Hintergrund

Etwa 6–8 % der Patienten psychiatrischer Krankenhäuser sind während ihres Aufenthaltes zumindest zeitweise freiheitsbeschränkenden oder -entziehenden Maßnahmen ausgesetzt; ungefähr jeder 200. erfährt eine Zwangsmedikation [1]. Auch wenn somit Zwangsmaßnahmen insgesamt nur eine Minderheit der Patienten psychiatrischer Kliniken betreffen, stellen sie eine sehr ernst zu nehmende Herausforderung dar. Zwangsmaßnahmen konfligieren nicht nur mit Grundrechten wie dem Recht auf Freiheit, Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit, sie können darüber hinaus zu erheblichen Traumatisierungen führen und die Behandlungsadhärenz kurz- und langfristig negativ beeinflussen. Darüber hinaus sind Mitpatienten und Klinikmitarbeiter gewalttätigen Übergriffen durch Patienten ausgesetzt, was für die Betroffenen ebenfalls erhebliche Belastungen und Traumatisierungen zur Folge haben kann. Aufgrund der variablen Definition solcher Übergriffe und erheblicher Unterschiede in der Methodik gibt es hierzu allerdings keine stabilen quantitativen Angaben [4].

Zweifellos ist es also notwendig, die Anwendung von Zwangsmaßnahmen aller Art auf ein Minimum zu beschränken, und sie dann, wenn sie unvermeidbar sind, so kurz wie möglich und in einer Art und Weise durchzuführen, die den Betroffenen möglichst wenig belastet. Dabei kann die Utopie einer völlig restriktions- oder gewaltfreien Psychiatrie ein erstrebenswertes Fernziel sein.

Allerdings können, wie andernorts schon ausgeführt [12], Zwang und Gewalt in psychiatrischen Kliniken nicht dadurch erfolgreich bekämpft werden, dass man ihre Legitimation kategorisch bestreitet, jede Art ihrer Anwendung grundsätzlich verurteilt oder aber Gewalt als unausweichlich und schicksalhaft ansieht, falls sie von Patienten ausgeht. Im Gegenteil: Erst die Einsicht, dass zur Abwehr gravierender Gefahren für Patienten selbst und für andere Menschen freiheitsbeschränkende Maßnahmen und Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit gegen den Willen des Patienten als Ultima Ratio notwendig und geboten sein können, gibt den Blick frei auf das eigentliche Dilemma. Dieses besteht darin, dass in bestimmten Situationen Rechte des Patienten oder Dritter nicht durchgesetzt werden können, ohne gleichzeitig ein anderes Recht zu verletzen. Es geht dabei immer um die wechselseitige Abwägung von Rechten und moralischen Prinzipien.

Es kann also, z. B., das Recht eines Mitpatienten auf körperliche Unversehrtheit möglicherweise nur dadurch gewahrt werden, dass die räumliche Bewegungsfreiheit eines akut psychotischen anderen Patienten eingeschränkt wird. Oder aber, es kann das Recht eines Patienten auf Schutz und Behandlung unter Umständen nur umgesetzt werden, indem eine Zwangsmedikation gegen seinen natürlichen Willen erfolgt.

Zwang, Gewalt und Autonomie

Zwangsmaßnahmen jeder Art stellen immer, schon definitionsgemäß, einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten dar. Sie beschränken nicht nur seine autonomen Handlungsmöglichkeiten, sondern widersprechen auch seinem aktuellen Willen, der mittelbar oder unmittelbar mit Zwang überwunden wird. Sie bedürfen deshalb einer überzeugenden Legitimation, die grundsätzlich entweder in den Schutz- und/oder Behandlungsinteressen des Patienten selbst zu suchen ist oder in den Schutzinteressen Dritter. Zwangsmaßnahmen zum Schutz Dritter rechtfertigen sich in aller Regel dadurch, dass krankheitsbedingtes herausforderndes Verhalten des Patienten die Autonomie von Mitpatienten, Angehörigen oder Mitarbeitern der Klinik im Sinne ihrer Rechte auf Freiheit, Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit bedroht oder bereits beeinträchtigt (zur Legitimation von Zwangsmaßnahmen im Interesse Dritter siehe [11]).

Wenn Zwangsmaßnahmen zum Schutz des Patienten selbst gegen seinen aktuellen natürlichen Willen durchgesetzt werden, stehen sie trotz dieses Eingriffs in sein Selbstbestimmungsrecht in enger positiver Beziehung zu seiner Autonomie. So sind sie nur dann zulässig, wenn sie dem vorausverfügten oder mutmaßlichen Willen des aktuell einwilligungsunfähigen Patienten entsprechen, und zielen deshalb darauf ab, sein vernufts-, werte- und persönlichkeitsbasiertes Selbstbestimmungsrecht („starke Autonomie“ [14]) umzusetzen. Außerdem haben Zwangsmaßnahmen häufig das Ziel, durch eine effektive Behandlung der psychiatrischen Erkrankung, die den Verlust an autonomen Entscheidungsmöglichkeiten bedingt, die Selbstbestimmungsfähigkeit des Patienten wiederherzustellen (Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde [DGPPN] zur Patientenautonomie).

Vermeidung von Zwang kann nur gelingen, wenn die Autonomie fokussiert wird

Zwangsmaßnahmen stellen also im Wesentlichen approximative Lösungen inter- und intrapersoneller Autonomiekonflikte dar, wenn diese nicht gewaltfrei zu lösen sind. Deshalb kann die Vermeidung von Zwang nur gelingen, wenn man die Bedürfnisse nach und die Rechte auf Autonomie aller Beteiligten in den Blick nimmt, die Autonomie also fokussiert.

Autonomiefokussierte Psychiatrie

Ziel einer autonomiefokussierten Psychiatrie ist es, solche Rechte- und Interessenkollisionen transparent zu machen und durch geeignete präventive Maßnahmen zu vermeiden, also im Sinne einer „minimal-restriktiven Psychiatrie“ Zwang und Gewalt auf das absolut notwendige Minimum zu beschränken. Oberstes Prinzip ist dabei das Ultima-Ratio-Prinzip, welches solche Maßnahmen nur dann zulässt, wenn für die entsprechende Problematik keine andere Lösung möglich ist. Es bedarf in jedem Einzelfall einer sorgfältigen Abwägung der Verhältnismäßigkeit und, wo immer möglich, auch der versuchsweisen Umsetzung von Alternativen. Scheitern diese, können die entsprechenden Maßnahmen allerdings nicht nur die letztmögliche, sondern auch die rechtlich und moralisch richtige Handlungsoption darstellen [10].

Eine Vielzahl von Maßnahmen erlauben die effektive Prävention von Zwang und Gewalt in psychiatrischen Kliniken. Tab. 1 listet die wichtigsten Erfolg versprechenden Maßnahmen auf. Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit und wurde hier tatsächlich im Vergleich zu ihrer erstmaligen Publikation [12] auch bereits erweitert. Die Maßnahmen sind in solche gegliedert, die im Vorfeld (oder im Anschluss an) eine(r) Krankenhausbehandlung präventiv sinnvoll sind, solche, die während der Behandlung in der Klinik durchgeführt werden können, und in Maßnahmen von allgemeinem, übergreifendem Charakter.

Tab. 1 Elemente einer autonomiefokussierten Psychiatrie

Keine einzelne dieser Maßnahmen für sich genommen stellt eine Novität dar, und bei einigen liegt bereits empirische Evidenz für ihre Wirksamkeit vor. Diese wurde aktuell in der DGPPN-S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ [4] zusammengefasst. Neu ist vor allem der Begriff der autonomiefokussierten Psychiatrie und der Versuch, einen dynamischen Rahmen für den Inhalt dieses Begriffes zu schaffen, der zur Weiterentwicklung, aber auch zur empirischen Überprüfung der Wirksamkeit der einzelnen Komponenten anregen soll. Autonomiefokussierte Psychiatrie ist als kontinuierlicher Verbesserungsprozess gedacht, nicht als ein konzeptuell a priori im Detail abgeschlossenes definiertes Konzept mit starren Regeln und Vorgaben. Vorgegeben ist nur das Ziel: Die Minimierung von Zwang und Gewalt. Das Konzept hat auch die forensische Psychiatrie im Blick, wenngleich in diesem institutionellen Rahmen die Reduktion von Zwang und Gewalt eine besondere große Herausforderung darstellt.

Zur Problematik der „offenen Tür“

Der Begriff autonomiefokussierte Psychiatrie – alternativ könnte auch der Begriff „minimal-restriktive“ Psychiatrie Verwendung finden – wurde in Abgrenzung zu einem in letzter Zeit kontrovers diskutierten Begriff gewählt, nämlich der „offenen Psychiatrie“ oder der „Psychiatrie mit offenen Türen“. Mit diesen und ähnlichen Begriffen, so ist z. B. auch von „offener Türpolitik“ die Rede, werden von unterschiedlichen Autoren (z. B. [3, 5, 6, 9]) verschiedene Konzepte zur Vermeidung von Zwang und Gewalt in psychiatrischen Kliniken bezeichnet, die alle auch Maßnahmen aus Tab. 1 beinhalten, aber ins Zentrum der Überlegungen die Frage stellen, ob die Türen psychiatrischer Stationen verschlossen sind oder nicht.

Dabei wird der Begriff der „offenen Tür“ nur selten kategorial, sondern in aller Regel in komplexer Weise dimensional verstanden. Es gibt nämlich nahezu keine psychiatrische Klinik (nach Kenntnis des Autors zumindest in Deutschland nur eine einzige), in der sämtliche Stationen und das Klinikgebäude selbst immer und durchgehend unverschlossenen sind. Die überwältigende Mehrheit der Kliniken, die eine „Politik der offenen Tür(en)“ betreiben bzw. propagieren, verstehen hierunter in unterschiedlichen Kombinationen

  • die Verminderung der Zahl durchgehend verschlossener Stationen,

  • die durchgehende Öffnung von Stationen tagsüber,

  • die stundenweise Öffnung von Stationen,

  • die fakultative Öffnung resp. Schließung von Stationen, je nach aktueller Gefährdungslage,

  • die nur teilweise, räumlich begrenzte Schließung von Stationen.

Dem Autor ist auch die Auffassung begegnet, eine verschlossene Station, deren Türen von jedermann mittels eines elektronischen Mechanismus geöffnet werden kann, der aber in seiner Komplexität von kognitiv eingeschränkten Patienten nicht erfasst wird, sei eine offene Station. Es ist offensichtlich, dass aus solchen Definitionen weder eine ordinal skalierte Variable „Offenheit der Station (oder Klinik)“ konstruiert werden kann noch valide und reliable Endpunkte für klinische Studien. Deshalb verwundert es auch nicht, dass selbst sehr große Studien zu den Effekten einer „Politik offener Türen“ auf z. B. die Häufigkeit von Suiziden [7] zu fragwürdigen Ergebnissen führen [13]. Entsprechend findet sich in der aktuellen Leitlinie keine überzeugende empirische Evidenz für konsistente Einflüsse solcher Konzepte auf die Häufigkeit von Zwang und Gewalt, sondern es wird dringender Forschungsbedarf angemahnt [4]. Offene Türen werden in der Leitlinie als mögliche Maßnahmen im Rahmen komplexer Maßnahmenpakete erwähnt.

Auch den meisten Protagonisten der „Politik der offenen Tür“ scheint klar zu sein, dass das Öffnen einer Tür, für sich alleine genommen, keinerlei Effekte auf Zwang und Gewalt in psychiatrischen Kliniken haben kann, weil ja dennoch im selben Umfang wie bei einer verschlossenen Tür Patienten daran gehindert werden müssen, die Station zu verlassen, mit welchen Mitteln auch immer. Es gibt auch keine einzige Studie, die den isolierten Effekt einer Türöffnung untersucht hätte. Deshalb stellen bei genauer Betrachtung alle Versuche der „Öffnung“ psychiatrischer Stationen sehr komplexe multivariate interventionelle Konzepte zur Reduktion von Zwang und Gewalt dar, deren Elemente z. B. von Lang [8] ausführlich beschrieben wurden und in vielem dem ähneln, was hier in Tab. 1 vorgeschlagen wird.

Allein das Öffnen einer Tür hat keinerlei Effekte auf Zwang und Gewalt

Über die Motivation, solche Konzepte unter einem Begriff zu subsummieren, der eine einzelne für sich genommen wirkungslose Intervention, nämlich die „offene Tür“, zum paradigmatischen Thema macht, kann nur spekuliert werden. Für ein solches Vorgehen sprechen eigentlich nur die positive Konnotation des Begriffes „offen“ und seine vermeintliche Griffigkeit. Dagegen spricht eine Reihe gravierender Gründe:

  • der Begriff ist unscharf und trotz seiner vermeintlichen Griffigkeit nicht eindeutig operationalisierbar,

  • der Begriff ist irreführend, suggeriert er doch, alle Patienten könnten im Gegensatz zur geschlossenen Tür die Station jederzeit ungehindert verlassen,

  • er ist stark polarisierend, weil er immanent die Dichotomie einer „guten“ (offenen) und einer „schlechten“ (geschlossenen) Psychiatrie impliziert ungeachtet der Tatsache, dass ja in der klinischen Realität ohnehin weit über 90 % der Patienten auf offenen Stationen behandelt werden.

Diese vermeintliche Dichotomie wird auf die Spitze getrieben dargestellt in Tab. 4.1 bei Lang [8]. Aufgrund seiner polarisierenden Einfachheit eignet sich der Begriff „offene Psychiatrie“ gut als ideologisierender Kampfbegriff, als der er auch schon in überregionalen Tageszeitungen gebraucht wurde [2].

Aber er eignet sich nicht als ein Oberbegriff für die ernsthafte, differenzierte und umfassende Anstrengung aller psychiatrischen Kliniken, Zwang und Gewalt für jeden einzelnen Patienten auf ein Minimum zu reduzieren. Es ist in diesem Kontext höchst bedauerlich, dass in jüngster Zeit ähnliche, noch unschärfere Begriffe in einige Ländergesetze zur Unterbringung von Menschen mit psychischen Erkrankungen Einzug gehalten haben. So ist sowohl im Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) des Landes Nordrhein-Westfalen (§ 10) als auch in dem des Landes Bayern (Art. 26) davon die Rede, dass die Unterbringung so weitgehend wie möglich in „offenen“ bzw. „freien“ Formen durchgeführt werden soll, was auch immer damit gemeint sein mag. Allerdings müssen die Einrichtungen dennoch durch „geeignete Maßnahmen“ weiterhin sicherstellen, dass sich die Patienten der Unterbringung nicht entziehen. Hier wird also sogar in Gesetzen, die Freiheitsentziehung und Zwangsmaßnahmen präzise regeln sollen, mit unscharfen Begriffen hantiert und erhebliche Rechtsunsicherheit geschaffen. Dem begrifflichen Konzept einer autonomiefokussierten Psychiatrie würden hingegen rechtliche Regelungen entsprechen, die klarstellen, dass Freiheitsentziehung und Zwang im Rahmen einer Unterbringung immer nur in dem Ausmaß zulässig sind, wie sie im Einzelfall tatsächlich notwendig sind, um einer akuten Eigen- oder Fremdgefährdung effektiv zu begegnen. Entsprechende Empfehlungen formuliert die aktuelle S3-Leitlinie [4].

Strategien zur Umsetzung autonomiefokussierter Psychiatrie

Wie ließe sich nun eine minimal-restriktive, an autonomiefokussierten Prinzipien orientierte Psychiatrie tatsächlich flächendeckend bundesweit umsetzen? Einige konkrete Vorschläge vor allem auf der Ebene des Krankenhauses wurden hierzu bereits vor kurzem gemacht [12], weshalb hier abschließend auf grundsätzliche Möglichkeiten des Vorgehens eingegangen werden soll.

Zunächst einmal bedürfte es eines zwar durchaus nur vorläufigen, aber breiten Konsenses darüber, welche konkreten Elemente von Tab. 1 oder darüber hinaus Teil des Gesamtkonzeptes sein sollen. Zweitens bedürfte es eines Konsenses darüber, dass es sich um einen dynamischen Verbesserungsprozess handeln soll, der allen Kliniken offen steht, die sich beteiligen wollen, unabhängig davon, wie diese aktuell konzeptuell gestaltet sind. Drittens wäre auf allen drei in Tab. 1 genannten Ebenen eine Bestandsaufnahme notwendig, die klärt, wo die deutsche Psychiatrie tatsächlich steht und wie die Arbeit aktuell in den Krankenhäusern tatsächlich gestaltet wird. Viertens bedürfte es einer umfassenden Implementations- und Evaluationsstrategie, die berücksichtigt, dass jeder Art von Umsetzung einzelner Elemente oder des Gesamtkonzeptes auf der Klinikebene dynamisch von den lokalen, auch rechtlichen, administrativen, baulichen und personellen Gegebenheiten ausgehen muss, dass also eine einheitliche Umsetzung „en bloc“ nicht möglich sein wird. Und schließlich erscheint es, fünftes, sinnvoll, mittel- bis langfristig den kontinuierlichen Verbesserungsprozess auch in einem Zertifizierungsmodell abzubilden.

Offenkundig wäre dies für etwa 450 psychiatrische Fachkliniken und Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, die einen immensen Einsatz von allen Seiten und auch die Erschließung finanzieller Ressourcen notwendig machte. Diese Aufgabe scheint aber der Mühe Wert und könnte von der psychiatrischen Fachgesellschaft DGPPN und den Klinikverbänden ackpa, BDK und LIPPS initiiert und langfristig unterstützt werden.

Fazit

Zur Umsetzung einer autonomiefokussierten Psychiatrie bedarf es …

  • eines Konsenses über das Gesamtkonzept,

  • einer Bestandsaufnahme, wie die Arbeit aktuell in den Krankenhäusern tatsächlich gestaltet wird,

  • einer Strategie, die berücksichtigt, dass die Umsetzung einer autonomiefokussierten Psychiatrie dynamisch von den lokalen, auch rechtlichen, administrativen, baulichen und personellen Gegebenheiten ausgehen muss.