Bei der Begutachtung von Patienten mit der Diagnose Fibromyalgie bestehen – wie bei chronischen Schmerzzuständen insgesamt – weiterhin fachspezifisch divergierende Auffassungen. Nachdem es jüngst in Form von Leitlinien gelang, einen fachübergreifenden Konsens zur Begutachtung chronischer Schmerzsyndrome herzustellen (Widder et al. 2007), wird im Folgenden eine Orientierungshilfe für die sozialmedizinische Begutachtung dieses pathogenetisch heterogenen Schmerzsyndroms gegeben.

Definition und klinisches Bild

Unter Fibromyalgie – im deutschsprachigen Raum früher auch als generalisierte Tendomyopathie (Müller u. Lautenschläger 1990) und zuvor auch als „Weichteilrheuma“ bezeichnet – versteht man ein chronisches multilokuläres Schmerzsyndrom im Bereich der Muskeln, des Sehnenapparates, der Ligamente und der periartikulären Strukturen, bei dem Entzündungsparameter fehlen.

Die heute gültige Definition des Syndroms, die von einer Arbeitsgruppe des American College of Rheumatology (ACR) erarbeitet wurde, ist rein deskriptiv (Wolfe u. Hawley 1999):

  • chronische, d. h. länger als 3 Monate andauernde generalisierte Schmerzen in mindestens drei Körperregionen;

  • dabei werden Schmerzen in der rechten und der linken Körperhälfte, oberhalb und unterhalb der Taille sowie im Achsenskelett gefordert;

  • Druckempfindlichkeit muss an mindestens 11 von 18 definierten „tender points“ (Sehneninsertionsstellen) gegeben sein.

Die Schmerzen sind oft von funktionellen, vegetativen und psychischen Störungen begleitet. Hinweise auf ein entzündlich-rheumatisches Geschehen fehlen. Die Überlappung mit der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung ist breit, zumal zwischenzeitlich praktisch alle rheumatologisch-immunologischen und muskelphysiologischen Studien letztlich keine spezifischen peripheren Befunde erbrachten: Es finden sich weder typische morphologische noch spezifische metabolische Veränderungen. Viele körperlichen Auffälligkeiten sind auf den mangelnden körperlichen Trainingszustand zurückzuführen. Für die gefundene Schwäche (isotonisch und isometrisch) der Muskelkraft, für die mangelnde Entspannung zwischen zwei Muskelkontraktionen und für die gleichzeitige Aktivierung von agonistischen und antagonistischen Muskeln werden zentralnervöse Störungen verantwortlich gemacht. Die gesteigerte Empfindlichkeit auf periphere Druckschmerzreize an den Tender points und auch an sog. Kontrollpunkten, die niedrige Schmerzschwelle bei Thermo- ebenso wie bei Elektrostimulation und die fehlende Schmerzhemmung bei Gegenstimulation sprechen für eine Schmerzverarbeitungsstörung auf spinaler, subkortikaler und kortikaler Ebene (vgl. van Houdenhove u. Egle 2004). Betroffen sind vorwiegend Frauen, in einem Verhältnis zu Männern von 6:1. In Nordamerika wird für Fibromyalgie eine Punktprävalenz von 2%, für Frauen von 3,4%, für Männer 0,5% angegeben. Deutlich höher sind die Prävalenzen bei dem sehr viel breiter definierten multilokulären („chronic widespread“) Schmerzsyndrom mit 10–13%, das zunehmend häufiger bei nicht sehr sorgfältiger Untersuchung mit Fibromyalgie gleichgesetzt wird.

Die Erkrankung beginnt durchschnittlich um das 35. Lebensjahr; der Häufigkeitsgipfel wird im und nach dem Klimakterium erreicht. Bei 10–20% der Patienten beginnen die fibromyalgischen Symptome allerdings bereits in Kindheit und Jugend und werden dann oft „dem Wachstum“ zugeschrieben. Der Beginn einer Fibromyalgie nach dem 60. Lebensjahr ist selten.

Differenzialdiagnostisch ist vor allem das myofasziale Schmerzsyndrom abzugrenzen, für das „trigger points“ (schmerzhafte Druckstellen in den Muskelbäuchen) sowie blande verlaufende Kollagenosen typisch sind. Im klinischen Erscheinungsbild bestehen große Ähnlichkeiten zur Polymyalgia rheumatica sowie zur Poly- und Dermatomyositis. Die Differenzierung ist jedoch fast immer gut durch laborchemische Zusatzuntersuchungen, bioptische Muskeluntersuchungen und elektromyographische (EMG-)Veränderungen möglich.

Psychosomatische Zusammenhänge bei Fibromyalgie werden schon seit rund 50 Jahren diskutiert. Durch die Enttabuisierung des sexuellen Missbrauchs von Kindern ab Mitte der 1980er Jahre und unter dem Eindruck der vor allem in den USA relativ hohen Raten psychosexueller Traumatisierung wurde auch bei Fibromyalgiepatienten die Bedeutung solch früher Stresserfahrungen untersucht. Zeitlich parallel entwickelte sich in den 1990er Jahren ein rasch zunehmender Erkenntnisgewinn hinsichtlich zentraler Verarbeitungs- und Steuerungsmechanismen in den verschiedenen Bereichen des Gehirns. Vor allem psychobiologische Erkenntnisse der Stressforschung einerseits und der zentralen Schmerzverarbeitung andererseits eröffnen jetzt neue Möglichkeiten für ein psychosomatisches bzw. biopsychosoziales Verständnis der Fibromyalgie.

Frühe Stresserfahrungen bei Fibromyalgie

Zahlreiche Studien belegen inzwischen, dass Patienten, die später eine Fibromyalgie entwickeln, ähnlich wie Patienten mit somatoformer Schmerzstörung in der Kindheit einem Familienklima ausgesetzt waren, das von körperlicher Gewaltanwendung, emotionaler Vernachlässigung und/oder sexuellem Missbrauch geprägt war. Insgesamt haben Fibromyalgiepatienten höhere Lebenszeitprävalenzraten für alle Formen der Viktimisierung in Kindheit und Jugend, auch wenn die Angaben zu sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung stark variieren (vgl. van Houdenhove et al. 2005). Häufigkeit und Ausmaß solcher Viktimisierungen führten in jüngster Zeit zu einer Diskussion darüber, inwieweit die Fibromyalgie möglicherweise eine Variante der posttraumatischen Belastungsstörung sein könnte.

Übereinstimmend weist die Gruppe der traumatisierten Fibromyalgiepatienten (im Vergleich zu jenen ohne frühe Traumatisierungen) folgende Kriterien auf:

  • mehr Tender points und eine höhere Schmerzempfindlichkeit,

  • mehr psychovegetative Begleitsymptome,

  • mehr funktionelle Einschränkungen,

  • größeren Analgetikakonsum,

  • höhere Inanspruchnahme von Ärzten,

  • mehr psychische Symptome und

  • höheres Ausmaß funktioneller Einschränkung.

Ingesamt war eine größere Gruppe von Fibromyalgiepatienten Traumatisierungen und anderen psychosozialen Stressoren in Kindheit und Jugend ausgesetzt, die mit Störungen in der Selbstwertentwicklung sowie im Bindungsverhalten einhergehen und die Vulnerabilität für psychische Störungen erhöhen.

Stressverarbeitung bei Fibromyalgie

Klinische Beobachtungen zeigen, dass die Fibromyalgie häufig durch biologische (Infektion, Trauma) oder psychosoziale Stressoren ausgelöst wird. Fibromyalgiepatienten berichten ein hohes tägliches Stressniveau und auch biographisch kumulativ ein höheres Ausmaß an kritischen Lebensereignissen.

In den letzten Jahren wurden wissenschaftliche Hinweise auf eine Funktionsstörung des vom Hirnstamm absteigenden antinozizeptiven Systems gefunden (Mense 2000; Millan 2002; Cook et al. 2004). Die fehlende Hemmung peripherer nozizeptiver Impulse (vor allem aus tieferen Gewebsstrukturen) bei ihrer Umschaltung auf die spinalen Hinterhornbahnen könnte für Spontanschmerzen (erhöhte Ruheaktivität), erhöhte Druckschmerzhaftigkeit und auch Hyperalgesie (im Sinne einer verstärkten Antwort auf Schmerzreize) verantwortlich sein. Dabei handelt es sich um eine durch zentrale Prozesse bedingte „Schmerzüberempfindlichkeit“ (im Unterschied zu der durch periphere lokale Prozesse bedingten). Diese erhöhte Sensibilität für periphere Reize konnte auch mithilfe der zentralen Bildgebung belegt werden (vgl. van Houdenhove u. Egle 2004; Stoeter et al. 2007).

Persönlichkeitsmerkmale, psychische Komorbidität und Krankheitsverhalten

Eine Teilgruppe von Fibromyalgiepatienten hat ein geringes Selbstwertempfinden; dies ist mit dem Bedürfnis, ihr Selbstwertgefühl über Kompetenz und Anerkennung durch andere zu stabilisieren, verbunden. Diese Gruppe zeichnet sich durch hohe Anforderungen an sich selbst, bei gleichzeitig geringer Selbstbehauptung und geringer emotionaler Offenheit aus. Dies führt zu einer permanenten Suche nach Anerkennung und Neigung zu Hyperaktivität („action proneness“). Andere („nichtdepressive“) Fibromyalgiepatienten zeigen hingegen keine Störung der Selbstwertregulierung. Bei der Bewältigung von Alltagskonfliktsituationen stehen meist unreife Konfliktbewältigungsstrategien in Form von Projektion und Wendung gegen das Selbst zur Verfügung (bestimmte Triebimpulse, z. B. Ärger oder Wut werden gegen die eigene Person gewendet; Egle et al. 1989).

Depressive Störungen und Angsterkrankungen bestehen bei 60–70% der Fibromyalgiepatienten, nicht selten häufig auch schon vor Beginn der Schmerzsymptomatik. Über eine zentrale Senkung der Schmerzschwelle können depressive Erkrankungen ebenso zu einer Verstärkung der Schmerzempfindung beitragen wie Angsterkrankungen über den Mechanismus der vermehrten muskulären Anspannung.

Die Anzahl der Schmerzpunkte korreliert bei Fibromyalgie mit dem Ausmaß an Angst. Das Ausmaß der funktionellen Einschränkungen hängt ebenfalls ganz wesentlich von einer bestehenden Angstsymptomatik ab. Auch die Schmerzstärke korreliert positiv mit einer ängstlichen Grundpersönlichkeit. Fibromyalgiepatienten mit hohen Angst- und Depressionswerten geben – unabhängig von der Krankheitsdauer – viel Schmerz und Erschöpfung an. Dabei zeigen sich in der Gruppe mit den höchsten Angstwerten ohne Depression die höchsten Werte für Schmerz und Erschöpfbarkeit. In Subgruppen mit niedrigen Angst- und Depressionswerten ist es genau umgekehrt.

Fibromyalgiepatienten mit hohen Angstwerten haben eine ausgeprägte Selbstbeobachtung im Sinne einer Hypervigilanz. Gleichzeitig kommt es wegen Angst vor Schmerzverstärkung („fear avoidance“) oft zu einem Schonverhalten mit der Konsequenz der Dekonditionierung. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die bei Fibromyalgiepatienten im Vergleich zu anderen Schmerzgruppen signifikant häufiger zu beobachtende Copingstrategie des Katastrophisierens (Leibing et al. 2003).

Eine bestehende Angsterkrankung unterscheidet Fibromyalgiepatienten mit hoher Inanspruchnahme des Gesundheitswesens hochsignifikant von solchen, die nicht in ärztlicher Behandlung sind. Angst ist dabei wesentlich bedeutsamer als Depression, wird jedoch in der Diagnostik sehr häufig übersehen. Im Vergleich zu anderen chronischen Schmerzpatienten verhalten sich Fibromyalgiepatienten oft passiv-resignativer und fühlen sich signifikant hilfloser und bedrohter (Egle et al. 2004).

Biopsychosoziales Krankheitsmodell

Aus den dargestellten wissenschaftlichen Ergebnissen ist abzuleiten, dass für eine größere Subgruppe von Fibromyalgiepatienten eine Störung der Stressverarbeitung sowohl psychobiologisch als auch psychologisch und biographisch heute als recht gut belegt angesehen werden kann (Egle u. van Houdenhove 2006). In einem biopsychosozialen Pathogenesemodell (Abb. 1; Egle et al. 2004; van Houdenhove et al. 2005) wird unterschieden zwischen

  • genetischen und umweltbezogenen Vulnerabilitätsfaktoren,

  • biologischen und psychosozialen Auslösemechanismen sowie

  • patientenbezogenen und iatrogenen Chronifizierungsfaktoren.

Die Vulnerabilität für ein Fibromyalgiesyndrom kann danach durch psychosoziale und biologische Einflussfaktoren determiniert sein. Störungen der Stressverarbeitung und -beantwortung können genetisch bedingt (Hypervigilanz, Serotoninstoffwechselstörung), jedoch auch Folge früh einwirkender psychosozialer Belastungsfaktoren sein. Unsichere Bindung, emotionale Vernachlässigung und frühe Viktimisierung (körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch) können ebenfalls zu sensorischer Überempfindlichkeit (Lärm, Schmerz) und biologischen Störungen in der Stressverarbeitung führen. Dies ist umso wahrscheinlicher, wenn das Kind von seiner Veranlagung ohnehin schon eher ängstlich und gehemmt ist. Ein extravertiertes, lebhaft-aktives Temperament kann ein Kleinkind hingegen – zumindest partiell – vor den Folgen früher psychosozialer Traumatisierung schützen (vgl. Egle et al. 2002).

Abb. 1
figure 1

Biopsychosoziales Krankheitsmodell der Fibromyalgie; HPA-/LC-NE-Achse Hypophysen-Nebennierenrinden-/Locus-caeruleus-Norepinephrin-Achse. (Egle et al. 2004; van Houdenhove et al. 2005)

Dies mündet, vor allem wenn kompensatorische psychosoziale Schutzfaktoren fehlen, in einem labilen Selbstwertgefühl mit der Neigung zu Angst, Depression oder auch Ruhelosigkeit und unreifen Konfliktbewältigungsstrategien (Wendung gegen das Selbst, Projektion, Reaktionsbildung, Katastrophisieren). Misstrauen, Hyperaktivität, ausgeprägtes Kontrollverhalten und Leistungsorientierung bis hin zum Perfektionismus sind Ausdruck bzw. Kompensationsversuche eines schlechten Selbstwertgefühls (Nickel u. Egle 2001; Nickel u. Egle 2006).

In Verbindung mit der biologisch determinierten Störung der Stressverarbeitung führt dies zu einer deutlich erhöhten Vulnerabilität für biologische, z. B. Infektion oder körperliches Trauma, und psychosoziale Stressoren im Erwachsenenalter, die dann als Auslösefaktoren fungieren. Es kommt zur Überforderung und in Verbindung damit zur Aktivierung des bereits vorgeschädigten Stresssystems. Schmerz, Erschöpfung und psychovegetative Symptomatik sind das Ergebnis.

Fehlende Erklärungen von ärztlicher Seite für das multilokuläre Schmerzgeschehen fördern Kontrollverlustängste und die Neigung zum Katastrophisieren, bedingen eine ängstlich-hypochondrische Bewertung und Verarbeitung und ein – ggf. noch durch daraus resultierende muskuläre Spannungszustände und körperliche Dekonditionierung – verstärktes Schmerzerleben, das als biologischer Stressor im Rahmen eines Circulus vitiosus selbst wiederum Einfluss nimmt. Auch psychosoziale Folgen, wie sozialer Rückzug, negative Affekte, Enttäuschungen über Ärzte und „doctor shopping“ können diesen Chronifizierungsprozess weiter unterhalten. Die Prognose ist ganz wesentlich vom Ausmaß der (auch oft iatrogenen) Chronifizierung abhängig.

Die unterschiedlichen biologischen und psychosozialen Faktoren ermöglichen die Differenzierung pathogenetischer Untergruppen; dem versucht das skizzierte Pathogenesemodell Rechnung zu tragen (vgl. Egle et al. 2004).

Für die Leistungsbeurteilung bei Fibromyalgie ist neben der Diagnostik die Einschätzung der Wirksamkeit bisheriger Therapiemaßnahmen von Bedeutung. Eine rein rheumatologisch-somatische Behandlung greift ebenso zu kurz wie die standardisierten sog. multimodalen Programme. Aber auch psychosomatische Behandlung muss bei Fibromyalgiepatienten mehr als nur psychotherapeutische Maßnahmen umfassen. Dies setzt funktionsfähige fachübergreifende Kooperationsstrukturen voraus. Zunächst ist dabei den nicht selten iatrogen mitinduzierten Chronifizierungsfaktoren in Form psychoedukativer Interventionen (Krankheitsinformation, Aufmerksamkeitslenkung, Schmerzattribuierung) und einer körperlichen Dekonditionierung durch ein physisch aktivierendes Aufbauprogramm Rechnung zu tragen. Fibromyalgiepatienten mit Angst oder Depression als Komorbidität ist ggf. zusätzlich ein Antidepressivum zu verordnen. Dabei haben sich – im Hinblick auf eine geringere Nebenwirkungsrate – besonders die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmerpräparate [„selective serotonin reuptake inhibitor“ (SSRI), z. B. Sertralin, Citalopram] bewährt.

Beim Nachweis einer erhöhten Stressvulnerabilität aufgrund emotionaler oder physischer Traumatisierungen in der Kindheit sollten über einfache Schmerzbewältigungsprogramme hinausgehende psychotherapeutische Maßnahmen durchgeführt werden, die auf eine erhöhte Stressresistenz abzielen. Dies kann in Form einer jeweils krankheitsspezifischen kognitiv-behavioralen Stressimmunisierung oder einer störungsspezifischen psychodynamisch-interaktionellen Gruppenpsychotherapie geschehen (Nickel u. Egle 1999; Egle u. van Houdenhove 2006).

Qualitätskriterien in der Begutachtung von Fibromyalgiepatienten

Ohne eine sorgfältige Abklärung der biographischen Entwicklung und der psychischen Komorbidität [möglichst mithilfe eines standardisierten und strukturierten Diagnoseverfahrens, z. B. Structured Clinical Interview for DSM Disorders (SCID), diagnostisches Interview bei psychischen Störungen (DIPS), International Diagnostic Checklists for ICD-10 und DSM-IV (IDCL), Patient Health Questionaire (PHQ)] ist eine Begutachtung unzureichend. Fragebögen allein sind diesbezüglich nicht valide. Ebenso ist die sorgfältige Erhebung einer biographischen Anamnese zur Abklärung der oben genannten Risikofaktoren zu fordern. Auch die im Vordergrund stehenden Bewältigungsstrategien und das Ausmaß sozialer Unterstützung sind zu berücksichtigen. Der Gutachter sollte neben dieser psychosomatischen Kompetenz zusätzlich über eine spezifische schmerztherapeutische Kompetenz verfügen. Zum Ausschluss einer sekundären Fibromyalgie (im Rahmen einer immunologischen Störung) kann ggf. ein rheumatologisches Zusatzgutachten erforderlich sein.

Auf dieser Basis sollte dann eine detaillierte Exploration und Einschätzung der (Leistungs-)Einschränkungen im Alltag unter Berücksichtigung von Glaubhaftigkeit und Plausibilität der vom Patienten gemachten Angaben erfolgen.

Bewertung der Leistungseinschränkung

Orientierungshilfe bei der Leistungsbeurteilung ist die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Hierbei wird ein funktionaler Gesundheitsbegriff mithilfe der Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen, den Konzepten der Aktivitäten und der Partizipation (Teilhabe) sowie umwelt- und personenbezogene Faktoren beschrieben. Für Patienten mit multilokulären Schmerzzuständen liegt der Vorschlag eines Expertengremiums der World Health Organization (WHO; Cieza et al. 2004) vor, der relevante Aspekte der genannten Bereiche benennt, in deren Rahmen es für Einschränkungen von Körperfunktion und Partizipation sowie Einflussnahme von Umweltfaktoren bei chronischen multilokulären Schmerzzuständen inzwischen „core sets“ gibt.

Einschränkungen der „Körperstrukturen“ sind auch nach Meinung dieser Expertenrunde nicht relevant, „personenbezogene Faktoren“ sind in diesem Klassifikationssystem bisher nicht ausgearbeitet.

Einschränkung von Körperfunktionen betreffen hierbei:

  • emotionale Funktionen,

  • Schmerz,

  • Funktionen der kardiorespirativen Belastbarkeit,

  • psychomotorische Funktionen,

  • Funktionen der Kontrolle der Willkürbewegungen,

  • Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs,

  • mentale Funktionen/Inhalt des Denkens (einschließlich Somatisierung),

  • Funktionen der Muskelkraft und

  • Funktionen der Aufmerksamkeit.

Einschränkungen der Partizipation betreffen:

  • tägliche Routine durchführen,

  • mit Stress u. a. psychischen Anforderungen umgehen,

  • Familienbeziehungen,

  • bezahlte Tätigkeit,

  • intime Beziehungen,

  • feinmotorischen Handgebrauch,

  • Erholung und Freizeit,

  • Probleme lösen,

  • Gegenstände anheben und tragen sowie

  • Hausarbeiten erledigen.

Hinsichtlich der Relevanz von Umweltfaktoren wurden die folgenden Parameter vorgeschlagen:

  • Medikamente,

  • Unterstützung und Beziehungen/engster Familienkreis,

  • Unterstützung und Beziehungen/Fachleute der Gesundheitsberufe,

  • Einstellungen/individuelle Einstellungen der Mitglieder des engsten Familienkreises,

  • Dienste/Systeme und Handlungsgrundsätze der sozialen Sicherheit und

  • individuelle Einstellungen von Freunden.

Diese Bereiche werden hinsichtlich des Ausmaßes der Einschränkung anhand der folgenden Abstufung eingeschätzt:

  • nicht vorhanden: 0–4%,

  • leicht ausgeprägt: 5–24%,

  • mäßig ausgeprägt: 25–49%,

  • erheblich ausgeprägt: 50–95%,

  • voll ausgeprägt: 96–100%,

  • nichtspezifizierbar und

  • nichtanwendbar.

Berufliche Leistungsfähigkeit und berufliche Wiedereingliederung

Vor dem Hintergrund der oben dargestellten, an der ICF orientierten Beurteilung der Funktionseinschränkungen im Alltag ist die Einschätzung der beruflichen Leistungsfähigkeit sowie der Möglichkeiten der Wiedereingliederung vorzunehmen. Hilfreich ist dabei eine Differenzierung nach Schweregraden anhand der Einschränkungen von Körperfunktionen und Partizipation. Weitreichende Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit sind besonders bei erheblicher psychischer Komorbidität (mindestens mittelschwere Depression, erhebliches Ausmaß an Panikattacken, Agoraphobie, soziale Phobie bzw. generalisierte Angsterkrankung oder schwere Persönlichkeitsstörung) gegeben. Auch das Ausmaß der im Rahmen der Chronifizierung eingetretenen körperlichen Dekonditionierung ist zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die Möglichkeit der beruflichen Wiedereingliederung sollte geklärt werden, inwieweit bisher überhaupt eine adäquate psychopharmakologische und/oder psychotherapeutische Behandlungsmaßnahme durchgeführt wurde. Ist dies nicht der Fall gewesen, ist eine sorgfältige Eruierung „umweltbezogener“ Einflussfaktoren erforderlich, d. h. inwieweit dies iatrogen bedingt ist (z. B. betreuende Ärzte haben dies dem Patienten nie nahe gelegt) oder der Betroffene entsprechenden Vorschlägen seiner Ärzte nicht nachkommen wollte. Ist Letzteres der Fall, so ist eine entsprechende „Auflage“ als Vorbedingung für eine endgültige Klärung der beruflichen Leistungsfähigkeit meist nicht Erfolg versprechend. War jedoch das „Krankheitsmanagement“ von ärztlicher Seite unzureichend, sollten zunächst die unten skizzierten Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Bei leichten Formen der Fibromyalgie ohne schwerwiegende psychische Komorbidität ist oft schon ein gezieltes körperliches Fitnesstraining („aerobic exercise“) in Kombination mit einem Schmerzbewältigungstraining hinreichend, um eine berufliche Wiedereingliederung zumindest für leichtere körperliche Arbeiten vollschichtig zu gewährleisten.

Kasuistik

Gutachten beim Landessozialgericht wegen strittiger GdB-Einstufung einer 44-jährigen Frau

Die seit 2001 bestehende Einstufung liegt bei einem Grad der Behinderung (GdB) von 30; Frau B. strebt eine GdB von 50 an. Frau B. beklagt eine chronische Schmerzsymptomatik, die als Fibromyalgie eingeordnet worden war. Die Hauptbeschwerden bestehen im Schulter-Nacken-Bereich. Es handelt sich in ihrem Erleben um einen Dauerschmerz, nie unter der Schmerzstärke 4 (VAS 0–10), meist darüber. Die Schmerzen ziehen sowohl in die Arme als auch in die Beine. Sie verstärken sich unter körperlicher Belastung. In Ruhe – meist nach körperlichen Belastungen – treten sie in praktisch allen Muskeln und Sehnen auf. Dadurch sei der Schlaf beeinträchtigt. Insgesamt bestehe die Beschwerdesymptomatik seit 15 Jahren, habe aber über die Jahre zugenommen. Aktuell nehme sie 50 mg Amitriptylin ein, darunter sei der Schlaf gebessert. Außerdem führe sie regelmäßig, täglich Entspannungs- und Dehnungsübungen durch. Regelmäßig nehme sie an einer Gymnastikgruppe teil. Sie erfahre eine deutliche Hilfe durch ihren behandelnden Schmerztherapeuten.

Frau B. arbeitet als Altenpflegerin (Ausbildung 1996–1999) im Zweischichtdienst in Vollzeit; der Anfahrtsweg der einfachen Strecke beträgt 60 km. Sie berichtet von einem guten Arbeitsklima. Sie bewältige die Arbeit gerade so. Sie müsse sich viel ausruhen; die Freizeitaktivitäten seien sehr eingeschränkt. Frau B. lebt seit 10 Jahren mit ihrem 56-jährigen Lebensgefährten zusammen. Er ist im Vorruhestand. Sie berichtet von einer überwiegend unterstützenden Beziehung. Im Haus lebt außerdem die 85-jährige Mutter des Lebensgefährten.

Diagnosen: Fibromyalgie im Sinne einer somatoformen Schmerzstörung (F45.4); Adipositas (E66).

Anwendung des Brief Core Set „Chronic Widespread Pain“

Die Einschätzung erfolgt zum einen durch die subjektive Einschätzung durch Frau B. (Tab. 1; x); zum anderen durch die Gutachterin (B.G.; Tab. 1) durch Anwendung des Brief Core Set „Chronic Widespread Pain“ (Cieza et al. 2004) auf den Ebenen Körperfunktionen; Aktivität und Teilhabe sowie Umweltfaktoren. Beispielhaft wurden je drei Items ausgewählt.

Tab. 1 Anwendung des Brief Core Set „Chronic Widespread Pain“. (Cieza et al. Cieza et al. 2004)

Insgesamt ist von einer mäßigen Beeinträchtigung durch die multilokuläre Schmerzsymptomatik auszugehen. Diese Wahrnehmung teilen Gutachterin und Klägerin. Es gibt keine Hinweise für eine Aggravation.

Eine Neigung zur Negierung psychosozialer Problembereiche ist ablesbar; hier gibt es unterschiedliche Einschätzungen zwischen Gutachterin und Klägerin.

Die bestehenden Umweltfaktoren (Arbeitsmöglichkeit, Arbeitsklima, Entlohnung, Unterstützung vom Ehemann) wirken sich tendenziell förderlich aus.

In der Bewertung ist in der Zusammenschau keine wesentliche Dynamik im Sinne einer Verschlechterung der Beschwerdesymptomatik beobachtbar. Frau B. bewältigt ihre Arbeit, einschließlich eines erheblichen Anfahrtsweges. Einschränkungen betreffen die Freizeitaktivitäten. Diese Einschränkungen finden jedoch im GdB bereits Berücksichtigung.

Somit gibt es gutachterlich keine Gründe, eine Erhöhung der GdB von 30 auf 50% zu befürworten.

Schlussfolgerungen

Die dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnisse machen die Komplexität der bei der Fibromyalgie beteiligten biologischen, psychischen und sozialen Mechanismen deutlich. Folgende Konsequenzen sind aus dem erheblichen Wissenszuwachs der letzten Jahre für die praktische Arbeit mit den betroffenen Patienten zu ziehen:

  • Fibromyalgie kann nicht auf eine „Modediagnose für überbewertete Befindlichkeitsbeschwerden“ reduziert werden, wie dies teilweise immer noch geschieht.

  • Fibromyalgie ist auch keine primär psychische oder psychiatrische Erkrankung.

  • Bei der Fibromyalgie handelt es sich vielmehr um eine psychosomatische Erkrankung, der eine zentrale Störung von Stress- und Schmerzverarbeitungssystem zugrunde liegt und bei der pathogenetische Subgruppen zu differenzieren sind. Dabei ist die Bedeutung verschiedener biologischer, psychischer und sozialer Parameter individuell zu gewichten.

  • Eine individuelle Therapieplanung setzt eine solche diagnostische Gewichtung voraus. Das skizzierte Pathogenesemodell ist dafür als Orientierungshilfe gedacht.

  • Die Beschränkung auf eine Monotherapie, ob medikamentös oder psychotherapeutisch, dürfte bei Fibromyalgiepatienten häufig nicht hinreichend sein. Genauso wenig wirksam sind allerdings die verbreiteten „multimodalen Therapieprogramme“, die potenziell wirksame Therapieelemente ungezielt und häufig unterdosiert kombinieren (Karjalainen et al. 2004).

  • Bei lang dauernder Chronifizierung und ausgeprägter Komorbidität ist die Prognose auch bei spezifischen und umfassenden Therapiemaßnahmen ungünstig.

  • Die Möglichkeit einer beruflichen Wiedereingliederung hängt von der Schwere der psychischen Komorbidität, dem aktuellen Wissensstand und dem daraus resultierenden Krankheitsmanagement des betreuenden Arztes sowie dem Krankheitsverständnis und der damit verknüpften Motivierbarkeit des Betroffenen für eine psychosomatische Behandlung ab.

  • Die Leistungsbeurteilung sollte durch einen qualifizierten Gutachter mit psychosomatischer und schmerztherapeutischer Kompetenz erfolgen.

  • Für die Bewertung der Leistungseinschränkung bietet die ICF mit den Bereichen Körperfunktionen, Partizipation, Umweltfaktoren und personengebundene Faktoren eine vergleichbare Grundlage.

  • Bei der Einschätzung der Möglichkeiten der Wiedereingliederung ist kritisch zu prüfen, welche Therapiemaßnahmen durchgeführt wurden und warum diese gegebenenfalls gescheitert sind.

Fazit für die Praxis

Die dargestellten biopsychosozialen Zusammenhänge legen nahe, dass es sich bei der Fibromyalgie um ein Beschwerdebild handelt, dessen Diagnostik, Behandlung und gutachterliche Einschätzung zu den zentralen Aufgaben der psychosomatischen Medizin gehören.