Postmoderne Autoren [12, 21] behaupten, dass Lebensläufe immer komplexer werden, da die Grenzen zwischen den Lebenslaufphasen unübersichtlicher und fluider werden. Individualisierungsprozesse und Verwerfungen des Arbeitsmarktes haben diese Entwicklung vorangetrieben. Tendenzen einer derartigen Entstandardisierung von Lebensläufen werden begünstigt durch neue rechtliche Antidiskriminierungsregeln, die ebenfalls Altersgrenzziehungen problematisieren. Aber stimmen die Annahmen einer Entstandardisierung des Lebenslaufs wirklich mit den empirischen Sachverhalten überein?

Altersgrenzen konstituieren exemplarische Gegenstände, um aktuelle Fragen der Differenzierung, Standardisierung und Regulierung von Alter im Lebenslauf zu untersuchen. Im folgenden Artikel soll die Frage beantwortet werden, welche Funktionen Altersgrenzen erfüllen und welche Probleme – im Falle des Renteneintritts – sich bei einer gesellschaftlichen Bestimmung von Altersgrenzen ergeben. Zur Beantwortung dieser Fragen wird zuerst auf die kontrastierenden Theorien von Kohli und Riley/Riley eingegangen, bei denen letztere von Freiheitsgewinnen durch eine Aufhebung von Altersgrenzen ausgehen. Im zweiten Teil wird dann die allgemeine Bedeutung von Altersgrenzen bei Ruhestandskonzepten erörtert. Es wird erläutert, wie fehlspezifizierte Altersgrenzen das deutsche Rentensystem destabilisiert haben. Im letzten Teil wird auf aktuelle Daten und Probleme der derzeitigen Praxis der Altersgrenzenfestlegung verwiesen. Es zeigt sich der überraschende Befund einer relativ erfolgreichen Anhebung und Restandardisierung des Renteneintrittsalters.

1. Für und Wider der Dreiteilung des Lebenslaufs

Kohli hat in einer Reihe von Aufsätzen [u.a. 14, 16] eine Theorie des institutionalisierten Lebenslaufs entfaltet. Er sieht den Lebenslauf als Institution an, die sich erst in der Moderne durch Regulierung und Standardisierung konstituiert. Drei gesellschaftliche Kerninstitutionen prägen meist aufeinander folgende Phasen des Lebenslaufs: Bildungssystem, Arbeitsmarkt und Ruhestand. In modernen Gesellschaften werden diese Phasen durch chronologische Altersgrenzen getrennt, die z.B. das Schuleintritts- oder Renteneintrittsalter regulieren. Kohli diskutiert beginnend mit seinen ersten Veröffentlichungen zum Thema, dass der moderne standardisierte Lebenslauf, der sich an Normalbiografien orientiert, in jüngster Zeit eine Veränderung erfährt, indem Teilelemente entstandardisiert werden. Insbesondere die Schnittstellen zwischen Jugend- und Erwerbsphase bzw. beim Übertritt in den Ruhestand werden unübersichtlicher. Frühverrentungen, Bildungsexpansion und Jugendarbeitslosigkeit sind einige dieser entstandardisierenden Elemente. Auch die Vorhersehbarkeit von Erwerbsverläufen nehme ab. Trotz der Zunahme der Heterogenität in diesen Bereichen, sei aber allgemein in der Gesellschaft – trotz gegenteiliger Rhetorik – eine stärkere Standardisierung von Lebensläufen zu verzeichnen. So habe durch die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit die Differenz zwischen Frauen- und Männerlebensläufen abgenommen [vgl. 16].

Eine Gegenkonzeption zum dreigeteilten Lebenslauf haben die amerikanischen Alterssoziologen Mathilda und John Riley entwickelt, indem sie einem altersdifferenzierten ein altersintegriertes System des Lebenslaufs gegenüberstellen. Abbildung 1 zeigt die grundlegende Überlegung von Riley/Riley. Der dreigeteilte Lebenslauf, wie er in der Moderne entstanden ist, konzentriert bestimmte Tätigkeiten auf bestimmte Lebenslaufphasen. Die Jungen werden vorwiegend beschult, Menschen im mittleren Alter müssen sich auf die Erwerbsarbeit konzentrieren und die angesammelte Freizeit stehe älteren Menschen im Ruhestand zur Verfügung. Dies ist das Resultat einer altersdifferenzierten Gesellschaft, die über Altersgrenzen und Sphärentrennungen eine Trennung der Gesellschaft in Lebensphasen erzwinge. Die Menschen, die in dieser überkommenen Struktur leben müssten, seien unzufrieden mit diesen Beschränkungen der Handlungsmöglichkeiten.

Abb. 1:
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Lebenslauf in altersdifferenzierter und altersintegrierter Sozialstruktur (19: 26)

Die wertvolle Freizeit werde gesellschaftlich im höheren Alter konzentriert, während Menschen mittleren Lebensalters überlastet seien. Beide Gruppen seien mit dieser Situation unzufrieden, die Menschen mittleren Alters, weil sie sich aufgrund der mangelnden Freizeit zu wenig um ihre Familie kümmern können, die Älteren weil sie auch aufgrund einer allgemeinen Verbesserung des Gesundheitszustandes unterfordert sind und sich langweilen. Aus diesen Indizien schlussfolgern Riley/Riley, dass die Struktur der Altersdifferenzierung noch bestehe, obwohl sie von den Menschen in ihrer Alltagspraxis bereits abgelehnt werde (structural lag). Mit einer altersintegrierten Struktur (rechte Hälfte von Abb. 1) könne dagegen die Struktur den Handlungsintentionen der Individuen wieder angeglichen werden.

Die Vorstellung einer altersintegrierten Sozialstruktur, die Riley/Riley propagieren, hat sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft Anklang gefunden. Allerdings fehlt es nicht an Stimmen, die den normativen Charakter der Ausführungen kritisieren: Weder gibt es empirisch eine klare Zunahme von Altersintegration im Erwerbsleben, noch kann man in Befragungen feststellen, dass sich ältere Arbeitnehmer mehrheitlich für eine Abschaffung des über Altersgrenzen organisierten Ruhestandes aussprechen [2, 3]. Weiterhin kann die Praktikabilität der Alternativvorschläge von Riley/Riley in Zweifel gezogen werden. Eine gesellschaftlich definierte Altersgrenze zur Festlegung des Beginns einer Ruhestandsphase weist gegenüber einer von Riley/Riley bevorzugten individuenbezogenen Bestimmung des Ruhestandsbeginns entscheidende technische Vorteile auf: Definierte Altersgrenzen stellen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine transaktionskostenarme Bestimmung dar: Jede Regelung, die demgegenüber die individuellen Fertigkeiten des Arbeitnehmers berücksichtigen wollte, ist mit (evtl. wiederholten) Evaluationskosten verbunden. Mit den Vorzügen der hohen technischen Praktikabilität von Altersmessungen hängt auch ein zweiter Vorteil einer Ruhestandsbestimmung über kollektive Alterswerte zusammen: Ruhestandsprozesse werden für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu berechenbaren Ereignissen. Damit verbundene Folgen können gezielt antizipativ bearbeitet werden.

Die Praktikabilität der Ausführungen zur altersintegrierten Sozialstruktur von Riley/Riley leidet auch darunter, dass die gesellschaftliche Funktionalität der Dreiteilung des Lebenslaufs nicht thematisiert wird. Der moderne dreigeteilte Lebenslauf folgt dem Prinzip einer „Ökonomie des Lebenslaufs“: Bildungsphasen liegen vor der Erwerbsphase, weil in ihnen Investitionen getätigt werden. Ruhestandsphasen liegen nach der Erwerbsphase, weil es sich bei ihnen um Belohnungen handelt. Im dreigeteilten Lebenslauf dient der Ruhestand der Belohnung für in der Erwerbsphase geleistete Arbeit. Kohli [15] hat darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Ausgleich über den Lebenslauf hinweg um ein wesentliches Moment moderner Moralökonomie handelt, die eine breite Legitimation der Gesellschaft sichert. Lernpsychologisch wichtig ist in der Regel, dass eine Belohnung nach einer Leistung erfolgt. Dann wirkt sie auch in der Antizipation verstärkend für die Handlung. Würde eine Belohnung bereits vor der erwünschten Handlung erfolgen, dann bestünde das Risiko, dass opportunistische Handelnde die Belohnung für sich behalten würden, ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen. Empirisch vorhandene Rentenversicherungssysteme haben den Zusammenhang zwischen Arbeits- oder Einzahlungsleistung und Belohnung durch Ruhestandszeit und Rentenzahlungen unterschiedlich eng gestaltet. Das deutsche Rentenversicherungssystem kennt über das „Äquivalenzprinzip“ eine relativ enge Kopplung zwischen dem Erwerbsaufwand in Form von Dauer und Umfang von Einzahlungen und der Höhe der später zu erfolgenden Auszahlungen. Für die Theorie des altersintegrierten Lebenslaufs ergibt sich das Problem, dass sie keine funktionalen Äquivalente zur Steuerung des Umfangs von Freizeitbelohnungen im Lebenslauf zur Verfügung stellen kann.

Weil derzeit Konzepte zu funktionalen Äquivalenten einer zeitlichen Optimierung von Freizeit-, Arbeits- und Bildungsphasen im altersintegrierten Konzept fehlen, ist nicht ausgeschlossen, dass mit der Durchsetzung dieses Konzeptes eine an vormoderne Verhältnisse erinnernde Durchdringung des Lebenslaufs durch eine Erwerbslogik möglich wäre, die sowohl Kindheit und Alter zurückerobern könnte. Die Abschaffung von Altersgrenzen würde dann zwar im Namen einer Zunahme individueller Freiheit begründet werden, in der Durchführung aber durch den Wegfall kollektiver Schutzregeln eine Tendenz haben, zu einem stark ungleichen System zu degenerieren, das mühelos kapitalbildenden Bevölkerungsschichten den Erhalt des Ruhestandes sichern würde, während die vermögensarmen Bevölkerungsschichten entweder mit geringen Ruhestandszeiten und/oder Altersarmut konfrontiert würden.

Wenn man also derzeit die Abschaffung von Altersgrenzen für nicht realistisch hält, weil wir (noch?) über keine funktionalen Äquivalente zu einer gesellschaftlich gerechten Verteilung von Freizeitanrechten im Lebenslauf verfügen, dann erscheint ein Festhalten an gesetzlichen Altersgrenzen sinnvoll beim Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand. Wenn dem so ist, stellt sich aber die Frage, welche Probleme der Festlegung derartiger Altersgrenzen auftreten können und wie sie eventuell gelöst werden.

2. Der Beitrag von Altersgrenzen für eine Lebenslaufpolitik in der Rentenversicherung

Um zu verstehen, wie es dazu kam, dass falsch festgelegte Altersgrenzen zu den Hauptursachen der Rentenkrise der 1990er wurden, ist ein Verständnis der Logik des Rentensicherungssystems, insbesondere seiner Anpassungsmechanismen, hilfreich. Der Ruhestand kann allgemein als eine Institution angesehen werden, bei dessen Ausbildung Altersgrenzen weder bei der Ausbildung der Leitidee noch bei seinen Anpassungsmechanismen an Umweltveränderungen eine wichtige Rolle gespielt haben. Der Ruhestand stellt die gesellschaftliche Institutionalisierung einer verrechnenden und damit „belohnenden“ Lebenslaufphase dar. Bei Rentenversicherungssystemen werden von Einzelnen für die Gesellschaft erbrachte Leistungsbeiträge in der mittleren Lebensphase gegen Auszahlungen in einer zeitlich nachfolgenden Ruhestandsphase verrechnet. Die zeitliche Dauer des Ruhestands wird durch eine Altersgrenze und die Lebensdauer definiert. Gebende und nehmende Lebenslaufphasen werden in der Regel durch kollektiv gültige Altersgrenzen voneinander getrennt.

Ein wichtiger Grundsatz der Strukturreproduktion von Rentenversicherungssystemen ist, dass das Rentenrecht möglichst eine Autonomie gegenüber den politischen Akteuren entwickelt. Nur so kann es gegenüber den Willkürlichkeiten von politischen Stimmungen und kurzfristigen Experimenten geschützt werden. Autonomie erreicht das Rentenversicherungssystem nur, wenn selbstkorrektive Ausgleichsmechanismen Bestandteil der routinierten Reproduktion des Rentenversicherungssystems sind. Eine Rentenformel sicherte lange Zeit die bestehende tragende Moralökonomie, indem sie über erwartbare Beitragsanpassungen die Lebensstandardsicherungsfunktion der Rentenversicherung gewährleistete. Bis zum Ende der 1980er Jahre brachte die Rentenformel die monetären Ströme der Ein- und Auszahlungen in eine Balance. Ähnliche selbstkorrektive Ausgleichsmechanismen für die zeitliche Dauer des Ruhestandes waren nicht entwickelt worden, dort auftretende Krisen konnten also nicht routiniert bearbeitet werden. Hierin lag eine der Ursachen der Krise des Rentenversicherungssystems in den 1980er und 1990er Jahren.

Bei der Festlegung einer kollektiv gültigen Altersgrenze kann das Problem auftreten, dass bei der Wahl einer falsch justierten Altersgrenze aufgrund der damit nicht-intendierten Nebenfolgen die gesellschaftlichen Kosten des Ruhestands ansteigen. Selbst bei einer hohen Akzeptanz und Legitimation der Institution „Ruhestand“, die in Deutschland zu konstatieren war, kann eine falsch justierte Altersgrenze aufgrund der damit verbundenen Nebenfolgen zu einer langfristigen Erosion der Institution „Ruhestand“ führen. Mit einer Verschiebung der Altersgrenze werden direkt die Einnahmen- und Ausgabenströme des Rentenversicherungssystems in großem Umfang beeinflusst.

Als gesellschaftliche Kosten des Ruhestands werden u.a. der hohe Finanzbedarf des Rentenversicherungssystems angesehen. Rentenzahlungen belasten die Staatsfinanzen und verunmöglichen als gesellschaftlicher Konsum gesellschaftliche Investitionen. Als Lohnnebenkosten verteuern Rentenversicherungsbeiträge Lohnarbeit und erhöhen damit indirekt die Arbeitslosigkeitsrate. Diese Effekte treten auch auf, wenn der an und für sich erfreuliche Tatbestand festzustellen ist, dass u.a. durch die zunehmende Effizienz von Rentenversicherungssystemen die durchschnittliche Lebenserwartung nach dem Alter 60 deutlich ansteigt. Auch in diesem Fall steigt die zeitliche Länge des Ruhestandes (wenn nicht parallel dazu die Altersgrenze angehoben wird).

Es sind viele Interessenlagen, die dazu beitrugen, dass die regulierende Unterstützung einer Altersgrenze zugunsten einer Förderung der Frühverrentung aufgegeben wurde. In der Bundesrepublik war hierfür das aus Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bestehende korporatistische Dreieck als Trägergruppe wichtig. Der Staat bereitete aus unterschiedlichen Motiven über drei entscheidende Weichenstellungen den Weg zur Ausbreitung der Frühverrentung: Über die Einführung der flexiblen Altersgrenze 1972, den Vorruhestand 1984 und die Frühverrentung Ostdeutschlands 1990. Gewerkschaften griffen diese Möglichkeiten auf, da sie an einem mengenrationierenden, „sozial verträglichen“ Personalabbau interessiert waren. Unternehmen benutzten diese Möglichkeiten zur staatlich und sozialversicherungsrechtlich subventionierten Personalanpassung.

Probleme bei einer Festlegung von Altersgrenzen des Ruhestandes ergeben sich nicht nur aus der politischen Setzung eines Regelverrentungsalters, sondern auch aus den individuellen Unterschieden des Gesundheitszustandes von älteren Arbeitnehmern. Nicht alle Menschen erreichen gesund das Verrentungsalter. Je geringer deren Zahl, desto weniger standardisiert erfolgt in der Regel der Eintritt in den Ruhestand. Probleme bei der Festlegung einer einheitlichen Altersgrenze werden deutlich, wenn man die Heterogenität der Arbeitnehmer berücksichtigt. Ein Modell kann an Überlegungen von Dinkel [7] anschließen. Danach lassen sich aufgrund von genetischer Variabilität zwei Gruppen unterscheiden: Personen, die bereits vor Beginn des gesetzlichen Verrentungsalters häufig krank werden, und Personen, die erst danach häufig krank werden. Eine Senkung der gesetzlichen Altersgrenze reduziert die Zahl der vorzeitig Kranken, während eine Erhöhung der Altersgrenze zu einer Vermehrung der Zahl vorzeitiger Kranker führt.

Allgemein kann man sagen, dass die Zahl der in Relation zum gesetzlichen Verrentungsalter vorzeitigen Ruhestandsaspiranten aufgrund von Gefährdungslagen durch ein Krankheits- und/oder Qualifikationsrisiko gesellschaftlich überwiegend durch eine begleitende Regulierung der Altersgrenze „klein gehalten“ wird. Für diese Regulierung stehen zwei Mechanismen zur Verfügung: Einzelfallbetrachtung des Gesundheitszustandes, sowie abschreckend niedrige Alternativlöhne für Nicht-Erwerbstätige in diesen Altersgruppen. Die Regulierung der Altersgrenze verringert sich, wenn von der Einzelfallbetrachtung abgewichen wird und die Alternativlöhne nicht abschreckend sind. Immer dann steigt die Anzahl der institutionell zugelassenen „Alters-Kranken“ an.

Das in Anlehnung an Dinkel entwickelte Modell einer durch Heterogenität der Beschäftigten getriebenen Entwicklung von Altersgrenzen kann ganz gut die Entwicklung des Anstiegs der Frühverrentungszahlen erklären. Unklar bleibt aber, ob es sich dabei um eine notwendige oder um eine korrigierbare Entwicklung handelt, da die jüngsten Daten diesem Modell nicht mehr zu folgen scheinen.

3. Aktuelle Entwicklungen: Re-Standardisierung des Renteneintrittsalters!

Viele Autoren gingen in den letzten Jahrzehnten von einer quasi-geschichtsphilosophischen Annahme aus, wonach auf die Phase eines standardisierten Lebenslaufs in der Moderne eine Phase eines flexibleren, destandardisierteren Lebenslaufs in der postindustriellen Gesellschaft folgen würde [vgl. 21, kritisch dazu 3]. Bei dieser Annahme wird übersehen, dass es häufig institutionelle Regulierungen und Konflikte sind, die neben den Entwicklungen der Märkte und den individuellen Präferenzen dazu führen, ob es in einem Bereich zu einer Standardisierung oder zu einer Entstandardisierung kommt. Das Feld der deutschen Rentenpolitik ist ein Beispiel dafür, wie eine Restandardisierung eines Lebenslaufübergangs eingeleitet werden kann. Wie bereits dargestellt, war die deutsche Lebenslaufpolitik bis zur Mitte der 1990er Jahre durch zwei Entwicklungen dominiert: eine überwiegend arbeitsmarktpolitisch motivierte Frühverrentungspolitik, sowie Beitragsanpassungen, die zusammen zu einem rapiden Anstieg der Rentenlasten führten. In einer scheinbar endlosen Reihe von Reformen wurden danach u.a. die Lebensarbeitszeit verlängert, Abschläge eingeführt, der Beitrags- und der Rentenanstieg drastisch reduziert und ein kapitalgedecktes Vorsorgesystem ergänzend zum Umlagesystem hinzugefügt. Im Folgenden erfolgt eine Konzentration auf Veränderungen des Renteneintrittsalters, die in Folge dieser Änderungen registriert werden können.

In der Summe kann man – gegen alle Skeptiker und trotz einer relativ schlechten Arbeitsmarktsituation im letzten Jahrzehnt – eine verblüffend erfolgreiche Trendwende beim Renteneintrittsalter feststellen. Das über lange Jahre gefallene Renteneintrittsalter steigt seit 1996 wieder an, zwischen 1996 und 2006 etwa in einem Umfang von einem Jahr, das inzwischen wieder länger gearbeitet wird [11].

Will man die Nachhaltigkeit dieser Entwicklung beurteilen, dann gibt die Betrachtung von Alters-Markern, von runden Orientierungspunkten, Hinweise, da sich Individuen in ihren Planungen und auch in ihrem Verhalten gerne an Alters-Markern ausrichten. In Befragungen mit älteren Erwerbstätigen wird deutlich, dass diese als geplanten Verrentungstermin sehr viel häufiger die runden Zahlen 60 und 65 nennen als andere Werte [9: 124]. Seit 1996 kann man einen starken Rückgang des realisierten Renteneintrittsalters 60 registrieren, ab 2003 stellt das Alter 65 den häufigsten Wert des praktizierten Renteneintrittsalters und löst damit die Dominanz des vorherigen Orientierungspunktes ab [4: 92]. Die derzeit erfolgende Angleichung der Geschlechter in der institutionellen Regelung ihres Regelverrentungsalters wird diese Entwicklung in Richtung einer klareren Dominanz des Wertes 65, die auch bei den Männern zu beobachten ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter stützen.

Ein zentrales Instrument, mit dessen Hilfe eine Erhöhung des Renteneintrittsalters erreicht wurde, war die 1996 vollzogene Einführung von dauerhaften Rentenabschlägen, wenn die Verrentung bereits vor dem Regelrentenalter vollzogen wird. 41% der Neurentner des Jahres 2005 weisen derartige Abschlagszahlungen auf. Dass in Deutschland die meisten älteren Arbeitnehmer derzeit in ihren subjektiven Präferenzen eher zu einem vorzeitigen Rentenbezug tendieren, erkennt man auch daran, dass im Vergleich dazu nur 2% der Neurentner dauerhafte Rentenzuschläge erzielen, weil sie über das Regelrentenalter hinaus gearbeitet haben [11: 303]. Dies ist ein empirischer Einwand gegen die Theorie des altersintegrierten Lebenslaufs von Riley/Riley, da dieser Theorie zufolge eher mit einem Überwiegen der letzteren Gruppe zu rechnen gewesen wäre.

Dass sich die Pfade in den Ruhestand nicht nur in Hinblick auf den Zeitpunkt, sondern auch in Hinblick auf die institutionellen Wege angleichen, kann man an den Arten des Neurentenbezuges feststellen. Zwischen 1960 und 1985 trat die weit überwiegende Mehrheit der Neurentner nach verminderter Erwerbsfähigkeit in den Ruhestand ein, erst seit 1986 gehen wieder mehr als die Hälfte der Neurentner nach Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand über, mit steigender Tendenz [17: 28]. Ein Grund für diese Verschiebung liegt in der geringen Attraktivität von Renten nach Erwerbsminderung. Erwerbsminderungsrenten sind niedrig, der Medianwert einer derartigen Rente liegt bei 800 Euro zu Beginn des Jahrtausends, das Medianjahreseinkommen sinkt nach dem Antreten einer derartigen Rente um ein Sechstel im Vergleich zum Einkommen im Jahr vor dem Renteneintritt [1].

Dinkel [7] hatte theoretisch postuliert, dass ein Anstieg des Rentenalters in der Regel zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes älterer Arbeitnehmer führen müsste, wodurch auch die Zahl der Verrentungen nach Erwerbsminderung ansteigen müsste. Empirisch kann diese Hypothese derzeit nicht bestätigt werden, da die Zahl der Renten nach Erwerbsminderung in Deutschland rückläufig ist, obwohl das Verrentungsalter steigt. Da auch die Bezugsbedingungen von Renten nach Erwerbsminderungen in den letzten Jahren durch Abschlagzahlungen verschlechtert worden sind, könnte man annehmen, dass der nichterfolgte Anstieg auf diese institutionellen Erschwernisse zurückzuführen sei, sodass ältere Erwerbstätige trotz höherer Krankheitsbetroffenheit seltener eine Rente nach Erwerbsminderung anstreben. In der Tat finden wir mit ansteigendem Alter eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes bei älteren Arbeitnehmern [22]. Dieses Ergebnis ergibt sich konstant bei verschiedenen Operationalisierungen von „Gesundheitszustand“. Allerdings, und dies dürfte den Sachverhalt einer sinkenden Inanspruchnahme von erwerbsgeminderten Renten trotz eines Anstieges des Verrentungsalters erklären, verbessert sich im Kohortenvergleich der Gesundheitszustand älterer Menschen im Alter zwischen 40 und 81. Fast in allen Altersgruppen ergab sich eine signifikante Verbesserung des Gesundheitszustandes der jeweiligen Altersgruppen in einem Vergleich von parallelen Untersuchungen der Jahre 1996 und 2002 [25]. Diese Daten belegen eindrucksvoll die These von Vaupel/Kistowski [24], wonach mit dem kontinuierlichen Anstieg des Lebensalters auch die Zahl der gesunden Jahre zunimmt. Da der subjektiv gefühlte Gesundheitszustand z.B. von Schweizer Männern im Vergleich zu deutschen Männern des Alters 55-69 deutlich besser ist [10], könnte diesbezüglich mit dem Erwerbsausscheiden der vom Zweiten Weltkrieg in irgendeiner Form betroffenen Jahrgänge in den nächsten Jahren eher sogar eine verstärkte Verbesserung des Gesundheitszustandes älterer Arbeitnehmer in Deutschland festzustellen sein. Der Rückgang von vorzeitigem Ruhestand nach Erwerbsminderung wird also neben institutionellen Veränderungen v.a. auch durch eine Verbesserung des Gesundheitszustandes älterer Arbeitnehmer bewirkt, die in Deutschland aufgrund von Kohortenverschiebungen in den nächsten Jahrzehnten an Gewicht gewinnen dürfte.

Empirisch lässt sich also festhalten, dass sich in Deutschland in der letzten Dekade ein von einer Standardisierung begleiteter Anstieg des Renteneintrittsalters vollzogen hat. Dennoch gibt es ein erhebliches Maß an Heterogenität beim Eintrittsalter in den Ruhestand. Akademiker treten mit einem zusätzlichen Jahr deutlich später in den Ruhestand über als nur berufsqualifizierte Menschen [6]. Menschen aus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht, Personen, die in der Industrie arbeiten [9], Beschäftigte in der Bau- und Textilbranche [8] und Bewohner ärmerer Bundesländer [13] gehen deutlich früher in Rente als z.B. Angestellte im Dienstleistungsbereich.

Bei der jüngsten Reform der Anhebung des Rentenalters wurde versucht, über die Einführung einer Ausnahmeregelung einen Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Gruppen zu erzielen. Personen, die bereits 45 Jahre als Erwerbstätige in das System eingezahlt haben, können unabhängig von ihrem Alter abschlagsfrei in den Ruhestand eintreten. Unter Rentenexperten ist diese Regelung umstritten, da sie ob ihrer Konstruktion weniger die in den Begründungen angeführten niedrig qualifizierten Schwerarbeiter wie z.B. Bauarbeiter begünstigt, denn Personen des öffentlichen Dienstes, die aufgrund ihres geringen Arbeitslosigkeitsrisikos eine deutlich höhere Chance zur Erreichung dieses Privilegs haben [23]. Die Sonderregelung gleicht damit eher klientilistischen Klauseln, die in stark alterszentrierten Wohlfahrtsstaaten wie in Italien ein finanzielles Ausbluten des Systems begünstigen [18].

4. Fazit

Zusammenfassend kann man festhalten, dass 1.) sich im letzten Jahrzehnt entgegen der Ansichten eines altersintegrierten Umbaus des Lebenslaufs, wie er prominent von Riley/Riley vertreten wurde, eine Stärkung der Altersgrenze vollzogen hat. 2.) Die fahrlässige Verkennung der Bedeutung von adäquaten Altersgrenzen hat in Deutschland zwischen den 1970er und den 1990er Jahren den Ausbruch einer tiefgreifenden Krise des Rentenversicherungssystems bedingt, weil sich das Rentenversicherungssystem als anfällig für eine opportunistische Zulassung von Frühverrentungssystemen gezeigt hat, die den finanziellen Bedarf des Systems schnell anwachsen ließen. 3.) Seit 1996 hat allerdings eine kontrollierende Regulierung um die Altersgrenze herum zu einem stetigen Anstieg des Renteneintrittsalters und zu einer größeren Einheitlichkeit auch der Form des Renteneintritts geführt. 4.) Die Altersgrenze ist als effizientes Mittel der Umweltanpassung von Rentensystemen entdeckt worden. 5.) Das Potential einer Lebenslaufpolitik durch eine gesellschaftliche Gestaltung von Altersgrenzen ist m.E. noch nicht ausgeschöpft. Bei den experimentierenden Reformbewegungen des Rentensystems der letzten Jahrzehnte wurde der alte Anpassungsmechanismus der in der Rentenformel verdichteten Anpassung der monetären Größen soweit dekomponiert, dass dessen Wirken selbst für Experten kaum mehr zu durchschauen ist [20]. Fest steht lediglich, dass über die dadurch erzielte deutliche Reduktion des Rentenniveaus perspektivisch das Problem der Altersarmut mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederkehren wird. Als Alternative zu Altersarmut bietet es sich an, die bisher mit relativ geringen nicht-intendierten Nebenfolgen praktizierte Politik der Anhebung der Altersgrenzen zu einem automatisch wirkenden Mechanismus der Anpassung an unvorhergesehene Ereignisse auszubauen. Clemens [5] hat z.B. vorgeschlagen, ein konstantes durchschnittliches Verhältnis von Renten- zu Beitragsphase im Lebenslauf festzulegen, von z.B. 35%, und dies kontinuierlich anzupassen.