Das in den letzten Jahrzehnten weit fortgeschrittene Wissen über die menschliche Anatomie, das individuelle Wachstum und die Einflüsse der Ernährung auf die körperliche Entwicklung unter Berücksichtigung soziokultureller Faktoren ermöglicht es zunehmend, Aussagen über morphologische Gestaltungsparameter beim Menschen zu treffen. Dabei hat die Möglichkeit der dreidimensionalen Abbildung des Skeletts mithilfe technischer Verfahren wie der Computertomographie (CT) oder der Magnetresonanztomographie (MRT) neue Wege eröffnet. So ist es möglich geworden, Menschen auch noch lange Zeit nach ihrem Tod virtuell in ihre ursprüngliche Gestalt zurückzuversetzen. Welche Möglichkeiten der methodischen Umsetzung sich hierbei ergeben, belegen eindrücklich die Gesichtsrekonstruktionen des Mädchens aus dem Uchter Moor.

Verfahren der plastischen Gesichtskonstruktion

Es gibt inzwischen unzählige Beispiele für plastische Gesichtskonstruktionen. Die Verfahren bauen in der Regel die Gesichtsweichteile auf mehr oder weniger gut erhaltene knöcherne Schädel bzw. auf entsprechende Modelle auf. Diese beruhen zumeist auf Rekonstruktionen, die im „Rapid-prototyping“-Verfahren auf der Basis von CT-Dokumentationen erstellt wurden. Bekannte Beispiele hierfür sind berühmte Persönlichkeiten wie Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, der Seeräuber Störtebeker oder die Gletschermumie „Ötzi“. Aber auch von urgeschichtlichen Moorleichen, wie z. B. dem Grauballe-Mann, dem Kind von Windeby oder dem „Roten Franz“ wurden entsprechende Rekonstruktionen angefertigt [1, 6, 10]. Daneben wird das Verfahren der Gesichtsrekonstruktion als etablierte kriminalistische Methode eingesetzt, um bei Schädelfunden unbekannter Personen durch die Darstellung des Gesichts den untersuchenden Behörden Ermittlungsansätze zur Identifikation bereitzustellen.

In allen Fällen ist das Ziel, eine möglichst realitätsnahe 2D- oder 3D-Rekonstruktion des Objekts zu erreichen. Hierzu stehen unterschiedliche Techniken zur Verfügung, wie sie beispielsweise von Wilkinson [13], Buzug et al. [4] oder Ohlrogge et al. [8] beschrieben wurden:

a) Plastische 3D-Rekonstruktion am Schädelmodell; zumeist nach der von Richard Neave begründeten „Manchester-Methode“ [9]. In Deutschland wurde dieses Verfahren insbesondere von Richard Helmer propagiert, der beispielsweise dem Kind von Windeby sein bekanntes Gesicht gegeben hat [7].

b) 2D- oder 3D-Rekonstruktion am Bildschirm mithilfe computertechnischer Animation.

c) Zeichnerische Rekonstruktion in Anlehnung an die Gesetzmäßigkeiten der plastischen Rekonstruktion ebenfalls unter Zugrundelegung definierter Weichteildicken.

Prähistorische Moorleiche aus dem Uchter-Moor

Im Jahr 2005 wurde im Großen Moor bei Uchte (Landkreis Nienburg) in Niedersachsen die Hand einer weiblichen Moorleiche entdeckt. Dieser Fund führte zur Neubewertung eines an derselben Stelle bereits einige Jahre zuvor geborgenen Leichnams einer jungen Frau [11]. Dabei hatte es sich um eine Moorleiche gehandelt, die beim Torfabbau durch eine Torfstechmaschine stark fragmentiert worden, insgesamt aber dennoch hervorragend erhalten war. Haut, Haare und Knochen waren im Moor konserviert worden. Die Liegezeit des Leichnams konnte anhand einer Radiokarbondatierung auf ca. 2650 Jahre bestimmt werden. Demnach ist die junge Frau eine Zeitzeugin aus der vorrömischen Eisenzeit und damit nicht nur die älteste aller radiokarbondatierten Moorleichen aus Niedersachsen, sondern auch der erste Moorleichenfund in Norddeutschland seit 50 Jahren.

Da die Menschen in der vorrömischen Eisenzeit nach ihrem Tod verbrannt wurden, gewann die als „Mädchen aus dem Uchter Moor“ („Moora“) bekannt gewordene prähistorische Moorleiche insbesondere unter archäologischen Gesichtspunkten an Bedeutung [2, 3, 11]. Ihr Fund ermöglichte es, spezielle Einblicke in das Leben einer Person aus dieser Zeit zu nehmen.

Methode und Ergebnisse

Da der Schädel des Mädchens durch die Lagerung im Moor und das Herausreißen durch die Torfstechmaschine in diversen deformierten Einzelteilen vorlag, war zunächst seine digitale 3D-Rekonstruktion notwendig. Hierzu wurden am Institut für Medizinische Informatik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, die CT-dokumentierten Knochen einzeln separiert und mithilfe hierfür gezielt entwickelter virtueller Technik anatomisch neu ausgerichtet, zusammengesetzt und in die ursprüngliche Größe gebracht. So entstand ein Datensatz für das vollständige Schädelskelett, der dann die Ausgangsbasis für ein 3D-Druckverfahren (Rapid prototyping) bildete, mit dessen Hilfe die Replik des knöchernen Schädels hergestellt werden konnte.

Das Anliegen, „Moora“ ein Gesicht zu geben, entwickelte sich innerhalb der interdisziplinären Arbeitsgruppe von Beginn an unter der Zielvorstellung, mit unterschiedlichen technischen Verfahren und Herangehensweisen von mehreren Rekonstrukteuren unabhängig voneinander 2D- und 3D-Rekonstruktionen erstellen zu lassen. Als Grundlage diente dabei allen Beteiligten das zuvor entwickelte Schädelmodell zusammen mit einem Steckbrief, in dem die anthropologischen und rechtsmedizinischen Befunde zusammengefasst waren.

Steckbrief des Mädchens aus dem großen Uchter Moor:

  • 16 bis 19 Jahre alt;

  • vollständige Bezahnung (die Zähne der Replik wurden gänzlich durch eine Vorlage ersetzt; im Original fehlen aufgrund der Moorlagerung die Zahnkronen);

  • die erhaltenen gewellten Haare am Hinterkopf sind ca. 14 cm lang; die ursprüngliche Haarfarbe konnte noch nicht geklärt werden;

  • Körperhöhe ca. 150 cm;

  • keine Missbildungen, keine groben Verletzungen (nur 2 Narben im Bereich des behaarten Kopfes);

  • keine Erkrankung des Knochensystems, die sich auf das Äußere auswirkt;

  • 11 Harris-Linien an beiden Tibiae, von daher Hinweise auf Hungerperioden und schwierige Lebensumstände;

  • Ergebnisse der Knochendichtmessungen: Sie war Linkshänderin und hat Lasten auf dem Kopf getragen.

Vor Beginn der Arbeiten wurde darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse in keiner Weise kompetitiv bewertet werden sollten. Vielmehr war es das Anliegen, anhand der Rekonstruktionen eine Bandbreite möglicher biologischer Variationen aufzuzeigen. Insgesamt haben sich 5 Wissenschaftler an diesem Prozess beteiligt und unabhängig voneinander mit unterschiedlichen Methoden Gesichtsrekonstruktionen angefertigt: Sabine Ohlrogge (Hamburg) formte ihre Plastik nach der sog. Manchester-Methode, bei der mithilfe von Modelliermasse schichtweise erst die Muskeln und in einem zweiten Arbeitsschritt die Haut/Unterhaut auf den Schädel aufgebracht werden. Eine weitere plastische Arbeit entstand nach der amerikanischen Methode in einem Modellierarbeitsgang durch Kerstin Kreutz (Wettenberg), während Caroline Wilkinson (Dundee, Schottland) ihre zuvor erstellte 3D-Computervariante zusätzlich als Vollplastik darstellte. 2D-Rekonstruktionen wurden einerseits per Handzeichnung von Steffi Burrath (Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt, Magdeburg) und andererseits von Ursula Wittwer-Backofen (Universität Freiburg) per Superimposition erstellt.

Die Ausgangsstadien des fragmentierten Schädels zeigt Abb. 1; der von Säring et al. [12] rekonstruierte Schädel ist in Abb. 2 ab dargestellt. Die Abb. 3 a–e repräsentieren die Rekonstruktionen.

Abb. 1
figure 1

Vorhandene Schädelelemente. a fotografiert, b digitalisiert. (Quelle: Institut für Medizinische Informatik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf)

Abb. 2
figure 2

a, b Repositionierte Schädelknochen im Computer

Abb. 3
figure 3

a Zeichnerische Rekonstruktion (Steffi Burrath), b plastische Rekonstruktion (Kerstin Kreutz), c plastische Rekonstruktion (Sabine Ohlrogge), d digitale 2D-Rekonstruktion (Ursula Wittwer-Backofen), e digitale 3D-Rekonstruktion (Caroline Wilkinson)

Diskussion

Von Beginn des Vorhabens an stellte sich die Frage, wie sehr sich die Gesichtsrekonstruktionen am Ende ähneln bzw. in welchen Bereichen Abweichungen auftreten werden. Und auf den ersten Blick werden sich viele Skeptiker der Verfahren bestätigt fühlen, denn es sind in der Tat keine zwillingshaft erscheinenden Gesichter entstanden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass die Rekonstruktionen große Ähnlichkeiten untereinander aufweisen. Allerdings gilt es dabei zu berücksichtigen, dass die Ausgestaltung einer Reihe von Variablen, wie Ernährungszustand, Haartracht, Lippenstärke, Ohrenform und -ansatz oder der Zustand der Haut, zu denen keinerlei Vorinformationen vorlagen, das Erscheinungsbild und somit den Eindruck des Betrachters maßgeblich beeinflussen. Denn, wenngleich auch eine Reihe von gut fundierten Forschungsergebnissen zu „Landmarken“ am Schädel vorliegt und die Weichteildicken über dem Knochen inzwischen an zahlreichen Personen exakt vermessen sind, bleibt eine mögliche Bandbreite bei der Rekonstruktion bestehen. Wie groß allein der Einfluss der Frisur auf den Gesamteindruck ist, wird eindrücklich z. B. an Fahndungsbildern der Polizei deutlich, bei denen lediglich die Haar- oder auch die Barttracht verändert wurde.

Betrachtet man die markanten Partien der Wangenknochen, des Kinns und der Stirn mit der Anordnung der Augen oder den Mund, zeigt sich eine stärkere Ähnlichkeit der Gesichter. Dies wird noch einmal verdeutlicht, blendet man die Haarbedeckung aus. Dass es daneben in Teilbereichen zu unterschiedlichen Varianten und Interpretationen von einzelnen Gesichtszügen gekommen ist, entspricht den Erwartungen. Diese sind in den individuellen Abbildungen auf die oben benannten variablen Parameter zurückzuführen und stellen keinesfalls methodische Schwächen dar. Nach Auffassung der Autoren besteht damit ein eindeutiger Beleg dafür, dass die wissenschaftlichen Grundlagen innerhalb der unterschiedlichen Methoden so durchdringend zur Geltung kommen, dass in jedem Fall die wesentlichen gemeinsamen Züge herausgearbeitet werden.

Fazit

Bei den Rekonstruktionen handelt es sich nicht um Totenmasken und damit auch nicht um identische Abbilder, die dem Gesicht der Verstorbenen entnommen wurden. Vielmehr sind es Modelle, die auf der Basis gemessener und empirisch ermittelter Daten beruhen. Mit den vorliegenden Modellen wird also eine Bandbreite abgebildet, die den Betrachter anregt, sich unter Hinzuziehung aller zum Leben und Lebensumfeld der Person bekannten Informationen selbst ein Bild vom Aussehen des Mädchens zu machen. Über das wissenschaftliche Interesse hinaus wird das Kennenlernen eines Menschen aus der vorrömischen Eisenzeit von Angesicht zu Angesicht an den Grenzen des Sichtbaren ermöglicht.