3 Monaten überwiegend vorhanden waren. Ein FMS liegt vor, wenn entweder der WPI ≥ 7 und der SSS ≥ 5 liegen (Kriterium A) oder der WPI 3–6 und der SSS ≥ 9 sind (Kriterium B), die Symptome > 3 Monate vorliegen und keine körperliche Krankheit vorliegt, welche die Anzahl der Schmerzorte ausreichend erklärt. Der Gesamtscore des Fragebogens (Minimum: 0; Maximum: 31) kann als Maß für die Symptombelastung (polysymptomatischer Disstress) gesehen werden [33].

Zum Screening auf mögliche psychische Störungen wurden Kurzmodule des Fragebogen zum Gesundheitszustand (PHQ) eingesetzt. Der PHQ-2 erfragt mit 2 Fragen 2 Hauptsymptome einer „major depression“ nach den Kriterien des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV (DSM-IV) innerhalb der letzten 2 Wochen. Die Fragen werden auf einer 4-stufigen Skala beantwortet. Antwortmöglichkeiten sind „überhaupt nicht“, „an einigen Tagen“, „an mehr als der Hälfte der Tage“ und „fast jeden Tag“, denen entsprechend die Zahlenwerte 0–3 zugeordnet sind. Ein Wert ≥ 3 hat eine Sensitivität von 83 % und eine Spezifität von 90 % für die Diagnose einer „major depression“ sowie eine Sensitivität von 62 % und eine Spezifität von 94 % für die Diagnose jeder Form von depressiver Störung [21]. Der General-Anxiety-Disorder(GAD)-2-Fragebogen erfragt anhand von 2 Fragen 2 Hauptsymptome einer generalisierten Angststörung innerhalb der letzten 2 Wochen. Die Fragen werden auf einer 4-stufigen Skala beantwortet. Antwortmöglichkeiten sind „überhaupt nicht“, „an einigen Tagen“, „an mehr als der Hälfte der Tage“ und „fast jeden Tag“, denen entsprechend die Zahlenwerte 0–3 zugeordnet sind. Ein Wert ≥ 3 hat eine Sensitivität von 86% für generalisierte Angststörungen, von 76% für Panikstörungen, von 70% für soziale Angststörungen sowie von 59% für PTSD und eine Spezifität von 83% für generalisierte Angststörungen, von 81% für Panikstörungen bzw. soziale Angststörungen und von 81 % für PTSD [21]. Wir nutzten die validierte deutsche Version, die den PHQ-2 und den GAD-2 zusammenfasst, nämlich den PHQ-4 [24].

Potenzielle Traumata wurden mit der Traumaliste des PTSD-Moduls des Münchener Composite International Diagnostic Interviews (M-CIDI; [30]) erfasst. In der Traumaliste wurden 11 potenziell traumatisierende Ereignisse vorgegeben, zu denen die Teilnehmer Angaben machen konnten. Weiterhin bestand die Möglichkeit, ein weiteres schreckliches Erlebnis anzugeben, das in der Traumaliste nicht spezifiziert war (A1-Kriterium der PTSD nach DSM-IV; [1]). Darauf folgten 2 Fragen nach dem DSM-IV-A2-Kriterium (intensive Furcht, Entsetzen und Hilflosigkeit). Auf diese Angaben folgte die Frage nach dem am meisten belastenden Ereignis – falls mehrere Ereignisse angegeben wurden – und die Frage, in welchem Jahr dieses Ereignis sich ereignete. Wenn die Teilnehmer mehrere Ereignisse angegeben hatten, bezogen sich die nachfolgenden Fragen sowie die Symptomerfassung auf dieses am meisten belastende Ereignis. Die DSM-IV-Symptomkriterien wurden mit Teil III der validierten deutschen Version des Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS) erfasst [8, 10]. Mit 17 Items auf einer 4-stufigen Skala wurden die 3 Symptomcluster der PTSD (Intrusionen, Vermeidung, Übererregung; B-, C- und D-Kriterium) erfasst. Weiterhin wurden die Symptomdauer (E-Kriterium: mindestens ein Monat) und das F-Kriterium (Beeinträchtigungskriterium hinsichtlich der vor dem Trauma üblichen Lebensführung) erfragt. Eine PTSD wurde in Übereinstimmung mit den DSM-IV-Kriterien bestimmt, indem der Algorithmus der modifizierten PTSD-Symptomskala nach Foa [8] angewendet wurde (Vorliegen des A1- und A2-, E- und F-Kriteriums, mindestens ein B-, mindestens 3 C- und mindestens 2 D-Kriterien mit Skalenwerten ≥ 1).

Statistische Auswertung

Die Daten wurden von einer Autorin (AG) zusammen mit einer Hilfskraft in eine vorgefertigte Excel-Datenbank eingetragen. Die Eingaben und der Gesamtdatensatz wurden vom Seniorautor auf Plausibilität und Eingabefehler überprüft.

Fehlende Antworten im FSQ, PHQ-4 und PDS wurden mit 0 codiert. Waren > 25 % der Items in einem dieser Fragebogen nicht beantwortet, wurde der Fragebogen aus der Analyse ausgeschlossen. Wenn bei mehr als einem der genannten Fragebogen > 25 % der Fragen unbeantwortet waren und/oder > 25 % der medizinischen/demografischen Daten fehlten, wurde der Patient von der gesamten Analyse ausgeschlossen.

Die Daten wurden deskriptiv durch Mittelwert und Standardabweichung bzw. Absolut- und Prozentwerte dargestellt. Gruppenvergleiche kontinuierlicher Variablen erfolgten durch univariate Varianzanalysen. Im Falle eines signifikanten Gruppenunterschieds erfolgten paarweise Vergleiche mit dem Dunnett-T3-Test. Der χ2-Test wurde für kategoriale Variablen verwendet. Alle Tests wurden 2-seitig mit einem α-Wert von 0,05 durchgeführt. Aufgrund des explorativen Charakters der Studie erfolgte trotz multipler Vergleiche keine Anpassung des Signifikanzniveaus. Alle Berechnungen wurden mit dem Statistikprogramm SPSS (Version 17.0) durchgeführt.

Finanzierung

Die Studienteilnehmer erhielten keine Aufwandsentschädigung. Die Sachkosten wurden von den teilnehmenden Einrichtungen selbst getragen.

Datenschutz und Ethik

Die Bestimmungen des Datenschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht wurden von allen Studienleitern beachtet. Die Studie wurde von der Ethikkommission der Ludwig-Maximilians-Universität München genehmigt (Projekt-Nummer 010-12).

Ergebnisse

Es wurden 538 Patienten auf ihre Eignung für die Studie überprüft. Insgesamt 84 Patienten (München: 36, Püttlingen: 0, Saarbrücken: 0, Neunkirchen: 8, Blieskastel: 4, Zweibrücken: 12, Essen: 5, Oldenburg: 19) lehnten die Studienteilnahme ab. Aus organisatorischen Gründen wurden 35 Patienten keine Fragebogen ausgehändigt (München: 12, Püttlingen: 0, Saarbrücken: 0, Neunkirchen: 6, Blieskastel: 2, Zweibrücken: 15, Essen: 0, Oldenburg: 0). Nach Sichtung der Fragebogen wurden 14 Patienten wegen fehlender Angaben in den o. g. Fragebogen ausgeschlossen (München: 0, Püttlingen: 0, Saarbrücken: 4, Neunkirchen: 2, Blieskastel: 2, Zweibrücken: 3, Essen: 3, Oldenburg: 0; Abb. 1). Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich des Alters und Geschlechts zwischen den Patienten, welche die Studienteilnahme ablehnten bzw. aus der Analyse ausgeschlossen wurden, und denen, die in die Studie bzw. Auswertung eingeschlossen wurden (Details nicht dargestellt).

Abb. 1
figure 1

Flussdiagramm

In die Analyse wurden 396 FMS-Betroffene eingeschlossen. Die Mehrzahl der Studienteilnehmer waren Frauen im Alter von 40–60 Jahren mit langjährigen (> 10 Jahre) Schmerzen in mehreren Körperregionen. 335 (84,6 %) der Teilnehmer erfüllte das Kriterium A und 13 (2,0 %) erfüllten das Kriterium B der modifizierten diagnostischen ACR-2010-Kriterien des FMS.

Die Teilstichproben unterschieden sich in den meisten demografischen Parametern. Es fand sich ein signifikanter Gruppenunterschied bezüglich des höchsten Schulabschlusses und der aktuellen beruflichen Situation. Patienten aus dem Setting der physikalischen und integrativen Medizin waren häufiger alleinstehend und stellten bzw. planten häufiger einen Rentenantrag als Patienten aus dem rheumatologischen Setting. Sie berichteten über eine längere Zeitdauer von Schmerzen in mehreren Körperregionen als Patienten aus dem psychosomatisch-schmerzmedizinischen Setting (Tab. 1).

Tab. 1 Demografische und klinische Daten von FMS-Patienten aus verschiedenen klinischen Settings

75 % der FMS-Patienten berichteten über schwerwiegende und 67 % über traumatische Lebensereignisse. Ein Anteil von 52 % der Studienteilnehmer berichtete über ein anderes schreckliches Ereignis und 24 % davon, Zeuge eines schwerwiegenden Ereignisses bei einer anderen Person gewesen zu sein. Die am häufigsten genannten anderen einschneidenden Erlebnisse waren sexueller Missbrauch vor dem 14. Lebensjahr (17 %), Beteiligung an einem schweren Unfall (15 %) und Vergewaltigung (11 %; Tab. 2). Die am meisten belastenden traumatischen Ereignisse waren andere schreckliche Ereignisse (52 %), Zeuge eines schrecklichen Ereignisses bei einer anderen Person zu sein (14 %), sexueller Missbrauch vor dem 14. Lebensjahr (9 %) und ernsthafte körperliche Bedrohung (7 %). Es fanden sich keine Unterschiede zwischen den Patienten verschiedener Settings in der Häufigkeit einschneidender Erlebnisse und von Traumata (Tab. 2).

Tab. 2 Vergleich der Häufigkeit schwerwiegender Lebensereignisse von FMS-Patienten aus verschiedenen klinischen Settings

Patienten aus dem psychosomatisch-schmerzmedizinischen Setting gaben eine höhere körperliche und seelische Symptombelastung an als Patienten aus dem rheumatologischen und physikalisch/integrativen Setting. Mögliche psychische Störungen waren häufig: depressive Störungen (66 %), Angststörungen (68 %) und PTSD (46 %). Mögliche depressive Störungen, nicht jedoch potenzielle Angststörungen und PTSD waren im psychosomatisch/schmerzmedizinischen Setting häufiger als in den beiden anderen Settings (Tab. 3).

Tab. 3 Vergleich der körperlichen und seelischen Symptombelastung, des Beeinträchtigungserlebens sowie möglicher seelischer Störungen von FMS-Patienten aus verschiedenen klinischen Settings

Diskussion

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

Von 396 FMS-Patienten verschiedener klinischer Settings und Versorgungsstufen berichteten 75 % über einschneidende Lebensereignisse und 67 % über mindestens ein Trauma; 68 % erfüllten die Kriterien einer möglichen Angststörung, 66 % die einer möglichen depressiven Störung und 45 % die einer möglichen PTSD. FMS-Patienten aus dem psychosomatisch-schmerzmedizinischen Setting gaben eine höhere körperliche und seelische Symptombelastung an und erfüllten häufiger die Kriterien einer möglichen depressiven Störung als FMS-Patienten aus rheumatologischen bzw. physikalisch/integrativen Settings. Es fanden sich keine Settingunterschiede in der Häufigkeit berichteter schwerwiegender Lebensereignisse und Traumata und in der Häufigkeit möglicher Angststörungen und PTSD.

Vergleich mit anderen Studien

Die demografischen und FMS-bezogenen Daten der Stichprobe stimmen mit denen vorhergehender deutscher Multicenterstudien [12, 13, 15] überein: In klinischen Stichproben überwiegen Frauen in der Mitte der 6. Lebensdekade mit seit mehreren Jahren bestehenden chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen. Weniger als die Hälfte der Patienten ist noch erwerbstätig. In dieser Studie waren Patienten aus den Settings der Rheumatologie häufiger berufstätig und planten seltener, einen Rentenantrag zu stellen, als Patienten der beiden anderen Settings. Sozialmedizinische Problemfälle (Arbeitslosigkeit und/oder geplante Rentenanträge) fanden sich häufiger in den Settings der psychosomatischen Medizin, Schmerzmedizin, physikalischen und integrativen Medizin.

Die Studie bestätigt die Häufigkeit sexueller und körperlicher Missbrauchserfahrungen in Kindheit und Jugend bei FMS-Patienten in früheren Studien unserer Arbeitsgruppe [19] sowie in systematischen Übersichtsarbeiten von Fall-Kontroll-Studien aus verschiedenen Ländern [14].

Bezüglich der Häufigkeit möglicher psychischer Störungen liegen die Prävalenzzahlen für Angst- und depressive Störungen sowie PTSD im oberen Bereich der in der systematischen Übersichtsarbeit von Fietta et al. [7] genannten Spannweiten. Die Häufigkeit einer möglichen Angststörung (55 % vs. 68 %) und einer möglichen depressiven Störung (54 % vs. 66 %), erfasst mithilfe des PHQ-4, lag im deutschen FMS-Verbraucherbericht des Jahres 2011 (1661 Teilnehmer; [15]) niedriger als in der vorliegenden Studie.

Im Jahr 2002 untersuchten Thieme et al. [28] 115 FMS-Patientinnen in einem stationären rheumatologischen Setting mit einem strukturierten klinischen Interview auf psychische Störungen. Das Durchschnittsalter der Patientinnen lag bei 48 Jahren, die Schmerzdauer bei 9 Jahren. Ein Anteil von 42 % der Patientinnen war noch berufstätig; 41 % der Patientinnen berichteten über sexuellen Missbrauch in der Kindheit. Im strukturierten Interview erfüllten 32 % die Kriterien einer Angststörung, 35 % die Kriterien einer depressiven Störung und 8 % die einer PTSD. 41 % berichteten in einem Fragebogen (28 Items mit PTSD-Symptomen der Symptom Checklist 90-Revised Form) über mögliche Symptome einer PTSD. Die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch in der Kindheit war in der Studie von Thieme et al. [28] höher, die Raten der seelischen Störungen niedriger als in der vorliegenden Studie. Die unterschiedlichen Prävalenzraten seelischer Störungen in beiden Studien können auf die unterschiedlichen Erfassungsmethoden seelischer Störungen (strukturiertes Interview vs. Fragebogen) zurückgeführt werden. Eine alternative Erklärung ist, dass die Patientinnen in der Thieme-Studie (relativ) seelisch gesünder waren als die Patienten dieser Studie. In einer monozentrischen Studie einer israelischen rheumatologischen Klinik erfüllten 57 % der Patienten die Kriterien einer PTSD im strukturierten klinischen Interview nach DSM-IV [4].

In einer Studie des Jahres 2009 an FMS-Patienten verschiedener Settings [13] fanden wir keine Unterschiede in der körperlichen und seelischen Symptombelastung. In dieser Studie fanden wir eine höhere durchschnittliche körperliche und seelische Symptombelastung sowie häufiger mögliche depressive Störungen bei den Patienten aus dem psychosomatisch-schmerzmedizinischen Setting im Vergleich zu Patienten aus dem rheumatologischen Setting. Die Unterschiede können durch die größere statistische Power der vorliegenden Studie erklärt werden.

In einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung des Jahres 2008 erfüllten 12,5 % der Personen, welche die Survey-Kriterien eines FMS erfüllten, auch die Kriterien eines Major-depression-Syndroms und 12,5 % die eines anderen depressiven Syndroms (gemessen mithilfe des Depressionsmoduls des PHQ-9; [11]). In der bevölkerungsbasierten Studie des Jahres 2008 berichteten 22 % der Senioren (60–85 Jahre) mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen über mindestens ein einschneidendes Lebensereignis in der Traumaliste. Als häufigste traumatische Erlebnisse wurden die Zeugenschaft eines schrecklichen Ereignisses bei einer anderen Person (19 %) und die Diagnose einer schweren Krankheit (12 %) genannt. Andere traumatische Erlebnisse (5 %) wurden deutlich seltener berichtet als von den Teilnehmern dieser klinischen Stichprobe. Die Kriterien einer PTSD erfüllten 11 % der Senioren [15]. In Übereinstimmung mit der Trichterhypothese [32] ist die Rate seelischer Störungen bei FMS-Patienten in klinischen Einrichtungen höher als die von Personen aus der allgemeinen Bevölkerung, welche die FMS-Kriterien erfüllen.

Einschränkungen der Studie

Ein strukturiertes klinisches Interview wurde wegen fehlender zeitlicher, räumlicher und personeller Ressourcen der nichtpsychosomatischen Studienzentren nicht durchgeführt. Bei der Planung der Studie erklärten die potenziellen Kooperationspartner, dass sich ein strukturiertes klinisches Interview nicht in die Routineabläufe einer rheumatologischen Praxis oder Ambulanz integrieren lässt. Allerdings sind die Inhalte der Fragen des PTSD-Moduls des strukturierten Interviews für psychische Störungen des DSM-IV (SKID; [30]) identisch mit den Items der PDS [8]. Die beiden Fragen des PHQ-2 erfassen 2 Hauptsymptome der „major depression“ nach DSM-IV und die beiden Fragen des GAD-2 2 Hauptsymptome der generalisierten Angststörung nach DSM-IV [1].

Den Studienärzten war die Wahl etablierter FMS-Diagnosekriterien freigestellt. Die Konkordanzraten zwischen den ACR-1990- und AWMF-Kriterien lag bei 87 % [12] und die zwischen den ACR-1990- und ACR-2010-Kriterien bei 73 % [15] bei je einer Multicenterstudie, an der auch einige der Zentren dieser Studie teilnahmen. Die körperliche und psychische Symptomlast der Patienten, die nach diesen Kriterien diagnostiziert wurden, unterschieden sich nicht [12, 15]. Eine Konfundierung von Settingunterschieden durch die Verwendung unterschiedlicher diagnostischer Kriterien in dieser Studie ist daher unwahrscheinlich.

FMS-Patienten haben die Tendenz, multiple körperliche und seelische Beschwerden mit hoher Ausprägung zu berichten [34]. Diese Tendenz wurde durch psychologische Mechanismen wie vermehrte interozeptive Aufmerksamkeit, Hypervigilanz und vermehrte symptombezogene Angst (Katastrophisieren) erklärt [3]. Die Häufigkeit seelischer Störungen bei FMS-Patienten, die auf Selbstbeurteilungsinstrumenten basieren, kann daher überschätzt werden.

Falsch-positive Diagnosen einer PTSD sind bei FMS-Patienten aus folgenden weiteren Gründen möglich:

  • Beim Einsatz der PDS im Rahmen der klinischen Routinediagnostik eines Studienzentrums (Saarbrücken) sowie in der Pilotstudie des Studienzentrums Blieskastel (Bernardy 2013, persönliche Mitteilung) war aufgefallen, dass einige FMS-Patienten bei den Fragen nach den potenziell traumatischen Ereignissen 10–12 in der Traumaliste (Krankheit, Zeuge, sonstiges Ereignis) Lebensereignisse als Trauma einordneten, z. B. die Mitteilung der Diagnose eines FMS (Krankheit) oder eine Scheidung (sonstiges Ereignis), welche das Traumakriterium des DSM-IV – tatsächlicher oder drohender Tod, tatsächliche oder drohende ernsthafte Körperverletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit von einem selbst oder anderen [1] – nicht erfüllten.

  • Zwei Symptome des D-Kriteriums der PTSD, nämlich Schlaf- und Konzentrationsstörungen, sind Hauptsymptome des FMS [5].

  • Durch die von der Ethikkommission geforderte Patienteninformation über die Fragestellungen der Studie war es möglich, dass die Patienten im Sinne einer Ursachensuche Lebensereignisse retrospektiv als belastend bzw. traumatisch bewerteten. In einer bevölkerungsbasierten Studie an deutschen Senioren (60–85 Jahre), die den Teilnehmern keine Informationen über einen Fokus der Studie auf Schmerz und Traumatisierungen gab, fanden wir höhere Raten von Traumata und PTSD bei Senioren mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen als bei Senioren ohne bzw. mit oligolokulärem Schmerz. Die Häufigkeit der berichteten potenziell traumatischen Erlebnisse (schwerer Unfall: 8,1 %, Vergewaltigung: 4,1 %, sexueller Missbrauch: 2,1 %) und einer PTSD (11 %) waren bei den Teilnehmern mit Schmerzen in mehreren Körperregionen jedoch deutlich niedriger als in dieser Studie an FMS-Patienten klinischer Einrichtungen [15].

Die PDS erlaubt keine Unterscheidung zwischen Typ-1- (einmaliges Erlebnis) und Typ-2-Traumata (Serien von Erlebnissen) und kann daher eine komplexe PTSD nicht erfassen [17]. Nach der klinischen Erfahrung erfüllen einige Patienten mit schweren bzw. hoch polysymptomatischen Verlaufsformen eines FMS die Kriterien einer komplexen PTSD.

Insgesamt 84 Personen lehnten die Teilnahme an der Studie primär oder sekundär (Rückgabe nicht ausgefüllter Fragebogen) ab. Wir wissen nicht, ob die Patienten, welche die Studienteilnahme verweigerten, sich in der Häufigkeit potenziell traumatischer Lebensereignisse und seelischer Störungen von den Teilnehmern unterschieden. Aus der Verwendung der Instrumente in der klinischen Routine wissen wir, dass das Nichtausfüllen von Fragebogen zu belastenden Lebensereignissen bei einigen Patienten auf eine Vermeidung der Erinnerung an Traumata zurückzuführen ist.

Zum Zeitpunkt der Studie erfüllten 13,4 % der Patienten nicht die modifizierten diagnostischen ACR-2010-Kriterien eines FMS [33]. Longitudinale Studien mit Patienten, deren FMS-Diagnose durch einen Arzt gestellt wurde, zeigten, dass ein Teil der Patienten zwischen Kriterium-positiv und Kriterium-negativ wechselt. Das Ausmaß der polysymptomatischen Symptombelastung liegt bei Kriterium-negativen Patienten zum Zeitpunkt der Studie (knapp) unter dem für die Diagnose festgesetzten Grenzwert [31].

FMS-Patienten der allgemeinen Bevölkerung und aus der primärmedizinischen Versorgung wurden nicht erfasst.

Ein Vergleich der Häufigkeit möglicher seelischer Störungen in Abhängigkeit von der Versorgungsstufe der Studienzentren (Sekundär- und Tertiärversorgung, Rehabilitationskliniken) ergab keine signifikanten Unterschiede (Einzelheiten auf Anfrage erhältlich).

Fazit für die Praxis

Ein Anteil von 75 % der FMS-Patienten aus klinischen Einrichtungen verschiedener Versorgungsstufen und Fachrichtungen berichtete über schwerwiegende, ein Anteil von 67 % über traumatische Lebensereignisse. Psychische Symptome, die hinweisend auf depressive Störungen bzw. Angststörungen sind, gaben 65 % der untersuchten FMS-Patienten an; 45 % der Patienten erfüllten die Kriterien einer PTSD. FMS-Patienten in psychosomatisch-schmerzmedizinischen Settings gaben die höchste körperliche und seelische Symptombelastung an. Selektionseffekte für schwerere Verlaufsformen des FMS in psychosomatisch-schmerzmedizinischen Einrichtungen durch gezielte Überweisung (zuweisende Ärzte, Veranlassung psychosomatischer Rehabilitationsmaßnahmen durch Rentenversicherungsträger) oder Selbstüberweisung von Patienten bei vermuteter psychischer Störung sind daher möglich.

Die Studie stützt das Modell, das FMS als eine stressassoziierte Störung [29] bei der Mehrheit der FMS-Patienten anzusehen. Bei diesen Patienten äußert sich der Disstress in multiplen körperlichen und seelischen Symptomen [27]. Andererseits gibt es FMS-Patienten ohne einschneidende bzw. traumatische Lebensereignisse und/oder psychische Störungen, sodass das Modell einer stressassoziierten Störung nicht auf alle Betroffenen generalisiert werden sollte.

Depressive Störungen und PTSD haben einen negativen Einfluss auf den Krankheitsverlauf hinsichtlich des Ausmaßes körperlicher Symptome, der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und des Ansprechens auf Therapien [5, 22] des FMS. Ein Screening auf vermehrte seelische Symptombelastung sollte daher bei allen FMS-Patienten in allen klinischen Einrichtungen bei Erstdiagnose durchgeführt werden, eine weitergehende fachpsychotherapeutische Exploration bei positivem Screening-Ergebnis [6, 19]. Bei schweren Verlaufsformen des FMS sollte eine psychotherapeutische und/oder psychopharmakologische Behandlung psychischer Komorbiditäten erfolgen [19].