Hintergrund und Fragestellung

Das Versorgungsstärkungsgesetz der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) fordert für eine Novelle der Bedarfsplanung zur Anpassung der Verhältniszahlen von Ärzten und Psychotherapeuten, dass die Morbiditätsstruktur einer Region berücksichtigt werden soll. Bei psychischen Störungen sind regionale Variationen der Prävalenz grundsätzlich denkbar. Für derartige regionale Analysen, einem relativen jungen Forschungsfeld [34, 43], wurden bislang lediglich administrative Datenquellen verwendet. Im vorliegenden Beitrag sollen erstmals auch Primärdaten epidemiologischer Bevölkerungsstudien herangezogen werden.

Diskrepanzen zwischen administrativen und epidemiologischen Daten

Klassischerweise wird die Fragestellung, ob regionale Unterschiede in den Angebotsstrukturen (z. B. Arztdichten) durch entsprechende Unterschiede in der Erkrankungshäufigkeit gerechtfertigt sind, anhand von Routinedaten der gesetzlichen Krankenkassen überprüft (Sekundärdaten; vgl. [39]). Dabei handelt es sich um Informationen über gesetzlich Versicherte, die einen Arzt oder Psychotherapeuten aufsuchen und Symptome berichten, die vom Behandler dann mit einer F‑Diagnose nach ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems [10]) kodiert werden. Analysen solcher Daten zeigen, dass Menschen in den alten Bundesländern stärker von psychischen Störungen betroffen sind als in den neuen Bundesländern [6, 11, 30], dass Städte stärker betroffen sind als ländliche Regionen und dass die Diagnoseraten für einzelne psychische Störungen, z. B. für Depressionen, auch innerhalb umgrenzter Regionen erheblich variieren [11, 24, 30].

Allerdings sind Reliabilität und Validität der dafür zugrunde liegenden, im Behandlungsalltag kodierten Diagnosen fraglich [37] und die Diagnoseraten sind vom Versorgungsangebot selbst abhängig: Es werden z. B. dort, wo mehr Behandler sind, auch mehr Diagnosen kodiert; dort, wo weniger Spezialisten sind, wird weniger leitliniengerecht diagnostiziert [16, 30]. Außerdem ist das Routinediagnoseverhalten durch sich verändernde Rahmenbedingungen leicht beeinflussbar, z. B. wenn Anreize für bestimmte Diagnosestellungen eingeführt werden [35, 38]. Diese Daten bilden damit auch regionale und zeitlich veränderbare Diagnose- und Behandlungsgewohnheiten ab, jedoch nicht unbedingt die eigentliche Morbiditätsstruktur einer Region. Betroffene, die Leistungen anderer Leistungsträger (z. B. gesetzliche Renten- und Unfallversicherungen) erhalten haben, oder solche, die aufgrund psychischer Probleme keinen Arzt oder Psychotherapeuten aufgesucht haben, werden nicht erfasst – dies ist bei psychischen Störungen jedoch durchaus häufig der Fall [27, 44].

Eine Erweiterung der Datenlage wird durch epidemiologische Studien ermöglicht, die eine standardisierte „state-of-the-art“-Diagnostik verwenden und die unabhängig von regionalen oder temporären Diagnosegewohnheiten bzw. einem Inanspruchnahmebias die Häufigkeit psychischer Störungen schätzen (vgl. [39]). Die Stichproben sind in solchen Studien allerdings viel kleiner und es sind Einschränkungen in der mangelnden Repräsentativität für spezielle Bevölkerungsgruppen zu beachten (z. B. institutionalisierte und nichtdeutschsprachige Personen), die jedoch durch eine Gewichtung der Daten weitestgehend ausgeglichen werden können [20].

Für psychische Störungen liegen in Deutschland die repräsentative Bevölkerungsstudie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1; [36]) und deren Vertiefung im Bereich psychischer Störungen (DEGS1-MH; [18]) vor, um die Häufigkeit psychischer Störungen festzustellen. Stellt man die Befunde zu regionalen Unterschieden solcher Primärdaten den Sekundärdaten gegenüber, zeigt sich, dass es keine nennenswerten Unterschiede im Vergleich der Häufigkeiten von psychischen Störungen in neuen vs. alten Bundesländern gibt [18, 28]. Eine erhöhte Rate psychischer Störungen in Großstädten hat sich im Trend allerdings auch in den Primärdaten bestätigt und ist vor allem durch die dort erhöhte Prävalenz an affektiven und psychotischen Störungen begründet [18, 28]. Dies entspricht der internationalen Befundlage [14].

Regionale Unterschiede des Versorgungsangebots: Variation von Arztdichten

An der ambulanten Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen beteiligen sich viele Arztgruppen [25]. Meist gelten Hausärzte als erste Anlaufstelle für Patienten und sehen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung eine sehr große Zahl von Fällen [15], wobei sowohl die Qualität der Diagnostik als auch die Leitlinienorientierung der Behandlung kritisch diskutiert werden [5, 30]. Regionale Unterschiede im Angebot der ambulanten Primärversorgung fallen allerdings deutlich weniger ins Gewicht als bei den Fachärzten, denn die Bedarfsplanung ermöglicht eine räumlich homogenere Verteilung der Arztdichte (durch eine bundesweit einheitliche Verhältniszahl und kleinere Planungsbereiche; [12, 41]) und wird als zunehmend bedarfsorientiert bewertet [1].

Im Folgenden werden daher die Arztgruppen betrachtet, die 1. auf die Behandlung von erwachsenen Menschen mit psychischen Störungen spezialisiert sind und 2. gravierende Unterschiede in der räumlichen Dichte aufweisen, sowohl faktisch als auch planmäßig. Die Gruppen der ambulanten Nervenärzte und Psychotherapeuten (zusammengefasst als „Spezialisten“) werden hier gemäß Bedarfsplanungsrichtlinie definiert ([12]; einzelne Facharztgruppen s. Anmerkungen Tab. 1).

Tab. 1 Regionale Variationen der ambulanten Arztdichten

Mangels alternativer Datenquellen werden auf Seiten des Versorgungsangebotes so auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowie Neurologen, die vorrangig Patienten mit anderen als psychischen Diagnosen behandeln, mitgezählt. Die ambulante Versorgung unterscheidet sich zwischen den 413 Kreisen und kreisfreien Städten Deutschlands erheblich (s. Tab. 1). Besonders die 25 % der Regionen mit der höchsten Arztdichte weisen eine große Variabilität auf. Die geographischen Muster zeigen dabei eine Konzentration in den urbanen Räumen und für die Psychotherapeuten auch eine höhere Dichte im Süden Deutschlands sowie eine im Schnitt doppelt so hohe Angebotsdichte in den alten Bundesländern gegenüber den neuen [41]. Auch innerhalb von Bundesländern und selbst innerhalb von Kreisen (z. B. Berlin) bestehen deutliche regionale Versorgungsunterschiede.

Hypothesen

Ausgehend von der großen regionalen Variabilität in der Dichte des ambulanten, für psychische Störungen spezialisierten Behandlungsangebotes, soll deren möglicher Zusammenhang mit der regionalen Morbidität psychischer Störungen sowie mit dem regionalen Inanspruchnahmeverhalten anhand folgender Hypothesen geprüft werden:

  1. 1.

    „Wo mehr angeboten wird, wird mehr in Anspruch genommen“ (mehr Inanspruchnahme in Untersuchungsorten mit höherer Angebotsdichte).

  2. 2.

    „Wo mehr Fälle sind, gibt es ein dichteres Angebot“ (höhere Angebotsdichte in Untersuchungsorten mit höherer Prävalenz psychischer Störungen).

Da das Vorliegen der diagnostischen Kriterien für eine psychische Störung nicht automatisch fachärztlichen Behandlungsbedarf wie Psychopharmakotherapie oder Psychotherapie impliziert [17, 27], soll eine weitere Analyse für Betroffene mit erhöhtem Behandlungsbedarf ergänzt werden:

  1. 3.

    „Wo mehr schwere Fälle sind, gibt es ein dichteres Angebot“ (höhere Angebotsdichte in Untersuchungsorten mit höherer Prävalenz von besonders belasteten und beeinträchtigten Fällen mit psychischen Störungen).

Methoden

Datengrundlagen

Epidemiologische Daten zur Morbidität entstammen dem Zusatzmodul „Psychische Gesundheit“ der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1-MH; [36]). Für die Prävalenz wurde auf Individualebene das Vorhandensein mindestens einer mittels CIDI (Composite International Diagnostic Interview) kodierten Diagnose einer psychischen Störungen in den letzten zwölf Monaten bis zum Erhebungszeitpunkt (ICD-10 bzw. DSM-IV [Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV], vgl. [18]) abzüglich der Diagnose Nikotinabhängigkeit verwendet.

Die Zufallsstichprobe aus Einwohnermelderegistern (Alter 18–79, N = 4483) ist in 180 Untersuchungsorte („sample points“) gegliedert, welche in 139 Kreisen und kreisfreien Städten liegen. Diesen wurde jeweils die Anzahl der Vertragsärzte pro 100.000 Einwohner zugeordnet (Datenquellen: www.versorgungsatlas.de und vom ZI [Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland] eigens ermittelte Statistiken).

Die aktuelle Bedarfsplanung orientiert sich an sog. Kreistypen mit unterschiedlichen Verhältniszahlen von Ärzten zu Einwohnern (1. Zentrum, 2. Ergänzungsgebiet zum Zentrum, 3. engerer Verflechtungsraum, 4. weiterer Verflechtungsraum, 5. Gemeindeverbände außerhalb von Großstadtregionen [vgl. [12]). Der Kreistyp „Sonderregion Ruhrgebiet“ wird im vorliegenden Beitrag nicht als solcher ausgewiesen, sondern dessen Regionen entsprechend den anderen Kreistypen klassifiziert.

Korrektur um Mitversorgung

Um Mitversorgungsbeziehungen zwischen Regionen zu berücksichtigen [8], wurden die Arztdichten eines Kreises adjustiert. Die vom ZI bereitgestellte Kennzahl der Mitversorgungsrelation bildet anhand des abgerechneten Leistungsbedarfs in Euro das prozentuale Verhältnis ab zwischen a) den Leistungen, die Ärzte in einer Region erbringen (Leistungsortperspektive) zu b) den Leistungen, die Patienten aus jener Region nachfragen (Wohnortperspektive). So übersteigt z. B. in Kernstädten das Leistungsvolumen der dortigen Ärzte die Nachfrage der Patienten, die dort leben, aufgrund starken Leistungsexportes in das Umland (Mitversorgungsrelation >100 %). Entsprechend wird die Arztdichte hier gleichermaßen prozentual nach unten korrigiert, da weniger Ärzte als die nominelle Zahl von der Bevölkerung der Kernstädte tatsächlich konsultiert wird bzw. für diese verfügbar ist. Hierbei ist zu beachten, dass Mitversorgungseffekte sowohl Ausdruck planmäßiger Dienstleistungen von Zentren für Peripherien als auch von Unterversorgung oder Patientenpräferenzen sein können.

Inanspruchnahmeverhalten

Die quantitative Inanspruchnahme von Spezialisten in einem Kreis wurde als durchschnittliche Anzahl der per Interview erfassten Arztbesuche in den Kategorien „Nervenarzt/Psychiater/Neurologe“ sowie „Ärztlicher Psychotherapeut/Psychologischer Psychotherapeut“ in den letzten zwölf Monaten operationalisiert.

In epidemiologischen Studien geben typischerweise auch Personen ohne Diagnose Behandlungen an [27] und es besteht eine weit verbreitete Hypothese, dass in höher versorgten Gebieten auch verstärkt nicht behandlungsbedürftige Personen Behandlungsangebote wahrnehmen (inadäquate angebotsinduzierte Nachfrage, vgl. [29]). Daher soll die Analyse zur Inanspruchnahme getrennt für diejenigen DEGS1-MH-Teilnehmer mit und ohne Diagnose einer psychischen Störung vorgenommen werden.

Besonderer Behandlungsbedarf

Eine Definition zum besonderen Behandlungsbedarf sollte beinhalten, dass eine Person zu den am stärksten betroffenen bzw. gesundheitlich am meisten beeinträchtigtsten Personen ihrer Alters- und Geschlechtsgruppe gehört [17]. Zunächst wurden hierfür einer hohen Beeinträchtigungsklasse diejenigen zugeordnet, die in mindestens zwei der drei Bereiche reduzierte psychische Lebensqualität, reduzierte körperliche Lebensqualität (anhand des SF-36; [10]) und Ausfalltage im oberen Quartil ihrer Referenzgruppe lagen. Die Ausfalltage wurden anhand der Frage „An wie vielen Kalendertagen waren Sie in den letzten zwölf Monaten insgesamt so krank, dass Sie Ihrer üblichen Tätigkeit nicht nachgehen konnten? (Bitte auch die Tage berücksichtigen, die Sie im Krankenhaus gelegen haben.)“ erfasst, d. h. es wurden nicht notwendigerweise Krankschreibungstage gezählt.

Ein besonderer bzw. erhöhter Behandlungsbedarf wurde folgendermaßen definiert: 1.) Vorliegen mindestens einer psychischen Störung innerhalb der letzten zwölf Monate UND 2.) Störungsdauer von mindestens zwei Jahren UND 3.) Zugehörigkeit zu den 25 % der Beeinträchtigsten in Bezug auf mindestens zwei der drei Kriterien psychische und körperliche Lebensqualität sowie Ausfalltage im Vergleich zur eigenen Alters- und Geschlechtskohorte. Zusätzlich wurden Personen, bei denen in den letzten zwölf Monaten eine Bipolar-I- oder eine mögliche psychotische Störung vorlag, in jedem Falle zugeordnet, auch wenn sie nicht alle genannten Bedingungen erfüllten. Diesen Kriterien von besonderem Behandlungsbedarf entsprachen 8,7 % der Gesamtstichprobe (n = 341, darunter n = 84, die nur über die Zusatzkonvention „bipolar oder psychotisch“ klassifiziert wurden).

Quasi-regionale Auswertung

Die relevanten DEGS1-MH-Individualdaten wurden auf Kreisebene aggregiert. So wurde jedem Kreis die Gesamtprävalenz in Prozent anhand der jeweiligen Anzahl der Teilnehmer mit Diagnose sowie der Prozentanteil von Personen mit „besonderem Behandlungsbedarf“ zugeordnet. Die ausgewählten Kreise geben die Verteilung der Angebotsstruktur repräsentativ für den gesamtdeutschen Raum wieder (zur Repräsentativität der DEGS-Stichprobenziehung siehe [20]).

Statistische Analysen

Um der Logik „der Versorgungsgrad sollte dem Bedarf folgen“ zu entsprechen, wurden die Morbiditätsparameter (Prävalenz und besonderer Behandlungsbedarf) als unabhängige und die Arztdichten als abhängige Variablen behandelt. Zusammenhänge und Varianzaufklärung wurden anhand von Spearman-Rang-Korrelationen und robusten Regressionsverfahren auf Ebene der Kreise (n = 139) durchgeführt. Unterschiede in der Morbidität zwischen den fünf Kreistypen wurden varianzanalytisch (ANOVA), bei Voraussetzungsverletzung mit dem Welch-Test untersucht.

Ergebnisse

Arztdichten und Inanspruchnahme von Leistungen

Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen Spezialistendichten (korrigiert um Mitversorgung) und Inanspruchnahmeverhalten von DEGS1-MH-Teilnehmern mit einer Zwölfmonatsdiagnose über die Kreise hinweg. Abb. 1 zeigt diesen Zusammenhang unter Verwendung von Quintilen der Arztdichten. Aufgrund großer Heterogenität der Inanspruchnahme innerhalb der Quintile beträgt die (nicht zu Quintilen aggregierte) Korrelation auf Kreisebene zwar nur r = 0,22, ist aber signifikant (p = 0,01) – anders als bei den Personen ohne Diagnose, für die sich kein Zusammenhang zwischen Versorgungsangebot und Inanspruchnahme zeigt (r = 0,07, p = 0,43).

Abb. 1
figure 1

Selbstberichtete Spezialistenkontakte für DEGS1-MH-Teilnehmer ohne vs. mit psychischen Störungen (letzte 12 Monate) nach Versorgungsdichte (in durch Nervenärzte/Psychotherapeuten wenig bis hoch versorgten Regionen)

In die gleiche Richtung (nicht dargestellt) weist, störungsspezifisch für die Depression, der Vergleich zwischen leichten vs. schweren depressiven Episoden: Nur bei Personen mit schweren depressiven Episoden erhöht sich die Behandlungsintensität von Psychotherapie (Anzahl der Besuche bei Psychotherapeuten im letzten Jahr) in höher versorgten Regionen (korrigiert um Mitversorgung; r = 0,31, p = 0,01), nicht aber bei leichten depressiven Episoden (r = −0,12, p = 0,37).

„Wo mehr angeboten wird, wird mehr in Anspruch genommen“ (Hypothese 1) kann also nur für Menschen mit psychischen Störungen, nicht aber für Personen ohne Diagnose bestätigt werden.

Arztdichten und Prävalenz/Behandlungsbedarf

Es besteht kein signifikanter Zusammenhang zwischen Arztdichten und den durchschnittlichen Prävalenzraten (r = 0,02, p = 0,82; Abb. 2) sowie zwischen Arztdichten und besonderem Behandlungsbedarf (r = 0,08, p = 0,36; Abb. 2). Regressionsanalytisch lassen sich weniger als 1 % der Varianz der regionalen Arztdichteunterschiede durch Prävalenzunterschiede (β = 0,02, R² = 0,001, p = 0,77) oder durch unterschiedlich häufige Fälle erhöhten Behandlungsbedarfs (β = 0,06, R² = 0,004, p = 0,49) erklären. Abb. 3 zeigt ergänzend die Prävalenzen psychischer Störungen und die Prävalenzen erhöhten Behandlungsbedarfs über die Kreistypen hinweg, wobei sich keine signifikanten Unterschiede zwischen diesen finden (psychische Störung: WStat(4, 53,7) = 0,2, p = 0,94; besonderer Behandlungsbedarf: F(4, 134) = 0,69, p = 0,60).

Abb. 2
figure 2

Gesamtprävalenz psychischer Störungen und Prävalenz „erhöhten Behandlungsbedarfs“ in niedrig bis hoch versorgten Regionen.

Abb. 3
figure 3

Gesamtprävalenz psychischer Störungen und Prävalenz „erhöhten Behandlungsbedarfs“ in den verschiedenen Kreistypen

Diskussion

Diese Studie zeigt erstmals anhand epidemiologischer Daten, unter Verwendung standardisierter diagnostischer Kriterien, dass die ambulante (kassenärztliche) psychiatrische und psychotherapeutische Angebotsstruktur in Deutschland auf regionaler Ebene in ihren Variationen wesentlich weniger tatsächlichen Morbiditätsunterschieden entspricht, als dies aus administrativen Statistiken hervorgeht: Die Versorgungsdichten unterscheiden sich so stark, dass diese Variation auch unter Berücksichtigung von Mitversorgungsbeziehungen nicht annähernd durch Prävalenzunterschiede erklärt werden kann.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die bisherige Umsetzung der Bedarfsplanung nur bedingt als bedarfsorientiert gelten kann. Kritisch hinterfragt werden sollten im Zusammenhang mit der aktuellen Bedarfsplanung in Deutschland das sogenannte „Ist = Soll“-Prinzip (Orientierung an bestehenden Strukturen) mit unterschiedlichen Verhältniszahlen für bestimmte Kreistypen und die Abwesenheit von prävalenzbasierten Schätzern sowie die Zuweisung der Arztsitze „pro Kopf“ trotz Variation der Behandlungsumfänge.

Will man statt der Strukturdaten, die bisher alleinige Zielgröße der Bedarfsplanung sind, die tatsächliche ambulante Versorgungsleistung einer Region erfassen, müssen weitere Faktoren einbezogen werden. Vor allem die Zahl und Schwere der Fälle pro Behandler können sich sowohl regional als auch zwischen den Arztgruppen unterscheiden. Da Daten zu Fallzahlen pro Zeiteinheit (Jahr oder Quartal) nichts über die Behandlungsfrequenz und -intensität dieser Patienten in jenem Zeitraum aussagen, muss zugleich der abgerechnete Leistungsbedarf betrachtet werden.

Abrechnungsdaten (z. B. 2008 [25]) belegen für die Gruppe der Nervenärzte gegenüber der Gruppe der Psychotherapeuten dreierlei: a) eine deutlich höhere Anzahl von Fällen bei b) niedrigerem Gesamtleistungsbedarf pro Fall, aber c) einem insgesamt höherem Gesamtleistungsbedarf pro Praxis.

Diese Indikatoren des realisierten Versorgungsumfanges unterscheiden sich auch zwischen Regionen. Betrachtet man nur die Zahl der je Arzt pro Quartal behandelten Fälle, z. B. im Vergleich zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), so behandeln z. B. Psychotherapeuten in hochversorgten KVen nur etwa halb so viele Patienten pro Quartal wie in KVen mit geringerer Arztdichte [21, S. 80 f.]. Doch muss bei der Bewertung des Tätigkeitsumfanges auch die Behandlungsfrequenz berücksichtigt werden, denn Psychotherapeuten berichten keine relevanten regionalen Unterschiede in der Anzahl wöchentlicher Therapiestunden, und auch im regionalen Honorarumsatz zeigen sich zwischen KVen deutlich geringere Unterschiede als in der Fallzahl [21, 42]. Zur validen Abbildung des tatsächlich realisierten Versorgungsgrades einer Region sind daher weitere Analysen differenzierterer Abrechnungsdaten notwendig.

Wenn der klinische Schweregrad psychischer Störungen zwar auch nicht regional variiert, so ist dessen Ungleichverteilung über die Arzt- und Berufsgruppen der Behandler immer wieder Gegenstand von Debatten zwischen Leistungserbringern und -trägern, u. a. weil die als besonders schwer erachteten Diagnosebereiche Psychose und Sucht vor allem im psychiatrischen Bereich anzutreffen sind [4]. Wird allerdings die Krankheitslast anhand von „aggregated condition categories“ (ACC; auf Basis von Abrechnungsdaten) oder auch der Zahl distinkter Diagnosen pro Patient operationalisiert, finden sich keine bedeutsamen Unterschiede in der psychischen bzw. somatischen Komorbidität der behandelten Fälle zwischen den verschiedenen ärztlichen Behandlern und Psychologischen Psychotherapeuten [25] – wohl aber gegenüber dem durchschnittlichen Fall im kassenärztlichen System, der deutlich weniger belastet erscheint. Aufgrund des größeren Anteils von Patienten im Alter von 55 Jahren und älter behandeln Psychiater und Nervenärzte gegenüber Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten dennoch mehr multimorbide Fälle.

Allokations- oder Ressourcenproblem?

In erster Linie lassen sich anhand der Datengrundlage Aussagen bezüglich der relativen Allokation vorhandener Ressourcen der ambulanten Versorgung ableiten. Ob der absolute Versorgungsumfang im Bereich psychischer Störungen in Deutschland adäquat ist oder nicht, kann aus wissenschaftlicher Sicht nicht hinreichend beantwortet werden. Denn die Definition von „medizinischer Notwendigkeit“, Behandlungsbedarf und dessen Kassenfinanzierung enthält immer gesellschaftspolitische Entscheidungen. Allerdings sollten solche normativen Aushandlungsprozesse vorhandene empirische Evidenzen berücksichtigen. Es soll daher an dieser Stelle auch die Frage diskutiert werden, ob die Unterschiede in den Arztdichten eher eine Über- oder Fehlversorgung in den relativ hochversorgten Regionen abbilden als eine Unterversorgung in den relativ niedrig versorgten Gebieten.

Zunächst kann hierzu konstatiert werden, dass das Hilfe- und Versorgungssystem für den Bereich psychische Gesundheit in Deutschland aus historischer Perspektive – noch vor 30 Jahren wurden viel weniger Psychiater und Psychotherapeuten als ausreichend erachtet (vgl. [9]) – und im internationalen Vergleich [33] quantitativ gut ausgebaut ist. Somit sollten Überlegungen zur Optimierung der Verteilung der vorhandenen Ressourcen den Überlegungen zu einer Mengenausweitung vorangehen.

Allerdings kann argumentiert werden, dass lange Wartezeiten auf einen Termin beim Psychiater oder auf einen Psychotherapieplatz oder die häufige Praxis der Kostenerstattung darauf hinweisen, dass der Behandlungsbedarf durch die aktuell zugelassene Zahl der Spezialisten nicht gedeckt werden kann.

Insbesondere die Anzahl der ambulanten Nervenärzte – unter denen übrigens die im eigentlichen Sinne für psychische Störungen zuständigen Psychiater nur etwa die Hälfte ausmachen – erscheint mit durchschnittlich 5 pro 100.000 Einwohner ausgesprochen niedrig angesichts des großen wahrgenommenen Versorgungsdrucks; so lag etwa die Fallzahl pro Behandler im Jahre 2004 bei über 2600 und war in den 10 Jahren zuvor um 600 gestiegen [3]. In manchen Landkreisen gibt es gar keine Psychiater (mehr); auch dies kann keinesfalls mit „vermindertem Bedarf“ gerechtfertigt werden.

Bei den Psychotherapeutensitzen, von denen deutlich mehr zur Verfügung stehen, dreht sich die Debatte v. a. um den Tätigkeitsumfang der Behandler. Die durchschnittlich etwa 25 Behandlungsstunden erfüllen zwar die im Bundesmantelvertrag für Ärzte und Psychotherapeuten in der GKV geforderten wöchentlichen 20 Behandlungsstunden, und die über die reine „Patientenzeit“ hinausgehende Gesamtarbeitszeit wurde mit durchschnittlich 42,7 Zeitstunden ermittelt [22]. Allerdings ist für einen psychotherapeutischen Kassensitz eine Maximalauslastung von 36 genehmigungsbedürftigen Psychotherapiestunden (entspricht einer Gesamtarbeitszeit von etwa 54 h/Woche) vorgesehen, um den Psychotherapeuten zu ermöglichen, bei dieser Maximalauslastung das durchschnittliche Gehalt von Fachärzten zu erreichen. Dass diese Maximalauslastung nur von wenigen Psychotherapeuten erbracht wird, wird von der Profession [7] zum einen damit begründet, dass, mehr als bei anderen Arztgruppen, eine qualitativ hochwertige Tätigkeit ein ungünstigeres Verhältnis zwischen Patientenzeit und Gesamtarbeitszeit durch verwaltende, dokumentierende und qualitätssichernde Tätigkeiten (wie z. B. Supervision, Qualitätszirkel und Fortbildung) mit sich bringt. Zum anderen würden strukturelle Gründe die Maximalauslastung erschweren. Dies betreffe etwa Konsequenzen der rein zeitgebundenen Abrechnungsmöglichkeiten oder Barrieren darin, eine gegebene Unterauslastung eines Kassensitzes auszugleichen (z. B. durch Anstellung eines Kollegen). Der Implikation aus verschiedenen Versorgungsstudien des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (ZI), „gute Versorgungsstrukturen (zu) erhalten, in strukturschwachen Gebieten (zu) fördern“, sollte im Bereich der Psychotherapie also hinzugefügt werden, dass der Versorgungsgrad auch in Regionen mit „guten Versorgungsstrukturen“ überschätzt wird.

Versorgung von nicht eigentlich Bedürftigen?

Eine Hypothese von Vertretern der Position, die mit vielen Spezialisten versehenen Regionen seien über- oder fehlversorgt, besagt, dass dort eine angebotsinduzierte Nachfrage geschaffen würde, die auch dazu führe, dass eigentlich nicht behandlungsbedürftige bzw. nicht krankheitswertige Fälle Versorgung in Anspruch nehmen würden [29]. In der Tat kann dies ein Medikalisierungsproblem im Sinne einer Delegation von genuin gesellschaftlichen Problemen an das Gesundheitssystem darstellen (vgl. [13, 26]). Betrachtet man aber das Vorliegen einer Diagnose einer psychischen Störung zumindest als Hinweis für Interventionsbedarf, so stützen die vorliegenden Daten die Annahme einer Überversorgung, im Sinne der Behandlung von Gesunden, nicht: Nur bei denjenigen Personen mit Diagnose einer psychischen Störung hängt ein dichteres Versorgungsangebot mit umfangreicherer Inanspruchnahme zusammen, nicht aber bei denjenigen, die Inanspruchnahme eines Spezialisten auch ohne das Vorliegen der Kriterien für eine psychische Störung berichten.

Limitationen

Will man den Versorgungsgrad von Regionen als Ganzes valide quantifizieren, müssen neben der hier untersuchten ambulanten Facharztdichte weitere Faktoren berücksichtigt werden. Hierzu zählen weitere ambulante Versorgungsstrukturen (z. B. ambulante Rehabilitation, psychiatrische Institutsambulanzen, psychosoziale Hilfestrukturen außerhalb des medizinischen Systems), Angebote der Zusatzversorgung (z. B. Kostenerstattungsverfahren) und mögliche Substitutionseffekte durch vielfältige stationäre Behandlungsmöglichkeiten.

Außerdem spielt neben der Dichte des Versorgungsangebots insbesondere auch die Erreichbarkeit von Ärzten im Sinne der Entfernung zum Praxisstandort eine wichtige Rolle. Dies gilt insbesondere für schwer psychisch Erkrankte, die die Möglichkeiten der Mitversorgung in einer benachbarten Region nicht so einfach in Anspruch nehmen, wie dies weniger schwer betroffene Fälle können [8]. Zudem müsste für eine gerechte Gesamtschau auf die Gesundheitsversorgung berücksichtigt werden, dass sich Menschen aus höheren sozialen Schichten meist kompetenter Versorgung organisieren können [40].

Auch wenn Prävalenzraten psychischer Störungen auf Ebene der Gesamtpopulation über die Zeit nicht dramatisch schwanken [19], müssen zukünftige Untersuchungen auch den demografischen Wandel berücksichtigen. So sind ggf. Veränderungen der Prävalenz durch Konzentrationen von geflüchteten Menschen in Städten denkbar, oder eine vermehrte (fachlich gerechtfertigte) Inanspruchnahme von Psychotherapie durch ältere Patienten in zukünftigen Kohorten. Auch gesellschaftliche Veränderungen, wie ein Wegfall sozialer Unterstützung oder die Zunahme von Problemen bei der Erfüllung von Rollenerwartungen, vermehrter Anpassungsdruck und damit verbundener chronischer Stress, könnten möglicherweise dazu beitragen, dass zukünftig eine „angeschlagene psychische Gesundheit“ häufiger als bislang in manifeste behandlungsbedürftige psychische Störungen übergehen [32]. Dies hätte wiederum Implikationen für die präventive Gesundheitsplanung.

Somit besteht hinsichtlich der Versorgung im Bereich psychischer Störungen nach wie vor ein umfangreicher Forschungsbedarf, insbesondere vor dem Hintergrund der hohen Public-Health-Relevanz dieser Krankheitsgruppe. Hierbei stellt sich die Frage, wer Analysen dieser Art leisten soll – im Vergleich zu anderen „Volkskrankheiten“ existiert in Deutschland kein vergleichbares (Forschungs-)Zentrum für psychische Erkrankungen.

Sind die Befunde spezifisch für psychische Störungen?

Auch wenn andere Aspekte der Daseinsvorsorge, wie etwa das regionale Bruttoinlandsprodukt oder kommunale Investitionen, noch stärkere räumliche Disparitäten aufweisen [45], sollte sich Gesundheitsversorgung ganz allgemein an dem Ideal sozialer Gerechtigkeit und gleicher Gesundheitschancen für alle Menschen im gesamten Bundesgebiet orientieren. Die hier dargestellten Befunde und Probleme sind allerdings nicht spezifisch für den Bereich psychischer Störungen. Eine große – nicht morbiditätsbasierte – Variation von Behandlerdichten gibt es über alle Facharztgruppen hinweg [2]. Auch der zunehmende Anteil an Frauen und eine kohortenspezifischen Lebensplanung, bei der die Maximierung des Einkommens an Bedeutung verliert, ist für alle ärztlichen Berufsgruppen von Relevanz [23]. Auf der Seite der Patienten ist die Definition von „Behandlungsbedarf“ oder „medizinischer Notwendigkeit“ auch in anderen Krankheitsgruppen räumlich und zeitlich variabel [31]. Insgesamt sollte dabei jedoch berücksichtigt werden, dass die Krankheitslast, die nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich mit psychischen Störungen assoziiert ist, im Vergleich zu anderen Krankheitsgruppen ausgesprochen hoch ist [44] – und damit auch ihr Präventionspotenzial.

Fazit für die Praxis

  • Anders als in GKV-Routinedaten weisen die Prävalenzraten psychischer Störungen aus epidemiologischen Bevölkerungsstudien keinen Zusammenhang mit der ambulanten Dichte von Nervenärzten und Psychotherapeuten auf. Die regionale Ungleichverteilung der ambulanten Arztsitze lässt sich also nicht mit entsprechenden Variationen des lokalen Behandlungsbedarfs begründen.

  • Für Studienteilnehmer mit psychischen Diagnosen erhöht sich die Inanspruchnahme von Behandlungsleistungen mit zunehmender regionaler Arztdichte; dies gilt jedoch nicht für Teilnehmer ohne Diagnose. Dies wiederspricht der Hypothese einer „angebotsinduzierten“, ungerechtfertigten Inanspruchnahme in höher versorgten Gebieten.

  • Will man den Versorgungsgrad von Regionen als Ganzes valide quantifizieren, müssen neben der hier untersuchten ambulanten Facharztdichte noch weitere Angebotsstrukturen berücksichtigt werden.