In der Schmerztherapie wird die Beseitigung der Schmerzen im Bewegungssystem durch dosierte, gezielt gegebene Reize an den Sensoren mit dem Ziel der Beeinflussung zentralmotorischer Programmfunktionen erreicht.

Die Motorik als Ausdruck eines komplexen Steuerungs- und Regelungssystems (Biokybernetik) des Bewegungsverhaltens in Raum und Zeit (vgl. [6]) beinhaltet drei wichtige Komponenten: 1) die Qualität der Eingangsinformation (Afferenz) und ihre kodierte Übertragung (Nervenbahnen), 2) die Qualität der Dekodierung und Bearbeitung der Daten („Softwareprogramme“ im zentralen Nervensystem) mit daraus folgender Ausgangsinformation (Efferenz) und 3) das intakte muskuloskeletale System mit seinen Infrastrukturen (Gefäße; vgl.[4]). Übungstechniken für die Schmerztherapie sind hemmende und bahnende exterozeptive, propriozeptive und vestibuläre Stimulationen, die mit dem Ziel der Besserung der realitätsnahen gezielten posturalen Stabilisierung durchgeführt werden. Leitwert der klinischen Beurteilung posturaler Reaktionen während der Behandlung ist die Gesetzmäßigkeit der posturalen Ontogenese.

Posturale Ontogenese

Die posturale Ontogenese beschreibt die Entwicklung der motorischen Stabilisierung zur Vertikalisierung des Menschen und die stufenweise „Einschaltung“ der posturalen Programme [25]. Diese posturalen Programme steuernFootnote 1 die stabilisierenden synergistischen Muskelspiele, die die Fixpunkte (z. B. Schultergürtel) rechtzeitig für die Mobilpunkte (z. B. Arme) einstellen. Der posturalen Ontogenese kann man entnehmen, warum bestimmte Muskeln im Rahmen einer Fehlsteuerung der posturalen Stabilisierung (posturale Dysfunktion) gehemmt (inhibiert), andere überschießend gebahnt (hyperfazilitiert) und individuell schmerzhaft überlastet sind.

Die Qualität der Stabilisierung der Motorik im Säuglingsalter hängt von der „Reifung“ der posturalen Steuerung und damit von der Myelinisierung der spinalen und supraspinalen Strukturen ab (vgl. [7]). Durch das spontane Bewegungsverhalten (Strampeln) des Kindes ohne motorische Einschränkung entstehen in Rezeptoren sensorische Afferenzen, die die stufenweise „Einschaltung“ der genetisch gegebenen stabilisierenden posturalen Rahmenprogramme (Firmware) zur Vertikalisierung bewirken. Unbehinderte Ströme der vestibulären, propriozeptiven und optischen Eingangsinformationen sind hierfür notwendig. Die posturalen Programme zeigen sich klinisch durch synergistische Muskelaktivitäten. Diese kommen erst mit der Reifung der supraspinalen Steuerungs- und Regelungsebenen zustande. Störungen in der Kybernetik äußern sich durch eine mangelnde Stabilisierung [27].

Die posturale Ontogenese ist nach Vojta [29] etwa ab der 4. bis 6. Lebenswoche zu beobachten (Abb. 1). Durch synergistische Aktivitäten der autochthonen Muskulatur werden die Positionen eines jeden Segmentes eingestellt. Dann erscheinen erstmals mithilfe der optischen und akustischen Afferenz die gezielt posturalen Reaktionen und es erfolgt die Einstellung der Fixpunkte (Rumpf und Extremitäten in der Bauchlage) und Mobilpunkte (Heben des Kopfes aus der Bauchlage zu einem akustischen u. optischen Reiz; [29]; Abb. 2). Diese Fixpunkteinstellung erfolgt zuerst in der Bauchlage. Als Ausdruck der Feedforward-Steuerung werden die sternosymphysale Rumpfregion und der Schultergürtelbereich vor der Kopfhebung gegen die Schwerkraft eingestellt. Erst dann können die langen polysegmentalen Muskeln den Kopf zielgerichtet heben (v. a. M. spinalis capitis und M. splenius capitis). Während der Kopfhebung regelt die posturale „Software“ die synergistische Arbeit der Stützpunkteinstellung sowie die der retro- und prävertebralen Muskeln der Wirbelsäule, damit die Kopfhebung nicht „überschießt“. Die Qualität der Vertikalisierung ist von den ständig neuen Einstellungen der Fixpunkte und Mobilpunkte im Bereich des Rumpfes und der Extremitäten abhängig. Zahlreiche posturale Strategien müssen durch „Versuch und Irrtum“ im Kindesalter ausgearbeitet und automatisiert werden [27, 28, 29].

Abb. 1
figure 1

Kind in der 4. bis 6. Lebenswoche. Grob zielorientierte Einstellung des Kopfes als Mobilpunkt auf einen optischen oder akustischen Reiz. Klinisches Zeichen der beginnenden posturalen Rumpfstabilisation. (Aus [29] mit freundl. Genehmigung)

Abb. 2
figure 2

Kind in der 7. bis 13. Lebenswoche. Erstmals erscheinen mithilfe der optischen Afferenz die posturalen Reaktionen. Es erfolgt die Einstellung der Fixpunkte (Rumpf und Extremitäten) und der Mobilpunkte (Heben des Kopfes zu einem akustischen u. optischen Reiz). Klinisches Zeichen der zunehmenden posturalen Rumpfstabilisation. (Aus [29] mit freundl. Genehmigung)

Mit dem Heranwachsen des Kindes verändert sich, v. a. im Adoleszentenalter, das Gewicht und die Länge der Extremitäten zunehmend [10]. Dies erfordert eine ständige Kalibrierung des ZNS an die neuen Hebelverhältnisse (vgl. [5]), was durch lange monotone Haltungen (z. B. Sitzen in der Schule) empfindlich gestört werden kann [10]. Dies führt möglicherweise auf Basis insuffizienter posturaler Programme zu einer schlechten posturalen Stabilisierung. Diese Dysfunktion kann sich wie ein roter Faden weiter durch das Leben des Erwachsenen ziehen. Im Falle einer „Inputstörung“, z. B. durch eine Verletzung, nach einer Operation oder durch chronisch monotone Bewegungsabläufe (z. B. PC-Arbeit), kann sie für erhebliche Muskeldysbalancen und Misserfolge bei nicht adäquaten Behandlungstechniken verantwortlich sein.

Sensomotorische Steuerung

Zielmotorische Aktionen können vereinfacht dargestellt auf zwei Wegen zustande kommen: Der motorische Output entsteht im ZNS oder die sensorische Information aus der Peripherie (v. a. Augen, Vestibulum, Propriozeption, Nozizeption) wird in verschiedenen Ebenen des ZNS bearbeitet und als motorischer Output zu den Ausführungsorganen weitergeleitet [4].

Didaktisch lässt sich das ZNS in drei Ebenen unterteilen [15]. Diese drei Ebenen sind ontogenetisch dadurch charakterisiert, dass sie sich heterochron myelinisieren [25].

Die erste motorische Steuerungsebene ist die spinale. Auf dieser Ebene erfolgt die Steuerung der Muskelfasern durch α-Motoneurone sowie die Einstellung der Muskelspindel durch γ-Motoneurone [15, 22, 25]. Bei den α-Motoneuronen differenzieren wir phasische und tonische, was Bedeutung für das Kontraktionsverhalten des Muskels haben kann [2, 12, 14, 15]. Interneurone sind zuständig für die reflektorische Hemmung von Antagonisten, für die Verteilung der Reizlateralität und die Potenzialverteilung (Informationsverteilung) auf die phasischen und tonischen α-Motoneurone [23, 31].

Nozizeptive Eingangsinformationen können die Reizbarkeit der Interneurone im Segment verändern. Dies kann zu einer reflektorischen Hemmung oder Bahnung der Muskelfasern führen, je nach Art des α-Motoneurons [12, 24]. Als klinisches Bild entstehen z. B. myofasziale Maximalpunkte und segmentale Blockaden (im Sinne einer Steuerungsstörung nach Coenen [5]; [12]).

Die spinale Ebene enthält die phylo- und ontogenetisch ältesten Steuerungsprogramme im ZNS. Eine der charakteristischen Eigenschaften ist die reziproke Hemmung [12, 25]. Diese gegenläufige Hemmung lässt sich klinisch beim neugeborenen Kind im Sinne einer physiologischen Muskeldysbalance mit erhöhter Reizbarkeit der Flexoren, Adduktoren und Innenrotatoren beobachten. Es kann noch keine zielorientierte Haltung zu einer gezielten Bewegung einnehmen. Die posturale Stabilisierung wird klinisch dann ersichtlich, wenn die übergeordneten zentralnervösen Strukturen (supraspinale Ebene) die Rückenmarkfunktionen zunehmend regeln [25, 29].

Die zweite motorische Steuerungsebene ist die supraspinal-subkortikale Ebene. Auf dieser ZNS-Ebene erfolgt die Auswahl der automatischen posturalen stabilisierenden Strategien in Kooperation mit dem Rückenmark. Die Muskelaktivierung erfolgt in funktionellen Bewegungsketten [25].

Nozizeptive Eingangsinformationen können auf dieser Ebene zu Veränderungen der posturalen Steuerung führen [12]. Als klinisches Bild entstehen Ausweichbewegungen (nozizeptiver somatomotorischer Blockierungseffekt nach Brügger [3]) und Bewegungseinschränkungen (polysegmentale Blockaden).

Die dritte motorische Steuerungsebene ist die kortikale. Auf Ebene der Hirnrinde erfolgen u. a. die Initiation der bewussten Bewegungen sowie die Interpretation komplexer Reize als Empfindungen. Nozizeption auf dieser Ebene kann als das individuelle, subjektive Gefühl Schmerz unterschiedlich intensiv interpretiert und verarbeitet werden [17, 30]. Motorisch zeigt sich eine bewusste Veränderung des Bewegungsverhaltens.

Muskelschichten und posturale Kybernetik

Der Effektor der posturalen Programme ist die Skelettmuskulatur [11, 13] (das exekutive System nach Schmidt et al. [22]). Diese lässt sich für die klinische Betrachtung in zwei Gruppen einteilen (Abb. 3; [1]).

Abb. 3
figure 3

Einteilung der Skelettmuskulatur am Beispiel der dorsalen Rumpfwand in segmentale und polysegmentale Muskulatur. Tiefe, segmentale Muskelschicht (links), mittlere, kurze polysegmentale/sektorale Muskelschicht (Mitte), oberflächliche, lange polysegmentale Muskelschicht (rechts)

Die erste Gruppe ist die segmentale (lokale) Muskelschicht. Sie überzieht ein artikuläres Segment, z. B. die Mm. rotatores breves an der Wirbelsäule oder der M. vastus medialis am Kniegelenk. Wichtig sind die segmentalen Muskeln für die Stabilisierung der Motorik [14]. Sie sorgen zum einen für eine feine Adjustierung des artikulären Segmentes und stellen die Position der Gelenkkörper rechtzeitig vor der Bewegungsausführung (Feedforward) in ihren anatomischen Grenzen ein [21]. Neben der motorischen Funktion kommt ihnen eine entscheidende sensorische Funktion zu [21]. Die segmentalen Muskeln besitzen eine 10-mal höhere Dichte an Spindelrezeptoren als die übrigen Rückenmuskeln (propriozeptive Signalanlage nach Coenen [5]; [32]). Bei geringen Körperschwerpunktverlagerungen (z. B. Arbeit am PC) reicht die vorwiegende Aktivierung der segmentalen Muskeln, um das dynamische Körpergleichgewicht zu sichern [21].

Bei größer werdenden Körperschwerpunktverlagerungen wird sukzessive die zweite Muskelgruppe, die polysegmentalen (globalen) Muskeln, aktiviert. Sektorale (kurze polysegmentale) Muskeln überziehen an der Wirbelsäule 4 bis 6 Segmente, z. B. die Mm. semispinalis, longissimus oder iliocostalis. Sie werden bei größeren Körperschwankungen stabilisierend aktiviert. Lange polysegmentale Muskeln überziehen an der Wirbelsäule mehr als 6 artikuläre Segmente, z. B. der M. latissimus dorsi. An den unteren Extremitäten sind es mehrgelenkige Muskeln, z. B. der M. rectus femoris. Die langen polysegmentalen Muskeln haben kinetische Funktion, synergistisch stabilisieren sie z. B. beim Heben schwerer Gewichte [21].

Je tiefer die Lage der Muskelschicht, desto größer ist die sensorisch stabilisierende Funktion („posture“). Je oberflächlicher die Lage der Muskelschicht, desto größer ist die kinetische Funktion („phasis“).

Stabilisierung der Motorik

In der menschlichen Motorik werden, vereinfacht ausgedrückt, zwei Funktionen unterschieden, die mit dem Betriebssystem eines Computers vergleichbar sind [11, 13]:

  • die posturale Funktion (Ziel: Einhalten einer Körperlage ohne unnötige Schwankungen und ruhige Positionierung bestimmter Körperregionen bei Bewegungen anderer Körperregionen, d. h. Stabilisierung) und

  • die phasische Funktion (Ziel: Wechsel der Körperlage, d. h. Kinetik).

Diese zwei Funktionen ergänzen sich. Jede Bewegung eines Körperabschnittes (Mobilpunkt) muss rechtzeitig durch die posturale Funktion stabilisiert werden [14, 25, 29]. Als posturale Funktion bzw. posturale Reaktionen bezeichnet man synergistische Muskelaktivierungen an tragenden und peripheren Gelenken. Diese verhindern in jeder Haltung und Bewegung unnötige Schwankungen der Gürtelregionen und anderer zu stabilisierenden Körperteile [18]. Die Gürtelregionen des Körpers werden über die posturale Steuerung als Fixpunkte vor und während den Extremitätenbewegungen stabilisiert und durch die synergistischen Kokontraktionen werden Freiheitsgrade an Gelenken eingestellt [18]. Die segmentale Muskelaktivität wird bereits durch die Bewegungsabsicht (Feedforward) gebahnt [21, 25]. Durch die optische Afferenz wird die Intensität der synergistischen Muskelaktivierung voreingestellt. Erst durch diese gezielt eingestellte Haltung („attitude posture“) kann eine Bewegung zielorientiert durchgeführt werden. Durch die Rückkopplung (Feedback) erfolgt die weitere Korrektur der posturalen Reaktion im Sinne eines Regelkreises [9]. Während jeder Bewegung wird der Wechsel der posturalen und phasischen Funktionen der Motorik berechnet und genau gesteuert [20]. Der posturalen Funktion kommt in unserer Motorik eine überragende Bedeutung zu. Sie muss sowohl die Körperhaltung als auch die Bewegung zeitgleich sichern und sorgt für fließende, zielgerichtete Bewegungen in funktionellen Muskelketten [25, 26]. Überschießende Bewegungen werden vermieden.

Nozizeption und Motorik

Die Nozizeption stellt einen Informationsinput (Afferenz) aus freien Nervenendigungen im Gewebe dar. Diese melden dem ZNS potenzielle und entstandene Schäden (chemisch, physikalisch) des Gewebes. Erst wenn der nozizeptive Input die kortikale Ebene des ZNS erreicht, kann er nach unseren heutigen Vorstellungen bei entsprechender Perzeption als das Gefühl Schmerz interpretiert werden (vgl. [30]).

Für die Schmerztherapie ist die Differenzierung zwischen zwei Arten der Nozizeption wichtig: Die strukturelle Nozizeption entsteht bei destruktiven Prozessen im Gewebe, Reibung in Engpässen, entzündlichen Veränderungen etc. Die funktionelle Nozizeption entsteht bei Überlastung der muskuloskeletalen Strukturen des Körpers ohne strukturelle Schädigung, z. B. bei isometrischer Muskelaktivität. Typische Quellen funktioneller Nozizeption sind die Triggerpunkte, Tenderpunkte und andere Funktionspathologien des Muskeltonus wie die Tendomyosen [3]. Beide Arten der Nozizeption verändern die Bewegungsprogramme [3]. Aus unserer klinischen Praxis können wir postulieren, dass die Intensität funktionell bedingter Schmerzen nicht geringer ist als die Intensität von entzündlich oder traumatisch verursachten Schmerzen.

Posturale Dysfunktion

Etwa 85–90% der Schmerzen des Bewegungssystems sind unspezifisch [13, 16]. Sie liegen nach unseren klinischen Beobachtungen einer mangelnden funktionellen Stabilisierung der Motorik zugrunde. Deren Ursachen lassen sich in funktionell periphere und funktionell zentrale unterteilen.

Die funktionell peripheren Ursachen kommen durch wesentlich veränderte afferente Informationen (akut oder chronisch) aus den Rezeptoren zustande. Durch zunehmend monotone Tätigkeiten (z. B. langes Sitzen oder Stehen, langes Arbeiten in monotonen Bewegungsabläufen) werden die afferenten Informationen aus den propriozeptiven und vestibulären Rezeptoren ebenso monoton und langfristig reduziert [21]. Dies kann zu einer Veränderung der posturalen Kybernetik führen [12]. Die Steuerung der segmentalen Muskulatur verändert sich in eine Hemmung, was zu einer vermehrten Bahnung der polysegmentalen Muskeln führen kann, um die Stabilisierung („posture“) des Axisorgans und tragender Gelenke aufrechtzuerhalten. Dafür sind die polysegmentalen Muskeln biomechanisch, metabolisch und kybernetisch nicht geeignet [21]. Die resultierenden anhaltenden isometrischen Muskelkontraktionen führen zu ihrer Überlastung und einem erhöhten funktionellen nozizeptiven Input. Die Motorik wird destabilisiert, was wir als „posturale Dysfunktion“ bezeichnen („postural defects“ nach Janda [12], „Muskelkontrolldefizit“ nach Richardson et al. [21]). Des Weiteren sind muskuläre Dysbalancen, die sich als Schutzreaktionen aus einer organischen Nozizeption entwickelt haben, periphere Ursachen für die Funktionspathologie der Motorik. Die organische Nozizeption ist bereits abgeklungen (z. B. nach einem Muskelfaserriss, Hämatom, Gelenkentzündung), hinterlässt jedoch veränderte zentralnervöse Steuerungsprogramme für die Stabilisierung der Motorik [19].

Funktionell zentrale Ursachen posturaler Dysfunktionen liegen in einer Fehlinterpretation der afferenten Signale, z. B. nach einem Schleudertrauma (auch ohne unmittelbare kortikale Nozizeption), durch Fieber, Distress, Erschöpfung, Erschütterung, Schlafmangel, starke Sonneneinstrahlung und weiteren funktionellen Beeinträchtigungen zentralnervöser Programme. Die Dysfunktion der posturalen Stabilisierung erfolgt durch funktionspathologische Prozesse im ZNS.

Screening der posturalen Stabilisierung

Die Screeningverfahren dienen der Bewertung der postural stabilisierenden Funktion des ZNS. Dies geschieht durch die Provokation zentralmotorischer Steuerungsprogramme zu einer erhöhten stabilisierenden Arbeit unter zunehmend schwierigeren Bedingungen. Diese Art der Diagnostik im Bewegungssystem beurteilt die Qualität der Einstellung der Fixpunkte und somit die Intensität einer möglichen posturalen Dysfunktion während standardisierter Provokationstests.

Störungen der motorischen Kybernetik lassen sich mithilfe einer gedämpft instabilen Therapiefläche und einem gedämpft oszillierbaren Stab („Schwingstab“) erheben.

Provokationstest auf gedämpft instabiler Therapiefläche

Die Patienten werden dazu aufgefordert, auf einer gedämpft instabilen Therapiefläche standardisierte Körperschwerpunktverlagerungen auszuführen. Dies geschieht durch festgelegte Schrittfolgen und einem anschließenden definierten Einbeinstand auf der Therapiefläche (vgl. [11, 13]]. Dabei beobachtet der Therapeut das Verhalten des Rumpfes und die Schwankungen der Becken- und Schultergürtelregion. Bei einer guten segmentalen Stabilisation (segmentale Koordination) bleiben die Schlüsselregionen Kopf, Becken- und Schultergürtel und damit der Rumpf als Fixpunkt der Extremitäten ruhig. Bei einer posturalen Dysfunktion schwanken sie deutlich. Dieser posturale Provokationstest zeigt eine hohe Korrelation mit den subjektiven Beschwerden der Patienten im Sinne funktioneller Schmerzen [8].

Provokationstest mit oszillierbaren Stäben

Mit oszillierbaren Stäben („Schwingstäben“) wird die Stabilisierung im Schultergürtel und Rumpf getestet. Der Übende muss eine vorgeschriebene Amplitude der Schwingungen mit einer bestimmten Frequenz eine definierte Zeit halten. Dabei werden im Falle einer Instabilität des Bewegungsverhaltens Schwankungen in den Schlüsselregionen sichtbar. Im Schultergürtelbereich zeigt sich mit diesem Test eine mangelnde posturale Stabilisierung der Scapula besonders deutlich.

Geräteunabhängige Screeningverfahren

Als geräteunabhängige Screeningverfahren posturaler Dysfunktionen eignen sich die Beurteilung der Gürtelregionen im Vorwärts- und Rückwärtsgang, das spezielle Hüpfen mit Rotation auf der Stelle, manuelle Impulse des Therapeuten gegen die Gürtelregionen des stehenden Patienten, die Beurteilung des Einbeinstandes und das Anheben der Arme über den Kopf in verschiedenen Ebenen zur Beurteilung der motorischen Stabilisierung der Scapula und des Schultergürtels.

Bei Säuglingen können die Lagereaktionen nach Vojta als Screeningverfahren angewendet werden [5, 28].

Therapie

Mit der hier vorgestellten funktionellen Schmerztherapie wie auch mit jeder Schmerztherapie des Bewegungssystems wird grundsätzlich das Ziel verfolgt, fehlerhafte neuronale Regel- und Steuerungsvorgänge im kybernetischen System des menschlichen Organismus zu normalisieren und damit die Reduzierung der funktionellen Nozizeption des Bewegungssystems durch die Stabilisierung der Motorik zu ermöglichen. Die Schmerzregion wird i.d.R. nicht primär behandelt [11, 13].

Das nachstehend beschriebene therapeutische Konzept beinhaltet 3 Therapiestufen (Tab. 1). Das chronologische Einhalten der Stufen ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg dieser Therapie [11, 13].

Tab. 1 Didaktisch vereinfachte Übersicht über das therapeutische Konzept der funktionellen Schmerztherapie des Bewegungssystems mit 3 Stufen

Stufe 1

Die Stufe 1 der funktionellen Schmerztherapie beinhaltet die Optimierung des afferenten Inputs. Das Ziel ist die Beseitigung einer überschießenden spinalen reziproken Hemmung [11]. Dies geschieht durch lokale oder reziproke Hemm- bzw. Bahnungstechniken (Abb. 4, Abb. 5). Nach unserer Hypothese optimieren diese die Verteilung der Reize auf die α-Motoneurone für die bipedale Haltung gegen die Schwerkraft und senken damit die Aktivität der tonischen α-Motoneurone im spinalen Vorderhorn. Dies reduziert die funktionellen nozizeptiven Afferenzen, was zum Verschwinden der postural bedingten Schmerzen führen kann. Hier bietet sich der Vergleich mit dem Anklicken einer richtigen Datei in einem Computerprogramm durch die Eingabe einer richtigen Information an. Durch die Maßnahmen dieser ersten Therapiestufe normalisieren sich nach unseren klinischen Erfahrungen die posturalen Reaktionen bei ca. 30% der Patienten. Manchmal bessern die Maßnahmen dieser Therapiestufe die subkortikale Steuerung und die Stabilisierung ist wieder optimiert. Diese Techniken bilden durch ein verbessertes Afferenzmuster die Voraussetzung für die zweite Therapiestufe.

Abb. 4
figure 4

Applikation der heißen Rolle in der 1. Stufe der funktionellen Schmerztherapie. Beispiel einer autogenen Hemmung des M. pectoralis major et minor, um eine Optimierung des afferenten Input zur Korrektur der Fixpunkteinstellung im Schultergürtel zu erreichen. Indiziert z. B. bei funktionellen Schulter- oder Rückenschmerzen bei entsprechenden klinischen Funktionsbefunden

Abb. 5
figure 5

Funktionelles Taping der kaudalen Scapulafixatoren in der 1. Stufe der funktionellen Schmerztherapie. Beispiel einer autogenen Bahnung der kaudalen Scapulafixatoren, um eine Optimierung des afferenten Inputs zur Korrektur der Fixpunkteinstellung im Schultergürtel zu erreichen. Indiziert z. B. bei funktionellen Schulter- oder Rückenschmerzen bei entsprechenden klinischen Funktionsbefunden

Stufe 2

Die Stufe 2 beinhaltet die Haltungsoptimierung durch Bahnung mit reziproker Hemmung in funktionellen Bewegungsketten (Abb. 6). Das Ziel ist die Aktivierung der gehemmten supraspinalen Steuerung und damit die Beseitigung posturaler Dysfunktionen. Die posturalen Programme werden besser gebahnt. Die Körperposition in der Vertikalen bei ruhig und korrekt eingestellten Gürtelregionen während der Bewegungsdurchführung ist wichtig. Durch die Techniken und Übungen normalisieren sich nach unseren klinischen Erfahrungen bei weiteren 30–40% der Patienten die posturalen Reaktionen. Der Erfolg der zweiten Stufe hängt entscheidend von den Fähigkeiten des Therapeuten ab, die richtigen Widerstände für die richtigen Muskelketten zu geben.

Abb. 6
figure 6

Haltungsoptimierung in der 2. Stufe der funktionellen Schmerztherapie. Übungen mit elastischen Widerstandsbändern dienen der gezielten funktionellen Bahnung mit reziproker Hemmung in funktionellen Bewegungsketten. Hier eine elementare Übung zur Bahnung der kaudalen Scapulafixatoren und Armaußenrotatoren mit reziproker Hemmung der Schulterprotraktoren und Arminnenrotatoren (v. a. Mm. pectorales). Indiziert z. B. bei funktionellen Schulter- oder Rückenschmerzen bei entsprechenden klinischen Funktionsbefunden

Stufe 3

Die Stufe 3, die „posturale Therapie“, kommt bei ca. 30–40% der Patienten zur Anwendung, bei denen die ersten beiden Stufen die posturale Dysfunktion nicht ausreichend beseitigt bzw. die posturale Stabilisierung nicht ausreichend aktiviert haben. Sie besteht in der direkten zielorientierten Aktivierung der funktionellen posturalen Stabilisierung (Aktivierung der segmentalen Koordination). Diese segmentale Stabilisation geschieht durch spezielle Übungstechniken auf dosiert instabilen Therapieflächen (Abb. 7; [12, 13]) und mit gezielt dosiert oszillierbaren Stäben („Schwingstäben“). Der Patient sollte in einem optimal vorbereiteten Zustand (aus den ersten beiden Therapiestufen) mit der Stufe 3 beginnen, um die enthemmten kybernetischen Mechanismen der ersten beiden Therapiestufen für die segmentale Koordination zu automatisieren [20]. Wichtig ist, dass die stabilisierenden Therapietechniken und die dadurch erreichten synergistischen Aktivitäten zielorientiert sein müssen (z. B. Büroarbeiter vs. Handwerker vs. Sportler).

Abb. 7
figure 7

Gezielte Körperschwerpunktverlagerungen, hier auf einer dosiert instabilen Therapiefläche, durch zügiges Treten auf der Stelle mit anschließender Einnahme eines kurzen, definierten Einbeinstandes zur erhöhten Provokation bzw. Therapie postural stabilisierender Programme (segmentale Koordination, Stufe 3 der funktionellen Schmerztherapie). Hier mit der Zusatzaufgabe Ballwurf (kortikale Ablenkung, stetige Körperschwerpunktverlagerungen) zur therapeutischen Ausarbeitung der supraspinalen subkortikalen Feedforward-Steuerung

Die ersten beiden Therapiestufen „enthemmen“ die posturalen Programme und bereiten damit die direkte, dosierte Aktivierung der posturalen Reaktionen in der dritten Therapiestufe vor. Je nach Schwere der motorischen Störung haben die Therapiestufen im Ablauf der funktionellen Schmerztherapie eine unterschiedliche Gewichtung.

Fazit für die Praxis

Die Kenntnisse der posturalen Ontogenese sind für eine erfolgreiche Schmerztherapie des Bewegungssystems von Bedeutung, da es sonst zu einem falschen Verständnis der Ätiologie muskulärer Dysbalancen kommen kann. Bei der Behandlung muskulärer Funktionspathologien und damit einer Umprogrammierung der zentralen posturalen Kybernetik ist der therapeutische Grundsatz „Hemmung vor Bahnung“ wichtig [11]. Die überschießend gebahnten und reziprok gehemmten Muskeln verändern die Einstellung der Fixpunkte und dadurch wesentlich die posturale Stabilisierung. Diese Muskeln müssen zunächst gehemmt bzw. gebahnt werden (Therapiestufe 1). Auf Basis einer besseren posturalen Steuerung kann die Haltungsoptimierung in funktionellen Bewegungsketten gebahnt werden (Therapiestufe 2). Dies stellt die Basis der direkten Aktivierung der posturalen Stabilisierung dar (Therapiestufe 3). Die optimale posturale Stabilisierung ist das Ziel jeder Schmerztherapie des Bewegungssystems.