Abwehrmechanismen und Abwehrprozesse

Auch heute noch zählt die Lehre von den Abwehrmechanismen zum Kernbereich psychoanalytischer Theorie. Unterschiedliche Abwehrmechanismen und Abwehrprozesse charakterisieren unterschiedliche Neurosearten sowie Typen und Reifegrade der Persönlichkeitsentwicklung. Zu Beginn der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie stellten sie den Versuch dar, die unbewussten Hemmungsprozesse konzeptuell zu erfassen, die sich im Dienste kulturell vorgegebener Werte und Normen der Befriedigung aggressiver und sexueller Triebimpulse entgegenstellen und so hinter den symbolisch aufgeladenen neurotischen Symptomen stehen, um deren genetisches Verstehen Freud bemüht war (Freud 1894a). In späteren Phasen seiner Theoriebildung erschienen sie dann zunehmend als Instrumente des um Kompromisse zwischen Triebansprüchen einerseits und Über-Ich-Geboten und -Verboten andererseits ringenden Ich, das die Triebgewalten zu steuern versucht (Freud 1923b; A. Freud 1936).

Schließlich traten dann in der Nachfolge Freuds zunehmend die objektbezogenen und interpersonellen Aspekte von Abwehrprozessen in den Blick, verbunden mit der Gegenüberstellung von sprachnahen „reifen“ intrapsychischen Abwehrmechanismen, wie sie für neurotische Krankheitsprozesse typisch sind, und „frühen“ Abwehrmechanismen. Als spezifisch für Letztere erwies sich, dass das Funktionieren der Abwehr die Einbeziehung und Mitwirkung anderer Personen durch eher präverbal vermittelte szenische Interaktion voraussetzt. In dieser Sicht verleiht der Grad der Integration heterogener Aspekte des eigenen Ich, der zugleich den Grad der Integration des Körper-Ich und den Grad der Sicherheit der Grenzziehung zwischen Ich und Nicht-Ich anzeigt, jedem Abwehrvorgang eine charakteristische Färbung und lässt so klinisch das Strukturniveau der Persönlichkeit erkennen (Kernberg 1991). Das Gesagte impliziert, dass eine gewisse Reife der psychischen Funktionen auch Voraussetzung dafür ist, dass das Gegenüber als Du, das heißt als Alter Ego erlebt werden kann. Auf niedrigeren Stufen des Integrationsniveaus der Persönlichkeit zerfällt dieses Gegenüber hingegen in Teilobjekte, die nicht Personcharakter haben, sondern im subjektiven Erleben einen Übergangsstatus zwischen bloßen Sachen und Personen einnehmen.

Ich möchte versuchen, nachfolgend einige Überlegungen zur psychoanalytischen Theorie der Abwehr zu formulieren, ausgehend von meiner Beschäftigung mit der Hinterlassenschaft von über 60 Jahren totalitärer Herrschaft im Osten Deutschlands. Diese Bemühung kann als Ergänzung zum gegenwärtig wachsenden Interesse an der von der Totalitarismuserfahrung der Nazidiktatur geprägten „Kriegskinder“-Generation verstanden werden und trifft sich mit dieser Forschungsrichtung in der Grundannahme, dass das damit verbundene „Erbe“ noch lange nachwirken wird (Ermann 2010; Frommer und Trobisch-Lütge 2010; Oliner 2011).

Konkret werde ich versuchen, eine Form von Abwehr zu beschreiben, von der ich meine, dass sie den Namen „Omnipräsenz“ zu Recht reklamieren darf. Dieser Abwehrmechanismus wird zu definieren sein, einschließlich einer Abgrenzung und In-Beziehung-Setzung zu anderen Formen psychopathologischer Reaktion auf chronische gesellschaftliche Repression. Zum Verständnis seiner Psychodynamik werde ich ihn zu benachbarten Abwehrformationen in Bezug setzen. Dabei werden Aspekte der analen Entwicklungsstufe und phobische Aspekte von präanalen narzisstischen Aspekten einschließlich deren Bezüge zu paranoider und manischer Dynamik abgegrenzt. Anschließend möchte ich einen weiteren psychodynamischen Aspekt von Omnipräsenz beleuchten, nämlich den der Wiederkehr des Verdrängten und des Scheiterns am Erfolg. Ich werde dann mit der etwas provozierenden Frage, ob Omnipräsenz für posttotalitäre Persönlichkeiten spezifisch ist oder ob es sich nicht um ein ubiquitäres Phänomen postmoderner Gesellschaftsentwicklungen handelt, dem ganz wesentlich durch Entsinnlichung, Medialisierung und Beschleunigung zwischenmenschlicher Interaktion Vorschub geleistet wird, schließen.

Der Verlust des „Du“ im Anderen als Folge politischer Repression

Dem vorangestellten holzschnittartigen Überblick über die Geschichte der Theorie der Abwehrmechanismen soll nachfolgend ein weiterer Gesichtspunkt hinzugefügt werden, der in der gegenwärtigen Diskussion etwas in den Hintergrund getreten zu sein scheint: Gemeint ist der Zusammenhang zwischen Abwehr und Gesellschaftsstruktur im Sinne der These, dass jede Zeit, das heißt jedes kulturelle und politische System, dem menschlichen Zusammenleben ihren eigenen Stempel aufdrückt und dass sich Spuren dieses Aufdrucks in den Mustern des Erlebens und Handelns der einzelnen Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft wiederfinden.

Grundlage dieser These ist der Zusammenhang zwischen Entwicklung und Abwehr, der psychoanalytisch mit den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Freud 1905d) erstmals systematisch beleuchtet wurde. In einem kurzen, unter dem Titel Charakter und Analerotik erschienenen Aufsatz trägt Freud die Beobachtung nach, dass sich bei einem bestimmten, von ihm „Analcharakter“ (Freud 1908b, S. 208) genannten Persönlichkeitstypus, der durch die Eigenschaften Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn gekennzeichnet sei, in der Analyse regelmäßig ein früher Hang zur lustvollen Beschäftigung mit den eigenen Exkrementen feststellen lasse, der „im Laufe der Entwicklung und im Sinne unserer heutigen Kulturerziehung“ (Freud 1908b, S. 205) später der Abwehr anheimfalle. Auffällig an der zitierten Schrift ist, dass Freud seine Beobachtung mitteilt, ohne die Frage anzuschließen, welchen genauen Zwecken die Einpassung in die „heutige Kulturentwicklung“ denn diene und welche Gefahren in ihr lauerten. Wer sich für diesen Aspekt interessiert, wird auf seine später entstandenen kultur- und religionspsychologischen Schriften verwiesen. Dort, beispielsweise in dem Aufsatz Zur Zukunft einer Illusion, vermisst Freud die Conditio humana klar und unzweideutig als unerbittlichen, grausamen und brutalen Kampf zwischen unbedingten Triebansprüchen einerseits und „Kultureinschränkungen“ (Freud 1927c, S. 336) andererseits, der nicht nur zwischen den Menschen ausgetragen wird, sondern seinen Niederschlag auch in inneren Konflikten zwischen Triebwünschen und kulturell präformierten Über-Ich-Geboten findet.

Unbeleuchtet bleibt in seinem Werk die spezifische gesellschaftliche und kulturelle Situation, in der verinnerlichte Triebunterdrückung von Massen systematisch verstärkt und von herrschenden Eliten missbraucht wird, deren entgrenztes Macht- und Geltungsstreben vor keiner Zerstörung Halt macht. Der jüngeren Generation gesellschaftlich engagierter Psychoanalytiker, allen voran Erich Fromm (1932), war es vorbehalten, am Vorabend der gesellschaftlichen Katastrophe, die Deutschland und von hier aus große Teile der Welt überrollte, zu zeigen, dass Abwehr nicht nur individuell, sondern auch kollektiv pathologische Störungen erzeugen kann. Es erwies sich, dass speziell die verborgene Irrationalität und die destruktive Triebbefriedigung, die im sauberen Ordnen von entmenschlichten Produkten ihren Ausgang nimmt, im Selektieren von Menschen für Transporte in die Gaskammern münden können. Nicht nur theoretisch ließ sich in den heute noch – auch methodisch in ihrer Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden – als wegweisend zu bezeichnenden Untersuchungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zeigen, wie sich autoritäre Gesellschaften in die Charakterstrukturen ihrer Mitglieder einschreiben und zu welchen Grausamkeiten die so Sozialisierten in ihrer Unfähigkeit zum Ertragen von Ambiguität bereit sind (Adorno 1973; Fahrenberg und Steiner 2004).

Spätestens seit der Entmystifizierung der nationalsozialistischen Täterschaft durch Hannah Arendt am Beispiel Adolf Eichmanns (Arendt 1986) ist Freuds Erkenntnis von 1905 auf grausame Weise bestätigt worden, dass in prägenitalen Stadien der Libidoentwicklung eben noch kein integriertes Selbstobjekt und dementsprechend auch kein Objekt im Sinne eines ganzen anderen Menschen, keine Person, kein wirkliches „Du“ Objekt der Libido sein kann, sondern lediglich Partialobjekte. Das Böse ist insofern banal, als der Mitmensch, dem das Schlimmste angetan wird, als Alter Ego gar nicht konstituiert ist, sondern als ein Zwischending zwischen Mensch und Sache erlebt und behandelt wird. Dieses Erleben kann sowohl transitiv („der Andere ist nicht vollwertig, nicht wirklich Person“) als auch intransitiv („ich werde nicht wie eine Person, sondern wie eine Sache, ein Stück Dreck behandelt“) auftauchen. Die hier zugrunde gelegten philosophischen Überlegungen fundieren die gegenwärtige empirische Forschung zur Mentalisierungsfähigkeit (Fonagy et al. 2002), ohne dass diese politische Dimension im aktuellen Diskurs ausreichend Resonanz findet.

Vor allem der letztgenannte Aspekt, das von früher Kindheit an erfahrene dehumanisierende Behandeltwerden, kann nicht ohne Konsequenzen für Selbst- und Welterfahrung bleiben. Aus der psychoanalytischen Traumaforschung wissen wir, dass das psychische Überleben derartiger Traumatisierungen bei den Opfern zumindest partielle Täteridentifikationen hervorbringt, die wie Šebek es ausdrückt, als „totalitäre“ innere Objekte (Šebek 2000, 2001) das bewusste und vor allem auch das unbewusste psychische Leben brutalisieren, begleitet von massiver Schuld- und Schamproblematik mit konsekutivem destruktiven und autodestruktiven Verhalten. In einem stark autobiografisch geprägten Aufsatz hat der Magdeburger Psychoanalytiker Ludwig Drees über das Leben in totalitären Gesellschaften vor Kurzem geschrieben: „Der vorherrschende Affekt in diesen Gesellschaftsformationen ist Angst, eine ungeheuerliche Angst, aus der Gemeinschaft aussortiert zu werden, herauszufallen, das Erwachen alter Vernichtungsängste …“ (Drees 2011). Diese Angst führe, so Drees, zu kollektiven regressiven Prozessen, die mit massiver Realitätsverleugnung und der Bereitschaft zur Übernahme paranoisch anmutender Ideologien einhergehen. Während die nationalsozialistische und stalinistische Herrschaft durch tatsächliche Todesgefahr bei auch nur geringfügiger sozialer Abweichung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung gekennzeichnet war, entwickelte die DDR später – getragen durch eine omnipräsente Bespitzelung und Überwachung – wirksame Methoden, um durch Bedrohung der sozialen Existenz und psychische Zersetzung zur Anpassung zu zwingen. Unbefangene Mitmenschlichkeit war im öffentlichen Raum unmöglich und blieb womöglich im familiären Rahmen und in den selbst geschaffenen sozialen Nischen gefährlich.

Zusammenfassend möchte ich für die angedeuteten Prozesse zwischenmenschlichen Zusammenlebens im Rückgriff auf die phänomenologische Anthropologie Karl Löwiths (1928) und die dialogische Philosophie Martin Bubers (Buber 1978) den Begriff des zumindest partiellen Verlusts des „Du“ im Anderen vorschlagen. Damit meine ich die in einem spezifischen traumatogenen Mentalisierungsdefizit gründende das gesamte Leben begleitende angstvolle Gewissheit des Zerbrechens der Annahme, vom Anderen als Alter Ego wahrgenommen zu werden und den Anderen selbst als Alter Ego im emphatischen Sinn betrachten zu können. Die horrende Angst, die Drees als Hauptphänomen totalitärer Unterdrückung schildert, dürfte damit nicht nur der ständigen latenten Bedrohung der eigenen Person geschuldet sein, die das Leben unter solchen Bedingungen auszeichnet, sondern darüber hinaus dem Sicherheitsverlust durch den Zusammenbruch von basalen Reziprozitätsannahmen, die unsere Konstitution von sozialer Welt auszeichnen.

Als Alternative zur ideologisch verzerrten Identifikation mit dem totalitären Herrschaftssystem werden Flucht, Entkommen und Möglichkeiten des Sichentziehens unter derartigen Lebensbedingungen zu zentralen Themen von Schutz- und Rettungsfantasien, die das Überleben ermöglichen. Dabei ist zwischen dem Sichentziehen durch Rückzug von sozialer Selbstverwirklichung in die „innere Emigration“, das heißt äußerem Funktionieren und Submission bei gleichzeitigem Aufbau innerer abgekoppelter scheinbar freier Fantasiewelten einerseits und realer Flucht andererseits, entweder innerhalb der Gesellschaft in entsprechende Nischen, oder Flucht im Sinne der Flucht aus dem Staat in ein anderes Land zu unterscheiden. Flucht in innere Welten ist stets vom Verlust von Chancen im sozialen Leben begleitet und ist somit Quelle von Neid und Hass gegenüber denen, die sich im gesellschaftlichen Rahmen entfalten. Reale Flucht hat hingegen den Preis des Sich-in-Gefahr-Begebens bis hin zur physischen Vernichtung.

Gemischte Bilanzen und „Verbitterung“ als Folgen der „Intimisierung der Wendeproblematik“

Der Zusammenbruch totalitärer Systeme hinterlässt immer gemischte Bilanzen. Trotz einer durchgreifenden objektiven Verbesserung der Lebensverhältnisse, nicht nur im Sinne des Aufbaus zivilstaatlich-demokratischer Strukturen in Staat und Gesellschaft einschließlich der Wiederherstellung bürgerlicher Öffentlichkeit, sondern auch und vor allem in den Bereichen Lebenshaltung, Wohnung, Infrastruktur, Morbidität und Mortalität, gab und gibt es Wendeverlierer, beispielsweise in Bezug auf die Arbeitsmarktsituation. Für das Verständnis der inneren Bilanzierung bei den betroffenen Menschen ist von Bedeutung, dass ein und dasselbe negative Nachwendeereignis unterschiedlich kausalattribuiert werden kann. So kann ein nach der Wende arbeitslos gewordener Radiofernsehtechniker den Verlust des Arbeitsplatzes entweder darauf zurückführen, dass seine Reparaturkompetenz sich auf Geräte beschränkte, die zum Zeitpunkt der Wende so hoffnungslos veraltet waren, dass er mit der nun abverlangten Leistung bei seiner Qualifikation überfordert war und dass dieser Bruch somit dem technischen Anschlussverlust der DDR-Wirtschaft zuzuschreiben ist, oder aber er führt seine Arbeitslosigkeit auf das mit der Wende eingeführte kapitalistische Wirtschaftssystem zurück, das nur an der maximalen Ausbeutung seiner Arbeitskraft interessiert war und ihn fallen ließ, weil er zur Gewinnmaximierung keinen genügenden Beitrag leisten konnte.

Die Nachwendediskussionen zwischen Ost und West waren in den vergangenen 20 Jahren häufig durch den Streit um die „richtige“ Attribuierung der Schuld für negative Wendefolgen geprägt. Das Festhalten an Fantasien der „guten“ oder doch zumindest „gar nicht so schlechten“ DDR (Berth et al. 2009) verweist auf die Komplexität und Herausforderung, die die Nachwendeentwicklung an die Betroffenen stellte und immer noch stellt. Für die psychologische Verarbeitung der posttotalitären Situation nach dem Zusammenbruch der DDR habe ich vor einem Jahrzehnt an anderer Stelle postuliert, dass sich die Auseinandersetzung mit der westlichen Alltagskultur in einem schrittweisen Prozess vollzieht, der als Intimisierung der Wendeproblematik bezeichnet werden kann. Dieser Prozess zeichnete sich dadurch aus, dass persönliche Eigenschaften, Werte und Gewohnheiten, die mit dem westlichen Lebensstil identifiziert wurden, im Osten Deutschlands zunächst als Eigenschaften einer fremden Bevölkerungsgruppe, später als Eigenschaften anderer Personen im sozialen Umfeld und schließlich erst am Ende eines Entwicklungsprozesses als mehr oder weniger Ich-syntone und integrierte eigene Persönlichkeitsanteile empfunden wurden (Frommer 2000). Als zentraler Gegenstand dieses Prozesses wurde die Überwindung von anankastischen Sicherungsversuchen der eigenen Identität gesehen und damit die Überwindung von Funktionalisierung Anderer und Sich-funktionalisiert-Fühlen durch Andere auf dem Niveau von Teilobjektbeziehungen, zugunsten der Reetablierung von Alter-Ego-Verhältnissen in einer als sicher, geschützt und berechenbar erlebten zivilstaatlichen Öffentlichkeit.

Heute, 20 Jahre nach der politischen Wende in Deutschland, ist dieser – sicherlich lebenslang virulente – Entwicklungsprozess für viele Menschen in ein Stadium gekommen, das durch eine zunehmend gelungene Integration alter und neuer Erfahrungen und Identitätsmerkmale charakterisiert ist. Das betrifft insbesondere Personen, die das Glück hatten, die Zeit des Totalitarismus in Familien, sozialen Milieus und Nischen zu durchleben, in denen genügend Freiräume für echte Zwischenmenschlichkeit, Vertrauen und Verlässlichkeit die Dehumanisierung des öffentlichen Lebens überstanden und somit Inseln existierten, die Erfahrungen vermittelten, an die nach dem Ende des Totalitarismus angeknüpft werden konnte. Wie verhält es sich aber mit denjenigen, denen diese Erfahrungen fehlten oder nur ungenügend zur Verfügung standen? Für diese Personen besteht die Befürchtung zu Recht, dass der oben beschriebene posttotalitäre Entwicklungs-, Assimilations- und Integrationsprozess behindert oder gar verunmöglicht wurde. Die Zeit blieb für sie ganz oder zum Teil stehen.

Eine der resultierenden psychopathologischen Folgeproblematiken wurde diagnostisch als posttraumatische Verbitterungsstörung kategorisiert. Vor dem Hintergrund der historischen Umbrüche kann es wohl kaum Zufall sein, dass diese spezifische Form der Anpassungsstörungen im vergangenen Jahrzehnt von einer Arbeitsgruppe eingeführt wurde, deren klinischer Erfahrungshorizont sich im Wesentlichen auf Patienten einer großen Berliner Rehabilitationsklinik der Bundesversicherungsanstalt an der Grenze zu Brandenburg stützte. Linden et al. (2004, 2007) definieren als Kernkriterien dieser Störung ein schwerwiegendes negatives Lebensereignis, das einen Leidenszustand nach sich zieht, der von den Betroffenen im Gefolge dieses Ereignisses interpretiert wird: Dieses Ereignis wird gemäß den operationalen Definitionskriterien von den Betroffenen als „ungerecht“ erlebt, und wenn dieses Ereignis angesprochen wird, reagieren die Betroffenen mit Verbitterung und emotionaler Erregung. Außerdem ist die Störung durch intrusive Erinnerungen an das Ereignis sowie durch weitere obligate und fakultative Kriterien gekennzeichnet, die für unsere Betrachtung weniger relevant sind. Unter den Auslösern stehen Arbeitsplatzverlust und Arbeitsplatzkonflikte an erster Stelle.

Problematisch muss im hier diskutierten Zusammenhang erscheinen, dass die Autoren ganz in der Tradition rein statisch-deskriptiver psychiatrischer Diagnostik den Anschein erwecken, eine sozial kontextlose „Störung“ zu operationalisieren und ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Auftretensbedingungen ebenso vermissen lassen wie ein psychodynamisch-genetisches Verständnis dieser Leidenszustände.

In unserem Zusammenhang bietet sich ein Verständnisversuch dahingehend an, dass die beobachtete Verbitterung Ausdruck einer Überforderung in der posttotalitären Persönlichkeitsentwicklung ist. Die Wende, das heißt die Eröffnung von bisher verweigerten Chancen der Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung, wird für die Menschen zum Trauma, die diese Phänomene nur neidvoll und voller Enttäuschungswut bei anderen wahrnehmen können, selbst in ihren Charakterstrukturen aber auf zwanghafte Muster des Erlebens und Verhaltens so gebunden und fixiert sind, dass sie die dazu gewonnenen äußeren Freiheitsgrade nicht nutzen können und unter dem Regime ihres totalitär geprägten inneren Korsetts so weitermachen wie bisher. Die Befreiung erreicht sie nicht als Befreiung, sondern als Freisetzung aus den äußeren Versorgungsstrukturen, auf die sie aufgrund ihrer eigenen Entscheidungs- und Handlungsblockierungen angewiesen sind und ohne die sie in hilfloser Passivität erstarren.

Ein Fallbeispiel

Die Angaben zur Person des Patienten wurden verändert, insofern es zum Zweck der Anonymisierung notwendig erschien.

Aus klinischer Beobachtung und aus Beobachtungen im Alltagsleben in den neuen Bundesländern bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass sich bei einer nicht geringen Zahl von Menschen, besonders von begabten und an Weiterentwicklung interessierten Menschen, nach dem Zusammenbruch des totalitären Regimes der DDR eine andere Art pathologischer Bewältigung entwickelt hat, die ich nachfolgend skizzieren möchte. Meine Skizze wird holzschnittartig überzeichnen, um so in idealtypischer Gestalt eine als Omnipräsenz begrifflich gefasste Extremposition zu beschreiben, die im Sinne eines dimensionalen Verständnisses in mancher Hinsicht der pathologischen Bewältigungsform der Verbitterung polar gegenübergestellt werden kann. In der Realität ist demnach ebenso mit weniger ausgeprägten Varianten von Ausdrucksformen der Omnipräsenz zu rechnen als auch mit Übergangsphänomenen zur Verbitterung einerseits, andererseits aber auch zu reifen und gelungenen Bewältigungsformen.

Ich möchte das Gemeinte an einem kleinen Fallbeispiel erläutern: Herr R. ist ein großer, kräftiger Mann, Anfang 50. In der ersten Begegnung fällt sein gelassen und überlegen wirkendes Lächeln auf den Lippen auf. Wenig nachfühlbar berichtet er, er leide unter Kopfschmerzen, jeden Tag. Die Kopfschmerzen sind nicht ständig, treten aber sofort auf, wenn er sich unter Druck gesetzt fühlt, in Stresssituationen ist. Er grübelt viel, ist massiv mit sich und der Welt unzufrieden, fühlt sich müde, schlapp, kann nicht richtig schlafen, weil sich der Kopf nicht abschaltet. Es fällt ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er muss sich zu allem überwinden, fühlt eine regelrechte Blockade. Er zieht sich von anderen Menschen zurück, hat das Gefühl, sein Leben sei ihm aus der Hand geglitten, er könne nichts mehr planen. Er flieht regelrecht vor Menschen und Aufgaben und leidet unter Versagensangst. Seine Belastbarkeit ist gering. Nach kurzer Zeit überkommt mich in unserem ersten Gespräch eine tiefe Müdigkeit und Schwere, die es mir kaum ermöglicht, weiter aufmerksam zuzuhören. Ein dunkler Strudel scheint nach mir zu greifen und mich hinabzuziehen. Unwillen überkommt mich, ohne bewusste Absicht beschäftigen mich rasch Gedanken, wie ich herauskomme, mich seiner entledigen könnte. Diese Gegenübertragungsempfindungen sind von einer massiven körperlichen Unruhe begleitet, die sich in Wechseln meiner Sitzposition Ausdruck zu verschaffen sucht.

Zu seiner Nachwendebiografie berichtet er, dass er mit der Wende aus seinem eigentlichen akademischen Beruf ausgestiegen sei. Zu DDR-Zeiten ist ihm der Aufstieg aus politischen Gründen verwehrt gewesen. In den Jahren darauf setzte nun eine außerordentlich erfolgreiche Karriere als Immobilienmakler ein. Nach kurzer Zeit sei er in seiner Branche unter den zehn Besten in den neuen Bundesländern gewesen. Im Jahr 1994 habe er eine Belohnungsreise von einer Firma, für die er damals arbeitete, bekommen – nach Mauritius. Dort lernt er seine spätere zweite Ehefrau kennen. Sie ist damals in Leipzig in gleicher Funktion wie er; sie beide hätten eine „fast identische Geschichte“. Beide Ehen gehen durch die buchstäblich über Nacht geschlossene neue Beziehung auseinander, die erste Ehefrau kämpft um ihn, dennoch zieht er am Heiligabend desselben Jahres endgültig aus. Kurz vor der Trennung erst ist das gemeinsam gebaute Haus, eine „Riesenvilla“, bezugsfertig geworden. Dieses Haus verlässt er nun, „ohne persönliche Sachen, ohne Erinnerungen“, wie er sagt. Nur ganz kurz meldet sich eine abgrundtiefe Traurigkeit an dieser Stelle, während ich ihm zuhöre, die aber angesichts der Dramatik und des hohen Tempos der nachfolgenden Schilderung sofort wieder verschwindet.

Seine Trennung löst eine wahre Rachekampagne der ersten Ehefrau aus. Sie fängt nun an, ihn bei der Polizei anzuzeigen: wegen Diebstahl, Urkundenfälschung und anderem. An den Behauptungen sei nichts dran gewesen; vier Anzeigen seien niedergeschlagen worden. Mehrfach werden ihm die Reifen am Auto zerstochen und der Lack zerkratzt. Zwei Jahre nach der Trennung erfolgt ein „Anschlag“ auf ihn: Plötzlich wird ein mehrere Kilo schwerer Steinquader in der neuen Leipziger Wohnung vom Nachbarhaus aus durchs Fenster geworfen, nachts um halb zwei. Die Fensterscheibe zerbricht, er und seine neue Partnerin werden glücklicherweise nicht verletzt, weil der Stein neben dem Bett landet. Kurz zuvor ist die Scheidung erfolgt. Zeitgleich mit dem nächtlichen Anschlag wird Herr R. bei der Steuerfahndung angezeigt. Es geht um 180.000 DM unversteuerter Einnahmen, die sich aus kleineren Beträgen zusammensetzen. Die Ehefrau erstattet zu diesem Zeitpunkt Selbstanzeige und zeigt gleichzeitig ihn an. Daraufhin folgt eine sich insgesamt über sechs Jahre erstreckende Steuerfahndung. Sie endet mit einer rechtskräftigen Verurteilung von Herrn R., der sich nun mit Geldforderungen in Höhe von 520.000 EUR konfrontiert sieht. Wegen zusätzlicher Kredite belaufen sich seine Gesamtschulden zu diesem Zeitpunkt auf über 1 Mio. EUR. Er strengt daraufhin ein Verfahren zur Erlangung einer Privatinsolvenz an. Kurz auftauchende Gegenübertragungen von Angst, Unheimlichkeit und Bestürzung finden keinen Raum. Verwirrt höre ich, was weiter passierte:

Nach der Scheidung heiratet er seine neue Partnerin sofort. Kurz darauf wird ein Sohn geboren. In dieser Zeit fliegt er zum ersten Mal allein nach Thailand. Seine Ehefrau ermuntert ihn dazu mit der Begründung, dass dadurch sicher seine gedrückte Stimmung besser werde. Seither sei er dreimal im Jahr dort, kommt jedes Mal in schlechtem Zustand zurück. Die Steuerfahndung hat sich mittlerweile auch auf seine zweite Frau „eingeschossen“. Während seiner Auslandsaufenthalte pflegt er Kontakt, auch Intimkontakt, mit zahlreichen Frauen, auch ungeschützt mit Prostituierten, obwohl er weiß, dass die „Human-immunodeficiency-virus”(HIV)-Durchseuchungsrate dort hoch ist. Von einem anderen ausgewanderten Europäer hat er dort ein Haus gekauft, für das er noch vor Beantragung der Insolvenz einen Kredit aufnimmt. In Deutschland weiß keiner davon, auch nicht die Ehefrau. Er hat dort unter anderem ein Motorrad, mit dem er mit hoher Geschwindigkeit Touren unternimmt, auch in Gebiete, in denen der Aufenthalt für Ausländer hochgefährlich ist. Einmal fährt er – der nie Schwimmen gelernt hat – mit einem geliehenen winzigen Ruderboot sehr weit auf das offene Meer hinaus, kämpft dort vier Stunden lang mit der Strömung und überlebt nur durch eine zufällige Rettung. Am Ende der Geschichte fühle ich mich erschöpft und gerädert; Gefühle von Ausweglosigkeit bleiben zurück.

Omnipräsenz meint den dranghaften Versuch – das soll dieses Beispiel deutlich machen – alle Grenzen der Entfaltung im sozialen Raum aufzuheben und außer Kraft zu setzen. Das schließt die Aufhebung physischer Raumgrenzen ein: Kein Urlaubsort ist zu weit weg, keine Mühe wird gescheut, auch unter Inkaufnahme großer Gefahren blitzartig von einem Ort zu anderen zu gelangen. Keine Kosten sind zu hoch, keine Bindung bietet Halt. Alle Möglichkeiten der beruflichen Selbstverwirklichung werden in atemberaubendem Tempo und unter Aufbietung aller Kräfte genutzt, familiäre Bande werden geschlossen und wieder gelöst, die Befriedigung sexueller und erotischer Wünsche wird durch kein Tabu gebremst, der Körper scheint unverletzlich zu sein und unabhängig vom physischen Alter grenzenlos formbar und belastbar. Es wird ausprobiert, was möglich ist; jedem „thrill“ folgt sofort die Suche nach dem nächsten.

Welcher biografische Hintergrund macht Phänomene dieser Art verstehbar? Herr R. wurde in einem Dorf nur wenige Kilometer östlich der Grenze geboren, die über Jahrzehnte den Namen „eiserner Vorhang“ trug. Der Vater war hart, zeigte keine Gefühle. Er regierte die Familie diktatorisch, trank und schlug Frau und Sohn häufig und brutal. Politisch war er überzeugter Sozialist und ließ Zweifel am Staat nicht zu. Die Mutter, die aus einer Vertreibungsfamilie stammte, unterwarf sich und blieb blass. Ihr Vater, Großbauer und überzeugter Nationalsozialist, wurde 1945 vor den Augen der Mutter von russischen Soldaten auf seinem Bauernhof erschossen. Adoleszenz und frühes Erwachsenenalter von Herrn R. sind durch Rebellionsversuche, die zum Ausschluss aus der Freien Deutschen Jugend (FDJ), zur Relegation aus dem Studium und zu mehrmaligen Vorladungen bei der Staatssicherheit führten, geprägt. Seine Biografie steht idealtypisch für Repression, Unrecht und Unterdrückung, nicht nur im eigenen Leben, sondern auch transgenerational bei Eltern und Großeltern.

Zur Psychodynamik der „Omnipräsenz“

Psychodynamisch lässt sich der Drang nach omnipräsenter Selbstverwirklichung somit zunächst, quasi im Sinne eines „Flaschengeist“-Phänomens, als regressive Abwehr zwanghafter Einengung verstehen. In der analen Entwicklungsphase gewinnen primitive narzisstische „ozeanische“ Gefühle der Ausbreitung und Verschmelzung des eigenen Selbst mit der Welt entwicklungspsychologisch erstmals Anschluss an kognitive Prozesse mit dem Resultat denk- und erinnerbarer Fantasien, die um die Thematik der „Allmacht der Gedanken“ (Freud 1909d), das heißt der Omnipotenz kreisen. Zugleich finden das narzisstische Erleben und nunmehr auch Denken vor dem Hintergrund der Herausbildung von Ich-Kernen Anschluss an interpersonelle Konfliktdynamiken, die zunächst um motorische Bewegungsspielräume und das Schicksal der ersten eigenen analen Produkte, das heißt der Ausscheidungen, kreisen. Die hieraus resultierende Vorstellung, dass es einen gibt, der alles bestimmen kann und der über alles verfügt, wird in mehr oder weniger sublimierter Form später sowohl zum Ursprung spiritueller und religiöser Denkgebäude (Freud 19121913) als auch zu einem der denkbaren Modelle gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens.

Aus dem Bezug zur göttlichen Allmacht ergibt sich auch die gewählte Begriffsform, die der theologischen Dogmatik entlehnt ist. Omnipotenz, Omnipräsenz und Omniszienz sind die drei zentralen Eigenschaften Gottes, der nicht nur allmächtig und allwissend ist, sondern auch in unermesslicher Weise aktuell gegenwärtig in allen Dingen und in jeder Raumhaftigkeit: „Deus totus oculus est, quia omnia videt; totus manus est, quia omnia operatur; totus pes est; quia ubique est“ (Augustinus, zit. nach Ritter 1971, S. 162). Neben Allmachtsgedanken kennzeichnen Omnipräsenzfantasien auch das magische Denken des Kleinkinds und verleihen durch ihre strukturierende Kraft so das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit gegenüber dem Hereinbrechen ungesteuerter aggressiver und libidinöser Triebgewalt. Gerade bei früh, das heißt bereits in der Kleinkinderziehung einsetzender massiver Repression, ist davon auszugehen, dass die Omnipotenzproblematik in ihren bewussten und unbewussten Abkömmlingen bis hinein in das Erwachsenenleben von hoher Bedeutung bleibt. Dies betrifft sowohl ihre introjizierte Form des Allmächtig-sein-Wollens als auch die projizierte Form des absoluten Ausgeliefertseins an eine allmächtige Instanz, die alles kontrolliert und jede Freiheit unterbindet.

Während der Verbitterte sich auch nach dem Wegfall äußerer Fesseln unverändert gegenüber den in die Außenwelt projizierten allmächtigen Objektvorstellungen ausgeliefert und zur Handlungsunfähigkeit verdammt sieht, versucht der Omnipräsente unter Aufbietung aller Kräfte und ständiger hoher Aufmerksamkeit, sich dem Zugriff machtvoller Objekte zu entziehen, an einen anderen Ort auszuweichen, um dort in rasender Geschwindigkeit sein aktuelles Selbstverwirklichungsprojekt zu vollenden, bevor er ereilt wird. Das Ausweichen geschieht insofern regressiv, als der anale Zugriff schon an Raum und Zeit gebunden ist, während die Omnipräsenzfantasie von der Durchsetzung des eigenen Wollens im „Überall“ jenseits einer festen raumzeitlichen Fixierung ausgeht. Insofern handelt es sich um eine Art „Abtauchen“, um ein Verschwinden ins Nicht-Greifbare, in die Welt eines philobatischen „strukturlosen, primitiven Zustands …, in welchem es noch keine oder nur sehr wenige und unwichtige unvorhergesehene Objekte gibt“ (Balint 1972, S. 70), wodurch Omnipräsenzphänomene zum Teil auch Züge des Unheimlichen tragen (Freud 1919h).

Léon Wurmser verdanke ich den Hinweis auf Bezüge zur phobischen Abwehr, die über die genannten Aspekte hinaus für das Konzept der Omnipräsenz Relevanz besitzen. In seiner Sicht verweisen Befürchtungen, sich eingeschlossen, gefangen und eingeschränkt zu fühlen, auf Über-Ich-Strukturen, denen gegenüber eine hohe Ambivalenz besteht. Die betreffenden Über-Ich-Anteile entstammen Sozialisationserfahrungen mit einer einengenden Außenwelt, aus der heraus sowohl zwischenmenschliche Nähe als auch die Einengung durch Verpflichtungen, beispielsweise im Berufsleben, unerträgliche Qual verursachen und massive Über-Ich-Angst auslösen. Eng verbunden mit der Angst sieht er die Aggression, die im Ausbruchsversuch zum Ausdruck kommt, der seinerseits die Über-Ich-Problematik nicht mindert, sondern verstärkt, indem er innere Anklagen, Schuldvorwürfe und Selbstbestrafungsimpulse provoziert. Als eine der Folgen dieser Konstellation beschreibt Wurmser Über-Ich-Spaltungen, in denen ein durch Schutz- und Rettungsfantasien charakterisiertes Teil-Über-Ich völlig unintegriert neben einem die Einengungsgebote und Entfaltungsverbote repräsentierenden anderen Teil-Über-Ich in Funktion ist (Wurmser 2000, S. 367 ff.). Der Kampf gegen die reale Repression ist so zum unerträglichen inneren Kampf geworden, in dem für die Betroffenen auch und vor allem nach dem Wegfall der realen Repression die Projektion totalitärer Über-Ich-Anteile in die Außenwelt einen schier unverzichtbaren Beitrag zum Erhalt des psychischen Gleichgewichts leistet.

Zwei weitere psychodynamische Nachbarschaftsbeziehungen der Omnipräsenz machen den Frühstörungscharakter dieser Abwehrformation deutlich: Das Fallbeispiel zeigt, welche große Rolle Misstrauen, Hintergehen und Hintergangenwerden sowie paranoide Aspekte spielen. Diese Phänomene können psychodynamisch mit Freud (1911c) als Projektion von Omnipotenz-, Omnipräsenz- und Omniszienzansprüchen auf andere Personen verstanden werden. Auch nach dem Ende von realer totalitärer Bespitzelung, Überwachung, Kontrolle und Einschränkung erscheint die Welt in Gleichgesinnte und Gegner geteilt. Die für die Omnipräsenz charakteristischen räumlichen, sozialen und kulturellen umbruchartigen Wechsel dienen dazu, mit den Richtigen, das heißt den Guten zusammen zu sein und den Verfolgern zu entkommen. Das Verfolgt- und Beeinträchtigtwerden kann reine Projektion ohne realen Grund sein, darüber hinaus spielen jedoch auch paranoide Inszenierungen eine Rolle, in denen der Betreffende unbewusst tatsächlich stattfindende bedrohliche Verstrickungen inszeniert, die seine physische, sozioökonomische und/oder moralische Existenz gefährden oder gar im Sinne autodestruktiven Agierens zerstören. Der Andere wird in solchen Inszenierungen zur Rollenübernahme im Sinne des Verfolgers gedrängt; jede auch noch so geringe Frustration wird zum Beweis für feindselige Haltung und böse Absichten interpretiert.

Der paranoide Aspekt, der hinter der ständigen Angst, Anspannung und Fluchtbereitschaft der Omnipräsenz steht, kann als kontinuierlich mitlaufendes Misstrauen erscheinen, das in alle Beziehungen vergiftend eindringt und die gesamte Welt ständig in einem bedrohlichen Licht erscheinen lässt. Er kann aber auch krisenartig durchbrechen, während es außerhalb der Krisen gelingt, ein positive und vertrauensvolle Aspekte zulassendes Weltbild aufrechtzuerhalten oder zumindest zu suggerieren. Die Betroffenen sprechen dann von einem plötzlichen Umkippen des Weltbezugs ins Bedrohliche, dessen Auslösemechanismen häufig erst in längeren Analysen erkennbar werden. Der paranoide Aspekt erscheint darüber hinaus gelegentlich in delegierter Form, das heißt ein naher Angehöriger oder eine andere Bezugsperson wird als über Misstrauen, Beeinträchtigung und Verfolgung klagend beschrieben.

Spätestens seit Alexander und Margarete Mitscherlich (1977) wissen wir, dass zu dem schwierigen Erbe totalitärer Herrschaft auch die Unfähigkeit zu trauern zählt. Nicht nur die Fähigkeit zu Empathie, Ambiguität und Perspektivenwechsel bleiben im Autoritarismus dauerhaft auf der Strecke, sondern die Abwehr von Schuld und Scham durch die Verdrängung und Verleugnung emotionaler Bindungen und Identifikationen mit Teilaspekten des totalitären Systems blockiert nach dem Ende des Totalitarismus darüber hinaus einen echten Persönlichkeitswandel und fördert bewusste und unbewusste Wünsche nach der Rückkehr des Vergangenen. In der omnipräsenten Formation erscheint die Trauerabwehr charakteristischerweise in einer über weite Strecken fast hypomanisch anmutenden Geschäftigkeit, in der angesichts der realen Lebensmisere inadäquat euphorische Stimmungslagen sich mit den bereits beschriebenen Einbrüchen des Paranoiden abwechseln. Das Strahlen des Omnipräsenten und die mit ihm einhergehenden Größen-, Unverletzlichkeits- und Unbezwingbarkeitsfantasien bringen somit auch den imaginierten triumphalen Sieg über den Bedränger zum Ausdruck. Seiner Allmacht und Allgegenwart wird die eigene imaginierte Fähigkeit entgegengehalten, ihm stets zu entkommen und sich auf allen Feldern zu entfalten. Obwohl der Omnipräsente genauso wie der Manische „seine Befreiung von dem Objekt, an dem er gelitten hatte“ demonstriert (Freud 1917e, S. 442), geht die omnipräsente Abwehr dennoch nicht in der manischen auf. Das Maniforme ist lediglich eine Facette des pathologischen Entfaltungsdrangs in der Omnipräsenz, und die Herleitung aus der Abwehr von Trauer um ein verlorenes Objekt trägt zum psychodynamischen Verständnis nur einen von mehreren Aspekten bei.

Wie wir seit Freuds kleiner Fußnote in Das Ich und das Es von 1923 wissen (Freud 1923b, S. 279), sind es die unbewussten Schuldgefühle – und mit Léon Wurmser (1997) ist zu ergänzen: auch die unbewussten Schamgefühle – die sich der Weiterentwicklung von Persönlichkeit und psychischer Struktur am hartnäckigsten entgegenstellen. Sie sind nicht selten, auch das wusste bereits Freud, „entlehnt“, das heißt das Ergebnis einer Identifizierung mit einer nahestehenden Person, häufig einem Eltern- oder Großelternteil, der schuldverstrickt ist oder gewähnt wird. Vor allem den Arbeiten von Friedrich-Wilhelm Eickhoff (1986, 2009; Frommer 2007) ist es zu verdanken, dass wir diese Überlegungen heute auch politisch in Bezug auf die deutsche Identitätsproblematik lesen. Hinter mehr als 40-Jahren-Repression in Ostdeutschland steht der Nationalsozialismus als belastendes Erbe für Deutsche in Ost und West, verbunden mit Schuldverstrickungen und ihren transgenerationalen Langzeitfolgen bis in die heutige Zeit. Angefangen mit dem Phänomen des „Wirtschaftswunders“ im Westdeutschland der 1950er und 1960er Jahre bis hin zum immer noch anhaltenden Migrationsdrang junger Menschen in den neuen Bundesländern lässt sich wohl manche soziale Erscheinung mit dem Omnipräsenzkonzept in Beziehung setzen.

Omnipräsenz und postmoderne Beschleunigung: abschließende Überlegungen zur Frage der Spezifität

Der Abwehrmechanismus der Omnipräsenz kann hier nur in einem groben ersten Zugriff holzschnittartig dargestellt werden. Zahlreiche Fragen müssen so vorläufig noch offen und unbeantwortet bleiben. Dies betrifft vor allem behandlungstechnische Aspekte. Abschließend soll allerdings noch die wesentliche Frage der Spezifität für posttotalitäre Persönlichkeitsentwicklungen berührt werden. Zahlreiche soziologische Diagnostiker unserer Zeit sprechen ja davon, dass Technik und Medien längst nicht mehr nur vom Menschen getrennte Mittel zum Zweck sind, sondern zunehmend zu mit dem Menschen verschmolzenen Selbstzwecken werden (Latour 2010). Aus dieser Verbindung heraus wird er, auch dies hat Freud früh erkannt, zum „Prothesengott“ (Freud 1930a), also in unserer Diktion zum technisch hochgerüsteten Wesen, das seine reale Begrenztheit, Endlichkeit und Marginalität stets zugunsten medial inszenierter scheinbarer Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart zu vergessen versucht ist. Hinzu tritt gegenwärtig eine medial vermittelte ständig zunehmende Beschleunigung aller Abläufe, die alle Lebensbereiche umfasst (Frommer und Frommer 1997; Rosa 2005). Beschränkt man sich auf die phänomenologische Oberfläche, so könnte hieraus der Schluss gezogen werden, dass Omnipräsenz ein unspezifisches Phänomen darstellt, das die Menschen in Gesellschaften der fortgeschrittenen Moderne durchgängig tangiert und keineswegs für Repressionsfolgen typisch ist.

Diese Annahme übersieht jedoch einen wesentlichen Punkt: Omnipräsenz in dem hier gemeinten Sinn impliziert, wie unser Fallbeispiel zeigt, stets ein hohes Maß an Destruktivität und Autodestruktivität. Die destruktive Seite der Omnipräsenz wird aus verschiedenen Quellen gespeist, unter denen archaische Frustrationsaggression ebenso eine entscheidende Rolle spielt wie das Strafbedürfnis eines pathologischen Teil-Über-Ich, das mit den grausamen Agenten der erlittenen Repression identifiziert ist. Vor allem Letzteres macht das hohe Maß an Autodestruktivität omnipräsenter Abwehr verstehbar. Je tiefer und unbewusster diese Identifikationen mit den Peinigern sind, desto unberechenbarer sind auch die resultierenden autodestruktiven Inszenierungen. Die Destruktivität ist dem Ausmaß der omnipräsenten Entfaltungsbestrebung proportional, je größer und kräftezehrender das Entfaltungsbestreben ist, desto schlimmer das Misslingen. Aus diesem Grund zählt auch das Scheitern am Erfolg zu den wesentlichen Merkmalen omnipräsenter Abwehr von repressionsbedingter Bedrängung, Behinderung, Bestrafung und Beschämung. Die verdrängte Traumatisierung drängt zur Reinszenierung, aus der es nur schwer ein Entkommen gibt.

Auch wenn hier eindeutig für eine begriffliche Trennung von repressionsbedingtem Omnipräsenzstreben einerseits und ubiquitärer postmoderner mediengestützter Entfaltungsbeschleunigung andererseits plädiert wird, so sind kulturkritische Implikationen der vorgetragenen Überlegungen doch vorstellbar (Frommer 2008). Eingangs war darauf hingewiesen worden, dass jede historische Epoche den Abwehrformationen der in ihr lebenden Menschen ihren Stempel aufdrückt. Das erlaubt die Frage, welche Folgen eine zunehmende Verminderung von konkreten physisch-leiblichen Erfahrungsräumen zugunsten körperlicher Inaktivität und sinnlichem Erfahrungsmangel bei gleichzeitiger medialer Erlebnisüberflutung und dem Anwachsen von Optionen der Entfaltung im symbolischen Raum auf eine ganze Generation hat. Neben der Diskussion um die Zunahme depressiver Hemmungszustände (Ehrenberg 2004) sollte in der Debatte um diese Frage vielleicht auch stärker auf den reaktiven Charakter, der der symbolischen und medialen Entfaltung um jeden Preis innewohnen kann, fokussiert werden. Vor dem Hintergrund der angesprochenen destruktiven und autodestruktiven Implikationen von Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick den Eindruck von überaus freier Entfaltung erzeugen, ist die paradoxe Frage zu stellen, ob die forcierte Selbstinszenierung auf allen Feldern nicht auch auf eine Verlustseite hinweisen kann oder gar als frustran bleibende Reaktion auf Traumatisierung durch Repression und Nicht-Befriedigung basaler Bedürfnisse verstanden werden muss. Das erweist sich dann besonders bitter für diejenigen, die endlich der repressiven Traumatisierung durch den DDR-Staatsterror entronnen sind und ihre ganze Hoffnung in die scheinbar grenzenlosen Entfaltungsmöglichkeiten der BRD gesetzt haben. Sie müssen schmerzhaft erleben und erkennen, dass wahrlich nicht alles Gold ist, was glänzt.