Manuelle Medizin und funktionelle Pathologie

Der analytische Ansatz der Manualmedizin räumt der funktionellen Pathologie einen großen Raum ein. Dabei integriert er weit voneinander entfernt liegende Fachgebiete: Symptome wie der Schwindel in der HNO-Praxis, die (Pseudo-)Stenokardie in der internistischen oder (pseudo-)radikuläre Beschwerden in der neurologischen Praxis werden gleichermaßen berücksichtigt. Der Manualmedizin wird dabei häufig unterstellt, keiner wissenschaftlichen Überprüfung standzuhalten, was nicht zuletzt durch die schillernde Vielfalt der Beschwerdebilder bedingt ist. Obwohl Manualmedizin in Deutschland eher zur klassischen als zur alternativen Medizin zählt, ist das Wissen um die klinische Relevanz funktionell-vertebragener Störungen außerhalb der Orthopädie und physikalischen Medizin noch nicht allgemein etabliert.

Die Beschäftigung mit der funktionellen Pathologie [27] steht in gewissem Widerspruch zur eher pathomorphologisch orientierten Medizin, zumal die Pharmakotherapie im manualmedizinischen Konzept nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Der psychosomatische Ansatz nähert sich diesen Problemen von einer anderen Warte, wenngleich sich etliche Überschneidungen mit der manualmedizinischen Sichtweise ergeben [26].

Manualmedizin ist nicht – wie oft implizit vorausgesetzt wird – auf die Wirbelsäule und besonders deren Pole (Kopfgelenke und ISG) beschränkt. Auch und gerade der Kau- und Kieferapparat spielt in der manualmedizinischen Diagnostik eine große Rolle oder sollte dies zumindest. Dabei sind uns aber für die Behandlung im Zahnbereich oft die Hände gebunden, obwohl manualtherapeutische Verfahren auch hier durchaus segensreich sein können. Die strukturelle Ursache von Beschwerden ist hier häufig in einer – nicht selten iatrogen erzeugten – Pathobiomechanik zu suchen, die zahnärztliches Eingreifen notwendig macht.

Die aus der Analyse funktioneller Störungen gewonnenen Erkenntnisse können sich also auch auf andere Gebiete auswirken und damit einen Behandlungsansatz erschließen, der bei rein pathomorphologischer Sichtweise verstellt bliebe. Wie in extremis dann behandelt wird, kann und sollte durch eine solche Funktionsanalyse aber nicht schematisch vorgegeben werden.

So kann die Auswertung einer funktionell-manualmedizinischen Problemanalyse durchaus zu unterschiedlichen Behandlungsempfehlungen führen, z. B. für

  • die manipulative oder mobilisierende Behandlung eines Gelenks,

  • eine therapeutische Lokalanästhesie,

  • Physiotherapie,

  • eine Operation oder – last but not least –

  • zur Überweisung zum Zahnarzt.

Parallelen und Interdependenzen zwischen Zahn- und Manualmedizin

Durch die räumliche Nähe zwischen Halswirbelsäule und Kau- und Kieferapparat gibt es viele wichtige Verbindungen zwischen der Zahn- und Manualmedizin. Sie ergeben sich aus der funktionellen Verknüpfung von Biomechanik [37] und Sensorik und basieren nicht zuletzt auf der Nähe der embryonalen Genese [14].

Darüber hinaus besteht eine strukturelle Ähnlichkeit, da man in beiden Fachgebieten zwei grundsätzliche Wirkmechanismen unterscheiden kann [10]:

“Robuste“ Beschwerden

Bei robusten Beschwerden ist die Verbindung zwischen dem Problem des Patienten und der Krankheitsursache offensichtlich. Eine Fehlbelastung beim Heben führt zu einem einschießenden Schmerz im Kreuz, der durch eine akute Blockierung eines lumbalen Bewegungssegments verursacht wird und durch dessen Manipulation schnell und einfach beseitigt werden kann. Ähnliches lässt sich in der zahnärztlichen Praxis beobachten: Ein lokaler Schmerz weist auf ein ebenso diskretes Problem in Form eines kariösen Zahns hin. Dieser wird versorgt und die Schmerzen hören auf. Auch wenn häufig Ausnahmen auftreten, lassen sich doch relativ gut überschaubare Modelle bilden, zumal sich das Ganze auf engem Raum abspielt.

„Subtile“ Beschwerden

Bei der Behandlung subtiler Beschwerden besteht eine gänzlich andere Situation. Hier liegen Ursache und Wirkung räumlich und zeitlich weit auseinander. Eine lange bestehende Kopfgelenkblockierung kann im Verband mit hinzutretenden weiteren Belastungen zu Migränekopfschmerzen führen. Eine angeborene Fehlstatik kann nach Jahrzehnten zu Schwindel oder hartnäckigen Brachialgien beitragen oder eine schlummernde BWS-Skoliose kann plötzlich zu einer massiven Pseudostenokardie führen. Genauso kann aber auch eine Störung aus dem Kau- und Kieferbereich einen hartnäckigen Schulterschmerz, einen Schwindel oder eine Epikondylitis verursachen oder unterhalten. In diesen Fällen wirken der vertebragene Faktor im Verband mit Störungsmodi aus anderen Bereichen, vor allem dem räumlich nahen Kau-Kiefer-Bereich. Durch die Beseitigung eines pathogenen Faktors und die Stabilisation auf diesem Level kann wiederum das Gesamtbefinden und die Lebenssituation eines Patienten mit relativ geringem Aufwand grundlegend gebessert werden.

Dieser subtile Ansatz ist jedoch nicht katalogisierbar und seine Evidenz nicht einfach nachzuweisen. Die Sichtweise des subtilen Ansatzes ist keineswegs das Privileg der Manualmediziner; da diese aber Funktionsanalyse und Evaluierung der daraus resultierenden Pathologie als wesentliche Handlungsgrundlage verstehen, sind sie hier besonders gefordert.

Die Schärfung des Blicks für bestimmte Rahmenbedingungen und Hinweise auf Wahrscheinlichkeiten ist möglich, man ist jedoch immer wieder mit Ausnahmen konfrontiert. Daher ist eine statistische Aufarbeitung sehr problematisch. Viele Rahmenbedingungen müssten berücksichtigt werden, von allen biographischen Daten bis hin zur Frage nach Qualität und Entstehung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient.

Spätestens an diesem Punkt ist eine generelle statistische Analyse nicht mehr durchführbar. Wenden zwei Therapeuten die gleiche Behandlungstechnik an, so erzielen sie bei ihren Patienten trotzdem nicht immer das gleiche Ergebnis. Eine individuelle Erfolgsquote kann daher nicht ohne weiteres in eine interpersonelle Reliabilität umgemünzt werden [5].

Auch in der Zahnmedizin besteht eine solche subtile Ebene der Therapie. Hier verursachen zum Teil jahrelang zurückliegende zahnärztliche Maßnahmen – z. B. die Extraktion von Zähnen – oft erst nach langer Latenzzeit Probleme. In die entstandenen Lücken kippen beispielsweise angrenzende Zähne hinein und machen so eine ausreichende Okklusion unmöglich. Auch die 3. Molaren (Weisheitszähne), die oft aus Platzmangel schief stehen und mit ihren Zahnwanderungen die anterioren Partner unter Druck setzen, können massive Störungen der Okklusion verursachen. Ein weiteres Problem ist die so genannte Bi- oder Mehrmetallsituation, also die Verwendung verschiedener, teils sehr unterschiedlicher Legierungen in einem Gebiss – vor allem bei direktem Kontakt. Durch korrosive und elektrogalvanische Prozesse freigesetzte Legierungsbestandteile können Schleimhautirritationen sowie Geschmacksstörungen hervorrufen, aber auch via Trigeminus zentripetal irritieren.

Oft verursachen diese Pathologien kaum oder keine lokalen Beschwerden und wirken genauso subtil auf die gesamte Homöostase wie letztlich die hier ansetzende Therapie auch [1]. Der Deutschspanier Adler hatte schon vor Jahrzehnten in einem immer noch sehr lesenswerten Buch eine Fülle derartiger Kasuistiken plastisch geschildert [1].

Für die Patienten ist es oft schwer, die Relevanz zahnmedizinischer Maßnahmen für ihre Beschwerden nachzuvollziehen, da meist ein wochen- bis monatelanger Zeitversatz zwischen beiden liegt. Immer wieder kommen Situationen mit Beschwerden vor, deren Beseitigung sehr aufwendig und für den Patienten unangenehm sein kann, z. B. eine nach ausgedehnter prothetischer Sanierung entstandene Malokklusion. Eine gute Indikationsstellung ist hier dringend erforderlich. Akzeptabel ist eine nicht-ideale Zahnversorgung dann (und nur dann), wenn sie nicht an dem den Patienten quälenden Beschwerdekomplex beteiligt ist, wofür es durchaus praxisnahe Tests gibt. Man ist manchmal erstaunt, welch suboptimale Zahnversorgung Patienten ohne Probleme ertragen und dann durchaus froh sind, eine aufwendigere Zahnsanierung umgehen zu können, die nicht selten obendrein finanzielle Opfer abverlangt.

Liegen klare Entscheidungskriterien für oder gegen die Zahn-Kiefer-Region als Beschwerdeursache vor, kann gutachterlich überzeugend argumentiert und so der Patient bei der Kostenübernahme für die Zahnbehandlung unterstützt werden. Dazu sind, trotz all ihrer Begrenztheiten, überprüfbare Tests für die dentogene Mitbeteiligung unabdingbar.

Auch andere Körperregionen können eine ähnliche Rolle spielen: chronische gynäkologische Infektionen, vom Magen ausgehende Störungen oder Rückenprobleme auf der Basis renaler Dysfunktionen [25] sind hier zu nennen. All diesen Erkrankungen ist gemein, dass ihre Symptome durch funktionelle Störungen des Bewegungsapparats verursacht werden. Durch manualtherapeutische Behandlung oder therapeutische Lokalanästhesie können die Störungsketten unterbrochen und so die Diagnose erhärtet werden. Wenn daraufhin jedoch nicht die Ursache der Beschwerden beseitigt wird, hat die Behandlung keinen Bestand. Über den Nachweis einzelner Abhängigkeiten hinaus ist es letztendlich unser Ziel, dem Erkrankten das Erreichen einer Homöostase im Gesunden zu ermöglichen, und diese Salutogenese [22] zu unterstützen.

Überprüfung individueller Behandlungserfolge

Es existiert eine große Menge an Literatur, die sich mit physikalischer Therapie und medikomechanischen Verfahren beschäftigt. Häufig erfolgt eine Orientierung anhand konkreter und fassbarer Veränderungen der beteiligten Muskeln, Faszien und Gelenke. Es werden Verspannungen oder Schmerzstellen beschrieben und diese mit klinischen Bildern gekoppelt. Bei robusten Beschwerden ist dieser Ansatz auch durchaus akzeptabel.

In anderen Fällen ist dieser Ansatz jedoch nicht ausreichend. Er bietet keine Grundlage, um aus Einzelbeschreibungen valide Konzepte für komplexere Situationen zu entwickeln, die dann schematisiert angewandt werden können. Die Methoden der evidenzbasierten Medizin (EBM) [36, 38] sind also nur sehr eingeschränkt auf Verfahren anwendbar, bei denen es um interpersonelle Kommunikation bei Diagnostik und Behandlung geht. Auch stellt sich die Frage, ob die individuelle, handwerkliche Dimension ärztlicher Tätigkeit mutwillig ignoriert werden sollte (vgl. [40]).

Gerade in der Diskussion mit anderen medizinischen Fachrichtungen wirkt sich der Mangel an harten Daten über Indikationen und Wirkmechanismen der Manualmedizin negativ aus. Wiederholt wurden deshalb Versuche unternommen, die klassischen, robusten Indikationen der Manualmedizin mit rigiden Prüfungsverfahren zu verifizieren [11]. Ein häufig eingesetztes Mittel ist die Bildung eines Scores, um gewisse Beschwerdegruppen vergleichbar zu machen. Dieser kann dann vor und nach einer Therapie ermittelt werden um so zumindest eine Aussage über einen Trend zu ermöglichen.

Das Problem bei diesem Ansatz stellen die biographischen Daten dar. Sie spielen bei den meisten funktionellen Beschwerden der Wirbelsäule eine sehr wichtige Rolle. Blendet man sie aus, reduziert sich die Datenlage auf ein Maß, das zwar einerseits mit relativ kleinen Untersuchungsgruppen auskommt und die Fragestellungauf diese Weise empirisch überprüfbar macht, das aber andererseits dazu führt, dass das erzielte Ergebnis in der Regel klinisch irrelevant ist.

Um dieses Dilemma zu überwinden, stützen wir uns für die Untersuchung auf Patienten, bei denen biographische Unwägbarkeiten praktisch keine Zeit hatten, sich auszuwirken: Bei Neugeborenen und Kleinkindern lassen sich die beeinflussenden Faktoren auf die Trias Genetik (beziehungsweise familiäre Disposition), intrauterine Entwicklung und Geburtsmodus reduzieren.

So kann mit einer überschaubaren Anzahl von Faktoren gearbeitet werden.

Hinzu kommt die Feststellung, dass sich in der frühen und prägenden Phase auftretende, relativ kleine Probleme später bei Erwachsenen sehr deutlich auswirken können. Das gilt nicht nur für funktionell-vertebragene Störungen. Mittlerweile existiert eine umfangreiche Literatur, die die Relevanz epigenetischer Prägung in den Monaten um die Geburt herum nachweist [35, 16].

Kinder reagieren besonders sensibel auf funktionelle Störungen der Wirbelsäule und deren Therapie [28]. Eine Mustererkennung dieser Problematik bei Kindern ist dann von Interesse, wenn nachgewiesen werden kann, dass diese frühen funktionellen Störungen relevante Spätfolgen haben [8, 7].

Sowohl für die methodologische Abgrenzung als auch für die fachübergreifende Kommunikation hat sich hier bei Kleinkindern – und auch darüber hinaus – KiSS als diagnostisches Konzept bewährt, um das Erkennen der Gestalt derartiger funktionell-vertebragener Probleme zu erleichtern.

Das KiSS-Syndrom

In der Anfangszeit der Manualmedizin bei Kleinkindern standen die schiefen Babys im Vordergrund. Die große Bedeutung dieser Störungen wurde von Gutmann [19] schon 1968 beschrieben, wobei diese Beobachtungen von der manualmedizinischen Diskussion in den 60er- und 70er-Jahren nicht aufgegriffen wurde. Behandlungen von (Klein-)Kindern blieben eine Nischenaktivität. Außerhalb Deutschlands gab es einzelne Veröffentlichungen (z. B. Fryman [17]). Erst Ende der 80er-Jahre rückten die Möglichkeiten manueller Therapie bei Kindern ins Blickfeld. Den Kinderärzten wurde deutlich, dass es sich z. B. beim Tortikollis um eine primär orthopädische Problematik handelt und so wurden die entsprechenden Spezialisten hinzugezogen. Das blieb nicht ohne Widerspruch; so verwahrte sich beispielsweise Vojta 1992 noch dagegen, Kleinkinder „mit Manualmedizin zu gefährden“ (persönliche Mitteilung). Das hat sich inzwischen geändert. Immer mehr Symptome, die ursprünglich nicht unter diesem Aspekt gesehen worden waren, kamen zur Palette der manualmedizinisch beeinflussbaren Probleme hinzu. Daraus entwickelte sich ein Muster, das anfangs als KiSS-Symptomatik zusammengefasst wurde [6] und jetzt in zwei Typen, KiSS I und KiSS II, kategorisiert wird [9].

Kopfgelenkinduzierte Symmetriestörungen (KiSS)

Die Symmetriestörung bezeichnet eine Abweichung von der Haltung in Mittelstellung nach links oder rechts sowie massives Durchstrecken nach hinten. Diese Haltungsabweichungen sind schon lange bekannt. So wurde in der orthopädischen Literatur schon 1728 [2] darauf hingewiesen, dass Störungen der Haltungssymmetrie viel weitergehendere Folgen haben.

Das Leitsymptom beider KiSS-Typen ist die fixierte Haltung. Die geburtstraumatische Irritation der oberen Halswirbelsäule führt zu einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung der Kopf-Hals-Übergangszone [34] (vgl. auch [30]). Je nach Lokalisation dieses Traumas kommt es eher zu einer fixierten Lateroflexion/Seitneigung des Kopfes (Torticollis neonatorum, KiSS I) oder zu einer fixierten Retroflexion/Überstreckung (KiSS II) deren klinisches Bild verdeckter ist.

KiSS I (fixierte Lateroflexion)

Symptome für Typ I sind:

  • Tortikollis

  • Gesichtsasymmetrie

  • Schädelasymmetrie

  • C-Skoliose von Hals und Rumpf

  • Glutaealfaltenasymmetrie

  • Minderbeweglichkeit der Extremitäten einer Seite

  • Entwicklungsrückstand

KiSS II (fixierte Retroflexion)

Symptome für Typ II sind:

  • Überstreckte (Schlaf-)Haltung

  • (Asymmetrische) Schädelabplattung

  • Schulterhochstand

  • Henkelstellung der Arme

  • Stütz nicht möglich/verzögert

  • Fausten der Hände, auch beim Stütz

  • Orofaziale Hypotonie

  • Hypotonie der Abdominalmuskulatur

  • Schluck-/Stillprobleme

Diese beiden Grundtypen kommen selten in Reinform vor. Meist sind sie mehr oder weniger kombiniert, wobei der Hauptakzent – die Fixierung zur Seite oder nach hinten – die hauptsächliche Klinik vorgibt. Die Details zu diesem Muster sind in [9] beschrieben.

KiSS I zeigt oft die unkomplizierteren Verläufe. Bei den KiSS-II-Kindern spielen häufig andere Faktoren eine zusätzliche Rolle. Eine niedrige Muskelspannung führt hier unabhängig von der Funktion der Halswirbelsäule dazu, dass die motorische Entwicklung schleppend verläuft. Ohnehin erscheint eine vollständige nosologische Trennung zwischen Wirbelsäule und Zentralnervensystem wenig sinnvoll.

Diejenigen Säuglinge, die in ihrer Entwicklung auffallen, müssen nach beiden Gesichtspunkten untersucht werden. Wurden die wirbelsäulenbedingten Störungen beseitigt, erscheinen die neurologischen Symptome klarer und erlauben eine zuverlässigere Einschätzung der Situation.

Einige weitere Symptome sind hier stichwortartig zusammengefasst (vgl. [9]):

  • Reifungsprobleme der Hüftgelenke, oft einseitig

  • Fehlstellungen der Füßchen bis hin zum Sichelfuß

  • Schlafstörungen, Schreien im Schlaf

  • Haareraufen, hohe Tastempfindlichkeit des Nackens

  • Kaltschweißige Hände und Füße

Alle diese Symptome müssen nicht durch KISS verursacht werden, die Wirbelsäule hat jedoch meist einen großen Einfluss. Die HWS zu behandeln ist oftmals eine einfache und sehr effektive Methode. Dennoch gilt es, neben der Wirbelsäule andere mögliche Ursachen nicht zu übersehen (z. B. Meningitis, Tumor, muskeldegenerative Erkrankungen oder CP; zur Differentialdiagnose vgl. [9]). Man sollte immer erst dann von einer primär vertebragenen Problematik ausgehen, wenn andere Ursachen bestmöglich ausgeschlossen sind und/oder Symptome ausfindig gemacht werden können, die auf eine Asymmetrieproblematik hindeuten, oder wenn eine Testbehandlung deutliche Besserung brachte. Darauf hatte Lewit [29] schon vor vielen Jahren hingewiesen. Doch auch hier gelten Einschränkungen. So kann es vorkommen, dass sich Beschwerden durch manuelle Therapie bessern, obwohl beispielsweise ein Tumor der Auslöser ist [21, 24].

Sabbern und Schlucken

Viele Sabberkinder haben das typische Halstuch um, mit dem die Eltern zu vermeiden versuchen, dass das Hemdchen des Kindes x-mal am Tag gewechselt werden muss, weil es wieder einmal nass ist. Der fehlende Mundschluss kann durch Probleme der Muskelsteuerung in diesem Bereich sowie im Hals-Nacken-Areal verursacht und unterhalten werden. Bei älteren Kleinkindern, die schon anfangen, sich zu vertikalisieren, gibt dann die Brustwirbelsäule entsprechend nach, um überhaupt ein Geradeausschauen zu ermöglichen. So bildet sich ein Morbus Scheuermann z. B. auch als Spätfolge der KiSS heraus. Betroffene Kinder haben eine schlaffe Haltung, die ganz wesentlich von der Problematik der oberen Halswirbelsäule bestimmt wird. Der Zusammenhang mit Zahnorientierungsproblemen ist offensichtlich.

Stillschwierigkeiten

Hebammen und Stillberaterinnen wiesen bereits vor Jahren auf den Zusammenhang zwischen Wirbelsäulenfunktionsstörungen und Stillschwierigkeiten hin. Ihnen war aufgefallen, dass Kinder nach einer Schiefhalstherapie besser an der Brust trinken konnten. Stillprobleme sind neben Schreien die Hauptindikation für ganz frühe Manualtherapie bei Neugeborenen. Dennoch sollten die Babys erst nach einer Ruhephase von einigen Wochen behandelt werden. Denn schon Buchmann wies darauf hin, dass etwa 1/3 aller Neugeborenen Kopfgelenkblockierungen aufweisen, diese aber nach einigen Wochen bei einem Großteil spontan verschwinden [13].

Doch das Phänomen bleibt nicht auf das Säuglingsalter beschränkt. Schulkinder mit einer im Säuglingsalter unbehandelten KiSS-Problematik profitieren am meisten von einer Manualtherapie der Halswirbelsäule [8]. Funktionsstörungen der Halswirbelsäule können also noch viel später relevant bleiben und diese zeitliche Dimension sollte in der Anamnese stets berücksichtigt werden. Frühe Anzeichen auf KiSS sollten unbedingt als Hinweis auf eine weiter bestehende Disposition für funktionell-vertebragene Störungen beachtet werden.

Asymmetrie in Funktion und Form

Bei Erwachsenen bildet die Analyse der anatomischen Gegebenheiten die Grundlage der zu erwartenden Funktionseinschränkungen. Bei Säuglingen verhält es sich umgekehrt. Hier bestimmt eine Fehlfunktion die zu erwartende anatomische Entwicklung.

Ein klassisches Beispiel ist die Schädelasymmetrie der Säuglinge. Sie lässt sich in drei Kategorien einteilen:

1. Schädelnahtsynostosen

Diese sind extrem selten und kommen bei über 2000 Säuglingen pro Jahr 1- bis 2-mal vor.

2. Primäre Schädelasymmetrien

Sie sind nur unscharf abgrenzbar von den intra partum erlittenen Konfigurationstraumen, bei denen es zu schnell und spontan reversiblen Verformungen des Kopfes kommt. Echte Asymmetrien sind meist die Folge von Querlagen oder früh im kleinen Becken der Schwangeren fixierten Köpfchen.

3. Sekundäre Schädelasymmetrien

Diese bilden bei weitem die häufigste Form. Die Neugeborenen sind anfangs wenig oder gar nicht asymmetrisch und entwickeln in den ersten Wochen nach der Geburt eine zunehmende Fixierung der Kopfhaltung, die dann eine Hinterkopfabplattung und/oder Gesichtsskoliose nach sich zieht.

Die frühkindliche Schädelasymmetrie wird also durch eine Funktionsasymmetrie induziert. Wird diese früh genug beseitigt, resymmetrisiert sich der Schädel. Dies kann Monate und Jahre in Anspruch nehmen. Dennoch sollten die Kinder vor unnötigen und kostspieligen Therapien, wie etwa Helmorthesen, bewahrt werden. Es ist auch wichtig, den Eltern gegenüber zu betonen, dass diese vorübergehende Abplattung des Schädels keinerlei Auswirkung auf die Hirnentwicklung hat, um hier unnötigen Ängsten vorzubeugen.

Dialektik von Form und Funktion

In der Zeit nach der Vertikalisierung, d. h. nach dem ersten Geburtstag, findet ein Umschwung statt. War es vorher die Funktion, die die Form induzierte, so kommt es zunehmend zu einer Interdependenz beider Ebenen. Die bis dahin erworbene Form prägt ihrerseits die Funktion mit. Im Erwachsenenalter ist die Balance schließlich ganz zur Form hin verschoben, die nun die Funktion dominiert.

Bei 2- bis 3-Jährigen mit leichtem Strabismus bestehen noch gute Chancen, die Symptomatik von der HWS her zu beeinflussen, falls die Anamnese Hinweise auf eine HWS-Funktionsstörung liefert. Bei Kreuzbiss und ähnlichen Asymmetrien kann das klinische Bild bis ungefähr zum Schuleintritt deutlich gebessert werden, vor allem wenn statischer Ausgleich und HWS-Behandlung Hand in Hand gehen.

Später tritt bei beiden Problembereichen eine Fixation der Fehlfunktion ein. Dann kann eine erfolgreiche Behandlung der HWS-Störung die lokale Therapie unterstützen aber nicht ersetzen.

Interaktion zwischen HWS und Orofazialregion

Eine ähnliche Verschiebung der Abhängigkeiten findet sich bei der Interaktion zwischen HWS und Orofazialbereich. Beide Regionen können zahlreiche Störungen auslösen. Ein auffälliger Röntgenbefund muss aber noch kein Hinweis auf ein klinisch relevantes Leiden sein. So ist eine massive Osteochondrose der mittleren Halswirbelsäule ab dem reiferen Alter fast die Norm.

Bei den Zahnbefunden verhält es sich ähnlich: Auch objektiv behandlungsbedürftige Befunde im Zahnbereich sind noch kein Beleg für einen direkten Konnex zwischen diesen harten Fakten und der akuten klinischen Situation. Eine langwierige und eingreifende Behandlung führt nicht immer zur Verbesserung. Die Orientierung an einigen Eckpunkten ist daher empfehlenswert, um den Patienten Umwege zu ersparen. Weder an der Wirbelsäule noch im Zahnbereich reicht ein isolierter Befund aus, um eine aufwendige Behandlung zu rechtfertigen. Die Relevanz der pathogenetischen Aktualitätsdiagnostik [20] muss für alle Beteiligten nachvollziehbar sein. Mit diesem Begriff umschrieb Gutmann den pragmatischen Ansatz, in einer gegebenen Situation nach dem pathogenetischen Faktor zu fahnden, der einer Therapie möglichst schnell und effizient zugänglich ist.

Gerade bei der Vielschichtigkeit der Interaktion zwischen den beiden Komponenten Hals und Kiefer einerseits und deren Fernwirkungen andererseits muss jedoch eingeräumt werden, dass hier nur weiche Kriterien zur Verfügung stehen.

Während für die vertebragene Komponente durchaus die Option der Probebehandlung diskutabel ist, kann – bis auf die Schienenbehandlung – im zahnärztlichen Arbeiten in der Regel nicht ohne eingreifendere Maßnahmen ausprobiert werden. Hier sollte man sich also möglichst sicher sein, dass die geplante Therapie auch notwendig und effektiv ist.

Inzwischen existiert eine Reihe von Büchern, die sich mit der Untersuchung der zervikomandibulären Region beschäftigen (vgl. z. B. [33]) und auch von zahnärztlicher Seite ist immer mehr Offenheit für eine Zusammenarbeit zu beobachten.

Die klinischen Bilder beider Regionen überschneiden sich ohnehin. Genauso wenig, wie man einen Kopfschmerz dem Segment C3/C3 und eine Brachialgie dem Segment C5/C6 zuordnen kann, ist es realistisch, vom Beschwerdemaximum auf die Genese schließen zu wollen. Jeder Schwindel, jeder Kopfschmerz und alle Schulter-Arm-Probleme sind polyfaktoriell und also per definitionem auch von mehreren Behandlungsansätzen her therapierbar. Bei der Suche nach der aussichtsreichsten Therapie helfen gewisse Erfahrungssätze.

Indizien für eine primär dentogene Pathologie

Bei der Behandlung multimorbider Patienten zeigten sich im Lauf der Jahre Anhaltspunkte, wann der Zahn-Kiefer-Bereich im Vordergrund steht:

Beschwerdephasen:

Patienten mit vor allem dentogenen Beschwerden berichten meist, dass ihre Schwierigkeiten in relativ langen guten und schlechten Phasen auftreten. Die Beschwerden sind zeitweise stärker mit ein paar guten Tagen oder Wochen dazwischen, die aber weder dem Wetter noch – bei Frauen – der Periode zuzuordnen sind.

Ein morgendliches Beschwerdemaximum ist ein klassischer Hinweis auf den Bruxismus, zumindest als eine Teilursache. Die Patienten wachen mit Schmerzen in der Schulter-Nacken-Region auf. Sie vermeiden es, am Wochenende länger zu schlafen, selbst wenn sie könnten, weil sie dann wie gerädert wach werden und „der ganze Nacken hart ist“.

Beschwerdelokalisierung:

Der typische CMD-Patient greift mit der Hand über die Schulter und weist meist rechts auf den Oberrand der Skapula, weil von dort die Schmerzen auszugehen scheinen. Wahlweise wird dann das Schultergelenk selbst umfasst oder auf die Okzipitalschuppe gezeigt. Dabei kann in der Regel kein präziser Punkt angegeben werden, sondern eher ein Schmerzareal. Es ist durchaus die Regel, dass der Zahnbereich für den Patienten nicht im Vordergrund steht, sonst hätte er wohl schon aus eigenem Antrieb zahnärztliche Hilfe in Anspruch genommen.

Oberarmgriff:

Es gibt einen ebenso typischen Griff des Patienten an den Oberarm, etwas unterhalb des Deltoideusansatzes, mit dem der lokale Schmerz angedeutet wird. Der Patient kann in der Regel keine präzise Angabe machen und verweist auf „diese Gegend“; auch die Palpation erbringt meist keinen diskreten Punkt, am ehesten ist der Epikondylus auffällig.

Pseudoradikuläre Beschwerden:

Die von Brügger [12] beschriebenen Akroparästhesien durch Irritation der Nn. intercostobrachiales sind hierfür ein typisches Beispiel. Der erhöhte Anpressdruck des Kopfes an den Rumpf resultiert letztlich oft aus einer Bruxismusproblematik, sodass die HWS hier nur mitleidendes Zwischenglied in der Funktionskette ist. Ebenso weisen die gerne in der Magnetresonanztomographie nachgewiesenen zervikalen Prolapse erst einmal nur auf einen chronisch erhöhten Anpressdruck der HWS hin, der auf seine Ursache hin analysiert werden will – die dann häufig im temporomandibulären Bereich gefunden werden kann.

Assoziierte Fernsymptome:

Die Fehlstatik ist eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass sich lokale Probleme im Kau- und Kieferbereich auch über diesen hinaus auswirken. Bei einer Zusammenstellung von 243 CMD-Patienten fand sich 2006 in über 80% der Fälle eine relevante Fehlstatik, d. h. eine Beinlängendifferenz oder eine Sakrumasymmetrie von über 1 cm bezogen auf die Unterstützungslinie.

Palpatorischer Lokalbefund:

In fast allen Fällen findet sich bei diesen Patienten eine deutliche insertionstendinotische Verspannung der submandibulären Muskeln, die sich sowohl retroklavikulär als auch hinter dem Mandibularbogen nachweisen lässt und fast immer links deutlicher als rechts palpierbar ist. Ohne einen derartigen Palpationsbefund sollte im Einzelfall sehr zurückhaltend mit der Diagnose zervikomandibuläre Dysfunktion umgegangen werden.

Ich habe keine stringente Erklärung dafür, dass sich dieser Befund fast immer nur, oder zumindest häufiger, am linken Kieferwinkel erheben lässt. Diese Seitenbevorzugung, die auch von anderen Kollegen beobachtet wurde, lässt keinerlei Rückschlüsse auf die Lokalisation der Störung im Kiefer zu.

Effekt der symptomatischen Behandlung:

Bei diesen Patienten wird eine postisometrische Relaxation der Kaumuskulatur durchgeführt und eine anschließende Mobilisation/Manipulation des Kiefergelenks. Wenn sich nach einer Reaktionsphase von einigen Tagen dann eine deutliche Besserung des Befunds einstellt, ist die Diagnose als gesichert anzusehen. Meist hält diese Besserung 4–7 Wochen an, wenn nicht in der Zwischenzeit andere Maßnahmen ergriffen wurden, die an der Ursache des Problems ansetzen.

Besserung durch Schiene und/oder AqualizerTM:

Ist bei Patienten eine grundlegende Therapie der Basisproblematik nicht möglich oder eine Überbrückung bis zum Abschluss der Zahnbehandlung nötig, empfiehlt sich der Einsatz des AqualizerTM; dies ist ein dynamischer Splint, der zwei kommunizierende Wasserpolster zwischen die Kauflächen einbringt und so den Biss entkoppelt (www.aqualizer.com). Gerade Patienten, die aufgrund fehlender finanzieller Mittel oder wegen fast phobischer Abneigung gegen den Zahnarzt keiner kausalen Therapie zuführbar sind, kommen damit oft ausgezeichnet zurecht. Dieses einfache Mittel kann zu einer massiven Verbesserung der Lebensqualität führen, auch wenn damit nicht die Störungsursache behandelt wird. Für die Nacht sollte dann eine klassische Aufbissschiene angefertigt werden. Dabei ist es nicht selten sinnvoll, den Zahnarzt zu bitten, keine allzu voluminösen Schienen zu bauen, da diese oft als störend empfunden und dann nicht eingesetzt werden.

Besserung durch diagnostische und/oder therapeutische Lokalanästhesie:

Es gibt etliche Verfahren, hier im Sinne einer Neuraltherapie [23, 15] oder der Mundakupunktur [18] tätig zu werden. Meiner Erfahrung nach kann man diese Tests durchaus kurzfristig erfolgreich einsetzen, sie entbinden aber nicht von der Suche nach der strukturellen Ursache.

Die zervikomandibuläre Dysfunktion

Wenn man CMD mit zervikomandibulärer Dysfunktion „übersetzt“ stellt man die Halswirbelsäule als pathogenen Faktor in den Vordergrund. Dies hat ganz pragmatische Gründe, nicht zuletzt den, dass dieses Konzept eine erfolgreiche und schnelle Behandlung erlaubt: Kiefer- und Kopfgelenke stellen zusammen die subokzipitale Biomechanik.

Hier ist nicht der Platz, um dies in extenso zu diskutieren, aber letztendlich bleibt der Behandlungserfolg die Messlatte für eine zugrunde gelegte Konzeption. Und selbst dann kann man sich – wie das Beispiel der Akupunktur zeigt, wo trotz recht wolkiger Theorien ein durchaus respektabler Therapieeffekt resultiert [41, 42], auch wenn man sich vom klassischen Schema der Meridiane löst [31] – nicht immer sicher sein.

Die Mustererkennung der CMD liegt auf der biographischen Horizontale, sie ist Aktualitätsdiagnostik sensu strictu. Ihr steht die aus der Anamnese resultierende Information zur KiSS-Geschichte gegenüber, die sich oft durch das ganze Leben eines Patienten zieht. Im Schnittpunkt dieser beiden Koordinaten muss der Behandelnde dann entscheiden, welcher Aspekt aktuell den besten Therapieansatz liefert.

Es ist nachgerade erstaunlich, wie simpel die differentialdiagnostische Abwägung dann ist. Man wird immer den vertebragenen Faktor behandeln, auch wenn dieser Nebensache ist, dann aber den Patienten informieren, dass für seine aktuellen Beschwerden die Zahnproblematik strukturell von größerer Bedeutung ist. Damit ist zwar erst einmal nur „der schwarze Peter“ der Behandlung dem Zahnarzt bzw. Kieferorthopäden zugeschoben, aber ganz häufig kann man auf der Ebene der Zahnbehandlung mit minimalem Aufwand zu recht guten Ergebnissen kommen. Mit einer einfachen Aufbissschiene und der Kontrolle der Frühkontakte kann man vielen chronischen Schmerzen die Spitze nehmen, insbesondere wenn die Beseitigung der zervikalen Funktionsstörungen und die statische Sanierung vorausgingen. Offensichtliche“Sünden“ auf zahnmedizinischem Gebiet sollten beseitigt werden. Hierzu gehören vor allem impaktierte 3. Molaren und Lücken (meist 5. oder 6. Zahn), in die dann die hinteren Zähne hineinkippen, sodass keine seitliche Abstützung mehr gegeben ist. Wenn die klinischen Tests dafür sprechen, dass diese Problematik nicht aktuell im Vordergrund steht, kann sich der Patient damit mehr Zeit lassen.

Mit der Motivierung des Patienten zum Zahnarztbesuch ist allerdings auch eine gewisse Verantwortung verbunden, übermäßigen zeitlichen und finanziellen Aufwand vermeiden zu helfen. Komplizierte Schienenkonstruktionen sind z. B. meist überflüssig (auch hier bestätigt die Ausnahme die Regel) und bei extrem kostenträchtigen Implantaten, die ihre Indikation haben können, ist ein realistisches Abwägen zwischen Aufwand und zu erwartendem Erfolg notwendig.

Eine auf den vorangegangenen Überlegungen basierende, nachvollziehbare Begründung für eine Behandlungsempfehlung in einem Arztbrief kann dem Patienten helfen, seinen Kostenträger zu einem größeren Engagement bei der Übernahme der doch oft recht teuren Zahnbehandlung zu bewegen.

Praktisches Beispiel: Schulterschmerzen

Ein klassisches Sorgenkind des Orthopäden ist der Schulterschmerz, dem schon viele Monographien gewidmet wurden (vgl. [32]). Es gibt ganze Arsenale von Tests, die eine genaue Beschreibung der betroffenen Strukturen ermöglichen. Man kann damit feststellen, ob eher der M. subscapularis oder die lange Bizepssehne betroffen ist. Risse in der Rotatorenmanschette können z. B. sonographisch und eine verkalkte Bursa im Röntgenbild nachgewiesen werden.

„So what?“ ist man versucht zu fragen. Sicher ist es wichtig, sich eine Vorstellung vom Beschwerdemaximum und auch von den meist sekundären morphologischen Veränderungen, die eine oft jahrelang bestehende Funktionsstörung der Schulter nach sich zogen, zu machen. Es ist auch durchaus sinnvoll, hier lokal einzugreifen, sei es mit Lokalanästhetika oder manualtherapeutisch. Getreu dem alten, aber richtigen Motto, dass aggressives Abwarten die beste orthopädische Therapie sei, kann man den Zeitraum zwischen Beschwerdeeintritt und spontanem Verschwinden mit jeder beliebigen Aktivität füllen – aber dies bleibt äußerst unbefriedigend.

Die Schulter ist das Beispiel par excellence für eine schmerzhaft funktionseingeschränkte und „à la limite“ geschädigte Struktur, die selbst nicht strukturelle Ursache der hier empfundenen Beschwerden ist. Nach meiner Erfahrung verschwinden die Kalkdepots bei verkalkten Bursae meist auch ohne Operation, wenn man die Ursache der Schulterirritation findet und beseitigen kann. Ebenso wie bei der Epikondylitis gibt es beim Schulterschmerz Fälle, in denen man um eine lokale Operation nicht herumkommt. Die Fallzahlen hierfür bewegen sich jedoch im einstelligen Prozentbereich.

In aller Regel ist man gut beraten, die Trias HWS-Funktionsstörung, CMD und Fehlstatik zu untersuchen und entsprechend zu behandeln. Wurden die Ursachen der Beschwerden hier beseitigt, kann man mit nur geringem Einsatz von Lokalanästhesie, gegebenenfalls in Kombination mit einer Stellatumblockade und anschließender Physiotherapie, in 95% der Fälle recht einfach helfen.

Das setzt aber voraus, dass man sich von den fleißig gelernten und ja durchaus sinnvollen Detailinformationen über Lokalisation und Charakter der Funktionsstörung vor Ort nicht den Blick auf die primären Störungen verstellen lässt, die eben nicht an der Stelle zu suchen sind, „wo es weh tut“. Der Kopfschmerz und die Zervikolumbalgie [4] sind ähnliche Fälle, bei denen Beschwerden und Ursachen topographisch weit auseinander liegen können.

Fazit für die Praxis

Bei der vielschichtigen Wirkung funktionell vertebragener Beschwerden spielen Zahnmedizin und Kieferorthopädie eine große Rolle. In der frühen Jugend kann durch Beheben von Funktionsstörungen der Halswirbelsäule eine symmetrische Basis der Zahn- und Kieferentwicklung ermöglicht und so manches Problem in dieser Region vermieden werden. Im Erwachsenenalter wiederum schaffen Zahnarzt und Kieferorthopäde durch Beseitigung dentaler Störungen erst die Basis, um die sekundären Pathologien im Bereich der Wirbelsäule angehen zu können [3, 39].

Die manuelle Medizin mit ihrer funktionellen Sichtweise beschäftigt sich mit der Biomechanik von HWS und Kiefer in gleicher Weise. Sie berücksichtigt in diesem Zusammenhang zwei Beschwerdetypen:

Zum einen die relativ klaren und direkten Probleme, wie z. B. die akute Lumbago oder eine thorakale Blockierung mit Interkostalschmerzen, bei denen Ursache und Wirkung nahe beieinanderliegen, der Effekt einer Behandlung gut evaluiert werden kann und das klinische Bild vorhersagbar ist.

Zum anderen werden die indirekt und komplex wirkenden vertebragenen Störungen und ihr Zusammenhang mit dentogenen Problemen berücksichtigt. Diese kaum klassifizierbaren Fälle sind oft nur in fachübergreifender Zusammenarbeit, z. B. von Zahnarzt und Manualmediziner, lösbar. Ihre Bewältigung stellt hohe Anforderungen an das Abwägen der immer polyfaktoriellen Genese und damit einhergehend an die Suche nach einer effizienten und realistischen Therapie. Wenn man hierbei die Gestalt KiSS und CMD in die Überlegungen mit einbezieht wird man schneller zum Ziel kommen.