Die personalisierte oder individualisierte Medizin gilt als neuer Trend in vielen medizinischen Disziplinen. Jeder Patient soll entsprechend seiner Erkrankung und seiner persönlichen Besonderheiten behandelt werden. In der Inneren Medizin sprechen Patienten mit identischer Diagnose auf die Behandlung mit dem gleichen Medikament oft sehr unterschiedlich an. Der Grund hierfür scheint in der individuellen genetischen Ausstattung jedes Einzelnen zu liegen.

Auch in der Orthopädie und Unfallchirurgie werden individuelle Behandlungskonzepte immer aktueller. Ein interessantes Beispiel aus der Sporttraumatologie ist die Kreuzbandchirurgie [8, 25].

Lange Zeit wurden die verschiedenen Operationstechniken zum Ersatz des vorderen Kreuzbands (VKB) sehr kontrovers diskutiert (Semitendinosussehne vs. Patellarsehne, Einzelbündel- vs. Doppelbündeltechnik). Heute gibt es eine Vielzahl bewährter Behandlungs- und Operationskonzepte. Den verschiedenen Operationstechniken steht jedoch ein sehr heterogenes Patientenkollektiv gegenüber: verschiedene Begleitverletzungen, Kinder, Erwachsene, Männer, Frauen, unterschiedliche Körpergröße, Sportler, Senioren. Es ist eine Herausforderung, für diese unterschiedlichen Gruppen die geeignete Therapie und Operationstechnik zu finden.

Dieser Artikel soll einen Überblick über den Stand der Wissenschaft im Hinblick auf die Indikationen für verschiedene Techniken zum VKB-Ersatz geben.

Anatomische VKB-Rekonstruktion

Als Operationsprinzip hat sich mittlerweile die anatomische VKB-Rekonstruktion durchgesetzt [2, 26, 27, 36]. Das bedeutet, dass die Tunnel zur Verankerung des Sehnentransplantats im Bereich der Insertionen des VKB liegen müssen. Klinische Befunde unterstützen dieses Konzept [26].

Als Rationale für die anatomische VKB-Rekonstruktion gilt das sog. Bündelkonzept. Biomechanische Studien haben gezeigt, dass das anteromediale (AM) und posterolaterale (PL) Bündel des VKB ein unterschiedliches Spannungsverhalten aufweisen [36]. Funktionell wird dem PL-Bündel v. a. eine Rolle bei der Rotationssicherung zugeschrieben (Pivot-shift-Mechanismus; [24, 36]).

Die Einzelbündelrekonstruktion mit anatomisch platziertem Transplantat gilt als Goldstandard.

Trotzdem kann bei Patienten mit großen Insertionszonen die Indikation zur Doppelbünd elrekonstruktion gestellt werden [18, 28]. Das bedeutet, dass das AM- und PL-Bündel des VKB separat rekonstruiert wird. Eine neue Metaanalyse (Cochrane Database) hat gezeigt, dass die a.-p.- und die Rotationsstabilität mittels Doppelbündeltechnik besser rekonstruiert werden kann als mit einer Einzelbündelrekonstruktion [32]. Außerdem besteht limitierte Evidenz, dass die Rerupturrate und die Inzidenz sekundärer Meniskusverletzungen nach Doppelbündelrekonstruktion niedriger sind als nach Einzelbündelrekonstruktion [31, 32, 37]. Beim individualisierten Einsatz beider Techniken (kleine Insertionszonen: Einzelbündel, große Insertionszonen: Doppelbündel) besteht hinsichtlich Stabilität und klinischer Scores kein Unterschied zwischen beiden Techniken [8].

Das Doppelbündelkonzept beinhaltet auch die separate Rekonstruktion von AM- und PL-Bündel bei symptomatischer Partialruptur. Vorteil der sog. Bündelaugmentation oder Partialrekonstruktion ist die erhaltene Propriozeption durch die Erhaltung intakter Fasern [20, 21, 29]. In vielen Fällen genügt die Grazilissehne zur Rekonstruktion des verletzten Bündels. Erste klinische Fallserien sind ermutigend mit guten klinischen Ergebnissen [20, 29]. Entsprechende Vergleichsstudien und Langzeitergebnisse fehlen bisher.

Der Erhalt der Propriozeption soll auch bei der sog. “remnant preservation“ vorteilhaft sein [4, 10, 14, 15]. Dabei wird so viel funktionelles Kreuzbandgewebe wie möglich erhalten. Histologische Studien haben außerdem gezeigt, dass das erhaltene Gewebe des rupturierten VKB die Einheilung und den Prozess der Revaskularisation und Remodeling unterstützen soll [14, 22]. Ein vermehrtes Auftreten von Zyklopsläsionen konnte im Rahmen einer klinischen Studie nicht beobachtet werden [2]. Die Ergebnisse erster klinischer Fallserien sind erfolgversprechend [34]. Klinische Vergleichsstudien zu kreuzbanderhaltenden Rekonstruktionstechniken fehlen bisher.

Transplantatwahl

Unter dem Gesichtspunkt der personalisierten Therapie gewinnt auch die differenzierte Transplantatwahl wieder an Bedeutung.

Patellarsehne vs. Beugesehnen

Für Einzelbündeltechniken kommen als Transplantatmaterial die Semitendinosussehne , die Patellarsehne und die Quadrizepssehne in Frage. Zur Doppelbündelrekonstruktion werden hauptsächlich Beugesehnen verwendet. Allogene Transplantate können in Deutschland nur im Rahmen der Revisionschirurgie eingesetzt werden.

Viele Studien haben die Semitendinosussehne und die Patellarsehne klinisch miteinander verglichen [3, 6, 7, 16, 17, 27]. Die Unterschiede hinsichtlich der langfristigen Stabilität waren gering. In vielen Studien ließ sich mit einem Patellarsehnentransplantat jedoch eine höhere Stabilität erzielen als mit einem Beugesehnentransplantat. Dafür litten Patienten nach VKB-Rekonstruktion mit autologem Patellarsehnentransplantat eher an Entnahmemorbidität und hatten häufiger Probleme mit dem Streckapparat (Abb. 1).

Patellarsehnentransplantate sollten daher bei Patienten mit knienden Tätigkeiten nicht verwendet werden.

Bei einem Fliesenleger beispielsweise kann die Unfähigkeit zu knienden Tätigkeiten Berufsunfähigkeit bedeuten. Vorsicht ist auch in Sportarten geboten, in denen es häufiger zu Überlastungsschäden des Streckapparats kommt. Auch bei muslimischen Patienten (Beten auf den Knien) muss auf dieses Problem hingewiesen werden.

Bei Frauen mit geringer Körpergröße und präoperativen femoropatellaren Problemen ist aufgrund des geringen Durchmessers der Patellarsehne Vorsicht geboten. Ein systematisches Review hat jedoch gezeigt, dass die Stabilität bei Frauen, die mit einem Beugesehnentransplantat versorgt wurden, geringer ist als bei Patientinnen mit Patellarsehnentransplantaten [23]. Hier wäre vielleicht die Quadrizepssehne eine Alternative.

Abb. 1
figure 1

CT einer Tuberositas tibiae nach Entnahme eines Patellarsehnentransplantats. Die scharfen Kanten können zu Problemen beim Knien führen

Eine Indikation zur Verwendung von Patellarsehnentransplantaten könnte bei jungen Leistungssportlern mit geschlossenen Fugen bestehen, da hier ein sehr hohes Rerupturrisiko besteht [3, 13]. Durch die Verwendung von Knochenblöcken sind Revisionen im Fall einer Reruptur einfacher. Außerdem werden die Patienten durch die Entnahmemorbidität im Rahmen der postoperativen Rehabilitation mehr gebremst. Mascarenhas konnte zeigen, dass bei jungen Leistungssportlern nach Patellarsehnenrekonstruktion 57% und nach Beugesehnenrekonstruktion 44% der Patienten zu ihrer präoperativen Sportart zurückkehrten.

Hinsichtlich der Rerupturraten gibt es im Schrifttum widersprüchliche Angaben [1, 13, 17]. In einigen Studien unterschieden sich die Rerupturraten nicht [13, 17]. Barret et al. [1] haben jedoch im Rahmen eine Kohortenstudie die Rerupturraten bei aktiven Patienten mit einem Alter über und unter 25 Jahren miteinander verglichen. Patienten unter 25 Jahren wiesen eine signifikant höhere Rerupturrate auf (16,5% vs. 8,3%). Nach Rekonstruktion des VKB mittels Allograft (29,2%) oder Semitendinosussehne (25%) resultierte jedoch in signifikant höheren Rerupturraten bei Patienten unter 25 Jahren als die Rekonstruktion des VKB mit der Patellarsehne (11,8%).

Zu Bedenken ist jedoch, dass die Inzidenz arthrotischer Veränderungen nach VKB-Ersatzplastik mittels Patellarsehnentransplantat höher sein soll als nach der Verwendung von Semitendinosussehnentransplantaten [13, 16]. Es gibt jedoch auch Studien, die gezeigt haben, dass kein Unterschied in der Arthrose-Inzidenz zwischen Patellarsehnen- und Beugesehnentransplantaten besteht [7].

Die Entnahme von Knochenblöcken kann auch in der Revisionschirurgie vorteilhaft sein, um Tunnelweitungen zu kompensieren. Bei Transplantaten aus dem Streckapparat ist auch eine knochenblockfreie Entnahme möglich. In diesen Fällen ist die Entnahmemorbidität geringer.

Bei Transplantaten aus dem Streckapparat ist eine knochenblockfreie Entnahme möglich

Als Kontraindikation zur Verwendung von Semitendinosussehnentransplantaten der ipsilateralen Seite sind chronische mediale Instabilitäten beim Valgusknie zu sehen. Durch den zusätzlichen Verlust der aktiven medialen Stabilisatoren kann es zu einem medialen Kollaps kommen (Abb. 2). Verschiedene Studien haben nach Entnahme der Semitendinosus- und Grazilissehne ein Defizit der Flexionskraft beschrieben [33]. Klinisch hat dieser Flexionskraftverlust keine Relevanz [17]. Ob der Verlust eines funktionellen VKB-Agonisten und Valgusstabilisators ein Grund für die höhere Rerupturrate nach Beugesehnentransplantat bei jungen aktiven Patienten und die erhöhte Laxität bei Frauen ist [23], sollte Gegenstand künftiger Studien sein.

Abb. 2
figure 2

a Bewegungsanalyse einer Patientin mit medialem Kollaps nach Entnahme der Semitendinosus- und Grazilissehne bei b, c Genu valgum und vermehrter Antetorsion

Grundsätzlich erscheint es vor diesem Hintergrund sinnvoll, auf die zusätzliche Entnahme der Grazilissehne möglichst zu verzichten.

Kinder und Jugendliche

Eine Domäne für die Verwendung von Beugesehnentransplantaten sind Kinder und Jugendliche mit offenen Wachstumsfugen, da die Knochenblöcke des Patellarsehnentransplantats zu einem verfrühten Fugenschluss führen kann [5, 30]. Eine Alternative sind hier knochenblockfreie Transplantate aus dem Streckapparat.

Patienten über 40

Kontrovers wird die Transplantatwahl für ältere Patienten über 40 Jahre diskutiert [12]. Aufgrund der geringeren Entnahmemorbidität wird bei dieser Patientengruppe heute jedoch die Semitendinosussehne favorisiert. Bei Patienten über 40 Jahren ist die Inzidenz präoperativer degenerativer Veränderungen im Femoropatellargelenk höher. Eine Osteopenie könnte ein Risiko für Patellafrakturen darstellen [12]. Darüber hinaus könnte eine Beeinträchtigung des Streckapparats zu Problemen bei einer späteren endoprothetischen Versorgung führen [9].

Quadrizepssehne

Zur Quadrizepssehne liegen bisher nur wenig klinische Daten vor. Die Entnahmemorbidität soll jedoch deutlich geringer sein als bei der Patellarsehne [11, 19]. Ein systematisches Review hat gezeigt, dass die Ergebnisse nach VKB-Rekonstruktion mit Quadrizepssehnentransplantat hinsichtlich Lachman-Test, Pivot-shift und funktioneller Ergebnisse (Lysholm und IKDC) mit denen nach Patellar- und Beugesehnenrekonstruktion vergleichbar sind [19]. Daher ist die Quadrizepssehne eine gute Alternative für Patienten mit relativen Kontraindikationen für Patellar- oder Beugesehnentransplantate. Nachteilig ist hier die kosmetisch ungünstige Narbenbildung oberhalb des Kniegelenks. Da das Quadrizepssehnentransplantat mit Knochenblock entnommen werden kann, ist es auch in Revisionssituationen sinnvoll einsetzbar.

Allogene Transplantate

Auch allogene Transplantate von Organspendern kommen als Kreuzbandtransplantat in Frage. Sie sind in Deutschland jedoch nur schwer erhältlich. Allogene Transplantate kommen in Deutschland nur für die Revisionschirurgie in Betracht, wenn keine anderen Transplantatoptionen bestehen.

In Tab. 1 wird ein Überblick über Differenzial- und relative Kontraindikationen der verschiedenen Transplantate gegeben. Es gibt sicher eine große Schnittmenge an Patienten, bei denen alle 3 Transplantate als Alternative in Frage kommen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Die Indikationen für die 3 verschiedenen autologen Transplantate überschneiden sich größtenteils

Tab. 1 Spezielle Indikationen und relative Kontraindikationen für die 3 verschiedenen autologen VKB-Transplantate

Fazit für die Praxis

Früher galt das Motto: „Ein Operateur sollte die Methode zum VKB-Ersatz wählen, die er am besten beherrscht“. Heute reicht eine einzige Methode sicher nicht mehr aus, um ein heterogenes Patientenkollektiv spezifisch zu versorgen. Es ist eine Herausforderung für die Zukunft, patientenspezifische Indikationen im Hinblick auf die Operationsmethode und Transplantatwahl, insbesondere hinsichtlich der sportlichen Aktivität, im Sinne eines À-la-carte-Konzepts weiterzuentwickeln.