Prävalenz

Chronische wie auch chronisch rezidivierende Schmerzen können zu erheblichen psychischen und psychosozialen Konsequenzen für das Kind und seine Familie führen [20]. Die Kinder entwickeln im Verlauf oft zusätzlich emotionale Symptome. Sie fehlen häufiger in der Schule als gesunde Kinder [18, 39, 42]. Nichtbehandelt persistieren die Schmerzen in der Regel bis ins Erwachsenenalter [5, 18, 34], was mit erheblichen Kosten für den Arbeitgeber und das Gesundheitssystem verbunden ist [17, 23].

Die Datenlage zur Prävalenz chronischer Schmerzen und somatoformer Schmerzstörungen im Kindes- und Jugendalter ist spärlich [6, 34]. Die publizierten epidemiologischen Daten konstatieren eine Prävalenz von 25–30% [33, 34, 30]. Insbesondere die Kopfschmerzprävalenz bei Kindern scheint in den letzten Jahren zuzunehmen [33, 38]. Eine Untersuchung zu Epidemiologie und Ätiologie somatoformer Schmerzstörungen im Kindesalter (nach DSM-IV) fand eine Prävalenz von 2,7% [28], was für Deutschland bedeuten würde, dass mindestens 200.000 Kinder betroffen wären [40].

Therapiekonzepte

Die psychologische Schmerztherapie bei Kindern zeigte sich bislang vornehmlich in ambulanten Therapiekonzepten als wirksam [10, 14, 25, 27, 36, 41], wobei gerade die Implementierung kognitiv-behavioraler schmerztherapeutischer Interventionen für den Erfolg einer Schmerztherapie ausschlaggebend zu sein scheint [12, 19, 44]. Es wird von verschiedener Seite vorgeschlagen, bei einer extremen schmerzbedingten Lebensbeeinträchtigung, hohen Schulfehlzeiten, zeitgleich bestehenden emotionalen Problemen oder Scheitern ambulanter Therapiemaßnahmen ein stationäres multimodales Schmerztherapieangebot zu machen [13, 19, 44]. Bei Erwachsenen mit chronischen Schmerzen ist die Wirksamkeit stationärer oder tagesstationärer multimodaler Therapieangebote gut belegt [1, 8, 23, 29, 32]. Zudem konnte für Erwachsene mit stark chronifizierten Schmerzen gezeigt werden, dass diese mehr von einem stationären als von einem ambulanten schmerztherapeutischen Angebot profitieren [43].

Bei Kindern existieren über die Wirksamkeit stationärer Schmerztherapieprogramme nur sehr wenige Daten, die zudem nur eine Follow-up-Untersuchung nach nur 3 Monaten beinhalten oder ausschließlich stark selektierte Stichproben beschreiben [13, 37]. Unseres Wissens existiert keine Studie, die über einen längeren Zeitraum die Wirksamkeit einer stationären multimodalen Schmerztherapie für Kinder mit starker schmerzbedingter Lebensbeeinträchtigung und/oder somatoformen Schmerzstörungen untersucht.

Dattelner Stationäres Schmerztherapieprogramm für Kinder und Jugendliche (DSSKJ)

Je nach Verlauf dauert der typische stationäre Aufenthalt 3–4 Wochen. Die Kinder werden von einem multiprofessionellen Team in Kooperation mit der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf der Psychosomatischen Station der Vestischen Kinder- und Jugendklinik betreut (Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dipl.-Psychologen, Kinderkrankenschwester- und -pfleger, Erzieherin, Motopädin, Kunst- und Musiktherapeut, Physiotherapeut, Sozialarbeiter).

Wöchentlich finden 3–4 einzeltherapeutische Sitzungen sowie ein familientherapeutischer Termin statt. Ab der 2. Woche sind Belastungserprobungen im häuslichen Umfeld vorgesehen, die je nach Therapieziel (z. B. Schulbesuch in der Heimatschule) zwischen einem und 3 Tagen dauern. Bezüglich der schmerzbezogenen Interaktion finden begleitete Hospitationen der Eltern statt. In Schulzeiten wird für die Kranken durch die Schule Unterricht angeboten. Tabelle 1 zeigt einen typischen Therapiewochenplan eines Kindes mit chronischen Schmerzen. Die individuelle Therapieplanung greift auf Elemente aus 6 Therapiemodulen zurück (Tabelle 2).

Tabelle 1 Typischer Therapieumfang für einen Jugendlichen mit chronischen Schmerzen
Tabelle 2 Therapiemodule des Dattelner stationären Schmerztherapieprogramms für Kinder und Jugendliche (DSSKJ)

Fragestellung

In einer 1. Auswertung untersuchten wir, inwiefern sich die o. a. Schmerztherapie nach 3, 6 und 12 Monaten auf die durchschnittliche Schmerzstärke, die Anzahl der Schulfehltage und die subjektive Lebensbelastung auswirkt.

Methodik

Seit dem 07.01.2004 werden alle Therapieverläufe von Kindern im Alter von über 7 Jahren, die zur multimodalen Kinderschmerztherapie auf die psychosomatische Kinderschmerzstation der Vestischen Kinder- und Jugendklinik aufgenommen werden, systematisch evaluiert. Die hier vorgestellte 1. Auswertung der bis 2008 laufenden Studie bezieht sich auf den Zeitraum vom 07.01.2004 bis zum 12.05.2005.

Einschlusskriterien

Im Institut für Kinderschmerztherapie und pädiatrische Palliativmedizin (IKP) muss eine stationäre Aufnahme im Rahmen eines ambulanten Vorstellungstermins sowohl durch den ärztlichen als auch psychologischen Schmerztherapeuten befürwortet werden. Die stationäre Schmerztherapie wird befürwortet, wenn eine starke Lebensbeeinträchtigung durch die Schmerzen vorliegt (nach Einschätzung der Schmerztherapeuten), eine Behandlungsmotivation des Kindes sowie seiner Eltern erkennbar ist, sie bereit sind, an einem Familiengespräch/Woche teilzunehmen sowie mindestens 3 der folgenden 5 Punkte beim Vortermin erfüllt sind:

  • Schmerzdauer ≥6 Monate,

  • Dauerschmerzen mit einer durchschnittlichen Schmerzstärke ≥5 (numerische Ratingskala, NRS 0–10),

  • Schmerzspitzen ≥8 (NRS 0–10) mit einer Häufigkeit von ≥2/Woche,

  • ≥5 Schulfehltage, bezogen auf die letzten 4 Wochen,

  • hohe subjektive Lebensbeeinträchtigung aus Sicht des Patienten (Pain-disability-Index für Kinder, PDI-Score ≥36, Bereich 12–60).

In Ausnahmefällen war nach ärztlicher Rücksprache und Zustimmung der Schmerztherapeuten auch ohne vorheriges Vorgespräch und Datenerhebung die Verlegung aus einem entfernten Krankenhaus direkt auf die Station möglich.

Evaluationsmethoden und -zeitpunkte

Bei stationärer Aufnahme wurde als Screeninginstrument der Dattelner Kinderschmerzfragebogen (DKSF) in der Fassung für Kinder (-K, 4–10 Jahre), Jugendliche (-J, >10 Jahre) und Eltern (-E) durchgeführt. Aus diesem wurden die durchschnittliche Schmerzstärke, die Anzahl der Schulfehltage, bezogen auf die letzten 4 Wochen, sowie die schmerzbedingte Einschränkung der Lebensqualität (Pain Disability Index, PDI) entnommen. Zusätzlich wurden standardisierte Erhebungen zu kindlicher Angst (Angstfragebogen für Schüler, AFS) und Depression (Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche, DIKJ) sowie kognitiver Bewältigungsstrategien (Pediatric Pain Coping Inventory, PPCI) durchgeführt, im Rahmen dieser Auswertung jedoch noch nicht berücksichtigt. Drei, 6 und 12 Monate nach Entlassung wurde im Rahmen der Katamneseerhebung zusätzlich die Veränderung der Schmerzhäufigkeit und durchschnittlichen Schmerzstärke zu der Zeit vor Beginn der Schmerztherapie auf einer 5-Punkt-Likert-Skala erfasst. Alle in dieser Studie berücksichtigten Erhebungsinstrumente sind in Tabelle 3 aufgelistet.

Tabelle 3 Verwendete Erhebungsinstrumente zu den einzelnen Messzeitpunkten

Die standardisierten Erhebungen wurden in dem der stationären Aufnahme vorangehenden Vorstellungstermin in der Kinderschmerzambulanz oder (in Ausnahmefällen) am 1. Tag der stationären Aufnahme und bei Wiedervorstellung in der Kinderschmerzambulanz durchgeführt. Hatten die Kinder keinen Wiedervorstellungstermin in der Kinderschmerzambulanz, weil beispielsweise die weitere Betreuung durch eine Institution vor Ort geleistet oder unnötig wurde, wurden die Fragebögen mit einem beiliegendem Freiumschlag per Post verschickt. Antworteten die Familien auf das 1. Anschreiben nicht, wurden sie von einer geschulten Mitarbeiterin der Schmerzambulanz telefonisch kontaktiert. In diesen Fällen (3 Patienten für den Messzeitpunkt KAT 6 und 8 Kinder für den Messzeitpunkt KAT 12) wurden ausschließlich die durchschnittliche Schmerzstärke der letzten sieben Tage erhoben, die subjektive Einschätzung der Veränderung der Frequenz und Stärke der Schmerzen sowie die Anzahl der Schulfehltage der letzten 4 Wochen.

Nonresponder

Als Nonresponder wurden für die laufende Studie diejenigen Kinder definiert, die bei der letzten KAT-Erhebung 2 der 4 folgenden Kriterien erfüllten:

  • einen gleichen oder höheren PDI-Score als bei der PRAE-Erhebung,

  • eine gleiche oder höhere Schmerzhäufigkeit und Schmerzstärke als bei der PRAE-Erhebung,

  • eine gleiche oder höhere Anzahl an schmerzbedingten Schulfehltagen (SFT) in den letzten 4 Wochen vor der jeweiligen Erhebung als bei der PRAE-Erhebung,

  • eine gleiche oder höhere durchschnittliche Schmerzstärke (DS) in den letzten 7 Tagen vor der letzten KAT-Erhebung als bei der PRAE-Erhebung.

Ethikkommission

Die Arbeitsevaluation der psychosomatischen Kinderschmerzstation erfolgte im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für Krankenhäuser zur Erstellung eines Qualitätsberichts. Ein positives Votum der Ethikkommission der Universität Witten/Herdecke wurde für die Studie eingeholt.

Statistik

Der Vergleich der Messwerte erfolgte zwischen allen Messzeitpunkten mit dem Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test. Ein p <0,05 wurde als signifikant angesehen. Bei der Darstellung der Grafiken wurden der besseren Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit halber jeweils der Mittelwert sowie das Konfidenzintervall angegeben. Die Berechnung der Statistik wurde mit SPSS 13.0 durchgeführt.

Ergebnisse

Patientenkollektiv

Insgesamt erfüllten 77 Kinder während des Studienzeitraums die Einschlusskriterien. Alle Kinder hatten tägliche Schmerzen. Im untersuchten Zeitraum haben 5 Kinder das stationäre multimodale Programm vorzeitig (<14 Tage stationärer Aufenthalt) beendetet und wurden von der Analyse ausgeschlossen. Zwei Kinder waren mit dem stationären Programm unzufrieden. Drei Kinder (oder ein Elternteil) litten an starkem Heimweh und wollten deswegen vorzeitig das Programm beenden.

Von den 72 zur Analyse verbleibenden Kinder waren 42 Mädchen (58%) und 30 Jungen (42%). 65 (von 72 möglichen) Kindern konnten zum Zeitpunkt KAT3 evaluiert, 27 (von 49) an KAT6 und 30 (von 30) an KAT12. Für 33% (n=24) Kinder war vor der Datenerhebung schmerzbedingt praktisch kein Schulbesuch in den letzten 4 Wochen mehr möglich (≥15 Schulfehltage). Weitere Daten der Kinder bei Studieneintritt finden sich in Tabelle 4.

Tabelle 4 Familienstand der Eltern und Schulform der Patienten

Erhebungen bei stationärer Aufnahme (PRAE)

Die Kinder waren zu Beginn der stationären Aufnahme im Mittel 13,4 Jahre alt und litten durchschnittlich bereits seit über 3 Jahren an chronischen Schmerzen. Durchschnittlich wurden die Schmerzen als stark (6,3 von 10; NRS 0–10) eingestuft. Die Kinder fehlten aufgrund von Schmerzen durchschnittlich knapp 2 der letzten 4 Wochen in der Schule. Im Mittel gaben die Kinder an, überdurchschnittlich stark (PDI 37,8) durch die Schmerzen in ihrem Leben beeinträchtigt zu sein (Tabelle 5). In Abb. 1 ist die Verteilung der Diagnosen bei Entlassung aus der stationären Schmerztherapie dargestellt. Die Mehrzahl der Kinder litt unter einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (Kopf: n=40; Rücken: n=8; Ohr: n=1). Zehn Kinder litten unter einer somatoformen autonomen Funktionsstörung (oberer oder unterer Gastrointestinaltrakt: n=10).

Tabelle 5 Patientendaten bei Studienbeginn
Abb. 1
figure 1

Diagnosen der insgesamt 72 Kinder (n; % der Einzeldiagnosen)

Katamneseerhebungen (KAT 3, 6, 12)

Die durchschnittliche Schmerzstärke (DS) der letzten 7 Tage vor dem jeweiligen Erhebungszeitpunkt nahm vom Ausgangswert (PRAE: 6,3, n=72) zu den einzelnen Nacherhebungspunkten signifikant ab (KAT3: 2,9, n=65; KAT6: 2,3, n=27; KAT12: 2,9, n=30; Abb. 2). Sie änderte sich zwischen den einzelnen Nachbeobachtungszeitpunkten nicht mehr.

Abb. 2
figure 2

Durchschnittliche Schmerzstärke im Verlauf; Mittelwert + 95%-Konfidenzintervall. * Im Vergleich zu PRAE, Z = −6,3, p=0,000; ** im Vergleich zu PRAE, Z = −3,9, p=0,000; *** im Vergleich zu PRAE, Z = −4,3, p=0,000

Die durchschnittliche Anzahl der schmerzbedingten Schulfehltage (SFT) in den letzten 4 Schulwochen vor dem jeweiligen Erhebungszeitraum sank von 9,2 (PRAE, n=72) auf 1,8 (KAT3, n=64), 1,5 (KAT6, n=27) und 1,4 (KAT12, n=30) signifikant ab (Abb. 3). Die mittlere Anzahl schmerzbedingter Schulfehltage unterschied sich nicht zwischen KAT3, KAT6 und KAT12. Zweiundzwanzig von 24 Kindern mit mindestens 15 (von 20) Schulfehltagen zum Messzeitpunkt PRAE gaben an den KAT-Erhebungen weniger als 5 schmerzbedingte Schulfehltage in den letzten 4 Wochen vor der jeweiligen KAT Erhebung an.

Abb. 3
figure 3

Schmerzbedingte Schulfehltage im Verlauf; Mittelwert + 95%-Konfidenzintervall. * Im Vergleich zu PRAE, Z = −6,1, p=0,000; ** im Vergleich zu PRAE, Z = −3,8, p=0,000; *** im Vergleich zu PRAE, Z = −3,7, p=0,000

Die durchschnittliche Lebensbelastung (PDI) war im Vergleich zum PRAE-Wert (37,8) an allen KAT-Zeitpunkten signifikant niedriger (KAT3: 24,5, n=65; KAT6: 22,0, n=24; KAT12: 25,8, n=22; Abb. 4). Die PDI-Werte zu den Zeitpunkten KAT3, KAT6 und KAT12 unterschieden sich nicht.

Abb. 4
figure 4

Pain Disability Index im Verlauf; Mittelwert + 95%-Konfidenzintervall. * Im Vergleich zu PRAE, Z = −6,1, p=0,000; ** im Vergleich zu PRAE, Z = −3,3, p=0,001; *** im Vergleich zu PRAE, Z = −3,3, p=0,001

Die positiven Auswirkungen der stationären Schmerztherapie spiegeln sich in der subjektiven Bewertung der Veränderung der Häufigkeit und der Stärke der Schmerzen wider. So gaben 72% der Kinder zum Messzeitpunkt KAT3, 77% zum Messzeitpunkt KAT6 und 80% der Kinder zum Messzeitpunkt KAT12 an, dass die Schmerzen seltener waren (Bewertung 1 und 2 auf der 5-Punkt-Likert-Skala, Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Veränderung der Schmerzhäufigkeit nach 3, 6 und 12 Monaten im Vergleich zur Zeit vor Therapiebeginn

76% der Kinder gaben zum Messzeitpunkt KAT3, 74% zum Messzeitpunkt KAT6 und 66% zum Messzeitpunkt KAT12 an, dass ihre Schmerzen abgenommen hätten (Bewertung 1 und 2 auf der 5-Punkt-Likert-Skala, Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Veränderung der Schmerzstärke in 7 Tagen nach 3, 6 und 12 Monaten im Vergleich zur Zeit vor Therapiebeginn

Nonresponder

Dreizehn der 72 Kinder und Jugendlichen waren Nonresponder (18%). Zehn gaben an, dass der stationäre Aufenthalt zu keiner Veränderung der Schmerzsituation geführt habe. Drei (2 zum Messzeitpunkt KAT12, einer zum Messzeitpunkt KAT6) berichteten, dass sich ihr Zustand verschlechtert habe.

Diskussion

Bei den hier vorgestellten Kindern mit stark chronifizierten Schmerzen und einer starken Lebensbeeinträchtigung führte das auf 3 Wochen konzipierte stationäre multimodale Schmerztherapieprogramm 3, 6 und 12 Monate später zu einer Halbierung der durchschnittlichen Schmerzstärke sowie zu einer mehr als 80%igen Reduktion der Anzahl schmerzbedingter Schulfehltage. Nach der stationären Entlassung konnte eine subjektive Verbesserung der Lebensqualität gemessen werden. Diese Ergebnisse finden ihren Ausdruck in der subjektiven Einschätzung der Schmerzhäufigkeits- sowie der Veränderung der Schmerzstärke. Nur wenige Kinder profitierten nicht von dem Programm, wobei die Definition eines Nonresponders bewusst sehr eng gewählt wurde.

Patientenkollektiv

55% der Kinder gaben als ihren Hauptschmerzort den Bereich des Kopfes an. Bislang existieren keine Daten über die Effektivität einer stationären multimodalen Schmerztherapie anhaltender somatoformer Schmerzstörungen mit dieser Schmerzlokalisation. Die beiden Studien, die sich mit stationärer multimodaler Schmerztherapie im Kindesalter beschäftigen, haben keine Kinder [37] bzw. nur einen einzigen Jugendlichen mit dieser Schmerzhauptlokalisation eingeschlossen [13].

Zwei jüngere Metaanalysen zur Effektivität kognitiv-behavioraler ambulanter Schmerztherapien bei Kindern mit schmerzbedingter mittelgradiger Lebensbeeinträchtigung lassen eine prinzipielle positive Effektivität multimodaler Behandlungsansätze bei dieser Schmerzlokalisation vermuten [14, 25]. 70% der hier berichteten Kinder und Jugendlichen hatten chronische Schmerzen im Kopf- oder Bauchbereich. Damit ist die Stichprobe der hier vorgestellten Studie weder mit der von Sherry et al. [37] oder mit der von Eccleston et al. [13] vergleichbar.

Nach epidemiologischen Studien sind Bauch- und Kopfschmerzen die häufigsten Schmerzlokalisationen bei chronischen Schmerzen im Kindesalter [19]. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die von uns behandelten pädiatrischen Patienten eine repräsentativere Stichprobe von Kindern- und Jugendlichen mit stark chronifizierten Schmerzen im Kindes- und Jugendalter darstellen als die von Sherry et al. [37] und Eccleston et al. [13] behandelten Kinder. Erklärbar ist dies dadurch, dass Sherry et al. und Eccleston et al. ihre Kinder in spezialisierten „Rheumakliniken“ rekrutierten, unsere Patienten hingegen eine allgemeine Kinderschmerzambulanz als primäre Anlaufstelle hatten.

Das Alter der von uns behandelten Kinder und Jugendlichen sowie die Schmerzdauer bis zum stationären Aufenthalt sind vergleichbar mit den von Eccleston et al. und Sherry et al. therapierten Patienten.

Datenerhebung

65 von 72 möglichen Patienten konnten zum Messzeitpunkt KAT3, 27 von 49 möglichen zum Messzeitpunkt KAT6 und 30 von 30 möglichen zum Messzeitpunkt KAT12 befragt werden. Die fehlenden Erhebungen zu KAT6 hatten logistische Gründe. Da alle Patienten an KAT12 befragt werden konnten und zu diesem späteren Zeitpunkt die Therapieeffekte stabil blieben, verfälschen unserer Einschätzung nach die fehlenden Daten zu KAT6 die Ergebnisse unserer Auswertung kaum.

Wissenschaftliche Basis für ein stationäres multimodales Schmerztherapiekonzept

Der Einfluss familiärer Faktoren auf die Schmerzproblematik im Kindesalter sowohl im positiven als auch negativen Sinn ist gut untersucht [20, 22, 24, 31, 42]. Traumatische Stressreaktionen sind möglicherweise bei der Entstehung und/oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beteiligt [4, 11, 21, 35]. In 2 aktuellen Metaanalysen wurde der mittlere bis hohe Effekt kognitiv-behavioraler Schmerztherapien (v. a. in Bezug auf die Therapie von Kopfschmerzen) bei Kindern und Jugendlichen belegt [14, 25]. Somit bietet sich ein kombiniertes verhaltens- und familientherapeutisches Vorgehen für eine stationäre multimodale Schmerztherapie bei Kindern unter Einbeziehung traumatherapeutischer Konzepte an, wie wir es in unserem Programm (Tabelle 2) etabliert haben.

In der Schmerzforschung ist das biopsychosoziale Modell als ein Erklärungsmodell zur Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen anerkannt [3]. Deswegen wird bei vielen Schmerzerkrankungen im Kindes- und Erwachsenenalter ein kombiniertes medikamentös-psychotherapeutisches Vorgehen empfohlen [10, 19, 23, 43]. Da sich bei muskuloskelettalen Schmerzerkrankungen im Kindesalter supportive physikalische Therapiemaßnahmen als hilfreich erwiesen haben [7, 13, 37, 41, 43], sind auch diese Therapieelemente in unserem Programm integriert.

Chronische Schmerzen im Kindes- und Jugendalter gehen häufig mit einer Vermeidung schmerzverstärkend wahrgenommener Stressoren sowie mit Schonverhalten, erhöhten Schulfehlzeiten und sozialem Rückzug einher [2]. Dieser Teufelskreislauf wird durch die familiäre Interaktion (Modelllernen, erhöhte Aufmerksamkeit oder Unterstützung des Vermeidungsverhaltens) noch verstärkt [9, 42]. Aus dieser dysfunktionalen Interaktion resultiert häufig eine verminderte soziale Kompetenz. Symptomverstärkend wirken sich prämorbid bestehende emotionale Störungen aus [9, 15]. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, beinhalten viele ambulante schmerztherapeutische Konzepte auch Elemente eines sozialen Kompetenz- und Problemlösetrainings [10, 14, 19, 25, 36].

Hinsichtlich der Edukation von Kindern mit chronischen Schmerzen als auch deren Eltern wird empfohlen, die meist primär somatische Fixierung ernst zu nehmen und Schritt für Schritt zu erweitern, unabhängig davon, ob man nun davon ausgeht, dass Schmerzen Ausdruck tieferliegender emotionaler Probleme sind oder letztere eine Folge der Schmerzerkrankung darstellen [12, 19, 44]. Deshalb sollten stationäre Schmerztherapieprogramme für Kinder primär in Pädiatrien — in enger Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie — als in Kinder- und Jugendpsychiatrien — in Kooperation mit der Pädiatrie — angesiedelt werden.

Ein stationäres schmerztherapeutisches Konzept sollte alle genannten Facetten berücksichtigen und entsprechend der biopsychosozialen Genese einer Schmerzerkrankung sowohl medizinische, psychologische als auch physikalische Ansätze unter enger Einbeziehung von Familie und Schule vereinen.

Vergleich mit anderen Studien

Hinsichtlich der Verringerung der Schulfehlzeiten sowie der schmerzbedingten subjektiven Lebensbeeinträchtigung entsprechen unsere Daten den Ergebnissen der bislang einzigen Studie zur Wirksamkeit stationärer Schmerztherapie für Kinder mit chronischen Schmerzen verschiedenster Ursachen [13]. Allerdings zeigten unsere Patienten eine signifikante Reduktion der durchschnittlichen Schmerzstärke, was durch das unterschiedliche Klientel bedingt sein könnte: Hatten die Patienten in der Studie von Eccleston et al. [13] vornehmlich muskuloskelettale Schmerzen, litten unsere Kinder öfter an chronischen Dauerkopfschmerzen im Rahmen einer somatoformen Schmerzstörung. Unsere Daten stehen ebenfalls in Einklang mit einer allerdings nur muskuloskelettale Erkrankungen betreffenden Studie zur stationären multimodalen Schmerztherapie bei Kindern [37].

Erstmalig wurden als psychotherapeutischer Standard Interventionen aus dem Bereich der kognitiv-behavioralen Schmerz-, der Familien- und Traumatherapie in einem stationären Programm kombiniert. Gerade das Training der in der Traumatherapie verbreiteten Techniken, z. B. der 5-4-3-2-1-Technik (nach Dolan) oder des „sicheren Ortes“ (nach Reddemann) sowie der Einsatz von EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing nach Shapiro) erwiesen sich laut Aussagen der betreffenden Patienten als sehr hilfreich. Es ist allerdings noch ungeklärt, wie und warum traumatherapeutische Interventionen bei chronischen Schmerzsyndromen auch ohne das Vorhandensein einer posttraumatischen Belastungsstörung im Kindesalter hilfreich sein können. Wir vermuten, dass traumatherapeutische Interventionen sowohl zu einer Reduktion der Hilflosigkeit im Umgang mit chronischen Schmerzen als auch zu einer erhöhten Kontrollüberzeugung in Bezug auf Schmerzen führen.

Einschränkungen

Obwohl unsere Daten sehr ermutigend sind und erstmalig einen Hinweis auf die längerfristige Wirksamkeit eines relativ kurzen, stationären multimodalen schmerztherapeutischen Programms für Kinder mit chronischen Schmerzen geben, ist die Aussagekraft der Studie begrenzt. Unsere Studie ist zwar prospektiv angelegt, umfasst aber keine Kontrollgruppe, sodass die Effektivität des Programms im Vergleich zu anderen Ansätzen und nichtbehandelten Kindern noch zu belegen ist; ebenso können therapieunspezifische Effekte nicht ausgeschlossen werden.

Einige Kinder erhielten vor der stationären Aufnahme eine physikalische und/oder psychologische Therapie, die auch nach dem stationären Aufenthalt fortgeführt wurde. Zum Zeitpunkt der vorliegenden Auswertung ist noch unklar, ob sich diese Subgruppe hinsichtlich des Therapieerfolgs von der Subgruppe ohne vorige therapeutische Unterstützung unterscheidet.

Bei den unterschiedlich häufigen ambulanten Wiedervorstellungen im Institut für Kinderschmerztherapie und pädiatrische Palliativmedizin (IKP) wurden neben der Erhebung der Studiendaten noch anstehende Fragen der Kinder sowie ihrer Eltern besprochen und therapeutische Interventionen fortgeführt. Auch liegen noch zu wenige Daten vor, um entscheiden zu können, ob die Anzahl der Vorstellungstermine beim IKP positiv mit dem Therapieerfolg korrelieren.

In unserer Studie wurden ähnliche Messinstrumente für Schmerzen, schmerzbedingte Lebensbeeinträchtigung und mögliche Komorbiditäten eingesetzt wie von Eccleston et al. [13]. Allerdings sind diese Tests für unser Patientenkollektiv schlecht evaluiert, was die Aussagekraft dieser Messinstrumente einschränkt. Aufgrund mangelnder Alternativen wurden sie dennoch verwendet.

Fazit für die Praxis

Die hier vorgestellten Ergebnisse untermauern die These, dass eine relativ kurze stationäre multimodale Schmerztherapie bei Kindern mit chronischen Schmerzen effektiv ist. Weitere Untersuchungen müssen klären, inwieweit die beobachteten Effekte bis ins Erwachsenalter anhalten, um somit den Stellenwert der Kinderschmerztherapie hinsichtlich einer Vorbeugung der Schmerzchronifizierung ins Erwachsenenalter bestimmen zu können.