Der nachstehende Beitrag zu kollektiver Gewalt ist die Weiterführung einer zuvor im Nervenarzt erschienenen Veröffentlichung der Autoren zu neurobiologischen und psychosozialen Bedingungen individueller Gewalt [7]. In Anlehnung an die WHO wird kollektive Gewalt definiert als die gegen eine Gruppe oder mehrere Einzelpersonen gerichtete instrumentalisierte physische Gewaltanwendung durch Menschen, die sich als Mitglieder einer anderen Gruppe begreifen und damit politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Ziele durchsetzen wollen [95]. Formen defensiver und reaktiver Gewalt werden hier ausgeklammert.

Kollektive Gewalt, von der Gruppengewalt Jugendlicher bis zu Krieg, Genozid und Terrorismus, basiert zwar auf individuellen Aktionen, ist aber vor dem Hintergrund einer phylogenetischen Entwicklung und einer hieraus resultierenden hirnbiologischen Disposition zu sehen, die durch besondere Gruppenprozesse, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Faktoren sowie spezifische psychosoziale Konstellationen ermöglicht wird. Kollektive (physische) Gewalt ist wie individuelle (physische) Gewalt vorrangig eine Domäne der Männer, auch wenn sich Berichte mehren, wonach sich der Anteil jugendlicher weiblicher Täterinnen an Gewaltdelikten erhöht hat [87]. Es ist bemerkenswert, dass das Phänomen kollektiver Gewalt trotz der oft desaströsen Auswirkungen von der Psychiatrie bisher ebenso wenig beachtet wurde wie individuelle Gewalt, obwohl beide Phänomene zum archaischen menschlichen Verhaltensrepertoire zählen und auch psychopathologische Ausformungen implizieren, wie dies für andere elementare menschliche Wesenszüge z. B. Angst, Trauer oder Euphorie selbstverständlich erscheint.

Kollektive Gewalt scheint eine anthropologische Konstante mit alten phylogenetischen Wurzeln zu sein, zumindest stellt sie eine Option sozialen Handelns dar, die im Laufe der Geschichte für vielfältige Zwecke eingesetzt wurde: zur Unterhaltung, zur Besänftigung der Götter, zur Arbeitserleichterung, zur Eroberung neuer Territorien, zur Bestrafung, zur Abfuhr von Frustration und zur Konfliktbewältigung. Zwar ist das 20. Jahrhundert einerseits eine Epoche langer Friedenszeiten, fortschreitender Demokratisierung und zunehmender Ächtung von Gewalt – zumindest in Westeuropa und Nordamerika –, andererseits gilt es als das Jahrhundert der totalitären Ideologien mit der absolut höchsten Rate kollektiver Gewalt in der Geschichte (Tab. 1).

Tab. 1 Anzahl der Todesopfer durch staatlich angeordneten Völkermord im 20. Jahrhundert. (Nach [78, 79])

Das Thema Gewalt beinhaltet einen fast unüberschaubaren Grad an Komplexität und ist seit langem Gegenstand verschiedener Disziplinen der Natur- und Sozialwissenschaften, deren z. T. kontroverse Theorien und Befunde hier nicht umfassend dargestellt werden können. Der Beitrag beschränkt sich daher in Form einer selektiven Übersichtsarbeit darauf, einige wenige soziologische und neurobiologische, von den Autoren als relevant erachtete Aspekte kollektiver Gewalt als Gruppen- und Intergruppenphänomen im Sinne eines interdisziplinären Ansatzes zusammenzuführen. Diese Aspekte fokussieren auf evolutionsbiologische, neurobiologische und sozialpsychologische Ansätze zur Erklärung von Gruppenaggression sowie auf gewaltfördernde Effekte bestimmter Männlichkeitskonstruktionen und sozialstruktureller Bedingungen. Theorien über die Ursachen von Krieg und Terror, die ebenso vielfältig sind wie die zur individuellen Aggression [83, 89, 92], sowie konkrete zeitgeschichtliche Bedingungen kollektiver Gewalt können nicht berücksichtigt werden. Weitere Beschränkungen ergeben sich dadurch, dass die Genderperspektive in der Gewaltforschung bisher wenig berücksichtigt wurde. Zudem liegt zwar eine Fülle neurobiologischer Befunde zur individuellen Gewalt, kaum aber welche zur kollektiven Gewalt vor, was mit methodischen Limitationen bei der hirnbiologischen Untersuchung letzteren Phänomens erklärbar ist. Daher kann eine Vermittlung neurobiologischer und soziologischer Erkenntnisse nur im Ansatz oder in der Formulierung plausibler Theorien erfolgen. Folgende Punkte werden fokussiert dargestellt:

  • evolutionsbiologische Aspekte kollektiver Gewalt,

  • neurobiologische Korrelate kollektiver Gewalt: potenzielle Bedeutung der Spiegelneurone,

  • Männlichkeit, Gruppenbildung und kollektive Gewalt,

  • soziale Desintegration als Risiko von Gewalt,

  • gewaltlegitimierende Ideologien und militarisierte Männlichkeit,

  • demographischer Überschuss junger Männer als Risiko für kollektive Gewalt.

Evolutionsbiologische Aspekte kollektiver Gewalt

Schon Darwin [24] erkannte, dass nicht nur die physische Konfiguration von Lebewesen, sondern auch die emotionale Grundausstattung und deren Ausdrucksformen das Ergebnis einer über viele Millionen Jahre gehenden Evolution sind. Hierzu gehören jedoch nicht nur individuelle archaische Triebe und Emotionen wie Nahrungs-, Sexual-, Angst-/Flucht- und individuelles aggressives Verhalten, sondern auch das vielen Vertebraten eigene Herden- und Gruppenverhalten, das sich, sobald sich eine Gruppe einer hierzu disponierten Spezies bildet, regelhaft spontan einstellt, ohne dass – wenn es sich um menschliche Individuen handeln sollte – sich diese sich solcher ererbten Rahmenbedingungen für kollektives Verhalten bewusst sein müssen. Hierzu gehört auch die Anlage zu kollektiver Aggression gegenüber Individuen, die zwar der eigenen Spezies, nicht aber der gleichen sozialen Gruppe angehören und sich in geringfügigen Merkmalen unterscheiden.

Kollektive Aggression ist schon bei einfachen in Gruppen lebenden Säugetieren wie Nagern, aber auch bei in Gruppen lebenden Raubtieren (Wölfe, Raubkatzen) bis hin zu den Primaten anzutreffen [98], was bedeutet, dass sich die zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen im Verlauf der Phylogenese gegenüber friedlicheren Varianten bei solchen Spezies durchsetzten.

Vor dem Hintergrund der vergleichenden Verhaltensforschung schildert Lorenz am Beispiel von Rattenstämmen, dass innerhalb eines zusammenlebenden Clans zwar friedliches Miteinander herrscht und gegenseitige Beißereien kaum vorkommen. Sobald aber ein fremdes Tier hineingesetzt wird oder zwei verschiedene Stämme aufeinander treffen (entscheidend ist hierbei der unterschiedliche Geruch) erfolgen massive, unerbittliche Attacken, um die Fremden zu töten [54]. Dieses Phänomen des Attackierens, der Vertreibung oder sogar der Vernichtung von nicht der eigenen Gruppe zugehörigen Tieren, die zwar der gleichen Spezies angehören, sich aber in bestimmten Merkmalen geringfügig unterscheiden, ist schon bei einfachen in Gruppen lebenden Vertebraten anzutreffen und findet eine Parallele bei Primaten bis hin zu Homo sapiens, was auf sehr alte phylogenetische Wurzeln hinweist. In der Sozialpsychologie wurde als analoges Phänomen die Theorie des minimalen Gruppenparadigmas formuliert [89], wonach fremdaggressive Einstellungen (Vorurteile) und Handlungen zwischen sozialen Gruppen aufgrund der Wahrnehmung minimaler Differenzen zwischen diesen Gruppen bzw. aufgrund der bloßen Kategorisierung in Eigen- und Fremdgruppe zustande kommen. Die phylogenetisch sehr alten Wurzeln kollektiver Aggression gegen Artgleiche wurden besonders eindrucksvoll auch bei frei lebenden Schimpansen von Goodall [32] und Boesch [6] geschildert, wobei Horden erwachsener Männchen (nicht Weibchen!) in den Randgebieten des Reviers systematisch Tiere anderer Gruppen solange überfielen und töteten, bis die Nachbargemeinschaft ausgerottet oder unterworfen war.

Durch diese Befunde der vergleichenden Verhaltensforschung ist die Annahme von Fromm [29] widerlegt, wonach nur der Mensch höher entwickelter Zivilisationen zu grausamem und kriegerischem Verhalten gegenüber der eigenen Art in der Lage sei.

Im Gegensatz zu fremdaggressivem Gruppenverhalten überwiegt innerhalb der eigenen Sippenmitglieder – seien es Ratte, Affe oder Mensch – nach Erkämpfung der sozialen Rangordnung unter normalpsychologischen Bedingungen ein weitgehend friedliches Miteinander.

Wenn die Lorenz-Theorie vom evolutiven Vorteil aggressiven Verhaltens gegenüber Artgenossen zutrifft, ist die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass auch die stammesgeschichtliche Entwicklung des Homo sapiens zu seiner heutigen Wesensart sowie das hiermit einhergehende Verschwinden seiner Vorstufen und Seitenlinien (z. B. Homo habilis, Homo erectus, Homo neanderthalensis) nicht nur auf einer besseren Fähigkeit zur Anpassung an veränderte Umweltbedingungen beruhte, sondern auch darauf, dass er wie seine Urahnen andere, von der eigenen Rasse differierende Menschengruppen, sofern sie an körperlichen Fähigkeiten, Intelligenz und Gewaltbereitschaft unterlegen waren, verdrängte oder vernichtete und seine eigenen Gewaltanwendung und aggressives Gruppenverhalten begünstigenden Gene weiter vererbte.

Dem stehen neuere Berichte nicht entgegen, wonach Homo neandertalensis nach Einwanderung von Homo sapiens noch über Jahrtausende mit diesem in den selben Erdteilen parallel lebte und dass es auch Hinweise für eine genetische Vermischung gibt [88]. Dennoch verschwand der Neandertaler ebenso wie alle anderen Vorstufen oder Seitenlinien des Homo sapiens im Verlauf der Menschheitsentwicklung, was im Rahmen der dargestellten Theorie auf aggressive Verdrängung durch spätere Hominiden – wenn auch über lange Zeiträume – und zuletzt durch Homo sapiens selbst zurückgeführt werden kann.

Nicht nur die Entstehung und Weiterentwicklung von Aggression und Gewalt setzte sich in der Evolution als gleichsam negative Hypothek für die folgenden Generationen durch, sondern auch parallel hierzu antagonistische prosoziale Eigenschaften wie Altruismus, Gerechtigkeitsempfinden und Gruppenzugehörigkeitsgefühle. Ohne Entwicklung dieser gemeinschaftsfördernden sozialen Eigenschaften, die ebenso wie antisoziale Verhaltensweisen nicht nur durch das soziale Umfeld, sondern auch evolutionsbiologisch determiniert sind [18, 25, 45], hätte keine höher entwickelte Spezies die Evolution überlebt. Während zu individuellem aggressivem Verhalten Polymorphismen der Gene für den Serotonintransporter (5-HTT) und Monaminooxidase (MAO-A) disponieren [12, 70, 71], sind für prosoziale Eigenschaften bestimmte genetisch bedingte Varianten des Rezeptors für den Botenstoff Oxytocin („Bindungshormon“) mit verantwortlich [43, 46]. Welche Dispositionsgene kollektives aggressives Verhalten begünstigen, ist derzeit noch nicht erforscht.

Der phylogenetische Vorteil einer Art ist offenbar aber dann besonders hoch, wenn ein ausgeprägter Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe mit einer feindseligen, kriegerischen Einstellung gegenüber Außenstehenden bzw. einer territorial benachbarten Gruppe zusammentrifft. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Studie von Choi und Bowels [20], die über Computersimulationen solcher gruppendynamischer Gegebenheiten über tausende von Generationen hinweg bei Lebensbedingungen, wie sie für die Frühzeit des Menschen angenommen wurden, aufzeigen konnten, dass diejenigen Gruppen überlebten, die die ausgeprägtesten prosozialen Einstellungen gegenüber eigenen Gruppenmitgliedern bei gleichzeitig höchster kriegerischer Einstellung gegenüber Fremdgruppen hatten.

Die Anlage zur Gewaltbereitschaft gegenüber einer anderen Gruppe, auch wenn diese in ihrer Wesensart nur minimal differiert, bei gleichzeitigem Zusammenhalt innerhalb der eigenen Gruppe, trägt der Mensch offensichtlich als phylogenetisches Erbe in sich – als eine Art kollektives Unbewusstes. Wie anders wäre die Tatsache zu erklären, dass kollektive Gewalt von Gruppen, insbesondere kriegerische Auseinandersetzungen, den Verlauf der Weltgeschichte maßgeblich bestimmt hätten.

Ob diese phylogenetisch herausgebildete Verhaltensanlage zutage tritt oder nicht, hängt zum einen von der Vermittlung und Internalisierung ethisch-moralischer Normen ab, zum anderen von biographischen und gesellschaftlichen Risikokonstellationen. Hier wäre der entscheidende Ansatz zur Verhinderung kollektiver Gewalt zu suchen ebenso wie zur Identifizierung sozialer Konstellationen, die bei unserer evolutionsbiologisch bedingten Bereitschaft zur Gruppengewalt diese zu Tage treten lassen. Ein beeindruckendes Beispiel der Erfolge derartiger Maßnahmen ist die soziale Ächtung von Gewaltanwendung gegenüber Andersartigen und nationalem Überlegenheitsdenken zumindest in weiten Teilen Europas als Reaktion auf den Terror der Nazizeit und die Schrecken des letzten Weltkrieges. Seither leben wir in einer zeitlichen Ausnahmeperiode; nie zuvor gab es in Zentraleuropa eine längere Zeit, die frei von kriegerischen Auseinandersetzungen war. Andernorts, wo dieses Geschichtsbewusstsein weniger prävalent ist, ist das nicht so.

Neurobiologische Korrelate kollektiver Gewalt: potenzielle Bedeutung der Spiegelneurone

Es stellt sich die Frage, welche hirnbiologischen Voraussetzungen für gleichförmiges Verhalten einer Gruppe, hier für gewalttätiges Gruppenverhalten, gegeben sein müssen. Worin bestehen die neuronalen Grundlagen für gleichgerichtete gewalttätige Handlungsabläufe vieler Individuen und für die hiermit einhergehende Übertragung einer homogenen gewaltermöglichenden Stimmung? Vieles spricht dafür, dass hierbei die 1996 erstmals im prämotorischen Kortex von Affen entdeckten Spiegelneurone eine wichtige Rolle spielen [53, 74]. Diese motorischen Neurone, die für bestimmte Bewegungsabläufe notwendig sind, werden auch dann aktiv, wenn das Versuchstier (überwiegend Primaten) eine entsprechende Bewegung bei einem anderen Artgenossen beobachtet, ohne selbst diese Bewegung durchzuführen. Die Bedeutung der Spiegelneurone wurde zunächst nur für einfache motorische Handlungsabläufe beschrieben. Später wurden die Befunde und deren Interpretation dahingehend erweitert, dass diese Aktivierung eines weiter ausgedehnten und mehrere kortikale und limbische Areale umfassenden Spiegelneuronsystems eine Voraussetzung für das Verstehen komplexerer Handlungsabläufe und Empfindungen des Gegenüber ist [75] und somit nicht nur die hirnphysiologische Grundlage für Bewegungsnachahmung, sondern auch für Empathie und für Stimmungsübertragung überhaupt sind [1, 16, 85]. Spiegelneurone scheinen die Grundlage für das Zustandekommen sozialer Kognition zu sein, wobei die Interaktion prämotorisch kortikaler Areale mit korrespondierenden parietalen und temporalen Bereichen der Hirnrinde wichtig ist [40, 41].

Die Aktivierung von Spiegelneuronen wurde nicht nur für die Beobachtung von Bewegungsabläufen einschließlich Mimik sowie taktilen Empfindungen, sondern auch für empathisches Mitempfinden bei Schmerzperzeption des Gegenübers nachgewiesen [42]. Eine mögliche Schlussfolgerung wäre, dass die Funktion der Spiegelneurone auch für die Nachahmung komplexerer Handlungsweisen, für Mitgefühl und sozial kognitive Prozesse einschließlich der „theory of mind“ überhaupt bedeutsam ist [10]. Mittels funktionsmagnetresonanztomographischer Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass das Spiegelneuronsystem beim Menschen in ähnlicher Weise funktioniert wie bei Primaten [40, 59, 96]. Bei Ausfall dieser Neurone ist die soziale Wahrnehmung gestört.

Sucht man nach neuronalen Korrelaten für menschliche kollektive Aggression und die damit regelhaft einhergehende Übertragung hostiler Stimmungen, so liegen experimentelle Untersuchungen hierzu bislang nicht vor, was verständlich ist, da neurobiologische Untersuchungen (z. B. die Anwendung bildgebender Verfahren) des Verhaltens von ganzen Gruppen ungleich schwerer ist als die Untersuchung einzelner Gehirne.

Ausgehend von den bekannten Funktionen des Spiegelneuronsystems ist es aber naheliegend, anzunehmen, dass kollektives Verhalten, vom einfachen Herdeninstinkt über Massenpanik, Gruppeneuphorie bis hin zu kollektiver Aggression gegenüber Andersartigen – all diese Phänomene setzen soziale Kognition, Imitation von Handlungsabläufen und Stimmungsübertragung vieler Individuen voraus – auf die Aktivierung eines weiter ausgedehnten Spiegelneuronsystems in motorisch und emotional relevanten Hirnarealen beruht. Andere hirnbiologische Korrelate kollektiver Gewalt bzw. aggressiver Stimmungsübertragung sind derzeit nicht bekannt, weshalb die Spiegelneuronsysteme hierfür die interessantesten Kandidaten sind. Zumindest bietet sich hier ein hirnbiologisches Korrelat für solche Prozesse an, die sonst nur aus sozialwissenschaftlicher Perspektive betrachtet werden könnten.

Voraussetzung zur Ausübung von Gewalttaten ist, dass empathisches Einfühlen in das Leid des Gewaltopfers, somit emotionales Mitempfinden, das ebenfalls an die Aktivierung der Spiegelneurone des emotionalen Systems gebunden ist [60, 85, 99], schwächer ist als die Impulse zur kollektiven Gewaltanwendung. Zu den Schlüsselarealen des Gehirns zur Kontrolle antisozialen Verhaltens gehören ventrale Regionen des präfrontalen Kortex, Mandelkern und vorderer Gyrus cinguli; für moralische und prosoziale Empfindungen sind medialer und ventraler präfrontaler Kortex, Mandelkern, Gyrus angularis und posteriorer Gyrus cinguli zuständig [66, 69].

Männlichkeit, Gruppenbildung und kollektive Gewalt

Männlichkeit ist nicht nur eine biologisch-anthropologische Tatsache, sondern auch als eine historisch-gesellschaftliche Konstruktion definiert, die zwar kulturell unterschiedlich sein kann, aber in den meisten Gesellschaften eine patriarchale (Geschlechter-)Ordnung begründet hat. Hegemoniale Männlichkeit [21] – in westlichen Gesellschaften auf Macht und Status fokussiert – muss trotz des heutigen Geschlechterrollenwandels weiterhin als ein relevantes Ideal angesehen werden, das für Teile der männlichen Bevölkerung immer noch handlungsleitend ist, wobei Weiblichkeit und andere Formen von Männlichkeiten (z. B. homosexuelle) untergeordnet sind. Zwar sind aufgrund der Frauenemanzipation traditionelle Männlichkeitsbilder ambivalenter, vielfältiger und diffuser geworden, doch können daraus resultierende Rollenkonflikte auch durch eine Reaktivierung traditioneller Männlichkeitsnormen beantwortet werden (z. B. durch Orientierung an das medial vermittelte Bild des „Kriegers“ in spezifischen Jugendkulturen). Aggression und Gewalt gehören in diesem Männlichkeitsschema zum gesellschaftlich legitimierten Instrumentatrium zur Ausübung von Kontrolle und Macht zwecks Herstellung oder Wiederherstellung einer sozialen Ordnung. Der „männliche Habitus“ [11] ist nicht ein für alle Mal fixiert, sondern muss kontinuierlich reproduziert werden durch die „ernsten Spiele des Wettbewerbs“ in von Männern dominierten Welten wie Politik, Wissenschaft, Ökonomie, Teilbereichen des Sports, Polizei und Militär.

Gewalt von jungen Männern – eine Form der ernsten Spiele des Wettbewerbs in der Adoleszenz und eher sozial akzeptiert in bildungsferneren Milieus – findet zu 90 % in Gruppen statt [101].

Experimentelle Studien legen nahe, dass Gruppen im Vergleich zu einzelnen Individuen aggressiver und kompetitiver sind [56], ein Befund, der wiederum kompatibel mit evolutionsbiologischen Ansätzen ist, die davon ausgehen, dass Gruppenbildung Überlebensvorteile sicherte und bei begrenzten Ressourcen (Nahrung, Lebensraum) diese mit Aggression und Gewalt gegenüber rivalisierenden Gruppen verteidigt wurden. Darüber hinaus stellen homosoziale Gruppen Gleichaltriger eine wesentliche Instanz der männlichen Sozialisation im Jugendalter dar, die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, sozialer Identität, Status und Wettbewerb erfüllen. Die durch Gruppenzugehörigkeit erworbene soziale Identität wird durch Assimilationseffekte, d. h. durch Angleichung von Einstellungs- und Verhaltensmuster sowie durch Abschottungsprozesse nach außen verstärkt, sodass die Gruppenbindung als solche zum Hauptbestandteil der sozialen Identität werden kann und die Ichgrenzen zugunsten des Gemeinschaftserlebens verschwimmen können. Gewaltaffine Gruppen männlicher Jugendlicher, z. B. Gangs, Hooligans oder Rechtsradikale, zeichnen sich häufig durch einen normativen Männlichkeitskult aus, der sich durch Stärke und Gewalt definiert (Machismo, männliche Ehre). Gewalt fungiert in diesem Kontext als Gruppennorm, als Mittel der Demonstration von Männlichkeit, sie dient der Statussicherung in der und durch die Gruppe, aber auch der Bewältigung von Statusabwertung durch „Macht“erfahrungen. Gewalt richtet sich meist gegen Personen oder Gruppen, die als schwächer und andersartig wahrgenommen werden, wobei sich die Fremdgruppendefinition häufig an ethnischen Merkmalen orientiert und nur minimale Unterschiede für Intergruppendiskriminierung ausreichen können, mitunter sogar die soziale Klassifikation als solche [23, 89].

Die speziesübergreifenden und somit sehr alten phylogenetischen Wurzeln solchen Verhaltens werden auch durch Vergleiche von Jungmännergangs und Schimpansengemeinschaften belegt, die – bei allen Unterschieden im Detail – nicht nur deutliche Ähnlichkeiten bei Intergruppenprozessen und Gewalteinsatz aufweisen, sondern auch bei der Gruppenorganisation (Tab. 2).

Tab. 2 Vergleich von Jungmännergangs und Schimpansengruppen: Ähnlichkeiten in Bezug auf soziale Organisation und Gewalt. (Mod. nach [96])

Das Phänomen der Intergruppendiskriminierung ist aus verhaltenspsychologischer und neurowissenschaftlicher Perspektive auch als „otherisation“ bezeichnet worden [90]. „Otherisation“ wird als eine Art evolutionsbiologisch determinierter Herdeninstinkt interpretiert, der auch im menschlichen Gehirn fest verankert ist. Da „otherisation“ einerseits mit hohen kampfbedingten Verlusten für die eigene soziale Gruppe verbunden sein kann und zudem moralische Barrieren bei der Tötung anderer zu überwinden sind, müssen andererseits erhebliche zerebrale Belohnungseffekte die Ausführung stimulieren und die Weiterentwicklung von „otherisation“ in der Evolution begünstigt haben.

Die Abwertung der Fremdgruppe bzw. des Fremden und die Aufwertung der Eigengruppe gehen einher mit einer Legitimation von Gewalt, einer Steigerung des Selbstwertgefühls und einer Stabilisierung der sozialen Identität. Durch exzessiven Alkoholkonsum kann die Gewaltbereitschaft zusätzlich gesteigert werden. Sowohl kriminalstatistische Daten als auch neurobiologische Befunde belegen einen engen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Gewalt [14, 37].

Motive für kollektives Gewaltverhalten männlicher Jugendlicher wie interpersonelles Dominanzstreben, Zugehörigkeitsbedürfnisse, Territorialansprüche, Ressourcenverteidigung oder Inszenierung von Männlichkeit sind im Rahmen der „rational choice theorie“ als zweckrationales Handeln in Abhängigkeit von Gelegenheitsstrukturen erklärt worden [52]. Unabhängig davon wird Gewalt in Gruppen auch als Selbstzweck ausgeübt, weil diese als euphorisierend erlebt wird, als eine Art „Gruppen-Happening“, in dem „intensive Risiko-, Spannungs-, Schmerz-, Gemeinschafts- und Überlegenheitserlebnisse“ hergestellt werden [13, 27].

Aus neurobiologischer Sicht müssen die euphorisierenden Effekte gruppendynamischer Dominanz ebenso auf intrazerebrale Belohnungsmechanismen zurückzuführen sein, wie sie für individuelle Aggression im Tierexperiment schon nachgewiesen wurden [7]. Wenn auch spezielle Untersuchungen zu dieser Frage mit bildgebenden Verfahren beim Menschen noch ausstehen, kann man doch davon ausgehen, dass das mesolimbische dopaminerge System und dessen wichtigstes Projektionsareal, der Nucleus accumbens, wie bei allen anderen intrazerebralen neuronalen Belohnungsaktivitäten auch hierbei eine zentrale Rolle spielt (Abb. 3, s. unten).

Auffällig ist, dass insbesondere junge Männer in der Pubertät und Adoleszenz gewaltaffinen Gruppen oder Gangs angehören. Diese Gruppenzugehörigkeit ist zeitlich durch den Beginn von Partnerschaft und Berufstätigkeit begrenzt, kann aber infolge der vorbestehenden Gewaltbereitschaft auf Partnerschaft und Familie übertragen werden. Die besonders hohe Gewaltaffinität junger Männer kann in diesem Kontext auch als Folge einer Frauenabwertung verstanden werden, die wiederum ein strukturelles Merkmal traditioneller männlicher Sozialisation ist [9]. Die Ausbildung einer männlichen ist im Vergleich zur weiblichen Geschlechtsidentität komplizierter, da der Junge sich von seiner Mutter als primärer Bezugsperson und Repräsentantin des Weiblichen ablösen muss, da er sich als nichtweiblich erkennt. Insbesondere dann, wenn keine männliche Identifikationsfigur zur Verfügung steht, kann die Identitätsfindung fragmentarisch und fragil bleiben und alles Weibliche aus Gründen des Selbstschutzes abgewertet werden [35]. Bei jungen Männern mit geringem Selbstwertgefühl kann sich diese Abwertung als gewalttätiges Verhalten äußern, als eine (vermeintliche) Stärke demonstrierende Form des Angstmanagements. (Reziproke) physische Aggressionen gegen andere junge Männer haben eher einen kompetitiven wettbewerbsförmigen Charakter und dienen nicht nur der Festigung einer fragilen männlichen Identität, sondern auch der Anerkennung als Mann und der Regulierung der Beziehungen unter Männern [57].

Evolutionsbiologische Prädisposition und Herausforderungen der Pubertät/Adoleszenz als verunsichernde Lebensphase allein erklären allerdings nicht die besondere Gewaltaffinität junger Männer. Verschiedene Einflussfaktoren auf der individuellen Ebene sowie der mikro- und makrosozialen Ebene müssen kumulieren, z. B. gestörte Familienbeziehungen, Arbeitslosigkeit, Benachteiligungen durch ethnische Segregation, ökonomische Deprivation oder kulturelle Isolation [81].

Soziale Desintegration als Ursache von Gewalt

Die Zugehörigkeit zu gewalttätigen Gruppen erklärt sich nicht nur aus gesellschaftspolitischen Konstellationen, bedrohter Männlichkeit, Männlichkeitskult, Gewalterfahrungen in der Kindheit oder sozialisatorisch bedingten Entwicklungsdefiziten, sondern muss auch im Zusammenhang mit sozialstrukturellen Rahmenbedingungen gesehen werden. Auch zu diesem Aspekt liegt eine Fülle sich ergänzender und konkurrierender soziologischer Erklärungsansätze vor, von denen die soziale Desintegrationstheorie [38, 39] die meiste Beachtung gefunden hat. Sie basiert im Wesentlichen auf der klassischen Anomietheorie von Durkheim [26] und auf der Individualisierungstheorie von Beck [5], enthält aber auch deprivationstheoretische Anteile. Die Grundannahme ist, dass Gewalt, Gewaltkriminalität, rechtsextremistische und ethnisch-kulturell motivierte Gewalt auf mangelnde Integrationsleistungen moderner Gesellschaften zurückzuführen sind. Damit erscheint Gewalt als eine „Schattenseite“ gesellschaftlicher Individualisierung, die im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung schubweise zugenommen hat.

Gesellschaftliche Integrationsleistungen müssen nach Heitmeyer [39] auf der sozioemotionalen, der institutionellen und der sozialstrukturellen Ebene erfolgen. Gelingen diese Integrationsaufgaben, ist eine freiwillige Akzeptanz gesellschaftlicher Normen zu erwarten, weil Bedürfnisse nach intersubjektiver Anerkennung erfüllt werden: emotionale Anerkennung, moralische Anerkennung und positionale Anerkennung.

Gewalt ist aus der Perspektive der Theorie der sozialen Desintegration eine Folge (d. h. abweichende Verarbeitung) von individuellen Anerkennungsdefiziten in den oben genannten drei Integrationsdimensionen. Anerkennungsdefizite konnten bei einer Befragung von über 4000 männlichen Jugendlichen auf der institutionellen und sozial-strukturellen Ebene als gewaltfördernd bestätigt werden [3]. Gewaltfördernde Faktoren entstehen insbesondere durch das Zusammenwirken von Desintegrationsproblemen wie Arbeitslosigkeit und Segregation, also die sozialräumliche Verdichtung von Personen mit Integrationsproblemen in bestimmten Stadtteilen und die demographische Verschiebung von Mehrheiten und Minderheiten. Dies zeigt sich bspw. an der regionalen Verteilung gewalttätiger Gruppen in sozialen Problemgebieten der großen Städte [51].

Aufgrund des wirtschaftlichen und demographischen Strukturwandels in Deutschland, der vor allem in den neuen Bundesländern zu höherer Arbeitslosigkeit und Abwanderung junger qualifizierter Frauen geführt hat, ist in den strukturschwachen Regionen eine neue, von zurückbleibenden jungen Männern dominierte Unterschicht entstanden [49]. Diese jungen Männer sind in mehrfacher Weise von sozialer Desintegration betroffen: Sie haben ein wesentlich geringeres Bildungsniveau als die abwandernden jungen Frauen, sie sind überwiegend arbeitslos, ohne Zukunftsperspektive und ohne Partnerschaft. Bei der multivariaten Analyse des Zusammenhangs verschiedener sozioökonomischer und demographischer Indikatoren mit der Kriminalitätsbelastungsziffer erwies sich ein geringes Bildungsniveaus der jungen Männer (ohne Hauptschulabschluss) als wichtigster Prädiktor, während der Männerüberschuss keinen Einfluss hatte. Diese Ergebnisse bestätigen frühere Befunde zur Entwicklung von Jugendgewalt [65], wonach vor allem junge Männer mit niedriger Schulbildung Gewalttaten ausüben.

Dass Männer offenbar in weit stärkerem Maße von Desintegrationsproblemen betroffen sein können als Frauen bzw. keine ausreichend effektiven Problemlösestrategien zur Verfügung haben, bestätigt sich in dramatischer Weise in gesellschaftlichen Krisen- und Umbruchsituationen wie bspw. dem rapiden Zusammenbruch des Sozialismus im Jahr 1989 in der früheren Sowjetunion und den von ihr damals dominierten osteuropäischen Ländern. Infolge der politischen, ideologischen, sozialen und ökonomischen Umwälzungen erfolgten fundamentale Desorganisationsprozesse, die zu einem sprunghaften Anstieg der Morbiditäts-, Mortalitäts- und Gewaltkriminalitätsraten führte, und zwar überproportional häufiger bei Männern als bei Frauen (Abb. 1, Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Homizide und Körperverletzungen, standardisierte Todesrate, Anzahl der Todesfälle pro 100.000 (WHO Europäische Datenbank „Gesundheit für alle“ 2003, [80]). M Männer, F Frauen

Abb. 2
figure 2

Suizide und Selbstverletzungen, standardisierte Todesrate, Anzahl der Todesfälle pro 100.000 (WHO Europäische Datenbank „Gesundheit für alle“ 2003, [80]). M Männer, F Frauen

Betroffen waren vor allem Männer mittleren Alters [61, 67]. Die Lebenserwartung der Männer in Russland war im Jahr 1997 im Durchschnitt 12 Jahre niedriger als in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft. Die häufigsten Todesursachen waren neben Herz-Kreislauf-Krankheiten, Lungenkrebs, Alkoholismus und Unfällen Homizid und Suizid, wobei Männer im Alter von 25 bis 44 Jahren die höchste Homizid- und Suizidrate hatten, jeweils eine der höchsten weltweit. Die Studie von Pridemore und Kim [67] belegt erstmals anhand umfangreicher Daten aus 78 russischen Regionen den Zusammenhang von negativem sozioökonomischem Wandel und Gewalt.

Desintegration und (relative) Deprivation sind die zentralen Erklärungsmodelle der Forschung zu Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, der definiert wird als eine gewaltverherrlichende, männlichkeitsdominierte, demokratiefeindliche Ideologie sozialer Ungleichwertigkeit einschließlich rassistischer und antisemitischer Einstellungen sowie einem übersteigerten Nationalismus [30]. Die Selektion in rechtsextreme Gruppen erfolgt sowohl über Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Selbstversicherung und Anerkennung als auch über Gewaltakzeptanz auf der Suche nach politischer Orientierung, die von rechtsradikalen Organisationen radikalisiert und in ausländerfeindliche und antisemitische Bahnen gelenkt wird [77, 91, 97]. Wesentlich erscheint bei allem das Machtmotiv [77]. Wie Marneros [55] anhand der biographischen Analyse von rechtsradikalen Gewalttätern eindrucksvoll belegen konnte, ist rechtsradikale Gewalt, auch wenn sie sich eine politisch-ideologische Legitimation gibt, in weiten Teilen ziel- und richtungslos, eine fehlgeleitete Kompensation eigener Traumatisierungen in der Herkunftsfamilie und gesellschaftlicher Benachteiligungen, für die andere verantwortlich gemacht werden.

Diese Ziel- und Richtungslosigkeit kollektiver (aber auch individueller Gewalt), die gewalttätiges Verhalten häufig als sinnlos und unverständlich erscheinen lässt, basiert nach Richman und Leary [72] sowie Bauer [4] auf dem Phänomen der Aggressionsverschiebung: Die durch Vernachlässigung, Desintegration, fehlende Anerkennung oder Demütigung im Aggressionsgedächtnis kumulierte Gewaltbereitschaft kann sich unabhängig vom primären Aggressor oder von primären Situationen zeitversetzt an beliebigen Objekten, Personen oder Situationen entladen.

Grundsätzlich ist bzgl. soziologischer Gewalttheorien anzumerken, dass diese keine systematische Geschlechterperspektive aufweisen und dass sie aufgrund ihrer makrosozialen Ausrichtung Gewalthandeln auf der Mikroebene nicht erklären können, ohne einen Automatismus zwischen Desintegrationserscheinungen und Gewalt zu unterstellen. Tatsächlich werden defizitäre soziale Lebenslagen und Gewalthandeln durch eine Reihe komplexer Faktoren vermittelt: durch Sozialisationserfahrungen, aktuellem sozialem Klima, Persönlichkeitsmerkmale, politische Ideologien und Gelegenheitsstrukturen wie Bezugsgruppenorientierung oder Einbindung in soziale Milieus [47]. Weitere Kritikpunkte an der Theorie der sozialen Desintegration betreffen die Ubiquität sozialer Desintegrationsprozesse und des vergleichsweise geringen Prozentsatzes an Gewalttaten, die unidirektionale Konzeption des Zusammenhangs zwischen sozialer Desintegration und Gewalt sowie die implizite Überschätzung der Reichweite gesellschaftlicher Normsysteme. Im Unterschied zur populären Annahme, dass Desintegration und ökonomische Deprivation direkt zu rechtsextremistischer Gewalt führen, sind empirische Befunde inkonsistent, sie variieren von keinerlei über schwache bis hin zu mittleren Zusammenhängen [73], was auf die Heterogenität der jeweiligen Indikatoren von Desintegration oder Deprivation zurückgeführt wird, aber auch durch die Ausblendung vermittelnder individueller und sozialer Faktoren erklärt werden kann.

Im Unterschied zum Rechtsextremismus ist der Linksextremismus aufgrund verschiedener politischer Bedingungen, aber auch fachspezifischer Besonderheiten von den Sozialwissenschaften weniger erforscht. Jenseits aller ideologischer Gegensätze fällt jedoch eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden extremistischen Lagern auf: die Gewaltorientierung. Diese spielt sowohl als Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung als auch als Funktion für die interne Gruppenkohäsion und die Selbstvergewisserung eine zentrale Rolle (Beispiel: ritualisierte Gewalt bei den jährlichen Krawallen mit Autoanzündungen am 1. Mai in Berlin seit 1987; [64]).

Gewaltlegitimierende Ideologien und militarisierte Männlichkeit

Kollektive männliche Gewalt ist die Summe von Gewaltanwendung vieler einzelner Individuen gegen ein gemeinsames Opfer. Oben wurde dargelegt, dass in der Entstehung gleichgerichteter Aggressivität und daraus resultierender kollektiver Gewalthandlungen den Spiegelneuronsystemen oder intrazerebralen Belohnungsmechanismen eine bedeutende Rolle zugeschrieben werden kann. Die Schwelle zur Gewaltausübung Einzelner kann einerseits durch Beeinträchtigung von gewaltkontrollierenden Hirnfunktionen wie organische Schädigungen, genetisch bedingte Funktionsminderungen oder frühe erfahrungsabhängige plastische neuronale Veränderungen der Kortexareale, die die neuronalen (limbischen, amygdalären) Gewaltgeneratoren im Hirn hemmen, herabgesetzt werden [7]; andererseits lehrt ein Blick auf die Weltgeschichte wie auch auf terroristische Strömungen der Vergangenheit und Gegenwart, dass gewaltermöglichende oder sogar -verherrlichende Ideologien gewalthemmende Mechanismen eines nicht pathologisch vorgeschädigten Gehirns außer Kraft setzen können. Solche ideologischen Verformungen kognitiver Prozesse und damit höherer gewalthemmender kortikaler Aktivitäten tragen zur Erklärung der Tatsache bei, dass psychisch gesunde und sonst sozial gut integrierte Männer ohne jegliche pathologische hirnbiologische Risikofaktoren in kriegerischen Situationen zu Gewalttaten fähig sind.

Ethisch-moralische Normen, die in der Erziehung vermittelt wurden, sind in den Hirnregionen gespeichert, die für moralische und prosoziale Empfindungen zuständig sind, insbesondere im präfrontalen Kortex, Mandelkern und paralimbischen Kortexarealen [69]. Werden diese gewalthemmenden kortikalen Engramme in den genannten Strukturen durch Denkinhalte (Ideologien) ersetzt, die die erlernte Hemmung aufheben, ist das Resultat für Täter und Opfer der Gewaltanwendung letztlich das gleiche wie das einer Funktionsschädigung der Gewaltanwendung kontrollierenden Hirnbezirke (Abb. 3). Mit anderen Worten, krankhafte Schädigungen von Hirnstruktur oder -funktion im Sinne hirnorganischer Prozesse, wie sie bei individuellen Gewalttätern oft anzutreffen sind und bei diesen die intrazerebralen neuronalen Generatoren von Gewalt nicht mehr ausreichend hemmen, sind bei der überwiegenden Mehrzahl kollektiver Gewalttäter (z. B. in Kriegen) zwar nicht zu erwarten; die Effekte gewaltrechtfertigender oder verherrlichender Ideologien, die die kortikal gespeicherten Engramme von Moral und Altruismus und damit gewalthemmende intrazerebrale Mechanismen auf andere Weise außer Kraft setzen, sind letztlich vergleichbar mit ähnlichen Folgen hirnorganischer Psychosyndrome. Trotz der Plausibilität dieser Wirkmechanismen wäre es jedoch eine biologistische Verkürzung, hier einen Determinismus annehmen zu wollen, der den Einfluss jeglicher biographischer, gruppendynamischer, situativer und gesellschaftlicher Faktoren negieren würde.

Abb. 3
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Risikomodell für individuelle und kollektive Gewalt, in dem psychosoziale sowie auch neurobiologische Faktoren unter der Vorstellung zusammengefasst werden, dass beide Ursachenkategorien letztlich auf kortikale Strukturen unseres Gehirns einwirken. Die in der rechten Hälfte der Abbildung dargestellten hirnbiologischen Teilkomponenten sind ausführlicher in einer vorangegangenen Publikation der Autoren kommentiert [7]. Das Modell geht davon aus, dass einerseits entweder durch soziale oder hirnbiologische Faktoren (oder eine Kombination von beiden) neokortikale Funktionen so beeinflusst werden, dass es zu einer mangelhaften Hemmung amygdalärer Zellgruppen und dadurch zu dysphorisch gestimmten Gewalthandlungen kommen kann [8, 82], andererseits durch eine Aktivierung belohnungsrelevanter Hirnareale (Nucleus accumbens) Gewalthandlungen mit hedonistischer Komponente ermöglicht werden

Die durch soziale Gewaltlegitimation hervorgerufenen neurobiologischen Mechanismen der Gewaltenthemmung erreichen ihre extreme Ausprägung in organisierter kollektiver Gewalt, ohne dass damit allerdings Krieg und Terror selbst hinreichend erklärt werden könnten. Damit die Gewaltenthemmung tatsächlich greift und dauerhaft funktioniert, bedarf es komplexer Prozesse der Normumdeutung, Legitimierung, Organisierung, Normalisierung und Internalisierung von Gewalt, die am Beispiel des Nationalsozialismus im „Dritten Reich“ kurz erläutert werden sollen. Eine verbreitete sozialwissenschaftliche Erklärung seit den 1960er Jahren ist die These von der Banalität des Bösen [2]. Diese von der Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt geprägte These, die während des Prozesses gegen Adolf Eichmann als einem der Hauptverantwortlichen für die Ermordung von etwa 6 Mio. Juden entstanden ist, behauptet, dass jeder Einzelne zu exzessiven Gewalttaten fähig sei, wenn dies besondere Umstände erfordern. Die These von der Banalität des Bösen hat seitdem weite Teile der Psychologie und der öffentlichen Meinung beherrscht, zumal sie später von zwei viel zitierten Experimenten gestützt zu werden schien: dem Milgram-Experiment [58] und dessen Replikation durch Burger [15] sowie dem Stanford-Prison-Experiment [100].

Im ersteren sollten psychologisch normale Personen in einem als wissenschaftlich notwendig dargestellten Versuch durch Stromstöße anderen Personen zunehmend stärkere Schmerzen zufügen. Diejenigen, die die Instruktionen besonders brutal ausführten, handelten, so die Annahme Milgrams, in einem Zustand der Moralfreiheit („agentic state“), in dem sie die eigene Verantwortlichkeit für ihr Handeln an Autoritätspersonen abgaben und nur noch Befehlen gehorchten. Das Stanford-Prison-Experiment war eine Gefängnissimulationsstudie, in der freiwillig teilnehmende und zufällig ausgewählte Studenten für die Rolle als Gefängniswärter sich nach kurzer Zeit derart gewalttätig und brutal gegen die Gruppe der ebenfalls zufällig ausgewählten „Gefangenen“ verhielten, dass das Experiment nach 6 Tagen abgebrochen werden musste. Erklärt wurde diese Eskalation von Gewalt mit dem Zusammenwirken verschiedener sozialer Kräfte wie Anonymität und Deindividuation, Macht der Regeln und Vorschriften, starres Rollenverhalten und dem Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz.

Die These, dass gewalttätiges Verhalten, Misshandlungen, Folter und Massenmord allein auf die Macht der jeweiligen sozialen Umstände, auf einen mechanischen Gehorsam oder absoluten Gruppendruck zurückgeführt werden könnten, wird inzwischen von Sozialwissenschaftlern, Psychologen und Historikern bezweifelt. Zwar haben die genannten Experimente die Bedeutung der sozialen Situation für Gewalthandeln in grundlegender Weise belegt, dennoch sprechen kritische Reanalysen dieser Experimente [17, 35] sowie neuere Arbeiten zum Nationalsozialismus [19] für einen interaktiven Effekt zwischen Person und Situation: Die Täter wissen genau, was sie tun, sie sind überzeugt, das Richtige zu tun und dies offensiv zu vertreten. Bezugnehmend auf das Milgram- und das Stanford-Prison-Experiment sowie auf den Nationalsozialismus weisen Haslam und Reicher [35] sowie Carnahan und McFarland [17] kritisch darauf hin, dass der oberflächlich erscheinenden Banalität des Bösen vielmehr ein Prozess der Normalisierung zugrunde liege, der das Produkt einer komplexen interaktiven Dynamik zwischen Person und Umwelt ist. Diese beginnt mit der Selbstselektion bzgl. gewaltbezogener Aktionen (in Experimenten oder Realgruppen), führt dann zu einer zunehmenden normativen Radikalisierung in der Eigen-Gruppe gegenüber der Fremd-Gruppe bis hin zur Ausweitung radikaler Ideologien durch den wachsenden Einfluss von Führern und Netzwerkbildung. Weitere Aspekte der Normalisierung von Gewalt beinhalten ihre Legitimation, die Garantie der Straffreiheit und die Eigendynamik des Gewaltausübens (Erlebnis absoluter Macht), wie sie etwa anhand neu entdeckter Abhörprotokolle aus britischen und amerikanischen Kriegsgefangenenlagern belegt wurden [63].

Die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus im „Dritten Reich“ ist eine historisch beispiellose Zeit der „Normalisierung“ von Gewaltexzessen – staatlich legitimiert durch einen aggressiven Nationalismus, fundamentalistischen Rassismus und Antisemitismus, organisiert durch eine männerbündisch strukturierte Führerdiktatur, die sich einer gigantischen Propagandamaschinerie bediente und eine zunehmende Militarisierung der Gesellschaft betrieb. Täter waren nicht nur die NS-Führung, Polizei und SS, sondern auch die Besatzungsverwaltungen und die Wehrmacht, die die Verantwortung für das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen und für Verbrechen der exzessiven Widerstandsbekämpfung im besetzten Europa trug [68]. Mechanismen, die – jenseits der Übernahme der NS-Ideologien – zur Entstehung solcher Gewalteskalationen beitrugen, liegen wesentlich in Gruppendynamiken, wie sie oben beschrieben wurden. So wird z. B. angenommen, dass eine hohe, an den Idealen der Kameradschaft orientierte Gruppenkohäsion in der Wehrmacht die „Arbeit“ des Tötens erträglicher gemacht und die zunehmende Radikalisierung der Vernichtung ermöglicht habe [50]. Die Auswertung erst jetzt zugänglich gewordener geheimer Abhörprotokolle aus einem US-amerikanischen Kriegsgefangenenlager zeigt, dass die Kampfmoral der Wehrmachtssoldaten stärker durch Kameradschaft und den damit verbundenen Zwang zum Konformismus bestimmt war als durch die Internalisierung der NS-Ideologien, deren Versatzstücke eher zur Selbstrechtfertigung der eigenen Gewalttaten dienten [76]. Soldaten der Wehrmacht kann vermutlich keine primär erhöhte Aggressionsbereitschaft zugeschrieben werden, vielmehr erscheinen ihre Gewalttaten als Interaktion einer systematischen Gewaltsozialisation und situativer kriegerischer Faktoren.

Ein bisher in der Konfliktforschung vernachlässigter, aber konstituierender Faktor für das Verständnis dessen, dass psychisch unauffällige Männer zu Massenmördern werden konnten [50], ist die Konstruktion eines historisch-gesellschaftlich und politisch funktionalen Männlichkeitsideals, und zwar das der militärischen Männlichkeit. Diese nahm mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft Ende des 18. Jahrhunderts ihren Anfang und wurde im Nationalsozialismus zum Mythos erhoben [62]. Das Militär konditionierte als (damals noch) homosoziale Gewaltinstanz und Männlichkeitsmaschine [28] Männer mit noch instabiler männlicher Identität zu „richtigen“ Männern, deren individuelle Tötungshemmung durch Brutalisierung und Desensibilisierung abgebaut werden sollte. Durch die Gleichsetzung militärischer Anforderungen mit männlichen Tugenden wie Härte, Mut, Willenskraft wurden diese legitimiert und normalisiert und gewannen damit ihre identitätsstiftende Qualität. Nach kürzlich publizierten Analysen von Feldpostbriefen beteiligten sich Soldaten auch deshalb an Vernichtungsfeldzügen, um explizit ihre Männlichkeit zu beweisen [94].

Demographischer Überschuss junger Männer als Risiko für kollektive Gewalt?

Hinsichtlich der Ursachen für Krieg und Terror wird neben Machtpolitik, Wertedissens, ethnischen Konflikten, fragiler Staatlichkeit oder Separations- und Autonomiebestrebungen auch die Rolle der demographischen Dynamik diskutiert, nicht nur im Hinblick auf den Zuwachs der Weltbevölkerung in Schwellen- und Entwicklungsländern, sondern auch auf die Effekte des demographischen Überschusses junger Männer.

Demographische Veränderungen, die bis zu einem etwa 25 %igen Überschuss an jungen Männern („youth bulge“) führen, können ein Risikofaktor für kollektive Gewalt und Krieg sein. Der zentrale Grund für die Gewaltbereitschaft großer Gruppen junger Männer wird in der begrenzten Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes gesehen, sodass diese desintegrierten, aber statusorientierten jungen Männer mit Aussicht auf Armut, Erwerbs- und Partnerlosigkeit eher bereit sind, sich in gewaltsamen Konflikten zu engagieren, um sich materielle Ressourcen zu beschaffen. Dieser „youth bulge“, besonders ausgeprägt in islamischen Staaten, soll nach Einschätzung von Heinsohn [36] die Hauptursache für die Eskalation des Terrors sein, da der Jungmännerüberschuss ein unerschöpfliches Reservoir für die Rekrutierung von Terroristen darstelle, das aufgrund der Bevölkerungsentwicklung ständig wächst.

Historisch lässt sich die These vom Jugendüberschuss als Gewaltfaktor sowohl belegen als auch widerlegen. Empirisch-statistische Evidenzen zum Zusammenhang demographischer Entwicklung und Gewalt sind jedoch selten, beschränken sich auf innerstaatliche Konflikte und kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Nach aktuellen Analysen des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung lässt sich kein monokausaler, linearer Zusammenhang zwischen Jungmännerüberschuss und bewaffneten Konflikten belegen [48]. Zwar haben die Auseinandersetzungen seit dem Zweiten Weltkrieg proportional mit der wachsenden Weltbevölkerung zugenommen, aber die relative Zahl der Kriege pro Millionen Menschen ist in etwa gleich geblieben. Im Detail zeigt sich, dass unabhängig vom Jugendanteil die Gefahr gewaltsamer Konflikte sinkt, wenn die sozioökonomische Lage sich verbessert. Andererseits steigt die Anzahl gewaltsamer Konflikte bei Jugendanteilen von 20–36 % an. Liegt der Jugendanteil noch darüber, sinkt erstaunlicherweise die Wahrscheinlichkeit für Konflikte erheblich, was auf die hohe Aids-bedingte Sterblichkeit im Erwachsenenalter zurückgeführt wird, wodurch soziale Positionen frei werden. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein Überschuss junger Männer nicht zwangsläufig zu kollektiver Gewalt führt, dass aber demographische Faktoren bei der Erklärung von Gewalt und Terrorismus berücksichtigt werden müssen. Eine aktuelle Frage ist, ob der durch die Abtreibung weiblicher Föten und die schlechtere medizinische Versorgung von Mädchen künstlich produzierte Männerüberschuss in Indien und China mittelfristig zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen wird.

Schlussfolgerungen für Gewaltverständnis und Gewaltprävention

Kollektive Gewalt ist ebenso wie individuelle Gewalt ein multifaktoriell bedingtes Phänomen. Ein adäquates Verständnis jenseits einer Mythologisierung des Bösen oder einer allgemeinen Pathologisierung, gesellschaftlicher oder politischer Verurteilung oder auch Befürwortung von Gewalttaten erfordert interdisziplinäre, biopsychosoziale Modelle. Bisher stehen biologische, psychologische und soziologische Ansätze noch relativ unverbunden nebeneinander. Die weitgehend noch ungeklärte Frage, warum Männer sowohl bei individueller als auch kollektiver Gewalt (physisch) aggressiver und gewalttätiger sind als Frauen, lässt sich ebenfalls nur interdisziplinär beantworten, da hier ein geschlechtsspezifisches komplexes Zusammenspiel evolutionsbiologischer, genetischer, hirnbiologischer sowie psychosozialer, sozialkultureller und -struktureller Faktoren vorliegt. Die bisher vorliegenden Befunde deuten auf enge Zusammenhänge zwischen evolutiv angelegter Disposition zur Gewalt gegen Fremdgruppen, männlichem Dominanzstreben, männlicher Vulnerabilität und Gewaltverhalten. Dagegen verstellt die im öffentlichen Diskurs vorherrschende Assoziation von Mann, Macht und Gewalt den Blick darauf, dass Männer im Vergleich zu Frauen sogar ein höheres Risiko haben, Opfer von Gewalt zu werden (insbesondere 18- bis 21-Jährige), ein Faktum, das erst seit kurzem in der Genderforschung thematisiert wird.

Welche Bedeutung haben die obigen Ausführungen für die Gewaltprävention? Die internationale Kampagne zur Gewaltprävention der WHO [95], die angesichts der multifaktoriellen Ursachen von Gewalt ein ökologisches Modell der Gewaltprävention vertritt, das Maßnahmen für unterschiedliche soziale Ebenen (Individuum, Beziehungen, Gemeinschaft, Gesellschaft) und soziale Settings enthält, basiert auf der Prämisse, dass interpersonale und kollektive Gewalt, gesellschaftliche und internationale Gewalt wechselseitig voneinander abhängig sind. Insofern reichen die vorgeschlagenen Maßnahmen von Bildung und Erziehung über Aufklärungskampagnen, Polizeiarbeit, multisektorale Zusammenarbeit bis hin zu neuen Gesetzen, internationalen Verträgen und Bemühungen um die Veränderung sozialer und kultureller Normen. „Anzustreben ist eine Kombination von erprobten, evaluierten und Erfolg versprechenden Modellen und Interventionsstrategien, verbunden mit der Entwicklung eines gesellschaftlichen ‚Klimas’, das geprägt ist, an einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit mitzuarbeiten“ [33]. Denn: Mit dem Wissen um die Ursachen für gewaltsame Konflikte und Kriege sind die Bedingungen für Frieden noch nicht formuliert – in diesem Sinne könnte die Gewaltforschung von der Friedens- und Konfliktforschung profitieren.

Gewalt zu verstehen – und zu verhindern bzw. zu reduzieren – ist und bleibt eine Herausforderung für Geschichts-, Sozial- und Neurowissenschaften und sollte auch nervenärztliches Interesse wecken. Interdisziplinärer Konsens besteht hinsichtlich der wichtigsten Faktoren zur Prävention individueller Gewalt, welche die Bedingungen für konstruktive Selbstwirksamkeit und gesellschaftliche Teilhabe schaffen: Erziehung und Bildung. Zur Prävention kollektiver Gewalt bedarf es zunächst der Realisierung unserer phylogenetisch herleitbaren hirnbiologischen Disposition hierzu, deren wir uns nicht entledigen können und die die Grundlage dafür ist, dass in den oben dargestellten psychosozialen Konstellationen und Auslösesituationen verheerende Folgen auftraten und wieder auftreten werden. Als wichtige Präventionsfaktoren dürfen soziale Anerkennung und soziale Integration, Stärkung von Moralsystemen, Demokratisierung, wirtschaftliche Entwicklung, die Vermeidung extremer sozialer Ungleichheiten und die Orientierung an gesellschaftlich übergeordneten, Kooperation erfordernden Zielen angenommen werden. Auch diesen Präventionsfaktoren liegt letztlich die Neurobiologie des „sozialen Gehirns“ [22] zugrunde, die auf prosoziales Verhalten, Empathie und soziale Verantwortung ausgerichtet ist und damit nicht nur die Basisfunktionen des Überlebens unserer Spezies und unseres Zivilisationsprozesses bereitstellte, sondern auch mitbegründet, warum eine Kultur des Friedens anzustreben ist und sogar ein „ewiger Friede“ im Sinne von Kant [44] auch heute noch eine realistische moralische Utopie darstellt.