Lernziele

Nach Lektüre dieses Beitrags

- kennen Sie die wichtigsten Röntgenaufnahmetechniken an der Wirbelsäule.

- sind Sie über die grundlegenden Kriterien der Röntgenbildanalyse informiert.

- sind Ihnen Besonderheiten der Röntgendarstellung beim Säugling und Kleinkind verständlich.

- kennen Sie wichtige Fehlermöglichkeiten bei der Erstellung und Analyse der Röntgenbilder.

- können Sie die Strahlenexposition und das Strahlenrisiko einschätzen.

Einleitung

Die konventionelle Röntgendiagnostik stellt, insbesondere aufgrund ihrer allgemeinen und schnellen Verfügbarkeit sowie der geringen Kosten, im Vergleich zu den übrigen bildgebenden Verfahren die basale Bildgebung im Rahmen der manuellen Medizin dar. Zudem stand das konventionelle Röntgen historisch als erste Bildgebung zur Verfügung, um die Entwicklung der manuellen Medizin zu begleiten. Daher fand die Röntgendiagnostik lange Zeit nicht nur Anwendung zum Ausschluss von Kontraindikationen für manualmedizinische Therapietechniken, sondern über Funktionsanalysen wurden auch die Möglichkeiten des Nachweises einer Blockierung als Therapieindikation der manuellen Medizin untersucht. Nicht zuletzt sollte die beim Röntgen gewonnene Information auch wesentlich zur Wahl der therapeutischen Technik beitragen [1, 2, 3, 4]. Allerdings unterliegen sowohl statische als auch Funktionsaufnahmen multiplen Störeinflüssen, wie z. B. Überlagerungs- und projektionsbedingten Phänomenen, Unterschied von aktiv und passiv geführter Funktionsaufnahme oder veränderter Muskelspannung. Dies führt dazu, dass nachweisbare Veränderungen der segmentalen oder Gesamtbeweglichkeit keinen direkten Rückschluss auf deren Ursache zulassen und kein Auswertesystem alle Aspekte der Funktionsstörungen, insbesondere an der Halswirbelsäule (HWS), beinhaltet [5]. Insofern steht die Chirodiagnostik zum Nachweis einer Blockierung im Sinne einer reversiblen segmentalen Funktionsstörung gegenüber der Röntgendiagnostik zur Indikationsstellung im Vordergrund. Die Positionsanalyse als Behandlungsindikation wurde insbesondere auch unter Strahlenschutzaspekten weitestgehend verlassen. Sowohl Frisch [6] als auch Wolff [7] kommen zu dem Schluss, dass die Röntgenuntersuchung primär dem Ausschluss oder Nachweis von Strukturschäden bzw. Missbildungen dient und sich ihre Indikation aus einer gründlichen klinischen und chirodiagnostischen Untersuchung ergibt. Hauptindikation für eine Röntgenuntersuchung ist somit der Ausschluss von Kontraindikationen für manualmedizinische Techniken.

Unter diesem Gesichtspunkt beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit der Thematik Röntgendiagnostik. Eine komplette Darstellung der Röntgenbildanalyse unter Berücksichtigung aller Pathologien und Normvarianten ginge über den Rahmen des Artikels hinaus, eine entsprechende Übersicht findet sich z. B. bei Frisch [6] und eine detaillierte Darstellung bei Dihlmann u. Stäbler [8]. Hier soll das Augenmerk auf die grundlegende Einstelltechnik und Bildanalyse, das Erkennen von Fehlermöglichkeiten, Besonderheiten bei Säuglingen und Kleinkindern sowie Strahlenschutzaspekte gelegt werden.

Einstelltechnik

Für die Basisdiagnostik kommen Standardaufnahmen der jeweiligen Wirbelsäulenabschnitte im sagittalen (anterior-posterior oder posterior-anterior) und frontalen (seitlichen) Strahlengang zur Anwendung. Die Aufnahmen erfolgen üblicherweise im Stehen bzw. Sitzen, um Einflüsse der Schwerkraft mit zu berücksichtigen [9]. Bei speziellen Aufnahmetechniken (z. B. HWS) oder bei zu erwartenden Unschärfen durch Bewegung des Patienten sollten die Aufnahmen jedoch im Liegen durchgeführt werden, um eine ausreichende Aussagekraft zu erreichen. In der Regel sind die Aufnahmen in zwei senkrecht zueinander stehenden Ebenen für den Ausschluss oder das Erkennen von Kontraindikationen infolge morphologischer Veränderungen wie Anlagestörungen, Tumoren, entzündliche Läsionen oder Frakturen ausreichend. In Einzelfällen können abhängig von klinischem Befund bzw. nicht eindeutiger Diagnose in den Basisaufnahmen Zusatzeinstellungen wie Ziel-, Schräg- oder Funktionsaufnahmen notwendig sein. Konventionelle Schichtaufnahmen sind inzwischen durch CT und MRT abgelöst worden. Diesbezüglich sollte immer auch die Durchführung von Ziel- und Schrägaufnahmen kritisch überdacht werden, da i.d.R. die Fragestellung mittels überlagerungsfreier tomographischer Verfahren wie CT oder MRT sicherer zu beantworten ist. Hier kommen insbesondere vermutete Kompressionsphänomene der Nervenwurzeln oder Traumafolgen, die in den Basisaufnahmen nicht nachweisbar waren, infrage [10]. Funktionsaufnahmen in maximaler Extension und Flexion können zum Nachweis von vermuteten Instabilitäten, z. B. durch Bandverletzungen oder eine Spondylolyse, eingesetzt werden.

Halswirbelsäule

Im Rahmen der manuellen Medizin hat sich für die Aufnahme im a.-p.-Strahlengang an der HWS die Technik nach Sandberg-Gutmann etabliert. Der Vorteil der Aufnahmetechnik liegt in einer kompletten Darstellung der HWS von der Schädelbasis bis zur oberen BWS. Im Stehen ist die notwendige Position durch den Patienten häufig nicht zu stabilisieren, sodass die Gefahr nichtdiagnostischer Ergebnisse besteht. Diese Aufnahme wird daher im Liegen durchgeführt.

Hierzu wird der Patient mittig in Längsrichtung auf dem Tisch ausgerichtet. Eine reproduzierbare Seitabweichung des Kopfes oder Spontanrotation wird nicht korrigiert. Der Patient öffnet den Mund maximal, und der Kopf wird so eingestellt, dass die Linie über Stirn und Oberlippe horizontal verläuft. Die Röntgenröhre wird 15°–20° nach kranial gekippt, der Zentralstrahl verläuft etwa 1 cm kaudal der oberen Prämolaren zu einem Punkt etwa 1 cm kranial der Protuberantia occipitalis externa. Zur Vereinfachung der Einstellung kann ein Faden, der in der Mitte der Röntgenröhre befestigt wird, zu Hilfe genommen werden. Bei einem Format von 18 × 24 wird der Oberrand der Kassette etwas oberhalb der Ohrmuschel positioniert (Abb. 1, [6, 11]). Ein gewisser Nachteil der Aufnahmetechnik liegt in der Überlagerung von Halswirbelkörper (HWK) 3 und 4 durch den Unterkiefer, sodass dieser Bereich unter Umständen nur eingeschränkt beurteilbar ist (Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Anterior-posteriore Einstellung der HWS-Aufnahme nach Sandberg-Gutmann. (Aus [11])

Abb. 2
figure 2

Röntgenbild im a.-p.-Strahlengang nach Sandberg-Gutmann

Die seitliche Aufnahme erfolgt im Sitzen oder Stehen mit einem Filmformat von 18 × 24. Der Patient sollte die Schultern so weit wie möglich „fallen lassen“, um möglichst auch die kaudale HWS vollständig darzustellen. Der Kopf wird parallel zur Filmebene eingestellt, Seitneigungen und Rotationsfehlstellungen werden korrigiert. Der Oberrand der Kassette befindet sich wiederum ca. 1 cm kranial der Ohrmuschel, der Zentralstrahl wird auf den Atlas gerichtet [6, 11].

Brustwirbelsäule

An der BWS ergeben sich aus manualmedizinischer Sicht keine Modifikationen der Standardaufnahmen im sagittalen und frontalen Strahlengang. Die Aufnahmen erfolgen im Stehen, es kommt ein Format von 15 × 40 oder 20 × 40 zur Anwendung. Der Kassettenoberrand befindet sich etwa 3 cm kranial der Schulterlinie, bei der seitlichen Aufnahme nimmt der Patient die Arme nach oben, der Zentralstrahl wird auf die Kassettenmitte gerichtet. Bei der Seitaufnahme hilft eine flache Atmung, die an der Atmung beteiligten Strukturen zu verwischen [12].

Lendenwirbelsäule

Die Aufnahmen erfolgen im Stehen mit einer Filmgröße von 15 × 40 bzw. bei Skoliose oder ausgeprägter Lordose von 20 × 40. Dabei ist auf einen entsprechenden Gonadenschutz zu achten. Die Arme werden jeweils nach oben genommen. Der Patient wird bei der a.-p.-Aufnahme mit seiner Längsachse mittig positioniert, der Zentralstrahl wird senkrecht auf den 3./4. Lendenwirbel (ca. 1,5 Querfinger kranial des Beckenkamms) in Kassettenmitte gerichtet. Für die seitliche Aufnahme wird die senkrechte Mittellinie auf den Scheitelpunkt des Beckenkamms ausgerichtet, der Zentralstrahl wird ebenfalls auf den 3./4. Lendenwirbel gerichtet. Bei Skoliose empfiehlt es sich, die konvexe Seite filmnah zu positionieren, um eine übermäßige Überlagerung der Wirbelkörper zu vermeiden. Der Zentralstrahl ist dann auf den Scheitelpunkt der Skoliose gerichtet [12]. Zur gleichzeitigen Darstellung von funktionellen Veränderungen und Ursachen für Störungen, die von den Hüftgelenken, der Symphyse oder den Sakroiliakalgelenken ausgehen, wird für die manuelle Medizin eine a.-p.-Übersichtsaufnahme der Lenden-Becken-Hüft-Region nach Gutmann propagiert. Die Aufnahme erfolgt im Stehen bei gleichmäßiger Gewichtsverteilung auf beide Beine. Verschiebungen oder Rotationen des Beckens werden nicht ausgeglichen. Bei einem Filmformat von 30 × 40 bzw. 40 × 40 halbiert der Unterrand der Kassette die Symphyse, der Zentralstrahl wird auf den LWK 4 (Scheitelpunkt des Beckenkamms) gerichtet [6]. Aus strahlenhygienischen Gründen steht diese Aufnahmetechnik jedoch stark in der Kritik. Für einen Ausschluss von Kontraindikationen für eine Impulstherapie an der LWS ist sie nicht notwendig. Gegebenfalls können zusätzlich gezielte Aufnahmen der Sakroiliakal- und Hüftgelenke (getrennt für jede Seite) erfolgen. In diesem Fall ist durch entsprechende Einblendung ein besserer Gonadenschutz gewährleistet. Für die jeweiligen Aufnahmen in sagittaler Ebene wird auch ein p.-a.-Strahlengang diskutiert, an HWS und BWS insbesondere bei Frauen. Auch hier liegen strahlenhygienische Aspekte zugrunde, da in diesem Fall das strahlenempfindliche Mammagewebe weniger Dosis erhält. Hierdurch wird jedoch die optimale Darstellung von Atlas und Axis erschwert, ferner ist die Sandberg-Gutmann-Technik im p.-a.-Strahlengang nicht sinnvoll durchführbar. Bei BWS-Aufnahmen kommt es abhängig vom Thoraxdurchmesser durch den größeren Abstand der Wirbelsäule zur Kassette schnell zu Unschärfen, die die Beurteilbarkeit erschweren. An der LWS werden durch den p.-a. Strahlengang die Bandscheibenfächer eher orthogonal getroffen, es besteht jedoch wie an der BWS durch den größeren Abstand zur Kassette das Risiko einer Unschärfe der Strukturen.

Funktionsaufnahmen

Zum Ausschluss von Instabilitäten kommen an der HWS und LWS üblicherweise Funktionsaufnahmen in Ante- und Retroflexion zur Anwendung. An der BWS ergeben Funktionsaufnahmen aufgrund der anatomischen Situation (Rippenkorsett und Stellung der Facettengelenke) keine Zusatzinformationen.

An der HWS erfolgen die Aufnahmen im Sitzen. Zu beachten sind teils deutliche Unterschiede in den Aufnahmen, abhängig davon, ob die Bewegung durch den Patienten aktiv ausgeführt oder vom Untersucher passiv geführt wird. Im Sinne des Ausschlusses einer Instabilität als Kontraindikation spielt hier weniger die vermutete willkürliche Beeinflussung der Bewegung als vielmehr ein möglicher verminderter Bewegungsumfang durch früher einsetzende Beschwerden bei aktiver Ausführung eine Rolle. Für manualmedizinische Belange sind vom Untersucher passiv geführte Aufnahmen vorzuziehen. Allerdings gilt dies nicht für Untersuchungen nach frischen Traumata, hier sollten zunächst strukturelle Läsionen durch eine weiterführende Diagnostik (CT, MRT) ausgeschlossen werden.

An der LWS hat sich eine Funktionsuntersuchung im Liegen, der Lordose-Kyphose-Test nach Tilscher-Graf-Hanna, als vorteilhaft für die Präzisierung segmentaler Beweglichkeitsstörungen herausgestellt [13]. Hier erfolgt die Untersuchung in Rückenlage. Die Lordosierung wird durch ein Herunterhängen der Beine über die Untersuchungsliege und die Kyphosierung durch ein maximales Anhocken der Beine erreicht (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Funktionsaufnahmen der Lendenwirbelsäule nach Tilscher-Graf-Hanna. a Lordoselagerung, b Kyphoselagerung. (Aus [13])

Röntgenbildanalyse

Die Analyse der Röntgenbilder gliedert sich in zwei Abschnitte. Zunächst erfolgt eine auf die technischen Qualitätsmerkmale ausgerichtete Überprüfung der diagnostischen Beurteilbarkeit der Aufnahme. Hierbei wird insbesondere geprüft, ob

  • die Einstellung orthogonal erfolgte und keine Projektionsphänomene vorliegen, die die Beurteilbarkeit beeinflussen und zu Fehldeutungen führen können,

  • eine korrekte Einblendung vorliegt – dies betrifft zum einen die Frage nach der Darstellung aller gewünschten Objekte (zu starke Einblendung) und zum anderen die Frage nach einem zukünftig zu verbessernden Strahlenschutz (zu geringe Einblendung),

  • eine bewegungsbedingte Unschärfe vorliegt, die die Beurteilbarkeit erschwert.

Die Wichtigkeit dieser Überprüfung zeigt u. a. der Erfahrungsbericht der Ärztlichen Stelle Hessen, wonach 2012 eine unvollständige Darstellung des Objekts in Bezug auf die Fragestellung an Platz 2 und ein Mangel bei der Einblendung, insbesondere am Körperstamm, auf Platz 3 in der Häufigkeit der festgestellten Mängel lag [14]. Die Überprüfung der korrekten Belichtung spielt zwischenzeitlich durch die Verwendung digitaler Aufnahmetechnik eine untergeordnete Rolle, da die Aufnahmen i.d.R. nach entsprechender Nachbearbeitung gut beurteilbar sind. Nach Feststellung einer ausreichenden Beurteilbarkeit der Aufnahmen in Bezug auf die Fragestellung erfolgt die eigentliche Beurteilung des Objekts, die sich auf Abweichungen von der normalen Röntgenanatomie bezieht. Hierzu zählt die Beurteilung [6]

  • der Stellung der Wirbelkörper und übrigen Skelettanteile zueinander,

  • der Form der Skelettanteile,

  • der Kontur von Knochen und Gelenken,

  • der Struktur bzw. Dichte der Skelettanteile sowie

  • evtl. erkennbarer Weichteilveränderungen.

In Abhängigkeit von den nachweisbaren Veränderungen erfolgt die Einteilung der Läsion in die entsprechenden Erkrankungsgruppen am Stütz- und Bewegungsorgan:

  • Traumafolge

  • Degeneration

  • Arthritis

  • Tumor und tumorähnliche Veränderung

  • Infektion

  • Metabolische und endokrine Störung

  • Angeborene und entwicklungsbedingte Anomalien

Bei den Funktionsaufnahmen ergeben sich zusätzlich folgende Beurteilungskriterien [15]:

  • Harmonischer/unharmonischer Verlauf von Kyphose und Lordose

  • Stellungsänderung der einzelnen Wirbelkörperhinterkanten zueinander

  • Variation des Dornfortsatzabstandes

  • Änderung der Gelenkspaltweite

  • Ausbildung einer ventralen oder dorsalen Stufenbildung

  • Weitenänderung der Zwischenwirbelräume

  • Änderung der atlantodentalen Distanz

  • Kranial- oder Kaudalgleiten des vorderen Atlasbogens bzw. Eintreten einer Kippstellung

Abschließend erfolgt die Entscheidung bezüglich einer vorliegenden Kontraindikation für eine manualmedizinische Therapie bzw. über die Notwendigkeit weiterer diagnostischer Maßnahmen.

Besonderheiten bei Säuglingen und Kleinkindern

Unterschiede zur röntgenologischen Darstellung der Wirbelsäule zum Erwachsenen ergeben sich aus der Tatsache, dass mit der Geburt für die einzelnen Wirbelkörperabschnitte lediglich drei primäre Knochenkerne (Wirbelkörper-, Wirbelbogen- und Rippenanlage) angelegt sind und die vollständige Verknöcherung erst mit dem weiteren Wachstum erfolgt. Eine Ausnahme bilden zudem Atlas und Steißbein. Der Kern des vorderen Atlasbogens entwickelt sich erst im Laufe des 1. Lebensjahres, der Kern des Steißbeins variabel zu einem späteren Zeitpunkt. Im weiteren Verlauf erfolgt der knöcherne Wirbelbogenschluss im 1. bis 2. Lebensjahr, lumbal beginnend, und kann zervikal bis zum 4. Lebensjahr andauern. Die Verschmelzung von Dens axis und Corpus axis vollzieht sich im 3. bis 7. Lebensjahr. Im gleichen Zeitraum schließt sich die Wirbelbogenepiphyse , thorakal beginnend und zuletzt lumbosakral. Dabei ist zu beachten, dass der Verschluss asymmetrisch erfolgen kann. Die Verschmelzung der Sakralwirbel ist in Beginn und Abschluss sehr variabel und kann sich über mehr als 10 Jahre erstrecken. Zu beachten sind zudem einige sekundäre Knochenkerne. So kann im 2. bis 6. Lebensjahr ein Ossiculum terminale (Dens) auftreten, das dann etwa im 12. Lebensjahr verschmilzt. Des Weiteren können sich Fortsatzapophysen mit Beginn der Pubertät entwickeln (bei Mädchen eher vor, bei Jungen eher nach Beginn). Ihre Verschmelzung erfolgt etwa 5 bis 10 Jahre nach ihrem Auftreten zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr, eine Persistenz ist möglich [16].

Aufgrund der Bedeutung von Atlas und Axis bei der Therapie im Säuglings- und Kleinkindalter wird deren Entwicklung etwas genauer betrachtet. Im Atlas finden sich ebenfalls drei Knochenkerne, zwei befinden sich im Bereich der Massae laterales und entsprechen den Wirbelbogenkernen der übrigen Wirbelkörper. Sie sind beim Neugeboren erkennbar und für die Ausbildung des hinteren Atlasbogens und der Massae laterales verantwortlich. Der hintere Atlasbogen ist bis zum Ende des 4. Lebensjahres verschlossen. Im Bereich des vorderen Atlasbogens befindet sich der dritte Kern. In etwa 20 % der Fälle ist er mit der Geburt erkennbar, in den übrigen 80 % entwickelt er sich im Laufe des 1. Lebensjahres. Dieser Kern kann auch aus mehreren paramedianen Anteilen bestehen. Die drei Kerne des Atlas verschmelzen im Laufe des 5. bis 9. Lebensjahres. Wirbelkörper und -bogen des Axis entwickeln sich entsprechend der übrigen Wirbelsäule. Der Dens axis entwickelt sich aus einem paarig angelegten Knochenkern, die Anteile verschmelzen zwischen dem 3. und 7. Lebensjahr. Bis zum Verschmelzungszeitpunkt liegt zwischen den beiden Kernen eine horizontale Knorpelzone . Im Bereich dieser Knorpelzone kann nach der Verschmelzung ein Sklerosestreifen, eine Einkerbung oder ein unvollständiger Spalt verbleiben und z. B. eine Densfraktur vortäuschen [17]. Auf das Ossiculum terminale wurde bereits oben hingewiesen.

In diesem Zusammenhang muss auch beachtet werden, dass es sich beim im Erwachsenenalter zu findenden Os odontoideum nach von Torklus u. Gehle [18] nicht um eine fehlende Verschmelzung eines Knochenkerns des Dens handelt, sondern um eine Denshypoplasie mit zusätzlichem Os odontoideum. Hierbei wird angenommen, dass das Os odontoideum eine Fehlentwicklung des Ossiculum terminale darstellt und diesem entwicklungsgeschichtlich gleichzusetzen ist. Die Hypoplasie des Dens ist hierbei sehr variabel und reicht vom vollständigen Fehlen bis zum Vorliegen eines lediglich verkürzten Dens. Eine Ausnahme stellt das Os odontoideum verum dar. Hierbei ist der Dens vollständig entwickelt, jedoch nicht mit dem Axiskörper verschmolzen [17]. In der Regel verläuft die Trennlinie beim Os odontoideum auf Höhe bzw. kranial der Oberkante der Massae laterales und beim Os odontoideum verum kaudal davon.

Aufgrund der beschriebenen Skelettentwicklung besteht zu deren Beginn die Gefahr der Fehlinterpretation von Röntgenaufnahmen, d. h. da im Säuglings- und Kleinkindalter knöcherne Strukturen fehlen und somit nicht dargestellt werden können, ist die Aussagekraft der Röntgenbilder deutlich limitiert. Zudem beschränkt sich bei Säuglingen und Kleinkindern die Therapie i.d.R. auf die Kopfgelenke , sodass lediglich eine a.-p.-Aufnahme der Kopfgelenkregion (Abb. 4) erfolgt. Eine seitliche Aufnahme der HWS wird etwa ab dem 3. Lebensalter aussagekräftig und kann ab diesem Zeitpunkt ergänzend durchgeführt werden [19].

Abb. 4
figure 4

Anterior-posteriore Aufnahme der Kopfgelenkregion beim Säugling. 1 hinterer Okziputkondylenpfeiler, 2 vorderer Kondylenpfeiler, 3 mediale Knochen-Knorpel-Grenze des Okziputkondylus, 4 Foramen magnum, 5 Schädelbasis, 6 Massa lateralis atlantis, 7 Axis. (Modifiziert nach [20])

Die a.-p.-Aufnahme erfolgt ebenfalls in der Sandberg-Gutmann-Technik, wird allerdings aus strahlenhygienischen Gründen auf den Bereich der Kopfgelenke eingeblendet. Dabei werden die Augen zusätzlich abgedeckt, um die Dosis für die Augenlinsen möglichst gering zu halten.

Strahlenexposition

Als Maß für die Strahlenexposition wird die effektive Dosis herangezogen. Sie berücksichtigt die unterschiedliche Strahlenempfindlichkeit einzelner Organe und ergibt sich als Summe der Strahlenexposition der im Strahlenfeld liegenden Organe, multipliziert mit deren Gewichtungsfaktor. Mittels effektiver Dosis lassen sich die Risiken unterschiedlicher Untersuchungsverfahren unter Anwendung von Röntgenstrahlen bzw. radioaktiven Stoffen vergleichen. Ebenso ist ein Vergleich mit den Risiken anderer medizinischer Verfahren oder anderer Lebensbereiche möglich. Hierzu wird die effektive Dosis mit dem Risikokoeffizienten für eine strahleninduzierte, letale Tumorerkrankung multipliziert. Das resultierende Risiko lässt sich dann mit dem Risiko eines ebenfalls letalen Ausgangs anderer Ereignisse ins Verhältnis setzen.

Zu den Standarduntersuchungen der Wirbelsäule in 2 Ebenen liegen in der Literatur Daten für die effektive Dosis vor (Tab. 1, [21]). Für die effektive Dosis einer auf die Kopfgelenke eingeblendeten a.-p.-Aufnahme beim Säugling fehlen solche Daten bisher. Eine Abschätzung anhand der durchschnittlichen Daten für Feldgröße, Dosis-Flächen-Produkt, Objektdurchmesser, Film-Folien-Abstand und Spannung (W. Coenen, persönl. Mitteilung) ergibt eine effektive Dosis von 0,03 mSv.

Der Risikokoeffizient für eine letale Tumorerkrankung ist geschlechts- und altersabhängig. Für die Röntgenuntersuchung der HWS als der am häufigsten im Rahmen der manuellen Medizin durchgeführten Untersuchung ergibt sich so ein durchschnittliches Risiko von 10 5 für die Altersgruppe zwischen 0 und 20 Jahren, von 10 6 für die Altersgruppe zwischen 20 und 60 Jahren und von 10−7 für über 60-jährige Patienten. Für die übrigen Wirbelsäulenabschnitte liegt das Risiko jeweils eine 10er-Potenz höher [22].

Tab. 1 Effektive Dosis unterschiedlicher Röntgenuntersuchungen

Auch hinsichtlich der Risikoabschätzung bedarf die Röntgenuntersuchung der Kopfgelenke beim Säugling einer gesonderten Betrachtung. Zum einen ergibt die Abschätzung durch die geringere Feldgröße gegenüber der Standardaufnahme in 2 Ebenen eine geringere effektive Dosis, zum anderen ist der Risikokoeffizient beim Säugling etwa um den Faktor 3 höher als der Durchschnittsquotient [21]. Die gesonderte Berechnung ergibt ein Risiko von 6 × 10−6. Zum Vergleich sind einige strahlenunabhängige Risiken 6. Ordnung (10−6) in Tab. 2 aufgeführt [23].

Tab. 2 Risiken 6. Ordnung (10−6) anderer Lebensbereiche. (Nach [23])

Fazit für die Praxis

  • Zum Erkennen bzw. Ausschluss von Kontraindikationen sind Aufnahmen in 2 Ebenen des entsprechenden Wirbelsäulenabschnitts i.d.R. ausreichend.

  • Üblicherweise erfolgen die Aufnahmen im Sitzen oder Stehen, um die Schwerkraftwirkung mit zu berücksichtigen.

  • An der HWS hat sich für die a.-p.-Aufnahme die Technik nach Sandberg-Gutmann etabliert.

  • Für eine gute Beurteilbarkeit der Aufnahmen ist eine optimale Einstelltechnik mit orthograder und vollständiger Abbildung notwendig.

  • Zur Vermeidung von Fehlinterpretationen ist bei Säuglingen und Kleinkindern die altersabhängige Entwicklung der knöchernen Strukturen zu beachten.

  • Bei Säuglingen und Kleinkindern ist im Regelfall eine eingeblendete a.-p.-Aufnahme der Kopfgelenke ausreichend.

  • Das Risiko einer Tumorinduktion liegt je nach Alter und Wirbelsäulenabschnitt bei 10−4–10−7.

CME-Fragebogen

Welche Antwort zur konventionellen Röntgendiagnostik ist richtig?

Sie dient dem Ausschluss von Kontraindikationen vor Impulstechniken.

Aus einer segmentalen Bewegungsverminderung bei Funktionsaufnahmen lässt sich auf eine Blockierung als Ursache schließen.

Sie ist unabhängig vom klinischen und chirodiagnostischen Befund indiziert.

Die Positionsanalyse im Röntgenbild unterliegt keinen abbildungsbedingten Störeinflüssen.

Die einzelnen Auswertesysteme für Funktionsaufnahmen ermöglichen eine Beurteilung aller Funktionsstörungen.

Welche Antwort ist richtig?

Beim Erwachsenen sind Röntgenaufnahmen in 4 Ebenen erforderlich.

Funktionsaufnahmen der HWS ergeben bessere Aussagen im Liegen.

An der LWS hat sich für Funktionsaufnahmen eine Technik im Stehen etabliert.

Bei Kompressionsphänomenen sind CT oder MRT einer Schrägaufnahme vorzuziehen.

Bei einer a.-p.-Aufnahme beim Säugling sollte die gesamte HWS abgebildet sein.

Welche Aussage zur Sandberg-Gutmann-Technik ist richtig?

Die untere HWS ist nicht sicher beurteilbar.

Der Zentralstrahl verläuft in einem Winkel von 15–20° kranialwärts.

Die Aufnahme ist im Sitzen einfach durchführbar.

Es treten keine Überlagerungsphänomene auf.

Spontane Seitabweichungen des Kopfes werden korrigiert.

Bei Säuglingen und Kleinkindern...

sind auf dem Röntgenbild alle knöchernen Strukturen zu erkennen.

sind keine gesonderten Maßnahmen zur Einblendung notwendig.

ist eine seitliche Aufnahme der HWS etwa ab dem 3. Lebensjahr sinnvoll.

ist die Strahlenexposition der üblichen a.-p.-Aufnahme höher als bei Erwachsenen.

sollte die Aufnahme der Kopfgelenkregion in aufrechter Position (Hängevorrichtung) erfolgen.

Für die Einstelltechnik an BWS und LWS gilt?

Für die manuelle Medizin sind Standardaufnahmen ungeeignet.

Es wird ein Filmformat von 18 × 24 verwendet.

Bei einer LWS-Skoliose ist die Positionierung ohne Einfluss auf die Bildqualität.

An der BWS ist die Atmung ohne Einfluss auf die Bildqualität.

Der Zentralstrahl ist an der LWS senkrecht auf den Lendenwirbelkörper 3/4 gerichtet.

Welche Aussage zu Aufnahmen im sagittalen Strahlengang ist falsch ?

Die Dosis des Mammagewebes ist bei p.-a.-Aufnahmen geringer.

Die Lenden-Becken-Hüft-Aufnahme nach Gutmann ist gezielten Einzelaufnahmen der Region vorzuziehen.

An der LWS werden bei p.-a.-Aufnahmen die Bandscheibenfächer eher orthogonal getroffen.

Durch den größeren Abstand der Wirbelsäule vom Röntgenfilm entstehen häufig Unschärfen.

Die Sandberg-Gutmann-Aufnahme ist nicht sinnvoll als p.-a.-Aufnahme durchführbar.

Welches Kriterium zählt nicht zu den wesentlichen Qualitätsmerkmalen einer digitalen Röntgenaufnahme?

Orthogonale Einstellung

Vollständige Darstellung der zu untersuchenden Strukturen

Korrekte Einblendung der Aufnahme

Optimale Belichtung

Keine Bewegungsartefakte

Welche Aussage zur Skelettentwicklung ist richtig?

Die Wirbelkörper bilden sich aus einem ventralen und dorsalen Knochenkern.

Das Os odontoideum ist Folge einer fehlenden Verschmelzung der Axiskerne.

Der knöcherne Wirbelbogenschluss erfolgt an der gesamten Wirbelsäule gleichzeitig etwa im 2. Lebensjahr

Der Kern des vorderen Atlasbogens ist bei der Geburt in 80 % der Fälle zu erkennen.

Der hintere Atlasbogen ist bis zum Ende des 4. Lebensjahres verschlossen.

Für die Strahlenexposition der Wirbelsäulenaufnahmen gilt?

Sie bedingt ein Tumorrisiko zwischen 10−4 und 10−7.

Sie ist an der HWS höher als an der LWS.

Sie ist für eine übliche HWS-Aufnahme beim Säugling höher als beim Erwachsenen.

Sie ist unabhängig von der Einblendung der Röntgenaufnahme.

Sie ist beim Säugling unabhängig von einer Abdeckung der Augen.

Welche Aussage ist falsch?

Die Röntgenbildanalyse beinhaltet die Beurteilung von Form und Kontur der Wirbelkörper.

Das Risiko einer a.-p.-Aufnahme beim Säugling entspricht dem Risiko einer 100 km langen Autofahrt.

Bei der Beurteilung von Funktionsaufnahmen ist die Änderung der atlantodentalen Distanz unerheblich.

Eine unvollständige Darstellung des Objektes liegt auf Platz 2 der häufigsten Fehler laut ärztlicher Stelle Hessen.

Für manualmedizinische Belange ist eine passive Führung der HWS-Funktionsaufnahmen vorzuziehen.